Der ewig Reisende

Alte Wäscheständer, mein erster nachhaltiger Eindruck in dieser Wiener Wohnung, nachlässig in sich geklappt an die Wände gelehnt, schon lange haben sie keine Wäsche mehr gesehen, die ihnen zum Trocknen auferlegt worden ist, alte Wäsche, die ich verborgen in den hintersten Reihen des mächtigen Einbauschranks vermute, wahrscheinlich nur unpersönliche Wäsche, wie Bettlaken und Handtücher. Eine Durchgangsstation diese Wohnung, einem Bahnhof gleich, so ziemlich jedes mir bekannte Familienmitglied hat einmal hier gehaust, zum Durchschnaufen, Atem holen für einen neuen Sprung auf das Fließband des Leben. Und auch ich nicht davon ausgeschlossen, nur zu gut kann ich mich an meine paar Monate hier erinnern, damals, auf der Suche nach Asyl und Exil und Durchatmen, nach einem viel zu langen Durchrauschen von Gedächtnislücken, nach einem Leben, das es mich fast gekostet hätte. Und wie knapp ich damals davongekommen bin, ruft mir das flaue Gefühl im Magen angesichts dieser Mauern wieder ins Gedächtnis, trotz der langen Zeit nach wie vor nicht getilgt von der Flut inzwischen neu angesammelter Lebenseindrücke.

Jetzt habe ich sie also geerbt, diese Wiener Wohnung, fast zehn Jahre später, glücklich und unvermutet aus verworrenen Schicksalsfügungen heraus, und wie unvorbereitet ich darauf bin, macht mir die verlorene Geste bewusst, mit der ich nach einem der Wäscheständer fasse, der lieblos gegen ein Bild an der Wand lehnt, und mich nicht entschließen kann, wo ich ihn abstellen soll. Genauso, wie es mir an Entschlusskraft fehlt, was nun anzufangen, mit dieser Wiener Wohnung, sie zu vermieten, zu verkaufen oder wiederzubeleben, angesichts all des wertlosen Plunders aus einem vergilbten Jahrhundert, wahllos zusammengestellt, ein paar verwaiste Betten hier, ein abgesessenes Sofa da, abgesessen von Hintern, die keinem Lebenden mehr zuzuweisen sind, daneben ein zerkratzter Schreibtisch, der Rest abgeräumt von zu vielen Durchgangsgästen, von Fernseher oder anderer Form von Abendunterhaltung ganz zu schweigen.

Dennoch, ein Hauch von Gemütlichkeit hat sich in der Ecke des Wohnzimmers erhalten, aus der ich noch immer die glaszarten Klänge einer Zither hören zu können vermeine, auf der mir meine Großmutter vor mehr als einem Vierteljahrhundert vorgespielt hat: „Harry Lime’s Theme“ an diesem stillen Novemberabend in einem späten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts, als Wien sich noch immer in Grau und Schwarz wie aus dem „Dritten Mann“ geschnitten gezeigt hatte, nach wie vor nicht erwacht aus seinem albtraumhaften Dornröschenschlaf. Als man in dieser Stadt noch mit einem Schaudern über den Rücken von dem Gefühl heimgesucht war, dass sich hier das Leben anschickte, diejenigen sich zu holen, für die bislang nicht einmal der Tod Interesse gezeigt hatte.

Und mit einem Seufzer wird mir bewusst, vor der Entscheidung zu stehen, mich in den Strudel weiterer trübsinniger Stimmungen ziehen zu lassen, in Schichten immer tieferer Melancholien - oder doch dein Paket zu öffnen, tesoro, mein Schatz, das stumm auf dem angestaubten Esstisch vor mir liegt. Dieses mit Aufklebern eines Schnellzustelldienstes bedeckte Paket, dem ich seinen langen Weg über die Alpen, aus dem fernen Italien ansehen kann, leicht abgestoßen der Karton in der linken, unteren Ecke, offensichtlich mit einem nachlässigen, fahrlässigen Wurf auf die Ladefläche eines Kleinlasters befördert. Dein Paket, mia cara, von dem ich zwar nicht weiß, was seine Schale im Konkreten umschließen, aber ich mir ausmalen kann, was aus seinem innersten Inneren auf mich zuströmen wird: Verharren in Ungewissheit, Sehnsucht, Verständnislosigkeit, Anklage, wie alle deine Pakete, wie alle deine Briefe, die du mir an meine jeweiligen Aufenthaltsorte bisher nachgeschickt hast.

Und mit einem weiteren Aufseufzen fasse ich jetzt nach dem Paket, ziehe und reiße ich an seiner Hülle aus steifem Karton, an den widerspenstigen Klebebändern, meine Ungeschicklichkeit verfluche ich, aber nur um Unwilligkeit handelt es sich, weiß ich doch, dass mir sein Inhalt wieder einen Stich ins Herz versetzen wird, wie immer, mia carissima, so gut wie du mich kennst. Endlich will es mir gelingen, den Mund des Pakets aufzureißen, mit der Hand lange ich hinein, mit unbewusster Vorsicht, als könnte es noch nach mir schnappen, bekomme seinen Inhalt in seinem Schlund zu fassen, etwas Kompaktes, etwas im Ganzen, etwas Rechteckiges, was ich da ans Licht zerre:

Ein Fotoalbum, ganz in der Machart des letzten Jahrhunderts.

