Kategorie-Archiv: Robert Müller

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Lesen, ein Fenster in die Welt hinaus

„Die Sprache macht den Menschen – die Herkunft macht es nicht“, meinte im Film „My Fair Lady“ der erfolgreiche Sprachforscher Professor Higgins.

Ja, die Sprache formt den Menschen, und erst mit der Sprache kann er Bildung erwerben. Wobei die Sprache bereits Teil der Bildung ist. Und wie ein Mensch ist, weiß man erst, wenn man mit ihm gesprochen hat. Man wird eingeschätzt, wie man sich neben Erscheinung und Benehmen auch sprachlich gibt. Das Kind lernt von Eltern und Umgebung, sich auszudrücken und zu verstehen, was von ihm erwartet wird. Das genügt vorerst zum täglichen Gebrauch. Später wird verlangt (und auch vom Kind selbst gewollt), mehr von der Welt der Erwachsenen zu verstehen, auch seltener verwendete Wörter richtig zu interpretieren. Dafür sind die Gespräche der Erwachsenen untereinander so wichtig, bei denen die Kinder zuhören und mitlernen („Papa, was ist ein …?“). Hand in Hand geht damit auch das Erlernen und Anwenden des „kleinen Einmal eins“, der Umgang mit kleineren Zahlen fürs tägliche Leben. Spätestens mit der Schulreife wird ja das (eigene Taschen-)Geld sehr wichtig.

Lesen in der Praxis:

Ohne Lesefähigkeit könnte man in unserer westeuropäischen Welt kaum überleben: Nicht nur, dass Lesenkönnen selbstverständliche Voraussetzung für jede Arbeitsstelle ist; man könnte heute nicht einmal mehr den Einkauf für das tägliche Leben bewältigen. Bei Tiefkühlpackungen ist noch abgebildet, was enthalten ist, aber schon bei den vielen Molkerei- und Fertigprodukten weiß man, ohne Lesen zu können, wirklich nicht mehr, was drin ist. Wobei es uns oft – meinen Zyniker – bei den vielen Farb-, Geschmacks- und Haltbarkeitszusätzen aus den chemischen Labors manchmal den Appetit verderben würde, wenn man das alles lesen und verstehen könnte. Und natürlich ist zum Erlernen einer Fremdsprache die Grundvoraussetzung, lesen zu können. So hatte zum Beispiel in Dänemark eine englische Touristin das Pech, immer wieder „sauer gewordene“ Milch zu erwischen, wenn sie ihrem Kind einen Kakao machen wollte. Erst nach späterer Rückfrage bei ihrer Zimmerwirtin klärte sich auf, dass sie die grüne Packung, in der Sauermilch war, für Frischmilch („grün = frisch?“) gehalten hatte.

Einer der Gründe, warum die jungen Menschen von heute ihre Sprache nur mehr rudimentär gebrauchen können (beherrschen wäre hier wohl das falsche Wort) ist der Umstand, dass ihr Sprachschatz eher klein geblieben ist – und damit auch ihr Sprachverständnis und die Orthographiekenntnisse. Warum? Weil sie viel zu wenig gelesen haben. Denn je mehr man liest (gute Literatur natürlich), desto mehr Wörter lernt man kennen – und damit auch deren Schreibweise und Bedeutung. Ganz ohne Schule!!! Hier eignen sich die oft als ebenso unmodern wie unnötig empfundenen „Klassiker“ wie Schiller, Goethe, Lessing und die deutschen „Romantiker“ sehr gut als Meister einer flüssigen, einprägsamen und eleganten Sprache. Und erst die Märchenbücher! Schon in der Volksschule sollte man hier ansetzen und auch der Lyrik ihren Platz einräumen – schließlich gehen Gedicht und Phantasie Hand in Hand.

Lyrik merkt man sich nämlich sehr gut, Übung macht auch hier den Meister – es muss ja nicht gerade Schillers „Glocke“ sein, die man früher so manchem unwilligen Schüler als Strafarbeit zum Auswendiglernen zugemutet hatte. Und wer in der Schule die bei uns ehedem üblichen Lieder (zum Beispiel: „Wenn alle Brünnlein fließen“, „In die Berg bin i gern“, „Das Wandern ist des Müllers Lust“ usw.) gelernt und gesungen hat, wird diese Texte (und deren Aussagen und Stimmungen) bis ins hohe Alter behalten.

Lese-Erfahrungen des Autors

Meine Mutter hat mich, seit ich laufen konnte, immer zum Einkaufen auf den Hannover-Markt in Wien-Brigittenau mitgenommen. Ich bin gerne dabei gewesen, weil es dort so viel zu sehen und zu riechen gab. Da waren das Fischgeschäft, der Kaffeeröster und der Sauerkräutler, und die vielen Obst- und Gemüsestandeln, wo es je nach Jahreszeit nach Erdbeeren, Pfirsichen, Äpfeln, Kohl oder Zwiebeln und Sellerie geduftet hat. Und natürlich auch nach Wurst, Selchfleisch und warmem Leberkäse beim Fleischhauer.

Aber eines hat mir immer gefehlt: Auf den Firmenschildern oben an den Kiosken waren Schriften in verschiedener Art und Farbe angebracht, die mich interessierten, welche ich aber nicht lesen/verstehen konnte. Oft und oft habe ich meine Mutter gefragt, welche Bedeutung denn diese Schilder hätten, aber sie hat mich immer auf die demnächst zu besuchende Schule vertröstet, und dass da nur der Name und Beruf der Geschäftsleute stünden. Nach zwei Klassen Volksschule stand endlich auch mir die Welt der (Druck-)Schrift offen – und einige der damaligen Kioskschilder sind mir ob der altmodischen Bezeichnungen bis heute in Erinnerung, wie zum Beispiel „Agrumen, Kolonialwaren, Grünwaren, Südfrüchte, Landesprodukte“ etc. Und etliche Namen der Händler spiegelten damals noch die Länder der K.- u.-k.-Monarchie wider.

Ich habe in meiner Nachkriegskindheit und -jugend, wo es die elektronische „Zerstreuung und passive Unterhaltung“, also den „Konsum“ geistloser Spiele, Shows und Werbung nicht gegeben hat, immer gerne und viel gelesen. Während meines „Seniorenstudiums“ habe ich besonders gerne halbe Tage in der National- und der Universitätsbibliothek verbracht. Einen Tisch, eine Leselampe und die ganze Welt der Bücher für sich zu haben, das hat schon was. Und rund um einen nur Ruhe und Menschen mit gutem Benehmen, welche diese geistvolle Umgebung ebenfalls schätzen. Man konnte förmlich hineinfallen in die Welt der Bücher. Ein angenehmer Nebeneffekt war auch, dass die Lesesäle der Nationalbibliothek und die der katholischen Fakultät unterirdisch angelegt, also in den heißen Sommern wohltuend kühl temperiert waren.

Warum Lesen?

Lesen ist nicht nur wichtig: Lesen ist schön, herrlich, interessant, phantastisch, ein Quell der Freude, ein angenehmer Zeitvertreib, ein gutes Werkzeug, ein Schlüssel zu vielen Türen, ein Fenster in fremde Welten, eine angenehme Art der Bildung, ein Zeichen von Würde und Menschlichkeit, ein Weg zum guten Leben und eine persönliche Stütze, wenn’s nicht so gut läuft. Oh ja, es gibt Bücher, die froh machen, Bücher, die Trost spenden, Bücher, die das Wissen erweitern und anregen u. v. m. Natürlich nur dann, wenn man sie auch liest! Und wenn sie „nur“ die trübsinnige Langeweile vertreiben, ist auch schon etwas gewonnen.

Wie schön, entspannend und gleichzeitig aufregend ist es doch, sich in einem schönen Wohnzimmer oder einer gut ausgestatteten Bibliothek mit einem dicken Buch in den Ohrenfauteuil zu setzen und beim Lesen die Zeit zu vergessen. Sich in die Geschichte hineinzuleben, die Gegend und Orte, die Personen der Handlung in der Phantasie auszumalen, ja zu erträumen, sich in die Gefühle und Denkmuster der Personen hineinzuversetzen, so quasi: „Was würde ich an deren Stelle tun“ oder so. Ein ganzer Nachmittag mit so einem Lese-Erlebnis ist ein Geschenk, ein die Phantasie bereicherndes und das Gefühl der Zufriedenheit hinterlassendes Abenteuer. Und ein erholsames Nervenbad obendrein. Der Autor hat einmal drei Wochen Spitalsaufenthalt mit Hilfe vieler schöner, interessanter Bücher sorglos und entspannt genossen. Endlich Zeit zum Lesen!

Sprachgefühl:

Wer viel (und sprachlich Gutes) liest, hat einen bedeutend größeren Wortschatz, kann sich „diplomatischer“ an verschiedene Gegebenheiten und Gesprächspartner anpassen und seine Ansichten und Wünsche besser, das heißt wirkungsvoller, präsentieren. Oder seine Verteidigung ohne Beleidigungen aufbauen, dem/den Anderen mit wirkungsvollen Argumenten und Einsichten eine bessere oder neue Sicht der Dinge ermöglichen. Und vor allem eine Prise Humor ins Gespräch einbauen, als immer willkommene Auflockerung im Dialog.

Gute Sprache ist auch ein Gleitmittel für ruppige Abläufe, ein Schlupfloch-Bohrer für ausweglose Situationen, ein Verbindungsseil zwischen auseinanderstrebenden Standpunkten, ein großer Pluspunkt bei Diskussionen und ein dicker Stein im Brett beim Kennenlernen/“Geneigt-machen“ des anderen Geschlechts, ein Türöffner und „Sympathisch-Macher“ beim noch unbekannten „Vis-à-vis“ u. v. a. An der Sprache seines Gegenübers erkennt/erfährt ein erfahrener, gebildeter Mensch auch viel über seinen Gesprächspartner, kann ihn besser einschätzen und mit ihm umgehen.

