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Schattenbank

Du weißt nicht, wie lange es her ist, dass du so aufgelöst warst. In der Luft spürst du das Frühlingssonnenlicht, das auf diese Bank, auf diesen Platz nie direkt fällt und das dennoch alles einnimmt, überallhin dringt und das alles zersetzen will, was du für sicher gehalten hast. Vor einem Jahr muss es gewesen sein, da du und ich in derselben Sonne in derselben Stadt auf Parkbänken lagen, in den fünfzehn Minuten vor dem Nachmittagsunterricht. Du hast lange niemanden von uns gesehen, hast uns verloren, und nun löst du dich auf, mit jedem Sonnenstrahl, der dich trifft. Du weinst, seit du hier im Schatten liegst, aber du weißt es noch nicht. Leute gehen an dir vorbei, über die du dir einmal viele Gedanken gemacht hast, doch du hast vor tausenden von Jahren damit aufgehört.

Auch über dich denkt niemand nach. In Gedanken bist du wieder ein Kind, das in einer fremden Welt aufwacht. Du hast das Rechnen verlernt und dann das Denken. Du hast verlernt, dein Leben zu führen, zu regeln, zu schaffen. Vor wenigen Augenblicken noch, bevor du dich auf die Schattenbank gelegt hast, wolltest du etwas, doch du hast es vergessen, und der Grund dafür spielt keine Rolle mehr. Dumpf spürst du den Druck der Krawatte oder das fordernde Ziehen der festen Haarnadeln. Irgendetwas hast du verloren. Du hast dich entschieden, oder der Zufall hat es für dich getan, obwohl du an ihn sonst nie glaubst und das Zusammenspiel vieler Faktoren nicht so nennen willst. Du löst dich auf mit jeder Träne, die du nicht zurückhalten willst, mit jedem Atemzug. Hell siehst du die Stunden an dir vorüberrasen, die du erhitzt von Plänen erzähltest.

Du hast dich irgendwann verliebt und die Zukunft war gemeinsam und du warst noch du. Nun ist es so gekommen und du hast alles. Es holt dich ein und mit schweren Gewichten auf den Boden, du hörst wieder die Busse an dir vorbeifahren. In einem von denen sitze ich und sehe dich nicht, da denkst du gerade daran, dass du manchmal am Boden allein Musik gehört hast. In zwei Minuten wirst du den Kopf schütteln über deinen eben vergangen seienden Zustand, aber solche Momente kann man sich schon mal leisten. Wenn du nur nicht zu spät zum Bewerbungsgespräch kommst. Du wirst auf deine vor wenigen Monaten mit redlich verdientem Geld erworbene silberne Armbanduhr blicken und es werden nur sieben Minuten vergangen sein, seit du dich niederlegtest. Aber noch türmt es sich in dir zu Sandburgen, noch stapelst du alte Bilder auf, noch bist du gerne verloren.

An Freundschaft erinnerst du dich und an Liebe, die noch unecht und Utopie war. Mit zitternder Hand greifst du nach dem Holz unter dir, das rau und noch kalt vom vergangenen Winter deiner Hand entgegenkommt, ungläubig lässt du diese liegen. Du folgst mit den Fingerspitzen der Maserung. Doch nichts löst sich auf. Bestimmend reißt dich die Stadt zurück. Schwindelnd erinnerst du dich an deine Lage. Du merkst, dein Gesicht ist kalt geworden vom Frühlingswind. Du schüttelst den Kopf.

Emil Eva Rosina
Text veröffentlicht in: Die Zeitgenossin, Heft 1/2014

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 14032

Nicht witzig!

Das Wort „lustig“ kommt von „Lust“,
und deshalb ist es hier bewusst
und ganz entschieden zu vermeiden.
Den Spaß in „spaßig“ kann verleiden,
dass nicht sehr zum Lachen reizt,
wenn sich die Ratio verspreizt.
Und auch die „Komik“ reicht nicht weit,
denn komisch wirkt bei uns zur Zeit
nicht einmal, wer nicht erkennt,
dass er sich komplett verrennt.
Es bleibt, vom „Ulk“ jetzt abgesehn,
weil nur die Deutschen ihn verstehn,
allein der „Witz“, denn der hat schon
eine ihm eig´ne Dimension.

