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Mitternacht

Es ist Mitternacht und Rauch hängt in der Luft. Es regnet. Ich liebe das rhythmische Klopfen der Regentropfen an den Fensterscheiben. Gott sei Dank hat es erst vor einer halben Stunde begonnen zu regnen. Heute Morgen bin ich von Istanbul nach Wien geflogen, um alte Freunde zu besuchen. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich seit zwanzig Jahren nicht mehr hier war. Ich kann auch nicht behaupten, dass ich es vermisst hätte. Ich hätte auch keine Zeit dazu gehabt. Nicht mit einer Familie, einem eigenen Buchladen und einem eigenen Café. Als ich Wien im Alter von 28 Jahren verlassen habe, war mir schon klar, dass ich nur noch zu Besuch kommen würde.

Serdar und ich haben uns bei meinem ersten Besuch in Istanbul kennengelernt. Ich war Sprachschülerin und Touristin und Serdar hatte seine Familie besucht, da er damals in Wien studierte und sie nur während der Sommermonate sah. Mittlerweile sind wir seit vierundzwanzig Jahren zusammen; meine Mutter hat uns nicht einmal ein halbes Jahr gegeben. Ich weiß nicht, was sie zu meinem jetzigen Leben sagen würde, da ich seit zwanzig Jahren kein Wort mehr mit ihr gewechselt habe. Ich darf nicht sagen, dass sie nichts für mich getan hat, das wäre gelogen. Aber die Einsicht, dass man für einen Menschen niemals gut? genug sein wird, egal was man macht, schmerzt. Vor allem, wenn einem die eigene Mutter ohne Unterlass zu verstehen gibt, dass man nicht gut genug ist und es wohl auch nie sein wird. Ich hoffe, dass ich meinen Kindern dieses Gefühl nie gegeben habe.

Ich weiß nicht weshalb, aber wieder österreichischen Boden zu betreten, hat mich mehr als erwartet aufgewühlt. Ich sehe die junge Frau, die ich damals war, aus großer Distanz. Den Tag habe ich mit Evelyn, meiner langjährigen und besten Freundin verbracht. Obwohl ich schon so lange nicht mehr hier lebe, ist unsere Freundschaft auch nach so vielen Jahren noch sehr eng und vertraut. Ich habe versucht, meine einstige Heimatstadt mit den Augen der jungen Frau zu sehen, die ich war, als ich weggezogen bin. Doch wir haben uns beide zu sehr verändert, die Stadt und ich; obwohl manche Gegenden noch genauso sind, wie ich sie in Erinnerung habe. Evelyn ist mir nicht böse, dass ich im Motel One am Westbahnhof übernachte. Sie und ihr Mann bewohnen zwar eine wunderschöne und große Wohnung, doch mich macht es verrückt, in fremden Wohnungen zu übernachten. Schon als kleines Mädchen mochte ich es nicht, bei Freundinnen zu übernachten oder mir, wenn sie bei mir übernachteten, ein Bett mit ihnen zu teilen. Als ich mit Serdar zusammengekommen bin, hat es sehr lange gedauert, bis ich mich daran gewöhnt habe, mit ihm in einem Bett zu schlafen. Auch nach so vielen Jahren passiert es noch, dass ich die eine oder andere Nacht in meinem eigenen Zimmer verbringe. Nun ja, jede Beziehung hat ihre Arrangements.

Offiziell verbringe ich den Abend mit einigen alten Freunden. Tatsächlich aber wollte ich allein sein, um einer alten Geschichte nachzugehen. Ich hatte vor sechsundzwanzig Jahren, noch eine ganze Weile vor Serdar, eine Romanze mit einem türkischen Kurden, dessen Eltern eine Shisha-Bar am Lerchenfelder Gürtel betrieben, genau gegenüber von der U6-Station Thaliastraße. Café Derwisch. Und nun hatte es mich interessiert, was daraus geworden war.