Was geschieht beim Lesen?

Ganz schön viel, und das nebeneinander, gleichzeitig, nacheinander und oft noch, nachdem man aufgehört hat zu lesen! So wie der Musiker beim Notenlesen den „chiffrierten“ Klang hört, sich im dafür vorgesehenen Teil des Gehirns die soeben „gelesenen“ Töne bilden, so wird das aus Buchstaben gebildete Wort, der ganze Satz, die Aussage im Gehirn als Bildfolge plastisch und färbig wahrgenommen – „Kino im Kopf“ nennt man es recht zutreffend. Lesen weckt – bei interessiertem Tun – sogar Gefühle im Menschen, er träumt, bekommt Sehnsucht, empfindet Hunger, Angst, Hass, liebevolle Gefühle, Wehmut, Einsamkeit, Hoffnung – die ganze Skala ist möglich. Konzentriertes Lesen kann blind und taub für die Umwelt machen, man hört nicht mehr, was im Raum los ist, was gesprochen wird, empfindet weder Hunger noch Müdigkeit, man ist gespannt, was weiter passiert, und nimmt intensiv Anteil daran, bis man „aufwacht“ wie aus einem Traum. Hoffentlich aus einem schönen.

Aber es ist auch „gedankenloses“ Lesen möglich und gebräuchlich; man sucht oft etwas Bestimmtes und überfliegt dann mehrere Seiten, ohne den Inhalt richtig wahrzunehmen, weil man auf eine ganz besondere „Botschaft“ programmiert ist. So zum Beispiel ein Jurist, der einen ganz bestimmten Paragraphen, ein uraltes oberstgerichtliches Urteil sucht o.Ä. Auch jagen besonders jüngere Leser in einem Buch nur der Handlung nach, ohne die Persönlichkeiten der Figuren, deren Umgebung und Ursachen für deren Handeln mitzunehmen. Ein älterer Leser nimmt auch die Zeit und Umgebung der Geschichte wahr, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, wirtschaftliche Zusammenhänge und vieles andere.

Was auch bedacht werden sollte: Die „Rechtschreibung“, das rechte Schreiben also, lernt man ohne Mühe und wie von selbst durch das fleißige Lesen. Denn wenn man ein Wort zweihundertmal gelesen hat, dann weiß man ohne Regeln, wie das Wort zu schreiben ist. Auch das Gefühl für Satzzeichen entsteht beim Lesen (ein bibliophiler Freund von mir meint, überall dort, wo man beim Vorlesen Luft holt, gehört eines hin).

Wichtig und schön: Vorlesen

Bei Lesungen prominenter Autoren muss man sich schon rechtzeitig anmelden und Eintritt bezahlen, um den großen Schriftsteller original zu hören. Als Günter Grass aus seiner kompletten „Blechtrommel“ las, war das Theater tagelang ausverkauft.

Nicht nur Kinder lieben es, vorgelesen zu bekommen. Es war immer ein Festtag für Volksschulkinder und Lehrer/-innen, wenn vor den Ferien der Lesepate aus seinem großen Buch mit den schönen Bildern von der Mäusefamilie im Brombeerhag vorgelesen hat.

Vorlesen für Katzen:

Wissenschaftler in den USA fanden heraus, dass es Kindern mit Vorleseängsten und ähnlichen Problemen enorm helfen kann, wenn sie Katzen vorlesen. Dabei verspüren sie keinerlei Druck, und das macht das Lesen einfach und entspannt. Auch den Katzen bringt die Anwesenheit von Kindern im Tierheim viel. Dadurch, dass sie regelmäßig die menschliche Stimme in einem ruhigen, wohlwollenden Ton hören, lernen sie, dass von Menschen nicht zwangsläufig Gefahr ausgehen muss. Natürlich kommt auch das Kuscheln beim Lesen nicht zu kurz. Es gibt mittlerweile schon einige Tierheime, wo Volksschulkinder den dortigen Katzen vorlesen können.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 21123

 

 

Das Haarwuchsmittel

Ein modernes Märchen für Erwachsene

Herr Josef Glatz, 52, verwitweter Inhaber eines „Herren-Friseursalons“, hatte nach einem starken Samstagvormittag sein Lokal zugesperrt und sauber gemacht. Nun gedachte er, nach Mittagessen und Siesta, endlich das Hinterzimmer auszuräumen. Oft hatte er einen „Anlauf“ genommen, aber beim Anblick der unglaublich vielen großen und kleinen Flascherln aus Glas und Plastik, der Tiegel, Cremedosen und Zerstäuber aus dem vor drei Jahren aufgelassenen „Damensalon“ war er entmutigt davor zurückgeschreckt und kopfschüttelnd wieder hinausgegangen.

Vielleicht war es heute das zweite Achterl Veltliner zum Schnitzel, vielleicht der gut gemeinte Rat seines Schwagers Rudi, wieder „Ordnung“ in sein Leben zu bringen, die Erinnerung an seine Gattin und ihren Damensalon „loszulassen“. Also los! Mit zwei Kübeln, Kehrgerät und Staubtuch bewaffnet betrat er den muffig riechenden Raum, riss alle Fenster auf und ging ans Werk. Aber wohin mit diesen Shampoos, Haarpflege-Mitteln für trockenes, fettes, dünnes und gebleichtes Haar, den biologischen Säften, den Tönern, Färbemitteln und Entwicklern, all dieser flüssigen chemischen und „Natur“-Kosmetik? Das durfte man nicht in den Abfluss gießen! Aber die halbvollen Gläser und Plastikgebinde waren weder für den Restmüll noch Altglas-Container zugelassen. Deshalb schüttete er den Inhalt aller Gefäße in die beiden Plastik-Kübel, um diese dann montags am nächsten Mistplatz abzugeben.

Als er die fast vollen Eimer in die Ecke stellte, fiel ihm beim Bücken sein Kamm aus der Brusttasche in die schäumende braune Soße des einen Kübels. Beim raschen Griff danach spritzte ihm etwas davon auf den rechten Handrücken. Er spülte den Kamm ab, wusch sich die Hände und staubte die leeren Regale ab, bevor er für heute Schluss machte. Komisch – der betroffene Handrücken juckte leicht! Na ja, kein Wunder bei dieser Mischung. Herr Glatz (von bösen Freunden auch „Glatzen-Pepi“ genannt – er hatte tatsächlich nur mehr einen grauen Haarkranz um den Schädel) machte seinen Nachmittagsspaziergang, aß abends im Schanigarten eine „Saure Wurst“ zum Bier und ging nach dem Rapid-Match im TV schlafen.

Der Sonntag kam und ging ohne besondere Vorkommnisse; seinen noch immer leicht juckenden Handrücken cremte er mit dem Rest einer Cortison-Salbe ein, worauf das aufhörte. Und am Montagfrüh fuhr unser „Pepi“ die beiden Kübel zum Mistplatz. Man wies ihn an, das Gemisch in eine mit „Gefährlicher Sondermüll“ bezeichnete Tonne zu schütten – die Eimer musste er wieder mitnehmen. Aber als er sie – zwecks Reinigung – zu Hause zum Ausguss stellte, fiel ihm auf, dass sein rechter Handrücken mit einem feinen Flaum von dunklen Haaren bedeckt war! Verblüfft verglich er seine beiden Hände – der linke Handrücken war wie immer hell und glatt, der rechte schimmerte dünkler. Da gab es nur eine Erklärung: Das im Eimer mit dem braunen Inhalt (im anderen war eine erbsengelbe Mischung) musste ein zufällig entstandenes, wirksames Haarwuchsmittel sein!!

Herr Glatz fiel auf den nächsten Stuhl und atmete tief ein. Da hatte ihm der Zufall ein Wunder beschert – ihm war gelungen, worum sich die Wissenschaft seit langer Zeit bemühte – er hatte ein wirksames Haarwuchsmittel er-, nein ge-funden!!! Und siedend heiß fiel ihm ein, dass er dieses – ja, Wundermittel – vor einer halben Stunde als „Gefährlichen Sondermüll“ weggeschüttet hatte. Scheiße, warum hatte er nicht vorher auf seine Hände geschaut! Der Kübel wäre Millionen wert gewesen!! Aber zurückholen konnte er das nicht mehr – in der Tonne am Mistplatz waren doch viele andere giftige Stoffe wie Farben, Lösungsmittel und weiß Gott was alles enthalten, da war nichts mehr zu retten. Doch halt – im Kübel war ja noch ein Bodensatz. Dieser wertvolle Stoff musste sofort abgefüllt und aufbewahrt werden, dann wäre wohl noch ein zweiter Versuch am Platz! Sicher ist sicher!

Sorgfältig schabte er mit einer Teigspachtel die Reste aus dem Eimer über einen Trichter in einen leeren Bleikristall-Parfumflacon mit eingeschliffenem Stopfen, dann spülte er den Kübel mit wenig lauwarmen Wasser aus und goss die nunmehr wässrige Lösung in eine Halbliter-Vöslauer-Plastikflasche. „Haarexpress power“ schrieb er auf das Etikett vom Originalstoff, „Haarexpress light“ auf die Mineralwasser-Flasche. Um nicht versehentlich daraus zu trinken, malte er vorsichtshalber noch einen Totenkopf darauf, aber einen mit ein paar Borsten obenauf. Gut, und was wäre jetzt zu tun, um die Wirkung seines „Zauber-Elixiers“ nachhaltig zu testen?