Rennt Wirklichkeit derart verkehrt,
dass sich Verstand dagegen wehrt,
spricht man vom „Witz“, vom „wirklich schlechten“,
in dem Bedürfnis, dem gerechten
Zorn jenen Ausdruck zu verleihn,
der einem späteren Verzeihn,
oder dem einfach passiv Bleiben,
wenn wir im Alltag weitertreiben,
nicht allzu sehr entgegen steht.
Weil: „g´lernt is g´lernt“, und es vergeht
die Zeit, die ja angeblich
Wunden heilt; jedoch erheblich
dadurch, dass ein neuer Witz,
ein schlechter, von uns nimmt Besitz.

Derart versorgt und zugemüllt
wird dem Wahlvolk unverhüllt
Wahl nach Wahl deutlich gemacht,
was Volkes Stimme hat gebracht.
Es hagelt Witze, Schlag auf Schlag.
Sie werden schlechter Tag für Tag.
Weil man sich drauf so gut versteht,
bekommt´s schon wieder Qualität.
So, dass das Lachen Tränen triebe,
wenn´s nicht im Halse stecken bliebe!

Michaela Harrer-Schütt

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 14025

 

 

 

 

Bernhards Suhrkamp(f)

Dass Thomas Bernhards erste (schriftliche) Kontaktaufnahme mit dem renommierten, deutschen Verlagshaus Suhrkamp neunzehnhunderteinundsechzig, ein Alleingang, wie er schrieb, scheiterte, habe er sich wohl selbst zuzuschreiben, dachte ich mir bei Betrachtung des photokopierten und im Briefwechsel abgedruckten ersten Briefs, an Herrn Dr. Unseld adressiert.  Zwar, so der Vermerk des Lektors, drei Monate nach Einsendung des Manuskripts, erscheine dasselbe engbrüstig und diffus, so zwei Attribute, las ich im (ausgezeichneten) Kommentar zum Briefwechsel.  Mehr noch als das Urteil eines Lektors schien mir aber für den vorläufigen Alleingang in den Abgrund eher Bernhards Dreistigkeit Grund gewesen zu sein, dachte ich, welche darin bestand, dass er, so malte ich es mir aus, nachdem er den Brief sorgfältig und ja, fehlerfrei getippt hatte, Suhrkampfs f , bevor er seine handschriftliche Paraphe unter den Schrieb setzen sollte, manuell zu Suhrkamp korrigierte, mit der leichtesten Handbewegung, fast böse in sich hinein grinsend, dachte ich mir und war davon überzeugt, Bernhard ist ein Genie gewesen.

 Magnus Liendlbauer

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 14001

ambiValenz

Für die Vereinigten Evaluierer aller Länder
( ‚Vergeigt euch !’ )

Wir erzähln uns Lügen – aber
          die Lügen lügen nur leise.
Im Grund’ sind wir dumm – aber
                unsre Dummheit ist weise.
Unser Gehn und Tun ist: nur gradaus – aber
                                    wir drehn uns im Kreise.

„Alles NEU, alles NEU“   schreit   unser
                      vorlauter Mund – aber
hintennaus, da kommt immerfort
          die ewig alte Scheise …

E. Sofia

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 14002

 

Summ, summ, summ herum

„Co-gito ergo sum.“     (Descartes)

„Co-ito ergo sum.”     (Casanova, Don Juan,  …  sonstwer?)

„Ich esse, also bin ich.”      (Lucullus)

„Ich schreibe, also bin ich (hoffentlich)[1].“    (Ingeborg Bachmann u.v.a.)

„Ich arbeite, also bin ich.“      (Internationale Arbeiterbewegung)

„Weil ich (arischer!) Deutscher bin, bin ich.“     ( A. Hitler u.a.)

