Logbuch der Pinta

24. September 1492:

Noch immer kein Flaggschiff in Sicht. Seit Wochen durchqueren wir als Teil der Armada den Atlantik. Die Niña, navigiert von meinem Bruder, ist stets an unserer Seite. Meine Karavelle ist das schnellste der Schiffe. Als wir am Donnerstag, den 6. September von der Insel Gomera aus in See stachen, gab es noch eine heftige Debatte mit dem Flottenführer. Er hat mich zu überreden versucht, der Mannschaft stets viel weniger Seemeilen bekannt zu geben, als wir tatsächlich segelten, damit die Besatzung nicht den Mut verlieren würde, falls die Reise zu lange dauern sollte. Darauf wollte ich jedoch nicht eingehen. Die Santa Maria mit Flottenkommandant Don Cristóbal ward seither nicht mehr gesehen.
Täglich finden wir auf unserer Reise nun Hinweise auf Land. Gestern, gegen zehn Uhr morgens, ließ sich ein Pelikan auf den Hauptmast nieder. Diese Vögel pflegen sich nie mehr als 80 Seemeilen vom Lande zu entfernen. Vielleicht haben wir Indien bald erreicht.

Mein erster Offizier macht sich seine Gedanken wegen der Santa Maria.
„Was meinst du, Martin, wollte der Kapitän uns abhängen? Hat er bewusst eine andere, schnellere Route gewählt und uns eine alte Seekarte überlassen?“
„Warum sollte er das tun?“, frage ich etwas zweifelnd.
„Du hast die Rede des Herrscherpaares vor unserer Abfahrt gehört? Die Auszahlung eines lebenslänglichen Ruhegehaltes von 10 000 Maravedis an denjenigen, der zuerst Land entdeckt.“
Ich gehe nicht näher auf diese Gedanken ein und mache mich ans Navigieren. Weiß der Himmel, was Don Cristóbal ausheckt.

 

28. September 1492:

Endlich kreuzen wir mit der Santa Maria. Wir fahren mit Kurs West-zu-Nord und haben eine unstete Brise, kommen nicht vorwärts. Ich lasse mich heute mit einem Boot zur Santa Maria bringen. Kapitän Cristóbal erwartet mich bereits. Er hat ein argwöhnisches Grinsen aufgesetzt, als ich sein Schiff betrete.
„Mein lieber Martin! Na, wo warst du denn?“, begrüßt er mich. „Das frage ich dich, wenn es erlaubt ist“, entgegne ich und erweise mit einer höflichen, aber sehr kurzen Verbeugung meine Wertschätzung. Mein Bruder Vicente von der Niña steht bereits an seiner Seite und fragt:
„Könnten wir die Seekarten vergleichen, Don Cristóbal? Vielleicht klärt sich dann alles auf.“
„Meine geschätzten Kapitäne, wir vergleichen gar nichts. Wir segeln alle weiter in der Hoffnung, endlich Land zu sehen. Und seid euch gewiss – die Santa Maria wird als Flaggschiff die Aufgabe erfüllen! Von diesem Schiff aus wird auch Land entdeckt! Haben wir uns verstanden?“ Mit einer winkenden Geste gibt er uns zu erkennen, dass die Besprechung nun vorbei ist. Ich bin etwas verwirrt, um ehrlich zu sein.

 

1. Oktober 1492:

Wir sichten viel grünes Gras, es handelt sich um Gras, das in salzarmen Buchten wächst oder in Flussnähe, jedoch nicht am Meer. Auf die Pinta kam aus West-Nordwest wieder ein Pelikan angeflogen und setzte seinen Flug nach Südosten fort, woraus man entnehmen kann, dass er von in westnordwestlicher Richtung gelegenem Lande abgeflogen sein muss.
Die letzten Tage über herrschte Windstille, das Meer ist spiegelglatt, wie ein ruhiger Strom und die Luft weich und mild. Nun kommt aber endlich Wind auf, diesen habe ich unbedingt nötig gehabt, muss ich doch meine Mannschaft stets zur Weiterfahrt antreiben, da sie der Ansicht ist, dass in diesen Gewässern keine Winde gehen, die geeignet wären, die Schiffe nach Spanien zurückzubringen.