Lange überlegte er hin und her, ob er eine „Testperson“ für dieses Experiment gewinnen sollte, kam aber dann zur Einsicht, dass ein Selbstversuch wohl verantwortungsvoller wäre! Schön. Aber auf welchem Körperteil? Am liebsten hätte er natürlich die volle Haarpracht seiner Jugend wieder am Kopf gehabt. Andererseits – seine Hände mussten doch bei der Arbeit gleich aussehen. Also die linke Hand mit ein paar Tropfen unverdünntem Stoff bestrichen, dann – wie vorgestern bei der rechten – nach fünfzehn Minuten lauwarm abwaschen. Gott sei Dank war bald darauf wieder ein leichtes Hautjucken zu spüren – die Lage war vielversprechend. Und wie beim „Erstfall“ bekämpfte unser Pepi erst am Dienstagmorgen den Juckreiz mit der gleichen Salbe. Vor dem Aufsperren seines Geschäftes reduzierte er noch den schon deutlicheren Haarwuchs am rechten Handrücken mit dem Rasierapparat.

Zwischen den wenigen Kunden dieses Dienstages hatte Herr Glatz Zeit, über die Verwendung seines „Wunderelixiers“ nachzudenken. Vor allem die begrenzte Menge machte ihm zu schaffen: Vom puren Saft war etwa nur 1/16 Liter vorhanden, und ob die „wässrige Lösung“ wirksam war, musste noch herausgefunden werden. An welcher Person wohl? Was konnte man dafür verlangen? Welchen Preis hat ein dermaßen begrenztes Monopol? Und vor allem – wenn das Mittel oder vielmehr dessen phantastische Wirkung nicht bekannt war, würde ja niemand viel Geld dafür bezahlen! Der Stoff musste – nach dem zweiten, positiven Test – bekannt werden!! Nur wie? Aber andererseits, wenn das Mittel bekannt wäre, würden wohl tausende Anfragen kommen – und er hatte nur die paar Tropfen im Bestand!! Also was tun??

Dr. Pöllgruber unterbrach als letzter Besucher diese Überlegungen. Der langjährige Kunde beklagte sich über seine immer größer werdende „Platte“ – man nenne ihn in seiner Redaktion schon öfter „Pröllgruber“, nach der ähnlichen „Frisur“ des ehemaligen niederösterreichischen Landeshauptmannes. So fragte er seinen Friseur, was dieser vom derzeit propagierten koffeinhaltigen Shampoo hielte. Ob das wirklich helfen könne? Glatzen-Pepi wiegte nachdenklich den Kopf: „Nun ja, das ist zwar schon einige Zeit am Markt, aber von einer durchschlagenden Wirkung habe ich noch nichts gehört. In der Innung ist man auch vorsichtig. Ja, Koffein soll die Durchblutung der Kopfhaut anregen, aber das würde eine Massage auch. Dann soll noch ein Medikament gegen Bluthochdruck, es heißt, glaub ich, Minoxidil, als leichte Nebenwirkung einen verstärkten Haarwuchs haben. Auf gesunde Menschen kann man das wohl nicht loslassen. Aber ich bin gerade einer Sache auf der Spur, die mir keine Ruhe lässt. Rufen Sie mich am Freitag an, dann weiß ich schon Näheres, ja?“ Herr Pöllgruber notierte das sofort im Kalender seines Handys und verabschiedete sich optimistisch: „Dann schau ma halt einmal, net?“ Und beim Zusperren streichelte unser Pepi den noch kaum spürbaren Haarwuchs am linken Handrücken. Sehr gut, das Mittel schien zu wirken!

In der Tat, seine nunmehr mit feinen dunklen Härchen bedeckten Handrücken fielen den Kunden auf und lösten sowohl deren Staunen als auch Befangenheit beim Friseur aus. Sollte er nun lügen, dass er seine Hände früher – seiner Frau zuliebe – immer rasiert hätte? Das würde doch kaum wer glauben. Oder die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit? Oh Gott, das würde ja sofort die Begehrlichkeit von älteren Männern wecken, die aber kaum viel dafür bezahlen würden (sein Salon lag in einem Arbeiterviertel). Fix nochmal, eine plausible Erklärung musste her. Da fiel ihm ein, was seine schlaue Gattin bei heiklen Anlässen immer gesagt hatte: „Mit nix lügt man besser als mit der halben Wahrheit!“ Also er habe unlängst beim Räumen des Damensalons einen Flacon ohne Etikett gefunden, es für Parfüm gehalten und etwas zur Probe auf seine Hände gesprüht – mit diesem erstaunlichen Ergebnis. Und nein, er könne das Mittel nicht „ung’schaut“ an seinen Kunden ausprobieren, weil er Zusammensetzung und Eigenschaften des Stoffs nicht kenne. Außerdem hätte er Eigenbedarf für den kleinen Rest, schließlich sei er auch kein „Struwelpeter“ mehr.

Diesen egoistischen Schutzwall durchstieß donnerstags der „Schweinemörder“ (so wurde der Fleischhauer Schallowitz von bösen Freunden genannt) wie ein Panzer. Der 130-Kilo-Koloss wollte, als er beim Rasieren die behaarten Hände des Friseurs sah, auch gleich seinen nur mehr dünn behaarten Kopf mit diesem Wundermittel behandelt wissen. Und legte, nach Abwehr von Herrn Glatz, glatte 1000 Euro aus der Brieftasche auf den Tisch. Nach neuerlichem Bedenken von Pepi, das Mittel sei nicht ausreichend getestet, es könnte auch Nebenwirkungen haben oder nicht auf jeden Hauttyp ansprechen, und er wolle nicht als Scharlatan verschrien werden, gelobte der Kunde Schweigen, er nehme alles auf sich und versprach, bei sichtbarer Wirkung des Mittels nach vier Wochen noch einen Tausender draufzulegen. Also in Gottes Namen – Herr Glatz sprengte ihm nach der Haarwäsche einige Spritzer des „Haarexpress-light“ auf die Kopfoberfläche und massierte es gründlich ein. Ein leichtes Hautjucken anfangs, so erklärte er, müsse der Kunde in Kauf nehmen. Hoch erhobenen Kopfes verließ Herr Schallowitz den Salon.

„Ist eh schon egal“, dachte der Friseur, als er abends seine Glatze im Spiegel betrachtete, „auf was warte ich noch?“ Und behandelte seine Kopfhaut nach dem Duschen sparsam mit „Haarexpress power“. Immerhin schon ein Extra-Tausender in der schwarzen Kasse! Vielleicht bekam er das Geld für ein neues Auto zusammen – sein uralter Golf hatte letzthin nur mehr mit „Bauchweh“ ein „Pickerl“ bekommen. Über die Shampoo-Reklamen im Fernsehen mit ihren gewagten Versprechungen konnte er nur mehr müde lächeln: „Ihr Schaumschläger mit euren Werbe-Millionen – ich, der kleine Vorstadtfriseur, kann das, was ihr nicht zustandebringt!“

Genau das hoffte auch Herr Dr. Pöllgruber, als er freitagmorgens den Salon betrat: „Guten Morgen, bin ich noch zu früh?“ Glatzen-Pepi begann zu schwitzen – er hatte noch nicht überlegt, wie er dem Stammkunden den Preis schmack- und glaubhaft machen konnte. Verlegen kratzte er sich am Kopf – oh Gott ja, der ersehnte Juckreiz war da! Alles in Butter, das Mittel wirkte! Also holte er den kleinen Bleikristall-Flacon hervor und erklärte: „Sehen Sie, diese Probe ist alles, was ich bekommen habe – mehr gibt’s nicht. Und das hat mich eine schöne Stange Geld gekostet. Ich schlage vor, Sie geben mir vor der Behandlung 1000 Euro als Einsatz; wenn sich innerhalb von vier Wochen Haarwuchs einstellt, gehört das Geld mir, wenn nicht, bekommen Sie es zurück. Und niemand erfährt davon, ja! Ist das okay?“ Der Kunde schluckte – so teuer hatte er sich das nicht vorgestellt; aber andererseits – eine bereits angedachte Haartransplantation kostete sicher mehr als das Doppelte, und dazu noch Auslandsaufenthalt und lange Dauer – also da war er bei seinem vertrauten Friseur wohl besser aufgehoben. „Ist in Ordnung, machen wir’s gleich? Weil ich hab heute einen sehr langen Tag.“ Glatzen-Pepi nickte und legte verschwörerisch den Finger auf den Mund, weil ein Kunde eintrat.

Nach der Behandlung mit dem unverdünnten Treibmittel empfahl er dem Kunden noch die Salbe gegen eventuellen Juckreiz und bat ihn, am Dienstag zum Rasieren wiederzukommen. Der Kunde staunte zuerst, verstand aber dann das zweimalige Augenzwinkern und sagte zu: „Ist in Ordnung, ich zahle gleich, muss noch zum Bankomat gehen.“ Pepi nickte. Prima, der zweite Tausender in der „Auto-Kassa“.

Das Wochenende verging ruhig, aber dienstags kam es dann dick: Als erster Besucher trat fröhlich grinsend der „Schweinemörder“ mit einem in blutiges Papier gewickelten Packerl ein: „Guten Morgen, Herr Glatz, was sagen Sie dazu?“ Er neigte den Kopf und präsentierte den winzigen dunkelblonden Flaum zwischen den vereinzelten längeren Haaren seines enormen Quadratschädels. „Ich hab’s ja kaum glauben können, dass da wieder was nachkommt – da sind zwei schöne Steaks und ein Beiried für Sie! Und den Rest wie besprochen, ja?“ Damit legte er seine Liebesgabe in das Waschbecken und verließ fröhlich pfeifend das Lokal.