Zu meiner Überraschung hat sich kaum etwas verändert. T. führt das Lokal weiter. Und offenbar hat er eine affektierte und zu stark geschminkte, schlecht blondierte Frau mit einem zu kurzen Minirock geheiratet. Seinen Sohn kann er nicht verleugnen, er ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. T. wirkt sehr angespannt, offenbar hat er es – wie ich es übrigens schon vermutet habe – nicht geschafft, eigene Entscheidungen für sein Leben zu treffen. Als ich vor einer halben Stunde gekommen bin, war das Lokal sehr voll. Ich habe zum Glück einen kleinen Nischenplatz für mich und mein Buch gefunden und eine Kanne schwarzen Tee mit Milch bestellt. Abends mein liebstes Getränk. Ich liebe den Geruch von Wasserpfeifentabak. Wenn Serdar und ich nach Bodrum fahren, wo wir ein Ferienhaus haben, rauchen wir oft eine Shisha. Am liebsten habe ich den Trauben- und den Melonentabak. Und obwohl ich erst seit einigen Stunden wieder in Wien bin, vermisse ich die Türkei und unseren Lebensstil schon. Aber ich bin ja nur eine Woche hier.
Erst jetzt fällt mir auf, dass T. mich anstarrt. Wie lange schon? Ob ihm dämmert, wer ich bin? Wir waren schon ziemliche Hitzköpfe damals. Vermutlich würde ich alles noch einmal so machen; schließlich habe ich mich über all diese Irrwege selbst gefunden. Ich habe noch immer die silberne Kette mit dem schützenden Auge, die er mir einmal geschenkt hat. Irgendwann werde ich sie meiner Tochter Elif schenken.

T. bringt mir eine zweite Kanne Tee. Ich erwidere seinen Blick. Er stellt die Tasse vor mir ab, schüttelt ungläubig den Kopf und setzt sich wieder zu seiner Schwester und seiner Frau an den Tisch. Nicht, dass er aufhören würde zu starren, aber zumindest sind jetzt einige Köpfe zwischen uns. Da fällt es mir nicht so auf. Nun ja, ein besonders entschlossener Mensch war er noch nie.
Als ich wieder auf die Uhr sehe, ist es schon kurz vor vier. Zeit zu zahlen; auf der Eingangstür steht, dass das Lokal am Wochenende bis vier geöffnet hat. Nicht einmal das hat sich geändert. Ich packe meine Sachen und gehe zur Bar, um zu bezahlen. Nur an einem Tisch sitzen noch drei junge Männer, die aber schon bezahlt haben. Bald werden sie ausgetrunken haben und gehen.
„Du bist zurück“, stellt er sachlich fest. Ich nicke schweigend. „Bleibst du?“ „Warum sollte ich?“, antworte ich mit einer Gegenfrage, „ich ziehe Istanbul vor. Und bis zur Pension muss ich meine beiden Läden noch führen, jetzt nochmal einen anderen Job anzufangen wäre unlustig.“ „Hm“, er verzieht die Lippen. Ich lege den abgezählten Rechnungsbetrag auf die Bar und gehe. Vor der Tür kann ich mir ein lautes Auflachen nicht verkneifen. Es ist interessant, was die Jahre aus einem Menschen machen; ober eben nicht machen. Ich habe am Ende alles so hinbekommen, wie ich es mir immer gewünscht habe. Aber wie muss es für ihn sein, immer auf der Stelle zu treten?
Gerade als ich die Straße überqueren will, spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Natürlich ist er mir nachgekommen. Das war nicht anders zu erwarten. Er hat sich kein Stück verändert. „Wieso tust du das?“, er wirkt noch angespannter als vorhin im Lokal, „warum? Ich habe dir immer gesagt, dass du der einzige Mensch bist, der alles umwerfen kann. Auch wenn ich gerade dir gegenüber immer der unfähigste Idiot war!“ „Tja“, ich zucke mit den Schultern, „nach zwanzig Jahren war es Zeit für einen Besuch. Du hast doch immer gesagt, dass es dir egal ist, ob ich komme oder nicht, weil das Derwisch ja ein öffentliches Lokal ist.“ Auch wenn es gemein ist, kann ich mir einen gewissen Sarkasmus nicht verkneifen. Ist es gemein zu sagen, dass manche Leute es nicht anders verdient haben? Er gestikuliert, will die Arme heben, hält aber in der Mitte der Bewegung inne. „Sei nicht so unfair, du siehst doch selbst, dass dir nichts Besseres nachgefolgt ist.“ Ich muss lachen. „Und? Du hattest genug Chancen, es richtig zu machen!“ Mit diesen Worten lasse ich ihn stehen.