 

10. Oktober 1492:

Es ist ein Wunder geschehen! Bei Sonnenuntergang sehe ich vom Heck meiner Karavelle endlich Land! Ich rufe Don Cristóbal auf der Santa Maria zu, er möge mir die versprochene Belohnung zukommen lassen. Zuerst will er mir nicht glauben, aber als auch die Mannschaft der Niña meine Wahrnehmung bestätigt, wirft sich der Flottenführer auf die Knie, um Gott Dank zu sagen, meine Mannschaft betet zur gleichen Zeit das „Gloria in excelsis Deo“. Die dreißig Leute der Niña klettern sodann auf die Masten und Wanten und behaupten samt und sonders, Land vor sich zu sehen.

 

11. Oktober 1492:

Bei Sonnenaufgang hissen wir die Flagge am Großmasttop und feuern eine Bombarde als Signal ab, dass Land in Sicht gekommen sei. Der Flottenkommandant ordnet an, dass die drei Schiffe Seite an Seite fahren sollen. Weiters kommt die Anordnung, die westliche Kursrichtung aufzugeben und Kurs auf West-Südwest zu nehmen, was ich nicht verstehen kann.
Da meine Karavelle schneller ist und ich das Seite-an-Seite-fahren nicht halten kann, kommen wir zuerst nähe Landes.
Die ganze Besatzung der Armada singt laut und voller Ehrfurcht das „Salve Regina“. Wir holen alle Segel ein und fahren mit nur einem Großsegel. Dann legen wir bei und fahren mit Booten zu einer Insel, die in der Indianersprache „Guanahaní“ heißt.
Wir gehen an Land und erblicken in der Ferne nackte Eingeborene. Don Cristóbal Colón entfaltet die königliche Flagge und ruft:
„Im Namen des Königs und der Königin – ich, als Kapitän der Santa Maria, habe dieses Land entdeckt und ergreife Besitz hierüber!“ Ich staune nicht schlecht, war es doch nicht er, der zuerst Land entdeckte, sage aber nichts dazu, denn bald sammeln sich zahlreiche Inselbewohner um uns.

In den folgenden Wochen erkunden wir das Land und treffen uns immer wieder mit unterschiedlichen Anführern der Indianer, um uns auszutauschen. Es entstehen Freundschaften zwischen mir und den Häuptlingen, wo hingegen Don Cristóbal die Menschen herablassend behandelt. Ich bin auf der Suche nach Gewürzen, Seide und anderen Reichtümern, von denen er vor unserer Reise mir so ausgiebig vorgeschwärmt hatte. Immerhin bin ich nicht nur Kapitän der Pinta, sondern auch Kaufmann und Handelsherr.

 

18. November 1492:

Mein Unmut wächst von Tag zu Tag. Ich besegle unterschiedliche Inseln, derer hier zahlreich vorhanden sind, jedoch machen die Einheimischen ein Geheimnis daraus, wo sich denn nun Gold und andere Schätze befinden.