Das Ganze hatte auch der soeben eingetroffene Chefredakteur Dr. Pöllgruber gehört und gesehen. Er wollte genauso seine hauchdünne neue „Wolle“ begutachten lassen – immerhin hatte er seinen „Eislaufplatz“ auf der Schädeldecke übers Wochenende fast blutig gekratzt, weil er auf die empfohlene Salbe vergessen hatte: „Was sagen Sie dazu, Herr Glatz, der Ansatz ist ja vielversprechend – aber wird das wieder wie meine früheren Haare? Es scheint mir ein bisserl ins Kräuseln überzugehen – ich meine, ich hab’ ja keine Verwandten in Afrika?“ Der Friseur nach einem Blick darauf: „Aber gehen S’, das kann man erst nach drei, vier Wochen beurteilen. Und was ich mich erinnere, haben Sie seinerzeit leicht gewelltes Haar gehabt. Das wird schon, und vor dem Schlafengehen die Kopfhaut massieren, das regt die Durchblutung an.“ Der Kunde verabschiedete sich beruhigt.

Und gerade beim Zusperren kam nochmals der Fleischhauer in Begleitung eines eleganten, aber total kahlköpfigen jüngeren Mannes: „Kommt eh niemand mehr? Nein? Also das ist der Herr Magister Neunteufel, der Geschäftsführer von Mercedes Wien-Nord. Ich hab vorhin meinen neuen Wagen abgeholt, und wie ich drin gesessen bin, hat er halt gesehen, dass bei mir wieder Haare nachwachsen. Und weil er so darunter leidet, als ein Junger schon glatzert zu sein, hat er mich gefragt, was mir geholfen hat. Sind S’ mir eh nicht bös’?“ Der junge Mann hob verlegen seine Hände: „Guten Abend, es tut mir leid, wenn ich Sie in Verlegenheit bringe, aber wissen Sie, in meiner Familie verlieren die Männer ab 30 schon die Haare, und weil nur ein Kranzl herum auch blöd ausschaut, bin ich lieber total rasiert. Aber welche junge Frau will schon einen Skinhead? Ich werde gerne einen guten Preis bezahlen, wenn Sie mir helfen können!“ Herr Glatz hörte schon an der Stimmlage, dass dieses Problem seelisch tief ging. Vorsichtig erwiderte er: „Wissen Sie, das ist nicht so einfach: Ich habe das Mittel zufällig gefunden, und es ist nur mehr ein winziger Rest da. Ob das bei allen Fällen wirkt, kann ich nicht garantieren, und was tu ich, wenn’s nicht wirkt?“ Herr Neunteufel bohrte gekonnt nach – denn der Schweinemörder hatte ihm einen Tipp gegeben: „Ein Tausender nur für einen Versuch ist okay. Und wenn es Erfolg hat – schauen Sie, den roten Wagen vor dem Lokal können Sie um den halben Preis haben.“ Glatzen-Pepi starrte entgeistert durch die Auslage: Da stand ein junger Mercedes Klasse A, weinrot und glänzend wie ein Neuwagen, mit 18.000 Euro angeschrieben. Wahnsinn – genau so einen eleganten Flitzer hatte er sich immer schon gewünscht! Verlegen meinte er: „Na dann versuchen wir’s halt, nehmen S’ Platz, und – guten Abend, Herr Schallowitz!“

Um es abzukürzen – der letzte Rest „Haarexpress power“ wirkte auch hier. Aber gleicherweise, wie den Friseur die eigene, ans Licht drängende Haarpracht erfreute, wucherten im Bezirk wildeste Gerüchte über sein Wundermittel. Die vorsichtshalber getragene „Tarnkappe“ nützte nichts mehr, ein kurzer Windstoß auf der Gasse hatte sein Geheimnis enthüllt, und die tratschsüchtige Trafikantin nebenan badete förmlich in ihren „Offenbarungen“. Immer wieder stürmten Glatzenträger seinen Laden, der Zettel in der Auslage: „Hier werden nur mitgebrachte Haare geschnitten – für Wunder wenden Sie sich an die Kirche ’Maria, Hilfe der Christen 1220 Wien‘“ – wurde zwar belächelt, aber kaum beachtet. Weshalb Herr Glatz die Tafel im Schaufenster austauschte mit dem konsequent befolgten Text: „Wegen Überlastung werden nur mehr Stammkunden bedient.“ Gott sei Dank ebbte die Gerüchtebörse infolge Nahrungsmangel nach zwei Wochen großteils ab. Pepi wagte sich (Herr Neunteufel hatte Wort gehalten) mit seinem roten Mercedes wieder auf die Gasse; die vereinzelten Anfragen nach seinem phantastischen Haarwuchsmittel wurden lakonisch mit der Mitteilung „Ich hab nichts mehr davon“ abgewürgt. Tatsächlich wartete nur mehr ein Lackerl von „Haarexpress light“ auf seine Anwendung.

Bis ein paar Wochen später eine gepflegte Dame mittleren Alters den morgens noch leeren Herren-Salon betrat mit der freundlichen Frage: „Sind Sie der Herr Glatz, der meinem Sohn geholfen hat? Wissen S’, ich hab ja so eine Freude, dass er wieder gut aussieht und tanzen geht, das ganze Leben ist wieder schöner geworden. Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen von ganzem Herzen, Sie haben eine Mutter und ihren Sohn glücklich gemacht. Und wenn ich schon so unverschämt sein darf, wir haben Samstagabends ein Konzert meiner Musikgruppe in Bisamberg, wozu ich Sie gerne mit Begleitung einladen würde.“ Sie legte eine schöne Karte „Eva Neunteufel lädt ein“ auf seinen Arbeitstisch. Pepi dankte verlegen – er war früher mit Gattin öfter zu feinen kleinen Veranstaltungen ausgegangen. „Ich komme gerne, nur mit Begleitung kann ich leider nicht dienen.“ Da schüttelte die Damen lächelnd den Kopf: „Das kann ich gar nicht glauben – so ein liebenswerter Mann im besten Alter! Also auf Wiedersehen, ich freue mich auf Ihren Besuch.“ Erst als sie – nach intensivem Blickkontakt – den Laden verlassen hatte, rekapitulierte der Friseur, dass die Dame sorgfältig getöntes und frisiertes, aber auch ein bisserl schütteres Haar hatte. Wollte sie ihn wirklich nur zur Musik einladen? Aber nein, das hatte echt geklungen; und es erinnerte ihn an seine selige Eva, die ihm auch dann und wann etwas mit Raffinesse abgeschmeichelt hatte. Rosige Gedanken keimten da auf – denn ja, stimmt, die Dame hatte keinen Ehering am Finger, und Eva hieß sie auch noch!

Die drei „Erstanwender“ blieben unserem Herrn Glatz weiterhin nicht nur beim Haarschneiden freundschaftlich verbunden: Jeden Freitag stellte sich der „Schweinemörder“ mit zwei schönen Schnitzeln ein, Herr Neunteufel jährlich mit kostenlosem §57-Pickerl für das Auto, und Dr. Pöllgruber mit einem Gratis-Abo seiner Zeitung. Was zuletzt eine regelmäßige Tarockpartie am ersten Sonntag des Monats zur Folge hatte. Und bei jedem riskanten „Farbsolo“, den Herr Glatz ansagte, lachten die Mitspieler und meinten: „Jetzt wird’s haarig!“

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 21124

Der Schlüssel

Heute war ich rasch am Friedhof; mein Schwiegervater hat heute Sterbetag und so habe ich ihm ein Licht angezündet. Ich habe ihm ja einiges zu verdanken. Seit ich seine Tochter kennen- und lieben gelernt habe, ist in meinem Lebenskompass wieder eine Magnetnadel, die vorwärts zeigt. Dass er mich nicht mochte, war mir herzlich egal, ich war halt einfach da. Wie ich gerade die alte Kerzenhülle in den Kübel am Eingang werfen will, sehe ich daneben im Gras einen Schlüssel liegen. Einen altmodischen, großen Buntbart-Schlüssel mit einem Spagatschnürl daran. Ich sehe ihn genauer an: Am Griff ist er vernickelt, aber der untere Schaft und Bart sind abgeschliffen, und oben am Bartrand war da noch ein Schleifgrat. Ein ziemlich neu nachgemachter Schlüssel also, wie für ein altes Haustor, oder ein Plumpsklo, vielleicht auch für einen Weinkeller.

Gut, ich habe den Schlüssel analysiert – aber was mache ich jetzt damit? Bei der Gemeinde abgeben? Dank hat man eh keinen, und außerdem ist das Gemeindeamt jetzt geschlossen. Aber ich könnte den pensionierten Gemeindediener fragen, ob er den Schlüssel kennt. Er kennt ja jedes Haus und jedes Kind bei uns, und er wohnt gleich hinter dem Friedhof. Also gut, ich läute halt bei ihm an. „Der Josef is ned da!“, tönt eine ärgerliche Frauenstimme aus dem Fenster. Ich frage mutig zurück, wo ich ihn erreichen könnte. „Nau, wo wird er scho sei? Im Kölla natürlich!“, ist die bissige Antwort. Mein freundliches „Danke schön“ ist fast schon ein bisserl provokant.