Ich gehe zu Fuß zum Westbahnhof; mit der U-Bahn wären es auch nur zwei Stationen. Was der Rezeptionist wohl denkt, als er mich um diese Zeit heimkommen sieht? Dem Namen nach ist er Türke, ebenso wie der Barkeeper, der noch Dienst hat. Ich höre die beiden schon, als ich die Lobby betrete; sie sind sich sicher, dass um diese Uhrzeit niemand mehr hier ist, der sie hören und verstehen könnte, weshalb sie sich, ohne besonders auf ihre Lautstärke zu achten, über gewisse weibliche Gäste unterhalten. Um besser schlafen zu können, bitte ich den Barkeeper auf Deutsch um ein Glas warmer Milch; in meinem Kopf sind die Sprachen sehr mit einem Kontext verbunden. Deutsch in Wien, Türkisch in meinem Lebensumfeld und Litauisch mit meiner Familie. Und mit allen Sprachen ist ein anderer Teil meiner Identität und Persönlichkeit verbunden. Sprache ist Identität, aber nicht jeder Mehrsprachige fühlt sich in allen Identitäten gleichermaßen wohl. Eine wird immer vorgezogen.

Die Überraschung der beiden Männer, als ich sie in fehlerfreiem Türkisch zurechtweise, nachdem sie sich über mich unterhalten haben, ist dementsprechend groß. Und typischerweise werden sie plötzlich sehr kleinlaut. Diese Erfahrung mache ich im Ausland nicht zum ersten Mal. Und natürlich folgen auf die erste Überraschung die üblichen Fragen nach Herkunft, Familie, dem Ehemann (die beiden Männer sind konservativer, als es ihr Äußeres vermuten lassen würde) und der Dauer des Aufenthaltes. Auch auf diese Fragen habe ich meine vorgefertigten Antworten, da ich kein Fan neugieriger Menschen bin. Wenn man mit mehreren sprachlichen Identitäten aufwächst oder neue im Laufe des Lebens erwirbt, wird man immer mit der Neugierde der Menschen zu dem Hintergrund konfrontiert. Das ist wohl die Natur der meisten Menschen. Und natürlich erzählen sie mir viel über sich. Mehr, als ich eigentlich wissen wollte, aber schlafen kann ich ohnehin nicht, weil ich noch aufgewühlt bin von meinem Besuch in Wien und von allen meinen Erinnerungen.

Einen Tag vor meiner Abreise bin ich noch einmal im Derwisch; diesmal mit Evelyn. Es ist Freitagabend und relativ voll. Ich erzähle Evelyn von unserer skurrilen Unterhaltung eine Woche zuvor. Sie hat genauso viel Spaß daran wie ich. Wie früher albern wir herum, trinken ein bisschen über den Durst und erinnern uns zurück. Sie verspricht mir auch, zur Verlobungsfeier meines jüngsten Sohnes Celal zu kommen. Irgendwann brechen wir auf, damit ich vor der Abreise noch ein wenig schlafen kann, da es mir nicht möglich ist, in Flugzeugen zu schlafen. Ebenso wenig in Zügen oder Autos, weil Geräusche und Bewegung mich beim Einschlafprozess stören.

Als ich auf die Uhr sehe, ist es Mitternacht. Vor vielen Jahren haben wir uns auch immer um Mitternacht getroffen.

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16023

 

Fleiß und Frühaufstehen

Ein bisher unentdecktes Fragment einer untersagten Predigt aus dem Melker Stift, dem Kaplan Andreas Corvinus (1684(?) -1749) zugeschrieben

Übers.: Bernd Remsing

…(s)agt man doch: „Fleißig wie die Bienen“, aber: Stehet denn die Biene früh auf, concret: Wann verlasset sie dann ihre Schlafstätt? Nachdem die Biene aber denen Insekten angehöret und noch nie die kühle Morgenstunde von solchen aufgesucht wurde, bedarf sie der Wärme. Sie brauchet der Wärme, ist dahero Langschläfer. Dem Winter ist sie zu rein gar nichts zu gebrauchen, sondern nähret und stärket klüglich sich für die Tempora, wo‘s ihrer Kräfte bedarf. Und wie wertvoll und kostbar ist ihr Honig – er hat sogar die Kraft, Krankheiten zu besiegen (it est: Keuchhusten, Haarwurzelkatarrh, Schlagfluss, Gicht etc.) und hilft dem Menschen selbst gar gegen die Pestilenz! Was Teureres könnte es geben auf dieser Welt? Und doch geben sie ihr flüssig Gold dem Menschen hin ohne unverschämte Forderung, nur ein wenig Platz wollen sie für sich, in Form von Kästen und Körben. Welch gottgefällig bescheiden Anspruch!