„Weil ich lüge, scheine ich zu sein.“     (Wittgensteins Double)

„Weil ich möglichst viele (Feinde und Freunde) umbringen lasse, bin (nur noch) ich.“
(Caligula, Nero, Jossip Wissarionowitsch)

„Weil ich so einfühlsam bin, merkt keiner, dass ich (da) bin.“     (Modernistischer Psycho-Scheiß)

„Ich kaufe, also bin ich.“     (Konsumtrottel aller Länder …)

„Ich wachse, also bin ich.“     („Die Wirtschaft“ – aller Länder)

„Ich leiste und löhne, also muss ich und muss ich … Leiden-schafftlich.“
(Joint-venture Deutsche Bank – Freiheitliche Partei)

„Weil ich jamm’re und stöhne, krieg ich gar nicht mit, dass ich (da) bin.“
(Modell moderner Arbeits- u. Leistungssklave)

„Ich kann rechnen, also bin ich.“     (Homo fabrissimuss)

„While I nin-ten-do, ergo bin i a do !“     (Homo ludens – Species spassiensis)

Alles Unsinn !

… „Meine Eltern haben miteinander kogitiert, deshalb bin ich.“
(Ja, gut, diese Aussage lässt sich aufrechterhalten.)

E. Sofia

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 13043

 

 

 


[1]   Übersetzung / Interpretation:  „Ich schreibe, weil ich gern (wer) sein möchte.“

 

Trägt der Stoff, aus dem unsere Träume gemacht sind, eigentlich ein Muster?

Etwas später in der letzten Woche war ich in der Stadt, um mir eine Hose zu kaufen. Eine die passt, gut aussieht, mindestens drei Kilo schlanker macht und nach dem zweiten Mal tragen nicht aussieht wie eine Baggy Pant. Ein kläglicher Versuch also. Aber ich wusste, irgendwo da draußen gibt es sie, ich müsste sie nur finden.

In unseren Vorstellungen passen uns immer alle Hosen. Sie sitzen perfekt und wir finden sie auf den ersten Griff. Aber wenn wir daheim sind und unseren Kasten öffnen, sehen wir einen Haufen an Kleidungsstücken, die wir nie tragen. Die vielleicht in unserem Kopf, aber nicht an uns gut aussehen. In Farben, die uns nicht mal in unseren Träumen stehen. Also hab ich mich gefragt: Wie sieht eigentlich der Stoff aus, aus dem unsere Träume gemacht sind? Hat er ein Muster und wenn ja, welches? Rosa mit Blümchen oder doch eher dunkelgrau mit Querstreifen? Querstreifen machen nämlich dick und das braucht nun wirklich niemand. Schon gar nicht in Träumen, auf die wir immerhin noch einen Funken Einfluss haben, solange nicht gerade Vollmond ist. In jedem Fall aber ist es derselbe Stoff, aus dem unsere Hosen gemacht sind. Und wir alle haben eine Vorstellung davon. Auch wenn diese Vorstellung am Ende nur grau und verstaubt im Kasten landet. Die Wahrheit ist doch, dass wir ohnehin am liebsten immer das Selbe anziehen. Weil wir uns darin wohl fühlen und wissen, dass wir damit nicht in peinliche Situationen geraten, bei denen wir im Erdboden versinken müssen. Denn das funktioniert niemals, auch wenn wir es noch so oft mit Harry Potter üben. Wir tragen unsere Lieblingsteile so lange, bis von ihnen nur noch Fetzen übrig sind. Und selbst dann versuchen wir sie noch zu retten. Denn ohne sie fühlen wir uns irgendwie einsam und auch ein Stückchen verlassen. Und so ist es auch mit unseren Träumen. Doch was ist, wenn es das Schicksal eines jeden Traumes – mit oder ohne Blümchen – ist, irgendwann zu zerplatzen? Damit er real und zu unserem Lieblingsstück werden kann. Und wenn er das nicht wird, dann hängt er zumindest in unserem Kasten, der bei uns zu Hause steht. Solange wir im wahren Leben keine Querstreifen tragen, wird alles gut.

Anna Zemann
Links: The Script Company, Blog

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 13026

 

 

 

 

 

Wenn uns das Universum etwas sagen will, warum ruft es dann nicht einfach an?