Weil ein Spaziergang durch die Kellergasse etwas ausgesprochen Angenehmes ist, lenke ich meine Schritte hinaus. Irgendwie kommt mir beim Eintauchen zwischen die ersten Presshäuser und Kellerkappeln immer das Lied „Heut’ war die alte Zeit bei mir“ in den Sinn. Diese alten Zweckbauten mit ihren schlichten Formen ohne Pflanz und Protz habe ich immer geliebt. Da hat alles einen Sinn, das war genau für den eigenen Bedarf, also nicht größer als notwendig, gebaut, mit eigenen Händen gegraben und gemauert mit dem, was da war: Bruchsteine und Ziegel, oft mit ungebrannten Lehmziegeln dazwischen, ein Eichentram über der Tür, ein, zwei Luken zum Luftaustausch, eine Doppeltüre aus Brettern mit dem Latten-Z hinten, und ein Lüftungsgitter. Mit der Hand grob verputzt und mit Kalkmilch gweißent, das war’s – und hat auch 150 Jahre gehalten.

Langsam – weil hier hat man es nicht eilig – schlendere ich das holprige Pflaster hinauf. Da geht gleich der Puls zurück, und das Auge streichelt die schönen alten Häuser für den Wein, bleibt da und dort an einem eigenwilligen Detail hängen. Das Ohr nimmt nur Stille, Vogelzwitschern und das Flüstern des Windes in den vereinzelt stehenden Nussbäumen wahr.

Ich weiß nicht, wo der Josef seinen Keller hat. Also stolpere ich in den ersten offenen Keller-Eingang hinein und rufe „Hallo, ist wer da?“, und erhalte gleich die Antwort: „Fråg net so blöd, kumm owa!“ Unten steht der Josef mit dem Franz (meinem Rotwein-Lieferanten) bei einem Fass. Er schenkt mir ungefragt ein Achtel ein, und nach dem Kostschluck und darauffolgenden leisen „Ahhh“ riskiere ich die Frage: „Sag, weißt du, wem der Schlüssel g’hört? Er ist im Friedhof beim Mistkübel g’leg’n.“

Da leuchten die Augen des Franz auf wie Auto-Scheinwerfer bei Fernlicht: „Jö, der g’hört mir. Dankschön!!!“ Einige Achterl später weiß ich, dass dem Franz wegen anhaltender Bettflucht von der Frau der Schlüssel abgenommen worden ist. Aber er hat sich – in vorauseilendem Misstrauen – schon vor acht Tagen einen zweiten machen lassen. Und den habe ich heute gefunden.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig | Inventarnummer: 21117

Das Glücksschwein

Mit einem lebenden Glücksschwein spätnachts nach Hause kommen, ist schon was Eigenartiges, fast schon Unangenehmes! Welche Frau will schon ein Schwein zu Hause haben? „Als ob ich mit dir nicht schon genug hätte“, wäre wohl ihr zu erwartendes Statement um zwei Uhr früh im Schlafzimmer.

Wohin mit diesem Zappelphilipp? In die Küche wäre unhygienisch, eigentlich bliebe nur die Badewanne, mit Katzenstreu als saugfähiger Unterlage. Wirklich ein blöder Einfall, beim letzten Preisschnapsen im alten Jahr ein Ferkel als ersten Preis auszusetzen! Und gerade ich, der ich die letzten 20 Jahre nie über den vierten Preis hinausgekommen bin, muss diesmal gewinnen! Der Herbert, der den zweiten Preis gemacht hat – immerhin eine Kiste übriggebliebenes Weihnachtsbier –, der hätte wenigstens einen Stall gehabt, am Stadtrand, wo seine Tochter ihr Reitpferd hat.

In mir steigt ein finsterer Verdacht auf: Wie war das beim letzten Spiel? Hat sich der nicht absichtlich den „Vierziger“ zerrissen, um mich gewinnen zu lassen? Dieser falsche Hund! Aber ich kann nicht weiterdenken, weil jetzt quietscht das blöde Ferkel los und lässt sich nicht das Maul zuhalten. Wie ein Rache-Engel – das dazu passende lange Nachthemd tut das Übrige zu diesem Horrorbild – erscheint meine Frau in der Schlafzimmertür. Vom ungläubigen Staunen – sie presst die Augen zu und reibt mit den Händen darüber – bis zum haltlosen Zorn dauert es nur zwei Sekunden, dann geht die Schimpferei los. Nein, das will ich jetzt nicht wiedergeben, es sind zu viele Sünden meiner Vergangenheit, viele meiner schiefgegangenen „guten Einfälle“ und der Hinweis auf beginnende Altersblödheit dabei. Eigentlich – so fällt mir dabei ein – wäre ein kleines bisserl Alzheimer bei meiner Frau fast schon wünschenswert – vielleicht könnte sie sich dann an so manches nicht mehr erinnern.

Mein Hinweis auf Umwandlung des noch immer laut quiekenden Glückssymbols auf Spanferkel steigert die Wut und Verachtung meiner Eheliebsten zur Weißglut. Ich sei noch dazu brutal und blutrünstig – einen Schlächter werde sie an ihrer Seite nicht dulden –, dieses liebe, unschuldige Tierchen zu morden und gierig in meinen fetten Wanst zu stopfen! Aber in den Arm nehmen will sie dieses süße Ferkel auch nicht, denn gerade beginnt es der Natur ihren Lauf zu lassen: Da läuft etwas Warmes stinkend an meiner nagelneuen Hose hinunter auf den Parkettboden.

Schleunigst verlasse ich Frau, Wohnung und Haus, setze mich und das Ferkel ins Auto und rase durch die Nacht zu Herberts Pferdestall, um dort das Schwein zu verstecken, es also zu entsorgen. Leider hat der Stall eine Alarmanlage, die restliche Nacht im Polizeiarrest war unangenehm genug mit der nassen Hose, die Alkoholprobe war natürlich positiv und somit das Gegenteil der negativen Gardinenpredigt, mit der mich meine Frau dann abholte. Dafür hat sich die Tochter vom Herbert dann bei mir herzlich für das „geschenkte“ Ferkel bedankt.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 21106

Übers Einhorn

Liebes Einhorn,

du siehst einem richtigen Pferd viel ähnlicher als einer Phantasie-Figur. Vielleicht hat dir ein übermütiges Mädchen die Mähne gefärbt und eine gedrehte Zuckerstange an die Stirn geklebt?

Als Pferd bist du mir viel lieber! Was kann man schon mit einem Einhorn anfangen? Eigentlich nichts, außer es zu bewundern. Wofür eigentlich? Wenn du Flügel hättest, als Pegasus wärest du mir hoch willkommen – jeder Dichter wäre dir ein ergebener Diener, wenn er ab und zu auf dir reiten könnte.

Aber wie schon gesagt, als Pferd wärest du mir viel lieber. Du hast einen gut geformten Kopf, schöne blaue Augen und aufgestellte Ohren – das heißt, du bist gutmütig und neugierig –, also genau mein Partner. Ich habe auch lange Jahre geackert wie ein Pferd, und bei meinem Bauern habe ich auch die Pferde betreut: gefüttert, getränkt, gestriegelt und ab und zu mit einem Stück Zucker verwöhnt. Ich mag deine Kraft, deinen Geruch, deinen gutwilligen Fleiß und deine Zutraulichkeit, Bruder Pferd. Ab und zu bin ich auch auf einem Pferd gesessen, im Schritt oder leichtem Trab; den Galopp habe ich eher gefürchtet, das war mir zu schnell und gefährlich.

Wie gern hast du dich streicheln lassen, deine weiche Schnauze in meine Hand geschoben, um einen Leckerbissen aufzunehmen. Wie hast du dich gefreut, wenn ich dir das Halfter abgenommen und das Tor zur Weide aufgemacht habe, damit du dich austoben und am frischen Futter sättigen konntest. Wie willig hast du mir den Huf aufs Knie gelegt, damit ich dir die eingetretene Erde oder kleine Steine herauskratze. Sogar zum Hufschmied, den viele Pferde fürchten, bist du voll Vertrauen gegangen, nur mit dem Halfter an meiner Seite, weil du wusstest, es wird dir nichts Böses geschehen, die schon lockeren Eisen werden erneuert und zum Schluss bekommst du ein großes Stück Brot für dein Wohlverhalten.

Liebes Einhorn, komm her zu mir, ich will dir diese blöde Zuckerstange von der Stirn lösen und in Stücken verfüttern, damit du auch eine Freude hast. Als Einhorn wirst du nur angestaunt, aber als Kamerad von guten Menschen wirst du gestreichelt, gelobt, gefüttert, geputzt und geschätzt.

Liebes Keinhorn, so bist du mir viel lieber!!! Ich grüße dich mit Sehnsucht und dem Wunsch auf ein Wiedersehen.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 21105

Aufschreib’m

Weil’s sonst keiner tuat – werd ich euch heut derzähl’n
Mit was sich viel Menschen – beim Älterwerd’n quäl’n
Net nur, dass man fortschreitend – grau-schädlert wird
Auch unser Gedächtnis – wird umstrukturiert
Man weiß schon so viel – wie a Bibliothek
Aber wennst gach an Namen brauchst – dann ist er weg.

Dass des net so weitergeht – is ja ganz klar
Drum schreibt man sich Zettl’n – so ab 45 Jahr
Termine, zum Greißler – um Würstln und ’s Bier
Weil morg’n kommen drei Nachbarn – zum Schnapsen zu dir
Und dann noch d’ran denken – die Tant’ im Spital
Am Sonntag besuch’n – das g’hört sich einmal

So viel wichtige Sach’n – hätt ma glattweg vergess’n
Wär net unser „extended – memory“ g’wes’n
Dass der erweiterte Speicher – a Seg’n ist, ist wahr
Aber ’s bleibt net a so – wart noch ab a paar Jahr!
Kaum hast dich an Zettl-Schreib’m – g’wöhnt, lieber Mann
Dann fangt d’ Sucherei – nach die Zett’ln schon an

Am Nachtkastl ans – dass d’ ins Büro früher kimmst
Beim Kaffeehäferl, dass d’ dein – Magnesium nimmst
Am Schuachkastl ans, weil – die Schuach sind zum Hol’n
Und dass d’ von der Putzerei ’n Mantel – hätt’st mitnehmen soll’n
Aber am Zett’l im Mantelsack – kannst nachher les’n
Euer Hochzeitstag wär – vor zwei Woch’n schon g’wes’n!

