Schlagwort-Archiv: let it grow

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Gundelrebe vs. Rose

Ich bin die Gundelrebe
und wohn hier im Gärtelein.
Bin froh, dass ich noch lebe,
bin mutterseelenallein.

Ihr Primaten mögt mich nicht,
ihr wollt mich ständig jäten;
sucht mich, bis die Nacht anbricht,
in allen Blumenbeeten.

Vor Angst wird meine Blüte blass.
Was bitte hab ich euch getan?
Warum gilt mir der Gärtner Hass?
Das ist paranoider Wahn.

Lasst mich doch in Ruhe hier
aufs irdische Ende warten.
Nehmt andre Pflanzen ins Visier –
schaut euch um in eurem Garten:

Es gibt hier florale Protzer,
jeder Gast will sie liebkosen.
Es sind wuchernde Schmarotzer!
Man nennt dieses Unkraut: Rosen.

Bernd Watzka
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www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 24045

Ich, Lindenbaum

(nach Wilhelm Müller)

Am Brunnen vor dem Tore,
da steh ich Lindenbaum:
Mensch träumt in meinem Schatten
so manchen süßen Traum.

Mensch schnitt in meine Rinde
so manches liebe Wort;
Es zog in Freud und Leide
zu mir gar viele fort.

Heut bin ich ganz alleine
bei Tage und bei Nacht.
Um mich nur graue Häuser;
ich halte einsam Wacht.

Schon morgen kommt der Bagger,
vorbei ist’s mit der Ruh.
Sie bau’n ein Einkaufszentrum;
mein Ende naht im Nu.

Hab dank o Wilhelm Müller,
dass du mich auserkor’n.
Sonst wär ich schon viel früher
an Einsamkeit erfror’n.

Bernd Watzka
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www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 24044

Das vergessliche Lieschen oder Das vergess’ne Vergissmeinnicht

„Hey du! Vergiss mein nicht“,
sagt das Vergissmeinnicht
zum Fleißigen Lieschen.
Doch das Lieschen hat
andres zu tun, als irgendein
Blümelein nicht zu vergessen.

Als das Vergissmeinnicht stirbt,
hält’s Lieschen ganz kurz inne.
„Um irgendetwas bat es mich,
ich kann mich nicht entsinnen.“
Lieschen grübelt und ward
seines Lebens nicht mehr froh.

Bernd Watzka
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www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 24043

Rhododendren

Wir sind Rhododendren,
uns gibt’s auf der ganzen Welt.
An Küsten und auf Gipfeln
wachsen wir wie bestellt.

Wir duften nicht wie Rosen,
uns fehlt der Tulpen Pracht,
doch sind wir nette Blumen;
wir blühen Tag und Nacht.

Wir haben nur ein Manko
– das ist natürlich schad –,
unser Rhododendron-Leben
ist unbeschreiblich fad.

Bernd Watzka
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www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 24042

Der majestätische Lauch

Mich gibt’s hier auch –
den stolzen Lauch.
Ich bin zwar nicht
der schönste Wicht;

doch geht’s ums Essen
seid ihr besessen
von meinem Aroma;
das weiß jede Oma.

In so vielen Speisen
tut ihr mich preisen:
Ich werde gebraucht –
nennt mich Durchlaucht!

Bernd Watzka
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www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 24041

Der poetisierte Grashalm

Ich bin ein Grashalm, ordinär;
was also verschafft mir die Ehr,
dem Wiesenalltag zu entflieh’n,
in ein Gedichtlein einzuzieh’n?

Ist es meine Durchschnittlichkeit,
woran der Dichter sich erfreut?
Oder sieht er meine Eleganz,
Grazie ganz ohne Firlefanz.

Bewundert er meine Gestalt –
so anmutig, schlank, wie gemalt?
Ist es mein Farbton (immergrün);
kräftig, strahlend – ohne zu blüh’n?

Oder ist’s meine Unbeugsamkeit?
Bin resistent gegen manch Leid:
ertrag die Hufe von Tieren,
beuge mich – ohne zu resignieren.

Den Grund meines Gastspiels im Gedicht
– ich weiß, ihr seid darauf erpicht –,
werdet ihr niemals erfahren;
das will der Dichter sich bewahren.

Bernd Watzka
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www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 24040

Die wilde Rose

Ich bin eine wilde Rose,
steh einladend auf der Heide.
Bin bei Gott keine Mimose,
sondern eine Augenweide.

