Am Ende des Regenbogens

Sie schwebt. Ihre Füße berühren kaum den Boden, ihr Herz tanzt über den Wolken. Die Sonne verscheucht nur für sie die grauen Regenschleier und um sie herum wird alles hell und klar. In den Pfützen schillert Benzin, in den Fenstern spiegelt sich der Himmel.
Sabrina nimmt die Perücke vom Kopf und stopft sie in ihre Tasche. Wie gut es tut, die Luft am Kopf zu spüren, den Wind auf der fast kahlen Haut.
Tief atmet Sabrina ein. Sie taucht auf aus einem Vakuum, so als hätte sie die vergangenen 26 Monate unter Wasser gelebt, wo sie nicht atmen konnte, wo sie nichts riechen, schmecken, fühlen konnte.

Zum ersten Mal seit langer Zeit ist ihr leicht zumute, ohne dieses zerstörerische Monster in ihrem Körper. Noch einmal saugt sie die Luft ein wie eine Ertrinkende.
Fast spürt Sabrina das Zittern noch in ihren Knien, das schnelle Schlagen ihres Herzens auf dem Weg in die Klinik. Gern gesteht sie sich die Angst nicht ein, die sie hatte, als sie vor der Tür zum Sprechzimmer ihres Arztes wartete. Alle Mühe hatte sie sich gegeben, ihn diese Angst nicht merken zu lassen. Lächelnd und scherzend hatte sie sein Zimmer betreten, wie immer hatte sie gerade ihm beweisen wollen, dass sie sich nicht unterkriegen ließ.
An der Wand hinter seinem Schreibtisch hing eine Kinderzeichnung. Das Bild eines schiefen Regenbogens, darunter ein winziges Mädchen im roten Kleid, das auf die Stelle zuläuft, an welcher der Regenbogen die Erde berührt. Das Bild, auf das sie bei jedem Arztbesuch ihren Blick konzentrierte, während sie dem Arzt zuhörte. Auch heute fixierte sie, während er sprach, den Regenbogen.  Dabei schien es ihr, als wäre das Mädchen dem Ende des Regenbogens heute nähergekommen.

An der Straßenecke das offene Parktor, es lädt sie ein.
Sie riecht das feuchte Laub, den erdigen Duft des Sommerregens. Sie hört das Hupen der Autos, das raschelnde Gras, das Gezwitscher der Vögel.
Allein ist sie in diesem Teil des Parks. Nur vereinzelte Sonnenstrahlen dringen durch die Zweige. Vor ihr am Ende des Kieswegs steht eine Bank, feucht vom vergangenen Regen und bedeckt von welkendem Laub der Platanen. Sie geht darauf zu.
Vor der Bank bleibt sie stehen, innehaltend. Ihre Tasche rutscht ihr von der Schulter. Sabrina stellt sie auf die Bank. Alles was darin ist, gehört zu ihrem Leben vor heute, zu dem Leben, das hinter ihr liegt.

Die Perücke, die sie getragen hat, weil eine Frau eben nicht mit kahlem Kopf herumläuft. Sie hätte damit kein Problem gehabt, sie hatte sich ihrer Kahlheit nicht geschämt. Aber es hätte gewirkt, als wollte sie auffallen, Mitleid erregen. Und dies wäre ihr zuwider gewesen. Nie hatte sie Mitleid gewollt.
Die Pillen, die sie nehmen musste. Deren Nebenwirkungen teilweise so heftig waren, dass sie gerne auf die Einnahme verzichtet hätte. Ohne die sie die Chemotherapie aber nicht verkraftet hätte.

Das kleine blaue Schiffchen, das sie an ihrem Schlüssel immer bei sich trägt. Es ist das Bild ihres größten Traums, des Traums vom Leben und Arbeiten auf einem Schiff. Schon als Kind wollte sie Matrose werden oder Seeräuber. Doch weil ihre Mutter sie nicht gehen lassen wollte, arbeitet sie stattdessen in einem Reisebüro, wo es nach verstaubten Plastikmuscheln riecht, statt nach Seeluft und Meerwasser.
Ihr Handy, ohne das sie nicht aus dem Haus durfte, um im Notfall Hilfe rufen zu können. Das sie nie wieder brauchen will.
Und für den Fall, dass nichts helfen würde, das Skalpell, von dem sie gar nicht mehr weiß, woher sie es hat. Vermutlich nicht das angenehmste Mittel, ein Ende zu machen, aber alle anderen Methoden, die ihr eingefallen waren, schienen auch nicht besser.

Ein Blatt fällt von der Platane hinter der Bank, es schaukelt im Wind, als könne es sich nicht entschließen, wo es niedergehen soll. Als es auf ihrer Tasche landet, legt sie das Blatt hinein zu den anderen Dingen.
Sabrina löst das Plastikschiff vom Schlüsselbund und nimmt es in ihre Faust, lässt den Schlüssel zurück in die Tasche gleiten. Sie schließt die Handtasche mit einem Ruck und wendet sich um. Ohne zu zögern, ohne sich umzudrehen, geht sie fort von der Bank, von der Tasche.
Sie läuft mit festen Schritten. Zu ihrem Ende des Regenbogens.

Renate Müller
www.renas-wortwelt.de

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22024

 

 

 

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