Hingegen die Hühner! Welch ziellos unruhig Treiben! Noch schlummert die Sonne hinter dem Donaufluss, da springet diese Hellenbrut verstört von ihren Stangen, ohne Zweck und Vorhaben, nur rein der Unrast wegen. Merket: Wenn denn frühes Aufstehen Fleiß sein soll, dann müsst es folglich heißen: Fleißig wie die Hühner – man sagt ja doch aber: „wie die Bienen!“ Nein! Nein zum Huhn und tausendmal nein! Es stolpert und torkelt den ganzen Tag ziel- und planlos durch Raum und Zeit, machet beständig und in lästiger Weise auf sich aufmerksam, laufet gefährdend zwischen den Füßen argloser Leut herum. Zwar zahlt‘s schuldigen Tribut mit Eiern, doch hat man jemals gehört, dass es aus ihm Heilmittel wie der Bienen Honig gewonnen? So wenig, wie du ein Nagel in den Brunnenstrahl schlägst! Du sagst, nicht wenige Melker schmiern sich Hühnerdreck in die Haar, meinend dessen Wachstum zu fördern, ist dies Thun aber mehr als nur ein Zeichen lästerlichen Aberglaubens, sondern wird nachweislich das Hirn davon geschrumpfet bis auf die Größe einer Erdnuss oder Rosine, bis sie selber gackern wie das Federvieh! Ganz wie Adagia 2, 4 lehret: Piscis primum a capite foetet! Aber nicht nur dero piscis, sondern wie viel mehr die Gacker–Gallinae, die unser Herr nicht im Zeichen getragen, verstinken dem den Kopf, der sich mit ihrem Kot bestreichet! Du fragst: Reuet dero Hühner wenigstens ihr Unverstand? Nichts dergleichen! So wenig wie dass sich der Mensch auf den caput sehn kann, ahnet die Beschränktheit ihre Enge oder schlimmer noch treibt‘s auch noch groß und siehet sich als Erbe und Statthalter dieser GOttbedürftig Welt! Ganz wies denn auch heißet in der heiligen Vulgata, Psalm 42,8 Abyssus abyssum invocat! Nein, Schutz fordert er, der lärmend Geistvernichter, der gefiedert Beelzebub und gar Schirm noch gegen die zahllosen Gefahren, die seiner ungeschickten Art drohn! So hilflos sind dero Hühner worden durch die schändlich und folglich schädlich Frühaufsteherei, dass sie sogar das Fliegen verlernt haben – welchs doch ureigen Vogelpflicht darstellet! Bedarf‘s denn noch eines einzigen Beweises mehr, dass die Schlafkürzung ein sichren Weg darstellt, analogum die göttlich Gabe des Gedankenflugs sündhaft zu vernichten? Wird dem Tiere selbst darob nichts Args geschehn, aber den Kindern Adams droht Gericht und Höllenfeuer schon ob geringster Sodomie und ist dies nur Vergehen des Corpus, wie arg erst die Straf bei Sünd am Geiste, der GOtt doch weit näher stehet? Jetzto wirst du denken: Wohin führte aber die schrecklich Frühaufsteherei gar noch? Zu nichts Wenigerm als dies Beispiel dir zeiget: Das itzo noch nützlich und gottgefällig Tagwerk der Hühner, nämblich, dass sie uns ihre Eier legen, wird sicherlich bald auch noch ihr Geisteskraft übersteigen, das Einzige, was sie dann noch treiben, ist ihr gar zu arg und ziellos Gelärm.