Lass mich bestäuben tagaus, tagein.
Am liebsten treib ich es mit Bienen;
aber auch Hummeln bitt’ ich herein,
auf dass sie lustvoll sich bedienen.

Ganz wund ist schon mein Stempel,
und es schmerzt vor Lust die Narbe
vom promiskuitiven Gerempel;
dunkelrot ist meine Farbe.

Ich schür das Feuer eurer Triebe –
also merkt’s euch, seid nicht perplex:
Die Rose, die steht nicht für Liebe,
sondern für hemmungslosen Sex!

Bernd Watzka
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www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 24039

Die grantige Brennnessel

„Brennnessel, teuflisches Gewächs!“,
hör ich oft Wanderer klagen.
Ich sei schlimmer als die böse Hex;
dieser Hass ist kaum zu ertragen.

Es stimmt natürlich: Der liebe Gott
gab mir gegen Pflanzenfresser
feurige Härchen. Doch sapperlott;
seid ihr Menschenwesen besser?

Okay, ich tu euren Wadeln weh;
Doch ihr? Ich kann es beweisen:
Als Spinat oder gekocht im Tee
liebt ihr es, mich zu verspeisen!

Bernd Watzka
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www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 24038

Tante Emma gibt alles

 Wie das Leben so spielt

Tante Emma war bereits Anfang siebzig, doch von alt und gebrechlich war sie weit entfernt. Sie war im ganzen Dorf bekannt und jeder mochte sie, denn sie war die gute Seele, die mit ihrem Laden jenen sozialen Raum bot, den es für die Dorfbewohner sonst nicht gegeben hätte. Obwohl sie nach einem arbeitsreichen Leben bereits eine kleine Rente bezog, liebte sie es, im Laden zu stehen, denn eine jener Rentnerinnen, die tagein, tagaus die selben Serien guckten und die das Leben in den eigenen vier Wänden verpassten, wollte sie nicht sein.

Nein! Tante Emma wollte ihr Leben in vollen Zügen genießen, jeden Tag mit all seinen Besonderheiten erleben, und nicht zuletzt war sie auch dem täglichen Dorftratsch in ihrem Stübchen nicht ganz abgeneigt – da brauchte sie auch keine Telenovelas mit erfundenen Dramen, immerhin spielte das Theater direkt vor ihrer Nase.

Der Laden war ihr ganzer Stolz! Nicht zuletzt deswegen, weil er ihr ab ihrem 25. Lebensjahr das Nötige lieferte, um sich und ihren Ehemann zu ernähren. Nicht dass sie schlecht über ihn hätte reden wollen, ihren seligen Heinz, doch sein Einkommen, das er zu Lebzeiten im Zuge seiner Arbeit als Postbote bezog, landete jeden Monat allzu schnell am Stammtisch des benachbarten Dorfgasthauses. Und so wusste sie schon früh, dass sie als Hausfrau nicht viel hätte auf den Tisch bringen können – vom Begleichen der monatlichen Zahlungen gar nicht erst zu sprechen.

Auch war der Heinz sehr eifrig gewesen, wenn es darum ging, die postalische Zustellung an die Hausfrauen einiger handverlesener Haushalte mit einer besonders persönlichen Note zu untermauern.

Ihre Ehe blieb zwar kinderlos, doch die Ähnlichkeit einiger Dorfkinder mit dem seligen Heinz war schwerlich zu leugnen. Wie zu jener Zeit vor allem am Land üblich, machte man kein großes Aufsehen um diese Geschichte, immerhin waren sie brave Kirchgeher und Emma stand mit ihrem Lädchen für sämtliche Fußballspiele, Dorffeste und Kirchtage zur Verfügung – da war das Ansehen ihres nunmehr seligen Gatten ganz rasch wiederhergestellt.

Sein Ableben war trotz seines durch Alkoholexzesse bereits eher dürftigen Gesundheitszustandes recht überraschend gewesen. So geschehen, als er eines Nachts vom benachbarten Dorfgasthaus mit seinem Puch Maxi nach Hause wollte und die Begleitstraße mit der Bundesstraße verwechselte. Wahrscheinlich war seine Sicht zu jenem Zeitpunkt nicht mehr die beste und auch wenn er entschlossen stets alles aus seiner Lady – so nannte er sein geliebtes Maxi – herausholte, konnte er dem entgegenkommenden Lastwagen leider nicht auf Augenhöhe begegnen.