Da tuat dich die Zettlwirtschaft – wirklich schon stör’n
Jetzt kaufst dir a Handy – und lasst dir’s erklär‘n
Weil am Handy ist immer – a Kalender dabei
Und was für dich wichtig ist – des tragst jetzt ei’
Und stellst den Alarm ein – halt rechtzeitig g’nua
Dann kannst nix mehr vergess’n – jetzt ist endlich a Ruah!

Wennst alles notiert hast – ist a Ruah, ganz bestimmt
Vorausg’setzt nur, dass ma – sei Handy a find’t
Einmal liegt’s im Auto – a ander’s mal ist’s stumm
Dann suacht d’ Frau hektisch in – alle Handtaschen um
Wenns net ohdraht ist – wär die Lösung recht g’scheit:
Ruaf dei’ Handy vom Festnetz – und horch dann, wo’s läut’.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 21111

Kübel ausleeren

Es gibt Männer, die eher Geschirr waschen als die Mistkübel ausleeren.
Und Kinder, die stattdessen lieber Latein-Vokabeln lernen

Versteckt unter der Abwasch war – stets treu vereint ein Kübelpaar
Zu trennen Müll und PVC – ansonsten tut’s der Umwelt weh
Und dunkelgrün, gleich an der Wand – der biogene Eimer stand
Für Gurkenschalen und Salat – was der Kompost so gerne hat

Es gibt so vieles auf der Welt – was sehr gut schmeckt und wohl gefällt
Nur, diese Dinge sind nicht nackt – sondern oft zwei-, dreimal verpackt
Auch isst man süße Pfirsich’ gern – doch nur das Fleisch und nicht den Kern
Drum wirft man unbesorgt und munter – was unbrauchbar, die Kübel runter

Nun ist es wundersam und toll – sie werden stets gemeinsam voll
Nie, dass der Eimer mit Gemüs’ – der einzig volle Kübel is(t)
Und jeder weiß, dass dieser Mist – demnächst auch auszuleeren ist
Um zu vermeiden dieses Ziel – beginnt das Kübel-Ringelspiel
Ein jeder denkt: „Ich kann’s nicht sein – es geht ja immer noch was rein“

So schleicht man (besser ungeseh’n) – dorthin, wo diese Kübel steh’n
Und legt und drückt und steckt und zupft – bis jeder Kübel ist gegupft
Egal, was dann die Hausfrau ruft – man(n) denkt: „Da ist noch immer Luft“
Legt eine Zeitung obenauf – und drückt fest mit der Faust darauf

Die Folge ist, man glaubt es kaum – im Kübel wird ein hohler Raum
Mal größer, manchmal auch recht klein – nun wirft man wieder was hinein
Nur ist beim PVC sehr oft – die Wirkung nicht, wie man erhofft
Des Plastiks Elastizität – bewirkt, dass es nach oben geht

Der Raumgewinn, der erst erfreut – liegt um den Kübel nun verstreut
Da blickt die Hausfrau gar nicht stumm – in der ganzen Küche ’rum;
Sie ruft mit Zorn und leichtem Graus: – „Jetzt leerst sofort die Kübeln aus!“
Der Sünder tut, was sie ihn heißt – wohl wissend, dass der Dreck nicht beißt
Doch zu versteh’n der Hausfrau Zorn – lies das Gedicht noch mal von vorn,
Noch mal von vorn, noch mal von vorn …

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 21097

Sauna im Schnee

Der Fleischhauer Karl Metzger hat Feierabend gemacht und heizt nun seine Sauna auf, die er vor Jahren in der alten Selchkammer installiert hat. Es ist eine liebgewonnene Gewohnheit, ein unverzichtbares Ritual geworden, diese kleine freundschaftliche Sauna-Runde am Samstag, sonst könnte das Wochenende gar nicht stattfinden.

Frau Metzger hat schon alles vorbereitet und nun kommen – pünktlich wie immer – der benachbarte Gemüsehändler mit Gattin und Erich, der verwitwete Parfumerist, bei der Hintertür herein. Sie grüßen einander mit der vertrauten Gelassenheit von schwer arbeitenden Menschen, die wissen, was sie aneinander haben, legen ab und nehmen ihre Plätze ein.

Herr Metzger hat vom Gehsteig ein paar von den Schulkindern übriggelassene Schneebälle hereingetragen und legt sie nun auf die heißen Steine. Vorher hat er sie aus einer Laune heraus mit Marillenbrand beträufelt. Das hätte er vielleicht nicht tun sollen, denn durch Selbstentzündung beginnt der Barack mit leiser blauer Flamme zu brennen, was in der dämmrigen Saunakammer gut aussieht, und es duftet nach reifen Marillen.

„Jo Karli, ich hab gar net g’wusst, dass d’ so romantisch sein kannst!“, gurrt Adele, die Selchermeistersgattin. Herr Metzger legt noch zwei alkohol-triefende Bälle auf, und das war offenbar zu viel, denn der in Sekundenschnelle verdampfte Alkohol verpufft blitzartig, die Saunasteine prasseln durch die Luft und der heiße Rost landet am Gesäß von Herrn Metzger, was ein rotes Muster wie die eingeschnittene Schwarte am Schweinsbraten hinterlässt.

„Auweh!“, schreit Herr Metzger, „ausse do!“ Er reißt die Tür auf und alle stolpern in den Hof hinaus und lassen sich in den wadenhohen Schnee fallen.

Die Schneekristalle schmelzen am heißen Körper und kitzeln unsagbar auf der Haut, das prickelt wie Sekt und macht übermütig. Im Nu ist eine richtige Schneeballschlacht im Gang und die schwammigen Fünfziger hüpfen jauchzend herum wie ausgelassene Schulkinder.

„Koarl, des war super“, lobt die Gemüsehändlerin beim abschließenden Umtrunk: „Endlich war einmal was los!“

An jenem denkwürdigen Abend wurde Frau Adele Metzger nach langer Pause wieder in die eheliche Pflicht genommen und stiftete dafür am Sonntag eine dicke Kerze.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 21085

Der Fliesenleger – aus der Wiener Häuslbauer-Serie mit max, dem Bauherrn

„Guten Tag“, sagte der rotgesichtige Dicke am Gartentor, „guten Tag, ich bin der Fliesenleger!“ max war sehr verwundert. Er hatte auch allen Grund dazu – weder hatte er einen Fliesenleger bestellt, noch war seine Baustelle auf diesen vorbereitet. Weil nämlich der Installateur noch nicht ganz fertig war. Seit drei Wochen versprach dieser schon am „nächsten Samstag“ zu kommen und alles anzuschließen. Dabei war es nur mehr die Dusche und das WC – „das müsste doch im Handumdrehen fertig sein“, sagte max halblaut.

„Soso“, meinte der Fliesenleger, „es ist also schon wieder dieser Installateur. Der Kerl ist unzuverlässig, das kommt vom Saufen. Aber wieso soll ich dann heute Fliesen legen?“

„Das weiß ich auch nicht“, sagte max, „seit Wochen warte ich schon auf das Klo, es ist ja nimmer lustig, dauernd in die Büsche zu gehen!“

Der Fliesenleger sah sich um: „Ich sehe aber keine Büsche“, sagte er.

„Weil mich der Gärtner auch im Stich gelassen hat“, klagte max, „aber im Frühjahr kommen welche!“

„Bis dahin kann ich nicht warten“, sagte der Fliesenleger, „Sie entschuldigen schon!“ Er ging zur Hecke des Nachbarn und verrichtete dort sein kleines Geschäft. Fido, der Hund von max, kläffte ihn deshalb an, denn das war seine Ecke. Dann hob auch er dort demonstrativ das Haxerl.

„So, jetzt zu Ihnen“, sagte max zum Fliesenleger, „wieso sind Sie da – ich weiß nix davon.“

„Das wird ja immer schöner“, sagte der Fliesenleger, „Der Franz hat mich geschickt.“

„Welcher Franz?“, fragte max, „Ich kenne mehrere Fränze.“

„Na, der Elektriker“, sagte der Fliesenleger, „und jetzt lassen Sie mich endlich anfangen, ich habe meine Zeit nicht gestohlen!“

„Ich auch nicht“, sagte max, „aber ich hab ja noch nicht einmal Fliesen.“

„Das möchte ich auch stark hoffen“, sagte der Fliesenleger, „weil die hab ich im Auto!“

„Sagen Sie, spinne ich jetzt oder was“, knurrte max gereizt, „ich warte hier seit einer Stunde auf den Polier, der Installateur hat mich im Stich gelassen, dafür kommt ein Fliesenleger mit Fliesen, von denen ich nix weiß.“

Der Fliesenleger holte einen verknitterten Zettel aus der Latzhosen-Brusttasche: „Baustelle Kirchenweg 6, Samstag 18. November, 8 Uhr, WC fliesen“, las er laut vor, „also wer spinnt jetzt?“

max atmete heftig und zählte halblaut bis zehn. Dann schaltete er sein Hirn ein: Ja, er hatte vor etwa einem Monat den Elektriker gefragt, ob er einen zuverlässigen Fliesenleger kenne, und dieser hatte ihm versprochen, einen vorbeizuschicken. Vielleicht hieß er sogar Franz, der Elektriker. Gut. Aber woher die Fliesen? Erst gestern hatte max mit seiner Elli gestritten, weil sie das WC bunt wollte und er streng weiß mit kobaltblauen Listelli. „Das sieht doch aus wie ein Internats-Waschraum!“, hatte sie verächtlich gerufen. Dann war er zornig auf die Baustelle gefahren und hatte auch dort übernachtet, um frühmorgens gleich mit dem Polier wegen der Stützmauer zu reden. Tatsache war, dass keine Fliesen gekauft waren.