(…) Hühner sind bald ihres Wirkens in der Welt verlustig gangen und wissens wohl. Doch versuchen s‘ diesen Mangel, statt durch Buß und Einkehr, etwa durch täglich hart Üben des Langschlafs, durch desto wilder Geschrei und Rastlosigkeit wettzumachen, was sie in wahrhaft GOttloser Verblendung für das Zeichen verdienstvollen Tuns halten. Infolge all dessen werden sie vom Menschen, der nach biblischem Gebote sucht, die Tierwelt zu nutzen, nur in der Weise geschätzt, dass er ihre Nachkommen frisst. Ja, merket es wohl und besinnet euch gründlich: Treibt‘s nicht auch ihr allzu gern nach dero Hühner Art? Musst ich etwas nicht gestern ächzend aus dem Kissen fahrn, als ich mir grad den Kopf gar frömmlich schwer getrunken, aufgeschreckt von hellisch Marktgelärm und euren vermaledeiten Fuhrwerkfahrn auf und ab und hin und her, wie eben begleitet noch durch den ohrenbetäubend Lärm des sinnlosen Gackerviechs? Merket: So beschaffen sind diese Geschöpf, dass selbst deren Brut gefressen wird, noch bevor diese aus dem Ei gebrochen! Und selbst das ist noch nicht gnug Straf für beständig Schlafverkürzen, werden sie doch am Ende noch selbst verzehret (It est: Brathuhn, Suppenhuhn, Huhn mit Citrusfrucht, Birngespicktes Huhn, welches sehr wohlbekömmlich – etc.)! Dem Huhne bleibet dahero nur das klägliche Geschrei und Gezappel vor dem Fallbeil…

(…) Wie viel glücklicher aber die lobsam langschläferisch Biene! Drohte jenen der Mensch mit dem Beile, wäre er nicht lange dieses Vorhabens glücklich! (…)

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16019

Apollo 11

Mein Vater wäre gern mit der Apollo 11 zum Mond geflogen. Das war sein Utopia. In den flimmernden Schwarz-Weiß-Bildern auf dem Bildschirm des Fernsehgeräts verfolgte er alles wissbegierig. Die metallene Stimme, die er nicht verstand, da er kein Englisch sprach, verlieh dem abenteuerlichen Unternehmen noch mehr Mysterium. Der deutschsprachige Kommentator übersetzte alles, und mein Vater saß in dem Bewusstsein, etwas ganz Großes mitzuerleben, auf dem gepolsterten Kirschholzstuhl, den er in seiner Jugend selbst getischlert hatte, zu einer Zeit, da seine Finger noch nicht der Kreissäge zum Opfer gefallen waren. Zu einer Zeit auch, in der er weder verheiratet war noch Kinder hatte.

Jetzt, in der neuen Zeit, holte ihn die Mondlandung aus seinem dahindümpelnden Leben heraus. Jetzt saß er alleine im ungemütlichen, grün gestrichenen Wohnzimmer, trank Bier und rauchte unablässig Salem ohne. Die Flimmerfläche des Fernsehgeräts forderte all seine Aufmerksamkeit, und so fiel hin und wieder Asche auf die lieblos hingebreitete Tischdecke und brannte neue Löcher in die Kunstfaser.
Welche Hoffnungen und Sehnsüchte weckten diese Bilder, nicht nur bei meinem Vater. Ein bemannter Flug zum Mond.

Zirka zehn Jahre vorher hatte ebenfalls ein Ereignis aus der Raumfahrt eine seltsame Verbindung zu seinem Leben hergestellt. Damals war es der Sputnik gewesen, der justament an dem Tag startete, an dem in der Werkstatt meines Vaters ein Feuer ausbrach, das sich zu einem Großbrand auswuchs und schließlich nicht nur das Wohnhaus meiner Familie und damit deren Existenz erneut gefährdete, sondern auch drohte, das gesamte Dorf in Asche zu legen, zumal der Feuerwehrkommandant katastrophalerweise den Hydrantenschlüssel verlegt hatte.
Dank der emsigen Löschbereitschaft aus dem Nachbardorf konnte glücklicherweise der Worst Case vermieden werden. Die Geschichte vom Werkstattbrand kenne ich lediglich aus Erzählungen. Ich war damals noch nicht geboren. Ich bin aber mit dem Trauma meiner Eltern vom Feuer groß geworden. Schließlich schreinerte mir mein Vater, als ich sechzehn war, einen Tisch und einen Stuhl, aus Eichenholz, mit einer Tischplatte aus Lärchenholz. Die dafür verwendeten Bretter hatte er aus dem Brand gerettet. Sie waren an den Rändern verkohlt.
Als die Möbel fertig waren, sagte er zu mir: Nur ein Tisch und ein Stuhl sind aus dem ganzen Holzvorrat noch übrig geblieben. Mich hat das unglaublich gerührt. Ich habe seinen verkniffenen Mund noch vor Augen, der das meiste ungesagt hinter den Lippen für die Ewigkeit barg. Mit den steifen Fingern und Fingerstummeln, die vom unablässigen Rauchen braun verfärbt waren, machte er linkisch eine wegwerfende Handbewegung.