Wir alle haben ein Smartphone. Oder auch keines, aber dafür ein anderes Handy. Dann sind wir zwar nicht so cool, aber jedenfalls trotzdem erreichbar. Immer und überall, außer für das Universum. Das vermittelt seine Botschaften nämlich ohne klingelnde Vorankündigung, dafür aber ganz gern mit extra Ironie. So wie ein Caffè Latte mit zehn extra Schuss Espresso. Naja, dann ist man wenigstens wach. Was ich mich allerdings schon frage ist: Wenn uns das Universum etwas sagen will, warum ruft es dann nicht einfach an? Wäre das nicht einfacher für alle? In Zeiten der NSA sind unsere Nummern ohnehin überall zu finden. Warum müssen wir uns immer erst durch den alltäglichen Dschungel der subtilen Zeichen kämpfen und alles vermasseln, um dann irgendwann den Sinn zu erkennen? Es ist ja auch nicht so, dass wir Botschaften nicht verstehen wollen. Aber wie sollen wir das denn, wenn wir nicht wissen wie, oder wo, oder wann?

Letztens beispielsweise – an einem Sonntag Abend – hab ich den ganzen Tag zuvor damit verbraucht, auf eine Nachricht zu warten. Keine vom Universum, einem aus dem Handy. Eine Short Message: leicht zu empfangen, sehr schwer zu senden – offensichtlich. Dazwischen hab ich Gewand nach Farben sortiert, ohne Nachricht. Alte Fotoalben angesehen, die mir zufällig beim Anstarren des Bücherregals ins Auge gefallen sind. Hab etwas gekocht, ohne Hunger und ohne Nachricht. Hab die Wiederholungen der Samstag-Abend-Filme gesehen und bin knapp davor gewesen, bei Bauer sucht Frau hängen zu bleiben. Hab mehrere Stunden das Handy hypnotisiert, ohne Erfolg. Zugegeben: Wenn ich die Nachricht gewesen wäre, hätte ich auch Angst gehabt vor diesem Blick. Irgendwann aber, war dann genug gewartet. Leicht genervt hole ich den Müll und trage ihn vier Stockwerke nach unten. Das sind 120 Stufen. Ich weiß es, weil ich sie täglich beim Hinaufkeuchen zähle. Mein Handy kommt natürlich mit … könnte ja sein. Der Müll fliegt in die Tonne, das Handy durch die Luft – unabsichtlich, aber immerhin – und das Display sieht aus, als hätte es mein Blick gesprengt. Eh schon egal denk ich mir, denn Nachricht bekomm ich ja ohnehin keine. Ich krieche 120 Stufen nach oben und setzte mich auf die Couch, mit einem Achtel Rot. Das Handy klingelt. Ich kann die Nachricht nicht lesen. Kein Lichtstrahl, der vom Himmel kommt, kein Engelschor, keine Harfe, nur die Ironie des Schicksals. Ich trinke weiter und das Handy klingelt nochmals. JA, ich hab die Nachricht verstanden! Diesmal sogar mit Ton. Na bitte, geht doch.

Anna Zemann
Links: The Script Company, Blog

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 13024

Willensstärke. Übermut. Fall?

Von einem vorteilhaften Lauf der Dinge konnte nun wirklich nicht die Rede sein – Lisa spürte aber, dass sich manche der Verlegenheitsentscheidungen, in die sie vor nicht allzu langer Zeit gezwungen wurde, durchaus als nützliche Anknüpfungspunkte erweisen könnten. Die verheißungsvolle Qualität dieser Gewissheit setzte sie aber auch unter Druck. Denn sie wusste: Es war nun ein Gebot der Stunde, nicht nur dieses positive Moment zu internalisieren, sondern auch die bewusste Steuerung dieses Prozesses nicht überzustrapazieren.

Drei Monate wohnte Lisa nun schon in Wien. Diese Zeit hatte sie sich erkauft, indem sie das Angebot ihrer Eltern, in den gastronomischen Familienbetrieb einzusteigen, nicht begeistert aufgegriffen und sich in weiterer Folge in eine Selbstfindungsphase in der Bundeshauptstadt hineinreden ließ. Dass sich diese Entscheidung so gar nicht danach anfühlte, als erfülle sie einen wichtigen Part in ihrer ganz persönlichen Lebensplanung, hinderte sie nicht daran, mit vorauseilendem Gehorsam an die Sache heranzugehen. Damit unterminierte sie unwillentlich den Freiraum, den ihr ihre Eltern ganz bewusst zugestehen wollten.