„Wieso haben Sie Fliesen mit?“, fragte max daher nochmal.

„Weil man ein Klo nicht mit Schaumrollen tapezieren kann, Herrgott nochmal!“, schrie der Fliesenleger, „und fangen Sie jetzt nicht auch noch an, mich zu nerven!“

„Wer nervt Sie noch?“, fragte max perplex. „Na, Ihre Frau natürlich“, knurrte der Fliesenleger, „geschlagene drei Stunden hat sie gestern Fliesen ausgesucht und mich nicht weggehen lassen. Ich hab geglaubt ich dreh durch, also sowas von hysterisch. Die weiß ja überhaupt nicht, was sie will – den ganzen Baumarkt hat sie auf den Kopf gestellt. Aber die drei Stunden schreib ich Ihnen auf die Rechnung!“

max entspannte sich – ja, so war seine Elli. „Ist das Ihr Auto, was da vorne abgeschleppt wird?“, fragte der Fliesenleger – und max rannte schon schreiend hinter dem Kranwagen her. Der Fliesenleger sah ihn dann in ein vorbeifahrendes Taxi hüpfen, schüttelte den Kopf und begann abzuladen.

Der Waschraum ist sehr schön und rosa-weiß gesprenkelt geworden. Die hellblau-goldenen Abschluss-Leisten haben Elli sogar ausgezeichnet gefallen. Und dass der Fliesenleger die paar fehlenden Handgriffe des Installateurs gleich selbst erledigt hatte, trug ihm ein schönes Trinkgeld ein.

Aber die Frau vom Kirchensteig Nummer 6, gleich vorne um die Ecke, die denselben Elektriker hat wie max, grüßt seitdem Elli, diese hundsgemeine, falsche Fliesenleger-Kidnapperin, nicht mehr. Und jedesmal beim Duschen hebt sie die Faust in deren Himmelsrichtung und knurrt Bösartiges!

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 21072

Professor Biermanns Rosskur

Wer ist Herr Professor Biermann, und was hat es mit seiner Rosskur auf sich?

Herr Dr. Martin Biermann ist Mitte fünfzig und unterrichtet an einem Oberstufen-Realgymnasium Geschichte und Geographie. Unter einer Rosskur – so steht es im Internet –„versteht man heute in der Umgangssprache eine medizinische Behandlung mit Hilfe von unsanften Methoden oder umstrittenen und drastischen Mitteln.“ Im Grimm’schen Wörterbuch steht, die Rosskur sei „eine gewagte kur mit ungeheuerlichen mitteln“.

Es war ein milder Juni-Nachmittag, als Herr Dr. Biermann und Gattin Hilde auf der Hausbank vor ihrem Reihenhaus saßen und behaglich in die spätgoldene Sonne blinzelten, so recht angenehm entspannt (obwohl Rock und Hose deutlich spannten), und den schönen Tag nochmals vorbeiziehen ließen. Ihre beiden Söhne Hermann und Rudolf waren mit ihren Frauen und je einem Enkelkind auf Besuch dagewesen, und das reichhaltige gute Mittagessen ist im Garten unter dem schattigen Birnbaum mit genießerischer Langsamkeit eingenommen worden. Der Hausherr und die Kinder sparten nicht mit Lob für die Hausfrau (welche den ganzen Vormittag in der dampfenden Küche gestanden war). Sie kochte gut und gerne, und die Leibesfülle ihres Gatten sowie, seien wir ehrlich, auch ihre „stattliche Erscheinung“ bezeugten dies nachdrücklich nach außen.

„Also ich muss schon sagen, dein heutiges Dessert war super-super – diese kleinen Powidl-Buchteln mit Vanillesoße – die Kinder haben ganz schön eing’haut“, lobte der Gatte nochmals und seufzte wohlig. Frau Biermann sah ihn von der Seite liebevoll-spöttisch an: „Ah so, nur die Kinder – dir hat’s ja gar net g’schmeckt, wie du nachher das Reindl mit der restlichen Soße in der Küche heimlich ausgelöffelt hast?“ Der Angetraute drehte sich zu ihr und hob hilflos die Handflächen nach oben: „Ich war wehrlos – es war halt der Jamaica-Rum, den du für die Großen dazugeschwindelt hast – sowas kann man doch net wegschütten!“

„Was sagst du“, meinte Frau Biermann, die gute Stimmung und Gelegenheit ausnützend, mit dem wohlgelaunten Göttergatten allein und ohne Eile ein schon lange anstehendes „schwer-wiegendes“ Problem anzugehen, „meinst du nicht, dass wir doch endlich den Gürtel ein wenig enger schnallen sollten – ich meine, wir haben beide ein paar Kilo zu viel?“

Dr. Biermann, der diese schwarze Wolke am Horizont schon zwanzig Jahre routiniert vor sich hergeschoben hatte und außerdem die Berechtigung dieser Forderung nicht leugnen konnte, antwortete nachgiebig: „Ja sicher, damit sollten wir endlich einmal Nägel mit Köpfen machen – ich denke, die Fastenzeit vor Ostern wäre ein guter Anfang. Wollten wir nicht voriges Jahr schon so ein schönes Kurhaus mit Reduktionskost aufsuchen? Da zahlt die Krankenkasse sicher dazu!“

„Mein lieber Martin“, so die Gattin, „du bist wohl ein ganz Schlauer – das wäre erst in einem dreiviertel Jahr! Du schiebst doch sonst nicht alles auf die lange Bank – sagst du nicht immer, das Richtige soll man gleich tun, und dass die guten Vorsätze ein kurzes Ablaufdatum haben? Es ist ja für unsere Gesundheit, und jünger werden wir auch nicht. Ich meine, wir sollten jetzt gleich damit beginnen – stell dir vor, wie wir im August mit unseren Speckrollen über der Badehose aussehen – wo wir doch heuer den Badeurlaub in Zypern gebucht haben! Habe ich dir schon erzählt, dass eure Schulsekretärin, die Frau Engel, mit ihrem Mann den gleichen Urlaub gebucht hat wie wir?“

Ihr Gatte erschrak. Ausgerechnet Frau Engel, die hübsche blonde Sekretärin in seinem Gymnasium und heimlicher Schwarm vieler Kollegen (und sagen wir’s ehrlich, auch von ihm) sollte ihn mit seiner schwabbeligen Figur am Strand sehen, tagelang, da würde kein noch so mühsames Bauch-Einziehen helfen, das wäre ja schrecklich, das musste verifiziert werden: „Wieso weißt du das, Hilde, ich meine, sie hat es dir wohl nicht erzählt – ihr kennt euch doch fast nicht?“

„Nein, nein, das hat sich zufällig ergeben. Als ich vorige Woche im Reisebüro war, du weißt schon, weil wir ja wegen der Kinder um eine Woche verschieben mussten, da habe ich eine Regina Engel auf unserer Hotelliste gesehen, wie der Schalterbeamte auf dem Bildschirm geschaut hat, ob noch was frei ist – sie heißt doch Regina mit dem Vornamen, nicht? Das hast du mir damals gesagt als sie eingetreten ist. Ja, ich wollte es dir ja am selben Abend erzählen, aber da war doch die Sache mit dem Stromausfall, und die ganze Tiefkühltruhe ist geschwommen, und so habe ich das halt vergessen. Also was sagst du, fangen wir heute an?“ Sie blitzte ihn einladend mit ihren graublauen Augen an – wie immer, wenn sie einen guten Einfall hatte und sich der Zustimmung ihres Göttergatten sicher war: „Weißt du, das können nur Leute mit Mut und Charakterstärke wie wir!“

Der Hausherr seufzte aus Herzensgrund: „Ja, hast recht, mach ma’s in Gottes Namen“ und schlug in ihre senkrecht aufgerichtete offene Hand – das war ihr Treuegelöbnis und Einverständnis bei spontanen Einfällen. Seine bessere Hälfte seufzte erleichtert: „Gott sei Dank, ich hab ja gewusst, auf dich kann man sich verlassen – weißt, ohne dich würd ich es ja nie schaffen, das mit dem Hungern und Kalorienzählen, aber miteinander sind wir unschlagbar, sagst du doch immer. Dann war das heute mittags sowas wie unsere Henkersmahlzeit vor den mageren Zeiten.“

Aber ihrem Eheliebsten fiel noch etwas ein: „Also mein abendliches Bier möchte ich schon haben – das brauch ich zum Einschlafen!“ „Ja natürlich“, beruhigte seine Frau, „das Bier ist doch ab heute dein Abendessen, und ich werde nur zwei Tassen Kräutertee trinken, damit ich was Warmes im Magen habe. Und noch was: Wir werden ab heute – natürlich nur bei gutem Wetter – jeden Tag einen Abendspaziergang von einer Stunde machen! Vor den Nachrichten halt. Die Strecke können wir uns gemeinsam aussuchen – ich denke, wir gehen heute einmal über den Bach durch die neue Siedlung, dann am Waldrand bis zur Barbara-Kapelle und durch die Kellergasse zurück – ja?“

Der überfahrene Gatte nickte resigniert: „Was bleibt mir anderes über – in guten und in schlechten Zeiten, hat es geheißen. Ich habe ja nicht gewusst, dass die schlechten – nein, die mageren – Zeiten jetzt schon anfangen.“ Frau Hilde küsste ihn liebevoll: „Du bist ein Schatz. Wie ich schon gesagt habe – allein tät’ ich das nicht schaffen. Bleib sitzen, jetzt hol ich uns einen guten Kaffee, dann geht’s los – es ist ja schon fünf vorbei.“ Sie ging ins Haus und ließ einen verunsichert in die Zukunft blickenden Gatten auf der Hausbank zurück.