Tatsächlich, bohrend tief der Stich ins Herz, als mir beim Aufschlagen des Albums bewusst wird, welchen Preis du dieses Mal bezahlt hast, welch unumkehrbares Risiko du dieses Mal eingegangen bist, mio amore, denn glückliche Kindheitsfotos lachen mir entgegen, die originalen Bilder aus deiner Kindheit, aus deiner stolzen italienischen Heimatstadt. Agfacolor, der leicht überbelichtete Stich der Farben auf den Fotos, so wie sie überhaupt waren, leicht überbelichtet die hoffnungsfrohen Farben der Siebziger, ganz im Gegensatz zu dem feigen Pastell der beiden vorangegangen Jahrzehnte. Nur das Schwarz so, wie Schwarz auch in Wirklichkeit damals war und es immer noch ist, das Kohlrabenschwarz in deinen Augen, im Schwung deiner Augenbrauen und das Kohlrabenschwarz in den Locken deiner Haare, schon damals als Kind, tesoruccio.

Auf eine italienische Zeitreise entführst du mich, auf der Rückbank der legendären Alfa Romeo Giulia deiner Eltern, die mit den Doppelscheinwerfern, Baujahr ´70, schätze ich, um ein vom Smog schwarz getünchtes Kolosseum fahre ich mit dir in deinen Urlaub, und besonders schief erscheint uns der Turm von Pisa, aus Kinderperspektive, und die einsetzende Flut umspült unsere Sandburg am toskanischen Strand, mit dem Einwickelpapier der damals beliebtesten Eismarken haben wir sie beflaggt. Und auf vielen der Fotos trägst du so hinreißend ein einfaches glattes weißes Kleid mit satten roten Punkten, aber noch viel hinreißender dein vergnügtes Kinderlachen, aus dem später einmal dein eigentümliches, einzigartiges Lächeln geboren werden wird.

Und schmuck auch dein Elternhaus mit Vorgarten, mia cara, das auf so vielen deiner Fotos den alles zusammenhaltenden Hintergrund bildet, immer in einladender Frische getüncht das Haus, und hingebungsvolle Pflege ist dem Garten anzusehen. So ganz anders als der hastig auf einen Acker hingeworfene, in Beton geworfene Wohnblockwürfel aus der Nachkriegszeit, in dem ich aufgewachsen bin, ein Wohnblock in einer Vorstadt zu einer Stadt, der das Schicksal auferlegt ist, Bindeglied zwischen zwei bei weitem bedeutenderen Städten zu sein, also ein Wohnblock in einer Vorstadt einer Vorstadt. Der erbaut im billigen Nachkriegsbeton schneller feucht ergraut ist als jedes andere Haus, und der inzwischen einer Autobahnumfahrung gewichen ist, also mit der Zeit gegangen ist, im wortwörtlichen Sinne, von ihr plattgemacht und ausradiert. Kein Foto könnte ich dir von ihm zeigen, tesoro, denn sein feuchtes Grau ist von niemanden jemals einer Aufnahme wert befunden worden, nur zu der Kurve in der Autobahnauffahrt könnte ich dich führen, dort wo der Wohnblock sein trostloses Dasein abgesessen hat, eine Achtzigerbeschränkung ist ihm als Denkmal geblieben.

Ähnlich meiner Familie, zusammengewürfelt aus den Resten einer aus der Zeit gefallenen k. und k. Monarchie, deren Vergangenheitsbewusstsein sich spätestens mit drei Generationen in einer böhmischen Schuhfabrik, einem ungarischen Steppenstreifen oder einem galizischen Grenzdorf verliert. Und beim Aufblitzen in der Landschaft der Zeit ist es für meine Familie geblieben, in unserem Wohnblock in der Vorstadt einer Vorstadt, denn mittlerweile auch ihre Kinder, meine Geschwister entschwunden in den Ecken Europas, den einen verschlagen auf eine feuchte Insel mit ungenießbarem Essen, den anderen in ein Donautal, dessen einzige Abwechslung zur geistigen Einöde die alljährliche Überschwemmung bringt; und von meinem mir abhandengekommenen Sohn ganz zu schweigen, Norwegen, sein erklärtes Wunschziel, als wir uns vor Jahren das letzte Mal gesprochen haben. Und mich, zu was mich dies alles gemacht hat, deine ewige Frage, mia cara carissima, zwischen all deinen Zeilen, all deinen Briefen und Paketen?

Ja, mit der Zeit habe ich mich gewandelt, vom ewig an der Theke Klebenden, einer Theke so lange wie die Einsamkeit, zum ewig Reisenden, il Viaggiatore, der nunmehr seine Theken wie die Socken wechselt, Stadt für Stadt.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15124

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