Ohne Plan und Ergebnisorientierung hatte sie schon nach wenigen Tagen Unmengen an Studienplänen und Anmeldeformularen gesammelt – um nicht in die Verlegenheit zu kommen, sich selbst Untätigkeit vorwerfen zu müssen. Dabei zögerte sie durch die Unverbindlichkeit dieser Maßnahmen fundamentale Fragestellungen ihres zukünftigen Lebensweges hinaus. In den Lehrveranstaltungen, die sie besuchte, versuchte sie wie besessen den jeweiligen Anforderungen von Anfang an auf Punkt und Beistrich zu entsprechen – ohne zu wissen, wofür ihr das einmal helfen sollte. Diese eindimensionale Wissensakkumulation wirkte wie eine Art Schleier, der sich über jene Bereiche ihres Naturells legte, die über selbstbestimmte Initiative und zwischenmenschliche Charakterbildung in einer neuen studentischen Identität aufgehen hätten können.

Die Bedingung, sich in der Gruppe auf ein Seminar vorzubereiten, war für Lisa anfangs immer ein Grund, die Veranstaltung vorzeitig abzuschreiben. Als sie merkte, dass sich das nicht vermeiden ließ, wenn sie ernsthaft mit dem Studium beginnen wollte, zögerte sie nicht, sich auf diese potenzielle Bedrohung einzustellen. Dabei war ihr beim ersten Zusammentreffen mit den Kollegen vor allem aufgefallen, wie gleichgültig diese ihren Mangel an Selbstdisziplin und Sachorientierung hinnahmen. Einzig der offensichtlich aus Deutschland stammende Tim drängte beiläufig darauf, einen Zeit- und Arbeitsplan zu entwickeln. Er schien dabei weder mit sich selbst noch mit den Begleitumständen der Besprechungssituation beschäftigt zu sein. Das gefiel Lisa sehr.

Sich nicht nur in ihrer kargen Einzimmerwohnung im zehnten Bezirk sondern auch in einem der majestätischen Parks oder einem der zahlreichen Cafehäuser in Wien ihrer Literatur widmen zu können, verschaffte Lisa die Bestätigung und Genugtuung, dass sie ihre akribische Lernmoral nun auch an die neuen Lebensumstände angepasst hatte. Niemals hätte sie es jedoch zugelassen, sich von den Reizen der neuartigen Umgebung überwältigen und von dem selbst auferlegten Arbeitspensum ablenken zu lassen.

Als der Winter unerwartet früh über Wien hereinbrach, hatte sich Lisa bereits entschieden, zunächst auf das Studium der Anglistik zu setzen. Das hieß auch, dass sie die bereits begonnene Gruppenarbeit weiterführen würde müssen. Dieser versuchte sie offensiv entgegenzutreten und in Tim hatte sie auch einen Arbeitspartner gefunden, der als einziger die Bereitschaft andeutete, Anstrengung in das gemeinsame Projekt zu legen. Und weil das nicht die Regel war, hatte Lisa ein großes Interesse dafür entwickelt, was Tim dazu veranlasste, sich so in den Dienst der Sache zu stellen. Selbiges galt übrigens auch für Tim: Er fragte sich, wie Lisa es schaffte, ihre Persönlichkeit einem Arbeitsauftrag derart unterzuordnen.

Keiner der beiden wagte sich aus der Deckung, als es zum wiederholten Male an ihren Schultern hängen blieb, die Textabschnitte der Kollegen in eine kohärente Arbeit zu verpacken. Dass die Sacharbeit derartig viel Aufmerksamkeit verlangte, dass gar keine Zeit blieb, um auf Andeutungen persönlicher Natur einzugehen, war beiden ganz recht. Die Erkenntnis, dass auch unvorhersehbare Entwicklungen beherrschbar sind und nicht nur ein Weg zum Ziel führt, hatte Lisa mittlerweile aber neue Luft zum Atmen verschafft.