Dass der Kaffee nur mit einem statt wie gewohnt mit zwei Löffeln Zucker gesüßt war, wäre noch erträglich gewesen, aber dass der nunmehr verpflichtende Abendspazierweg gerade über die steilste Straße des Städtchens bergauf führte, wurde von Herrn Dr. Biermann, als sie endlich die Anhöhe erklommen hatten und er wieder genügend Atemluft sammeln konnte, heftig kritisiert. Was seine bessere Hälfte, die auch vernehmlich schnaufte, zur streng-liebevollen Replik veranlasste: „Siehst du, wie nötig wir das haben – diesen Weg sind wir – wenn du dich erinnerst – in unserer Verlobungszeit wohl hundert Mal gegangen. Nur, damals hast du dich nicht aufgeregt darüber, ganz im Gegenteil!“ Dieser Logik konnte der gute Martin nichts entgegensetzen.

Aber das Schlimmste stand ihm noch bevor. Nach der abendlichen Dusche wurde ihm zwar sein kühles Bier im schönen Steinkrug serviert, aber als sich die Gattin kurz um die Waschmaschine kümmerte, schlich der hungrige Hausherr heimlich in die Küche, um sich als Zukost ein Stück des fetten Schweizer Emmentalers zu holen. Geschockt erstarrte er vor der offenen Kühlschranktür: Ein Küberl Leicht-Joghurt, einige Karotten und zwei Gurken waren in Begleitung von zwei Litern Magermilch und einer Packung Margarine die einzigen Insassen dieses noch heute vormittags übervollen Kalorien-Speichers. In der Brotdose war außer einer Packung Vollkornbrot auch nichts zu holen, und als der nunmehr geradezu verzweifelt hungrige Professor die Tür zur Speis öffnete (wo sich doch seit ewigen Zeiten Kekspackungen, Fleischkonserven, Sardinen, Schokolade und andere Trosthappen befunden hatten) grinsten ihm leere Stellagen entgegen; und wie zum Hohn präsentierten sich in Augenhöhe je eine Familien-Packung Diät-Zwieback und Knäckebrot. Aus, Ende, fertig, es gab nichts von der Hand in den Mund zu steckendes Essbares mehr im Haus!

Herr Biermann ging, geknickt und gedemütigt, ja sich überrumpelt fühlend, zurück ins Wohnzimmer und brütete schwarze Gedanken aus. Das war keine liebevolle Einladung zur gut gemeinten Gewichtsreduktion gewesen, sondern ein Komplott, eine hundsgemeine geplante Falle! Seine erst vor zwei Stunden gegebene – nein, ihm abgeluchste – Zustimmung war genau kalkuliert und als minimales Risiko eingestuft. Da sollte doch der Teufel dreinfahren – so war das nicht ausgemacht, so nicht! Zornig erhob er sich, um nach oben zur Frau in die Waschküche zu gehen – da passierte es: Infolge der stoßweisen Bauchatmung beim ruckartigen Aufstehen gab der müde Zwirn der Belastung nach und die untersten zwei Knöpfe des prall gefüllten Hemdes sprangen ab und knallten gegen den Wohnzimmer-Spiegel. Und was quoll ihm daraus förmlich entgegen? Im goldenen Rahmen sah er sich mit geplatztem Hemd, den Nabel hervorstechend aus einem rosa-weißen Berg von Bauch! So grausam deutlich hatte er seine Leibesfülle noch nie gesehen.

Er sank reuig und beschämt wieder in den Ohrenfauteuil zurück und ging in sich. Ja, seine Hilde hatte Recht – er war abstoßend fett geworden –, da half alles Schönreden und Verniedlichen nichts. Er hatte einen schwabbelnden Bauch wie ein Sumo-Ringer, aber ohne dessen Muskeln. Da konnte man darüber anziehen, was man wollte – und in der Badehose am Strand würde er wirken wie eine Witzfigur, von Kindern verspottet und jungen Frauen gemieden. Der Pädagoge versank in dumpfes Brüten.

„Martin, was ist los – du wirkst so bedrückt! Und wie siehst du denn aus – warum ist das Hemd offen? So sitzt man doch nicht im Wohnzimmer herum.“ Frau Biermann kam mit einem Korb Bügelwäsche ins Zimmer und ihr Mann rang um eine Erklärung: „Nichts ist los – nur die zwei Knöpfe sind mir beim Aufstehen abgerissen – und da hab ich mich halt genau im Spiegel gesehen, wie dick ich geworden bin. So kann’s wirklich nicht weitergehen, jetzt ist höchste Eisenbahn zum Abnehmen.“ Er zog das Hemd aus und hielt es der Gattin hin: „Bitte leg das nach dem Waschen ganz oben auf meinen Stapel, damit ich jeden Tag daran erinnert werde, dass sowas nicht mehr passieren darf. Und die Knöpfe werden erst nach minus zehn Kilo wieder angenäht. Jetzt machen wir Nägel mit Köpfen!“ Die Gattin stellte den Korb ab und legte ihm beide Hände auf die Schultern: „So kenne ich dich, ein Mann mit Entschlusskraft und eisernem Willen. Wir schaffen das – pro Woche ein, zwei Kilo, bis wir zwei Konfektionsgrößen herunter haben!“

Spätabends, nach dem „Gute-Nacht-Bussi“, drehte sich Herr Biermann aber noch einmal zur Gattin um: „Also ein bisserl hinterfotzig bist du’s schon angegangen; wieso war heute nachmittags unser Haus mit einem Schlag komplett kaloriensauber? Ich mein, das muss doch von langer Hand vorbereitet gewesen sein, also komm!“ Seine Hilde drehte sich von der gewohnten Rückenlage auf die linke Seite und sah ihn schuldbewusst mit großen Augen an: „Das war nicht so raffiniert geplant, wie du meinst, sondern halt eine Gelegenheit, die’s kein zweites Mal gibt. Unser Bub ist doch gerade vorgestern in die neue Wohnung eingezogen, und da war natürlich noch nichts zum Essen da in der Küche und so. Die Erika hat mich gestern früh angerufen, ob ich ihr für die erste Zeit mit ein paar Sachen aushelfen kann, bis sie mit dem Rudi einen Großeinkauf macht. Und da ist mir klar geworden, dass wir eigentlich viel zu viel haben – an Lebensmitteln und so – und dass wir eh schon seit langem zu viel essen. Also habe ich der Erika g’sagt, sie soll mit ein paar von den leeren Umzugskartons kommen, und wir haben, während du in der Schule warst, miteinander den Großteil eingefüllt und sie hat’s mitgenommen. Und heute nach dem Essen, während dein’ Mittagsschlaferl, haben wir den letzten Rest verpackt und in ihr Auto verladen. Weil das war die Chance, dass wir endlich ein paar Kilo loswerden! Ich hab seit der Früh schon ein schlechtes Gewissen, dass ich dich so überfallen hab damit, aber so war unseren Kindern g’holfen, und in ein paar Wochen freu’n wir uns vielleicht an Haxen aus, dass wir endlich nimmer so dick sind, was meinst?“

Der Gatte grunzte gerührt: „Also wenn das so war – ego te absolvo! Weil, vertrau’n möchte ich dir schon können, immer, gell? Also mach’ ma’s Beste draus. Gute Nacht.“

Im Gymnasium erklärte Professor Biermann seinen Wechsel vom Jausen-Speckbrot zur Karotte mit seinen zu hohen Cholesterinwerten, und der einmal eingeführte Abendspaziergang wurde für das Ehepaar nach und nach zur liebgewordenen Gewohnheit. Denn nach den ersten zwei verlorenen Kilos einer zugegeben äußerst unangenehmen Woche mit täglicher Abwaage kam wieder Freude an der Bewegung und der lockerer sitzenden Kleidung auf. Pünktlich vor dem Abflug nach Zypern konnte der um neun Kilo reduzierte Professor seine geliebte rote Freizeit-Lederjacke wieder zuknöpfen, und die erschlankte Gattin hatte mit einem Jubelschrei alle ihre nunmehr zu große Kleidung in einen Humana-Container gestopft.

Nur zwei kleine Enttäuschungen mussten zur Strafe noch sein: Die von Frau Biermann angeblich in der Hotelliste erspähte Regina Engel – auf die in einem knappen Bikini am Strand zu sehen sich Herr Biermann schon seit Wochen gefreut hatte – erwies sich als ein Herr Reginald Engel, ein vertrocknetes altes Männlein mit einer stets nörgelnden Frau im Schlepptau. Und das wunderschöne grünseidene Strandkleid, welches der Professor seiner Frau heimlich gekauft und in deren Koffer geschmuggelt hatte, erwies sich als noch immer eine Nummer zu eng! Das war seine schmunzelnd ausgekostete Rache für ihren Überfall – und so musste die Gattin wohl oder übel ihre strenge Diät im ganzen Urlaub fortsetzen, um es wenigstens bei der Abschieds-Strandparty tragen zu können.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 21054