Obwohl Tante Emma ihren Verlust mit Fassung trug, hatte sie seit damals genug von Männern und wollte sich mit Liebesthemen auch nicht mehr weiter belasten. Das Lädchen bot ihr nunmehr ein weit höheres Auskommen und sie konnte sich sogar einen ansehnlichen Notgroschen ersparen, der ihr sonst womöglich verwehrt geblieben wäre.

So vergingen die Jahre, Tante Emma fehlte es an nichts und sie blieb im sicheren Hafen ihres erprobten Alltages. Mittlerweile hatte sie zwar zwei Mal wöchentlich eine Hilfe im Laden, da sie die Hebearbeiten bei neuen Lieferungen sowie die Reparaturen des in die Jahre gekommenen Mobiliars nicht mehr zur Gänze selbst erledigen wollte – dennoch hatte sie zu jenem Zeitpunkt noch lange nicht daran gedacht aufzuhören.

Von Zeit zu Zeit – genauer gesagt jeden Dienstag um 20:15 Uhr – plagte Tante Emma jedoch das Fernweh. Denn da lief Universum im Fernsehen und sie genoss es, sich in ihren gemütlichen braun-gelb karierten Fernsehsessel zu kuscheln und mit einem Glas Brandy in der Hand die Welt im eigenen Wohnzimmer zu betrachten. Als würde man durch ein Kaleidoskop aus Siebzigerjahretapeten und -mustern in eine ferne Welt schauen.

Von der Welt hatte sie ja bisher noch nicht viel gesehen und, um ehrlich zu sein, ist sie auch aus dem eigenen Bundesland nie wirklich herausgekommen. Dennoch wusste sie, dass da noch viel mehr existierte, dass es exotische Orte mit anderen Kulturen gab, die nach anderen Regeln spielten, und dass die Bananen aus ihrem Laden weiter gereist waren, als sie es sich jemals hätte vorstellen können.

„Irgendwann“, dachte sie sich dann jedes Mal, bevor sie friedlich in ihrem Sessel einschlief. „Irgendwann werde ich doch noch einmal das Meer sehen.“

Ein Tag wie jeder andere

Es war ein ruhiger Vormittag in Tante Emmas Laden. Die Kinder stürmten die Süßigkeitentheke bereits vor der Schule, die Arbeiter hatten ihre Jause schon abgeholt und die Hausfrauen waren zeitig zugegen gewesen, um das Mittagessen für ihre Männer pünktlich auf den Tisch zaubern zu können.

Es war ein Tag, an dem sie keine Lieferungen erwartete, an dem nichts einzuräumen war und an dem auch der Stehtisch im hinteren Ladenbereich noch nicht besucht war. Da es gerade nichts zu tun gab, widmete sie sich dem Kreuzworträtsel der aktuellen Tageszeitung und wartete bis die nächste Kundenschar zu Mittag wieder bei ihr einkehren würde.

Als sie gerade stolz ein neues Wort in die Kästchen des Rätsels eintragen wollte, bimmelte jedoch die Ladenglocke über der Eingangstüre. Tante Emma strich rasch die Falten ihrer Mantelschürze glatt, setzte ihr bestes Lächeln auf, für das sie im ganzen Ort bekannt war, und als sie nach oben blickte, konnte sie ihr Erstaunen kaum verbergen:

Ein Fremder hatte ihren Laden betreten, das kam zwar öfter vor, aber dieser Fremde war speziell. Er war von großer Gestalt, sicher zwei Köpfe größer als sie selbst, trug einen weißen Vollbart, der ihm bis auf den gut genährten Bauch reichte, und hatte das lange weiße Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. In den Händen hielt er einen schwarzen Motorradhelm, der zu Ledergilet und -hose passte, und die nackten Oberarme waren noch die eines Holzfällers, oder sagen wir jene eines pensionierten Holzfällers.

Tante Emma war sichtlich beeindruckt von diesem Anblick, und als sie ihre Fassung endlich wiedergefunden hatte, fragte sie, was sie für ihn tun könne. Der Dialog zwischen ihnen trug sich wie folgt zu …

„Fremder“: Guten Tag meine Liebe, hätten Sie bitte ein paar Wurstsemmeln für mich und meine Freunde?

Die Freunde warteten draußen auf ihren Motorrädern und auch sie hatten die fünfzig bereits weit überschritten.