Wenige Jahre später habe ich an seinem Sterbebett im Krankenhaus den Feuerwehrkommandanten des Nachbardorfes kennengelernt. Er war ebenfalls ein alter schwerkranker Mann, der im Bett neben meinem Vater lag und sich angesichts des Namens wieder an den Brand erinnerte. Vor allem erinnerte er sich aber an das Päckchen Zigaretten, das er ebenso wie seine Kollegen damals von meiner Mutter nach getaner Arbeit bekommen hatte. So nett, so anständig, so freundlich angesichts dieser Katastrophe.

Und wiederum vergingen Jahre, ehe ich anlässlich eines Dorffestes – ich wohnte zu der Zeit schon gar nicht mehr in meinem Elternhaus – Fotografien von jenem Großbrand zu sehen bekam. Niemand aus meiner Familie hatte von der Existenz jener Schnappschüsse gewusst. Ein Nachbar, bereits im Besitz einer Kamera, hatte das Ereignis festgehalten. So konnte ich mir endlich auch ein Bild von dem machen, was ich lediglich aus Erzählungen kannte. Ein Inferno, die Teerstraße brannte, die neu erworbene Hobelmaschine, der Stolz meines Vaters, war vernichtet, die Möbel aus dem Wohnhaus wurden von helfenden Händen bereits auf der Straße zusammengestellt, da – oh Wunder – drehte sich der Wind und das Feuer fand keine Nahrung mehr, es konnte gelöscht werden. Inzwischen hatte die einheimische Feuerwehr Gott sei Dank auch den Schlüssel zum Öffnen des Hydranten wiedergefunden. Welche Blamage!

Ich bin Jahre später geboren, damals war die Werkstatt schon wieder notdürftig aufgebaut, eine gebrauchte Hobelmaschine gekauft und im kleinen Garten trocknete wieder ein Bretterstoß seiner Verwendung entgegen, der mir zum Klettern und Herunterfallen diente. Mein Vater aber war alt geworden und hatte den Schwung verloren, sofern er jemals darüber verfügt hatte. Ich kann es nicht wissen.

Jener Brand ist also im Zeichen des Sputnik geschehen. Die Zeitungen waren voll von diesem Ereignis. Bestimmt hätte mein Vater die Berichterstattung im Radio verfolgt, aber die lodernden Flammen hinderten ihn daran. Ich glaube, dass er auch damals schon gern mit dem Sputnik in den Weltraum entkommen wäre.

Die Mondlandung wollte er sich aber nun definitiv nicht entgehen lassen. Aufgeregt wie ein Schuljunge kam er in die Küche, wo sich die restliche Familie versammelte, holte sich frisches Bier aus dem Kühlschrank und erstattete mit leuchtenden verwässert blauen Augen Bericht über den Stand der Dinge, die die ganze Welt in Atem hielten. Aber in der Familie nahm außer ihm keiner ernsthaft Anteil an diesen weltbewegenden Ereignissen. Sicher fand ich es aufregend, aber es war ja doch so unwirklich weit entfernt.
Ich war ein Kind und hielt die Mondlandung wie das Andersen Märchen von der Meerjungfrau für eine phantastische Geschichte, die die Gedanken und Gefühle mitreisen ließ. Seltsamerweise wollte ich die Bilder davon gar nicht sehen. Sie hätten die Vorstellungen, die von den nebenher aufgeschnappten Erzählungen in meinem Kopf entstanden, zum Stillstand gebracht. Die meiste Zeit saß mein Vater allein im Zimmer im ersten Stock vor der Flimmerkiste. Meine Mutter traute diesen trügerischen Bildern von Haus aus nicht. Sie unterhielt sich lieber in der kargen Küche mit den Männern, die auf ihrem Nachhauseweg vom Wirtshaus, das übrigens den verwegenen Namen Bärenhöhle trug, bei ihr am Küchentisch noch einmal Station machten. Die Männer waren allesamt im Krieg gewesen, in Sibirien oder an ähnlich furchtbar tönenden Orten, hatten in der Gefangenschaft ihre Gesundheit eingebüßt und auch ihre Jugend, waren spät und zerrüttet heimgekommen. Träume hatten sie sich allerdings bewahrt, die hatten sie am Leben festhalten lassen.