Die Präsentation des Gruppenprojektes, das die deutliche Handschrift von Lisa und Tim trug, verlief zufriedenstellend. Angesichts ihrer ursprünglichen Scheu war Lisa sogar etwas stolz darauf, dass sie neben der permanenten Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten zumindest in Ansätzen den Verlauf der fachlichen Diskussion im Auge behalten konnte. Als sie nach getaner Arbeit die Räumlichkeiten des Anglistik-Instituts verließ, war Lisa weniger erleichtert denn motiviert, auf dieser noch nicht annähernd optimalen Performance aufzubauen.

Instinktiv spürte sie, dass es ihr guttäte, wenn sie sich für diesen ersten Teilerfolg belohnen würde. Anstatt zu Hause an ihrem Englisch zu feilen, verabredete sie sich mit einer ehemaligen Schulkollegin zum Kino. Auch wenn sie das gegen die entgangenen Lerneinheiten aufrechnete, zahlte sich das echt aus. Die Intensität des Films bescherte ihr eine Wissensvermittlung viel emotionalerer Natur als sie das in den letzten Wochen gewohnt war. Er lieferte auch genügend Gesprächsstoff für die Nachbereitung mit ihrer Freundin in einem Gürtellokal. Und weil der pochende Sound der Location um die Ecke zu verlockend war, klang der Abend recht intensiv aus. Das Bett sah Lisa erst um 4.30 Uhr.

Als sich Lisa kurz vor Mittag ins Badezimmer schleppte und – sich ihrer täglichen Selbstgesprächsdosis hingebend – merkte, dass sich das Timbre ihrer Stimme veritabel nach unten verlagert hatte, bescherte ihr das völlig unerwartete Glücksmomente. Sie war körperlich auch bald wieder soweit hergestellt, dass sie wie selbstverständlich nach dem Mittagskaffee den Gang in die Bibliothek antrat. Weil dort am Samstag kaum Betrieb herrschte, konnte sie sich voll auf eines der von ihr bearbeiteten Werke konzentrieren. Dass sie nicht das fand, wonach sie suchte, tangierte sie kaum. Als sie gerade dabei war, am Kopiergerät zu hantieren, spürte sie einen forschen Rempler zwischen ihren Schulterblättern. Drei ihrer begrenzt motivierten Gruppenkollegen schienen sich einen Riesenspaß daraus zu machen, die zufällige Begegnung zu nutzen und auf Lisa zuzugehen. Ohne darüber nachzudenken, versuchte sie das körpersprachlich zu goutieren. Es überraschte sie nicht, dass die Konversation von der Abendgestaltung bestimmt wurde. Sehr wohl überraschte sie aber, dass sie das Angebot, die Clique am Abend zu treffen, prompt annahm.

Schon 15 Minuten vor dem vereinbarten Termin fand sich Lisa am Treffpunkt Museumsquartier ein und staunte über die inspirierende Atmosphäre des Kulturzentrums, das in den Wintermonaten von unzähligen Künstlergruppen und provisorisch errichteten Verpflegungsstellen belebt wird. Deshalb stieß es ihr dann weniger sauer auf, dass sie über eine geschlagene Stunde auf ihre Universitätskollegen warten musste. Schon während man sich mit einem Punsch aufwärmte, dämmerte es Lisa, dass sich hinter den vermeintlichen Lernmuffeln spannende Persönlichkeiten verbargen. Dass sich auch ihre Bekanntschaften erstaunt darüber zeigten, was Lisa langsam von sich preiszugeben begann, versetzte sie endgültig in ein Hochgefühl. Dieses konnte sie dann im nahegelegenen Club ausleben. Es wurde getrunken – und getanzt. Als sie kurz davor war, sich in dem Soundteppich zu verlieren, spürte sie die Vibration ihres Smartphones in der Hosentasche. Als sie Tims Nummer auf dem Display sah, hielt sie kurz inne, steckte das Handy dann aber schnell wieder weg. Sie widmete sich wieder der sich anbahnenden Ekstase – und rief nie zurück.

Nico Lajev

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 13036