„Gerne doch“ – hauchte Tante Emma dem Fremden zu und schwebte zur Wursttheke, um das Gewünschte zuzubereiten.

„Wie hätten Sie es denn gerne?“, fragte sie und blinzelte dabei kokett.
„Bitte Wurst, Käse und Essiggurken, Sie wissen sicher am besten, was gut schmeckt.“

Da kicherte Tante Emma, machte eine wegwerfende Handbewegung und meinte verlegen: „Ach Sie Charmeur, Sie … Ich mach Ihnen die Semmeln gleich fertig.“

Sobald sich der Fremde nach ein paar Getränken umsah, schnitt sie die Semmeln auf, belegte sie zärtlich mit Wurst, die sie dann sogleich mit je einem Blatt Käse streichelte und fügte die Essiggurken hinzu, die sie hübsch zwischen Wurst und Käse drapierte.

Es sollten verdammt nochmal die besten Wurstsemmeln werden, die dieser stattliche Fremde je gegessen hatte, und dafür legte sie sich richtig ins Zeug! Sie packte alles in eine Papiertüte, fügte heimlich ein paar Schoko-Küsschen hinzu und strahlte über das ganze Gesicht – direkt in seines –, als sie den Gesamtbetrag abrechnete.

„Auf Wiedersehen und kommen Sie bald wieder“, rief sie ihm noch nach, als er zur Tür hinausging. Er drehte sich um und winkte ihr lächelnd zu – vielleicht einen Wimpernschlag zu lange.

Sobald ihr Kollege wieder zurückkam, wurden die schweren Maschinen gestartet und die Gang zog laut, aber geruhsam von dannen. Tante Emma stand inzwischen an der Tür, winkte ihnen fröhlich nach und war über das, was eben geschehen war, völlig perplex.

Genau denselben Verkaufsdialog hatte sie bereits hundert-, ach was red ich, sicher schon tausendmal geführt, aber dieses Mal war es anders. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und sie spürte Schmetterlinge im Bauch. Das war nicht nur ein Verkaufsgespräch mit einem Wurstsemmelkunden, das war verdammt nochmal echte Erotik!

Als sie am Abend desselben Tages nach Hause kam, gingen Tante Emma tausend Gedanken durch ihren Kopf. Würde sie ihn wiedersehen, war das Karomuster des Fernsehsessels plötzlich bunter und schmeckte der Brandy heute besser als sonst? „Ach du dumme alte Nudel“ schalt sie sich selbst und versuchte sich ihre jugendliche Verliebtheit auszureden.

Was sollte so ein rüstiger Biker schon von ihr wollen. Ihre Mantelschürze konnte seinem Leder-Outfit nicht das Wasser reichen und auch sonst hatte sie sich in den letzten Jahren etwas gehen lassen, was die Optimierung ihrer Optik betraf. Etwas grummelig ob dieser Erkenntnis versank sie ein bisschen tiefer in ihrem Sessel, doch sie war niemand, der jammerte, nein, wenn sie etwas störte, musste es geändert werden. Und egal ob er wiederkam oder nicht, sie hatte genug Zeit damit verbracht, Dinge nicht zu tun und von den schönen Dingen lediglich zu träumen. Nun war es an der Zeit zu handeln, denn wenn sie das Meer sehen wollte, musste sie verdammt nochmal auch hinfahren.

So tat sie, was sie noch nie getan hatte … Sie griff nach dem Telefon, wählte die Nummer von Gerti, ihrer Ladenhilfe, und fragte, ob sie morgen einen Extra-Tag übernehmen wollte. Gerti war äußerst besorgt über diese Frage, schließlich war Emma in 45 Jahren nicht einen Tag krank gewesen und ihr Laden lief wie ein Schweizer Uhrwerk: exakt und nach klaren Abläufen. Doch Emma antwortete nüchtern:

„Alles ist gut, meine Liebe, ich muss mich nur mal einen Tag lang anderen Dingen widmen.“ Gerti war sofort einverstanden, denn die wenigen Stunden, die sie im Laden arbeitete, waren ein karges Zubrot zu den Kosten, die sie und ihre Großfamilie zu tragen hatten. Früher oder später musste sie sich einen anderen Job suchen, der ihr mehr Stunden und Geld einbrachte.

