Amsterdam oder Der Vorteil, Clowns als Eltern zu haben

Gott sei Dank sind seine Eltern Clowns, dachte ich, als das Gras näher kam. Es berührte mein Gesicht, kalt, ein bisschen nass, hoffentlich nicht von dem Erbrochenen. Nein, nur nass. Wenn sie nämlich keine Clowns wären, hätten sie das bestimmt ein bisschen ernster genommen. Das war das, was mir dann in den nächsten Tagen einfiel. Die eigene Mutter anzurufen und ihr zu sagen, dass man glaube, man müsse sterben, muss um einiges einfacher sein, wenn man Clowns als Eltern hat. Glücklicherweise hatte sie auch schon mit diversen Substanzen experimentiert und konnte ihn einigermaßen beruhigen. Beide hießen Thomas, im Übrigen. Also nicht die Mutter, sondern auch mein zweiter Freund, der das Glück hatte, an diesem denkwürdigen Tag ein Teil unserer kleinen Gruppe zu sein. Wir schafften es ins Zimmer, wo ich mich noch einmal übergab, was eigentlich komisch war, da ich bis dahin der einzige unserer Gruppe gewesen war, der noch ein bisschen Bezug zur Realität hatte.

„Jetzt sollten wir dann langsam etwas spüren“, sagte ich. Nach ungefähr einer Stunde, in der wir durch die Stadt gewandert, in den lustigen öffentlichen Toilettenhäuschen uriniert, Essen gekauft und die Kanäle bewundert hatten, beschlossen wir, uns an eben einem dieser Kanäle niederzulassen und zu essen. Das Essen war typisch für unsere Reise, Baguette mit Käse und Tomaten. Geschmacklich und preislich gut, auf Dauer aber ein bisschen einseitig. Die Kanäle hatten mir schon von Anfang an extrem gut gefallen. Vor allem aber auch die Häuser, die an beiden Seiten ebenjener Kanäle standen. So schmal und braun-rot und warm, fast zu schön, die der Stadt ebenjenes Gefühl von Intimität vermitteln, das sie so einzigartig macht. Das Familiäre eines Dorfes, mit den Touristen einer Großstadt. Überall würzig, freundliche Menschen, Wasser, teures Essen. Was will man mehr?

Da wir am Anfang unserer Reise standen, schmeckte das Baguette mit Käse und Tomaten noch. Und plötzlich fing Thomas an zu lachen. Also der blonde Thomas, dessen Eltern keine Clowns sind. Und wir stiegen in dieses Lachen ein und lachten eine Minute oder mehr. Währenddessen, obwohl kein Mensch an uns vorbeigegangen war, fiel mir auf, wie eigenartig dieses Lachen auf einen Außenstehenden wirken müsste und dieser Gedanke machte mir Angst. Und wie um diese Stimmung, die gerade so unverhofft von mir Besitz ergriffen hatte, noch zu verstärken, sagte Thomas: Bitte passt auf mich auf, mir geht’s nicht gut.

Mehr hatte es nicht gebraucht. Ich hob ab. Flog aus meinem Körper hinaus, wieder hinein, der Wind viel zu kalt, das Wasser zu nah, die Häuschen zu klein, zu rot, zu schön. Menschen, die sich hinter Autos versteckten, Straßenlaternen, die auf den ersten Blick wie Menschen aussahen, und ich flog. Leider gegen meinen Willen. Keine Ahnung, wie sich das anfühlen sollte. Das Unbekannte macht Angst; so wie immer. Jeder in seinem eigenen Universum, seinem Dschungel. Dagegen ankämpfen, vollkommen zwecklos, emotionaler Tunnelblick. Wir gingen zu Stiegen, auf denen Menschen saßen. Ein Mann, der vertrauenswürdig erschien, sagte uns: ruhig bleiben, viel Zucker essen, geh Cola kaufen. Selten habe ich mich in einem Supermarkt so unwohl gefühlt, die Gänge, das viel zu grelle Licht, Münzen zählen müssen, alle beobachten mich. Süßigkeiten halfen leider nicht wirklich. Und dann sagte Clown-Thomas, dass er glaube, sterben zu müssen. Seine ganze linke Seite strahle, sagte er. Und es schmerze unglaublich, vielleicht ein Herzinfarkt. Zwanzig Minuten später war die Rettung da; und Polizei auf Pferden. Ich beobachtete durch das Fenster, wie sie Thomas im Wagen untersuchten, während tausend Ameisen über meine Haut liefen. Oder in meiner Haut; und ich versuchte, sie wegzustreicheln, was nur bedingt von Erfolg gekrönt war. Währenddessen verkrampfte sich Thomas neben mir und knirschte mit den Zähnen. Wie soll ich ihren Eltern erklären, dass meine beiden besten Freunde tot sind, schoss mir durch den Kopf. Keine Ahnung. Das Gefühl, selbst gleich ohnmächtig zu werden und am nächsten Tag im Krankenhaus zu erwachen, wurde stärker. Mit  Thomas ist alles ok, sagen die Sanitäter. Kein Herzinfarkt. Plötzlich stand das Mercedes-Taxi vor uns. Ich verschmolz mit der Rückbank, kämpfte mit den Ameisen und als ich ausstieg, kam die Wiese sehr schnell näher und verschlang mich mit ihrer Nässe. Die ganze Welt drehte sich um mich. Oben und Unten tauschten ihren Platz, ich konnte mich nicht mehr halten. Gott sei Dank sind seine Eltern Clowns, dachte ich.

Als wir aus dem Zug ausstiegen, schien die Sonne. Verschwitzt von einer Nacht im Schlafabteil, hungrig, nicht ausgeschlafen. Die Stadt hatten wir schnell erkundet, so klein fühlte sie sich an, so intim. In einer Seitengasse rauchten wir, husteten aber die meiste Zeit. Und dann ließen wir uns an dem Fluss nieder und sahen auf die weiße Plastiktüte auf unserem Schoß. Eine weiße Plastiktüte als Versprechen eines Abenteuers, Gefühle, die man sonst nie erlebt, Freiheit, Wildnis, Traum. Ich sah mich um, blickte auf die Häuser, mit den roten Ziegeln, das Wasser. Sah Straßenlaternen und Menschen. Dann sah ich Thomas und Thomas an. Die Furcht vor dem Unbekannten wird überdeckt von der Vorfreude, wie eine schlecht übermalte Ziegelwand, hinter deren vordergründigem Weiß noch das Rot der Ziegel durchblitzt. Wir standen auf und gingen zu dem großen Supermarkt. Wir entschieden uns für Baguette mit Käse und Tomaten als Abendessen. Das war günstig und geschmacklich auch sehr in Ordnung. Als wir den Supermarkt verließen, beschlossen wir, zum Wasser zu gehen und dort zu essen. Die erste Aufregung war verschwunden, aber eine gewisse Anspannung war doch vorhanden. „Jetzt sollten wir dann langsam etwas spüren“, sagte ich.

Gott sei Dank sind seine Eltern Clowns, dachte ich. Thomas hatte seine Mutter angerufen. Als wir dann schon oben im Hotelzimmer waren und ich mich zum zweiten Mal übergeben hatte. Und er sagte ihr, dass er glaube, sterben zu müssen. Sie konnte ihn beruhigen, da sie auch schon mit diversen Substanzen experimentiert hatte. Die eigene Mutter anzurufen und ihr zu sagen, man glaube sterben zu müssen, muss um einiges einfacher sein, wenn man Clowns als Eltern hat. Das war das, was mir dann später einfiel.

Maximilian Eberharter

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15051

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