Don Cristóbal hat heute Abend zum Gespräch auf die Santa Maria eingeladen.
„Meine Herren! Ich hege einen Plan, den ich mit euch teilen möchte, da ich hierzu eure Hilfe benötige. Wir wurden die letzten Wochen nicht fündig an Schätzen und bin zu folgender Erkenntnis gelangt: Die Indianer gehen nackend umher, so wie Gott sie erschaffen, Männer wie Frauen. Sie sind Wilde und alle noch sehr jung, gut gewachsen, haben einen schön geformten Körper.“
„Worauf willst du hinaus?“, wende ich ein.
„Ich hege den Gedanken, einige dieser Eingeborenen nach Spanien mitzunehmen, habe mittlerweile schon welche ergreifen lassen und sie sollen dort unsere Sprache lernen und den christlichen Glauben annehmen. Die königlichen Hoheiten werden mir alsdann den Befehl erteilen, diese Leute im Namen Gottes wieder zurückzubringen und sie hier auf ihren eigenen Inseln als Sklaven zu halten und uns zu helfen, Kolonien zu erbauen.“
Der Kommandant redet sich zunehmend in Fahrt.
„Aber unsere Schiffe sind zu klein, um mit so vielen Indianern nach Spanien zu segeln. Wie soll das gehen?“, fragt nun mein Bruder.
„Wir lassen unsere halbe Besatzung hier, diese bauen unterdessen mit den Einheimischen gemeinsam Siedlungen und bereiten alles vor, bis wir unter Zusage unserer Hoheiten wieder nach Indien segeln. Vielleicht schon im nächsten Frühjahr. Dann müssen wir mit einer sehr großen Armada segeln, um Frauen, Männer, Kinder und Haustiere hierher zu bringen. Und wir verbreiten hier das Christentum. Mich dünkt, dass diese Wilden gar keine eigene Religion besitzen!“

Es herrscht betretene Stille! Ich kann es nicht fassen. Niemals war von solchen Plänen die Rede, als wir in See gestochen sind, um Indien zu suchen und Kostbarkeiten für den Seehandel in Gang zu bringen.
„Das ist Sklaverei und Menschenhandel! Davon war nie die Rede!“, antworte ich.
„Davon hast du keine Ahnung, Martin. Du bist ein einfacher Kaufmann und kannst wohl auch ein Schiff navigieren. Aber über Landeroberung weißt du gar nichts. Wir müssen unserer Krone zu großer Herrschaft verhelfen!“. Er scheint nun völlig von Sinnen, springt auf und läuft um den großen Tisch zu mir herüber, auf seiner hohen Stirn und auf der Adlernase sind Falten des Zornes ersichtlich.
„Ich bewundere deinen Entdeckerdrang und den Mut, in unbekannte Gewässer vorzustoßen, Don Cristóbal. Aber diese Vorhaben will ich nicht unterstützen. Dein religiöser Eifer wird in einer Katastrophe enden. Diese Menschen sind so völlig anders, sie sind glücklich mit ihrer einfachen Lebensweise. Lassen wir sie in Ruhe.“ Ich will gerade gehen, als er mich am Arm packt.
„Du verrätst das Land und die Krone? Du verweigerst die Ausbreitung des Christentums? Wahrhaftig? Verräter!“ Er faucht es mehr, als er es spricht.
Ohne ein weiteres Wort verlasse ich die Santa Maria, kehre auf mein Schiff zurück, lasse noch in dieser Nacht Anker lichten und trete die Heimreise an.

***

Brief meines Freundes Bartolomé de Las Casas, im Jahre 1525:

„Mein lieber Freund Martin,
du hast es geahnt und es ist wahrlich so gekommen. Die Verwüstung Westindiens durch Massenmorde, Ausbeutung und Vergewaltigungen war in vollem Gange. Eingeschleppte Krankheiten durch die Spanier, die schonungslos des Goldes wegen hierher kamen und nicht, wie geplant, wegen Landwirtschaft und Kolonialisierung, ließen die Einwohnerzahl sinken. Die Pläne von Kolumbus lösten eine Katastrophe aus. Er hat durch seine Haltung und sein Verhalten den Grundstein für eine der größten Katastrophen aller Zeiten gelegt. Die Ureinwohner wurden beraubt, unterdrückt, ausgebeutet und ausgerottet. Die Bevölkerungszahl Hispaniolas sank von 400.000 auf heute kaum noch 200. Ich bin ehrlich, wenn ich dir meine Auffassung hier in größter Trauer mitteile: Die Motive von Kolumbus standen und stehen in engem Zusammenhang mit den Interessen der hierher nachfolgenden Konquistadores: Es geht um Macht und Gold! Nichts anderes ist ihr Ansinnen! In Erwartung eines baldigen Wiedersehens!“
Dein Freund Bartolomé

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

Erstveröffentlichung beim Online-Schreiblust-Verlag

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 19114

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