Eine Frage des Gefühls

Am nächsten Morgen erwachte Tante Emma pünktlich um 5, da die innere Uhr, die sie sich in 45 Jahren im selben Alltag antrainiert hatte, keinen Wecker mehr forderte. Sie zog sich an, nahm ihren Geldbeutel und wartete auf den Bus um 7 Uhr 15, der sie in die nächste Stadt bringen sollte.

Als Erstes würde sie sich eine neue Frisur machen lassen. Sie wollte optisch keine „ältere Dame“ mehr sein, SIE wollte nun alles aus sich rausholen – schließlich lebte sie gesund und die 70 sah man ihr, außer von der äußerlichen Aufmachung, kaum an. Die weiße Dauerwelle war obsolet geworden, sie wollte so aussehen, wie sie sich fühlte, und mit der jetzigen Frisur fühlte sie sich wie ein in die Jahre gekommenes Schaf.

Gesagt, getan, betrat knappe sechzig Minuten später eine andere Frau den Gehsteig vor dem Friseurladen. Die weiße Dauerwelle war geschoren und eine kesse Kurzhaarfrisur krönte nun Tante Emmas Haupt. Sie war mit dem Ergebnis sehr zufrieden, doch nun wollte sie auch ihrer Mantelschürze den Krieg erklären, was sie drei Häuser weiter prompt erledigte.

Am späteren Nachmittag dieses Tages stieg eine neue Tante Emma aus dem Bus in ihrer Heimatgemeinde und, um ihrem neuen Ich die nötige Bühne zu geben, führte sie ihr erster Weg direkt in ihren Laden.

Man kann sich die VERwunderung der Leute vorstellen, die rasch in BEwunderung umschwenkte. Emma genoss es, sich in den Komplimenten ihrer langjährigen Weggefährten zu sonnen, und betrat ihre kleine Wohnung an diesem Tag zufrieden und voller neuer Ideen.

Die nächsten Wochen verbrachte Emma wieder wie gewohnt. Sie verkaufte Süßigkeiten, Jause und Dosenbier, doch es war etwas mit ihr geschehen, das sie nur schwer benennen konnte. Obwohl alles in geordneten Bahnen lief und auch sonst keine besonderen Vorkommnisse ihren Weg kreuzten, konnte sie sich nicht recht freuen. Es war, als würde ihr das eigene Leben zu eng werden und, obwohl die Frühlingsgefühle zu ihrem rüstigen Biker langsam abebbten, war etwas in ihr gekeimt. Wie ein Pflänzchen, das nun mehr Raum forderte und einen größeren Topf brauchte.

Eines Tages, als sie mittlerweile von Langeweile geplagt, ihrem täglichen Geschäft nachging, hörte sie Motorräder, die vor ihrem Laden parkten. Sie warf einen Blick hinaus und tatsächlich, es waren dieselben Männer. Ihr stattlicher Angebeteter betrat wieder den Laden und als er sie sah, strahlte er über das ganze Gesicht.

„Wir sind wieder da, danke für die Schoko-Küsse und die besten Wurstsemmeln meines Lebens“, sagte er und erklärte, dass sie eine längere Tour gemacht hätten und sich nun auf dem Rückweg befänden. Emma wollte ihr Glück nicht noch einmal verpassen und flirtete, als ob es kein Morgen gäbe. Der „Fremde“, der wie sie nun wusste, Hans hieß, stieg umgehend darauf ein und sie verabredeten sich für das kommende Wochenende, um gemeinsam einen Eiskaffee in der Stadt zu trinken. Und er würde sie abholen kommen.

Hans und seine Gang wohnten nur vierzig Autominuten von dem kleinen Örtchen weg, in dem Tante Emma ihr gesamtes Leben verbracht hatte, und so stand dem Wiedersehen nichts im Wege.

Tante Emma hatte also ein Date. Sie konnte es kaum glauben! Sie fühlte sich wie ein junges Mädchen, als sie ihren Kleiderkasten durchstöberte, um das richtige Ensemble für diesen Tag zu finden. Sie war bereits drei Stunden früher fertig als abgemacht, und als ihr Galan vor der Tür stand und ihr artig einen Strauß Blumen überreichte, war es gänzlich um sie geschehen.

Dieses Mal war er mit dem Auto gekommen und der gemeinsame Tag in der Stadt war regelrecht berauschend.

Die nächsten Monate vergingen wie Tage und die beiden verstanden sich auf Anhieb. Durch Hans’ Weltoffenheit weitete sich auch Emmas Horizont um ein Vielfaches. Die Welt erschien nun nicht mehr durch ein Kaleidoskop aus alten Gewohnheiten, denn das Leben war endlich real und mit ihm auch die Veränderung, die sie so dringend brauchte.

Geben und nehmen

Tante Emma war nun in festen Händen. Hans war bereits seit einigen Jahren in Rente und auch sie wollte nicht länger ihre Tage in ihrem Laden verbringen. Sie wollte ihren sicheren Hafen eintauschen und JA, sie wollte mit Hans ans Meer.

Doch Tante Emma wusste, dass sie in dem kleinen Ort auch eine Verpflichtung hatte. Denn der Laden war der soziale Treffpunkt aller. Da sie wusste, wie gerne Gerti bei ihr aushalf, entschloss sie sich, ihr den Laden zu überschreiben, was für diese ein wahrer Segen sein würde.

Emma hatte nun alles gegeben, was sie sich ihr ganzes Leben lang aufgebaut hatte, doch was sie in ihrem neuen Leben stattdessen empfangen würde, war für sie von größerem Wert als alle Sicherheit.

Die Dorfgemeinde verabschiedete sie mit Pauken und Trompeten. Sie wussten um Tante Emmas Engagement und ihre Fürsorge für die Gemeinde, doch nun war es an der Zeit, neue Wege zu beschreiten. Alle kamen, um Lebwohl zu sagen, und auch wenn ihr der eine oder andere Dorfbewohner dabei neidische Blicke zuwarf, war das bei weitem nicht ihr Problem.

In einem letzten Akt des Abschieds färbte Tante Emma all ihre Mantelschürzen schwarz. Sie kürzte sie auf Knielänge und fertig war ihr selbstkreiertes Biker-Outfit. Sie machte den Führerschein nach – A und B wohlgemerkt – und als sie erstmals in ihrem Biker-Outfit auf ihrer eigenen Maschine saß und mit Hans ausfuhr, spürten beide das Verlangen nach mehr. Sie wollten leben, lieben, lachen und all das erleben, was miteinander so viel schöner war. Das taten sie und dabei ließen sie sich von nichts abhalten. Wenn sie nicht gerade mit dem Motorrad unterwegs waren, redeten sie bei einem Bierchen über Gott und die Welt oder sie machten es sich nach einem ereignisreichen Tag vor seinem Kamin gemütlich.

Als Emma zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer sah, kullerten ihr Freudentränen über das Gesicht. Hans stand neben ihr und auch er konnte sich ein feuchtes Blinzeln über diese Freude nicht verkneifen. Er nahm sie in den Arm, sie umfasste sein Gesicht und sagte:

„Lass uns gemeinsam die Welt rocken, Baby.“

 

Epilog

Emma und Hans planten ihre Weltreise akribisch, und als es endlich losging, waren sie wie kleine, neugierige Kinder: aufgeregt, übermütig und ein wenig rebellisch. So blieb es nicht aus, dass das illustre Paar auch ein paar Schlagzeilen füllte …

Unter anderem:

Seniorenpärchen stürmt Bühne bei Rock-Festival – keine Verletzten
Nachdem das Pärchen die Bühne stürmte, durfte es mit der Band gemeinsam performen.
Kommentar des Paares: Das war der geilste Trip ever!

Rüstiges Biker-Paar beim Nacktbaden in Stadtbrunnen erwischt
Von Konsequenzen wird abgesehen, da die Frau den Beamten eine köstliche Jause servierte.

Älteres Paar überführt Bankräuber, der Kind bei Bankraub verletzte – Teil der Beute wird vermisst
Das ältere Paar verfolgte den Bankräuber auf ihren Motorrädern und konnte ihn nach zehn Kilometern stellen. Die Polizei musste den Bankräuber beruhigen, da dieser nach eigenen Aussagen um sein Leben bangen musste. Paar bestreitet alle Vorwürfe.
Großzügige Geldspende in bar vor Kinderheim abgegeben – die Polizei dankt für Hinweise!

Trickbetrüger von älterem Paar ausgetrickst
Älteres Paar gab sich als weit entfernte Angehörige aus und versprach Erbe bei Zahlung eines Betrages!

Und da sie in sämtlichen Schlagzeilen nur als „Paar“ erschienen, entschlossen sie sich zu heiraten. Künftig wollten sie als Ehepaar bezeichnet werden und wo konnte man besser heiraten als in LAS VEGAS, denn: What happens in Vegas, stays in Vegas! Psst

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 23162