Als sie endlich wieder im Dorf angekommen waren, erkannten sie aber die Häuser und Höfe nicht mehr als ihre Heimat. Dabei hatten diese in der unwirtlichen Ferne in zauberhaften Farben gestrahlt. In der Gefangenschaft hatte sich das Dorf zum Ort der Sehnsucht ausgewachsen: mit den Milchkühen, dem Sägewerk, dem schwer tragenden Birnbaum, von dem sich die Hungerleider uneingeschränkt bedienen konnten, den Läden, Bäckereien, dem Wirtshaus, der Kirche, die sich bei Sonnenschein in der Rossschwemme spiegelte und deren Turm an lauen Abenden von Fledermäusen umkreist wurde, mit den Küchen, in denen geschürzte Frauen neunundneunzig verschiedene Kartoffelgerichte zubereiteten, Frauen, die mit Kargheit und Entbehrungen umzugehen wussten.
Eben diese Frauen hatten sich in den vergangenen Jahren ihr Leben ohne Männer eingerichtet. Und jetzt fiel der neue Zusammenstand schwer, schwerer als alles zuvor Ertragene, und die Kraft war geschwunden. In den gemarterten Hirnen der Heimkehrer erwies sich Utopia als eine geplatzte Luftblase. Aber nachdem Sibirien überstanden war, konnte man in der Heimat nicht kapitulieren. So schufen sie sich, in derlei Dingen geübt, mit Schnaps und Zigaretten einen neuen Sehnsuchtsort, und meine Mutter war ihnen dabei behilflich. Vielleicht hörte sie ja aus den Erzählungen ihr Utopia heraus.
Immer hatte sie eine Flasche Doornkaat mit Ausgießer im Kühlschrank und schenkte, wohl wissend um das ganze Elend, die Gläser voll. Dabei fielen ein paar Tropfen auf die blank gescheuerte Tischplatte. Sie schrieb an, ohne viele Worte darüber zu verlieren. Die Männer hatten meist kein Geld in der Tasche. Ihre Frauen hielten sie kurz. Schließlich musste jetzt, nachdem man die ganze Sach mühsam über den Krieg gerettet hatte und auf den ersten Bulldog sparte, nicht alles versoffen werden.

So blühte manch einer für kurze Zeit noch einmal auf und schwelgte in Erinnerungen. Erstaunlicherweise erzählten sie jetzt von Russland in den düstersten, aber auch schillerndsten Farben. Alles war selbst dort nicht schlecht gewesen, und im Gespräch erhitzten sich die Männer gegenseitig. Sie sprachen von den Kämpfen und dem Hunger und davon, dass immer ein Spezialist dabei war, der etwas zu essen fand. Das Brot musste während der Nacht im Unterschlupf an Fäden aufgehängt werden, um es vor den Ratten zu schützen. In der Gefangenschaft mussten sie auf dem blanken Betonboden schlafen. Die Russen kontrollierten, und wehe, einer hatte sich heimlich einen Rupfen untergeschoben. Der wurde schimpfend und schreiend weggenommen.
Einer der Männer in der Stube meiner Mutter hat sein schweres Asthma auf diese brutale Herzlosigkeit zurückgeführt. Und immer wieder fielen die Worte „Dawai, dawai!“ Sie sprachen davon, wider Willen Russisch gelernt zu haben, aber ich habe aus ihren Mündern nie ein weiteres Wort vernommen, und ich war sehr aufmerksam und hing an ihren Lippen. Meine Mutter strickte nebenbei und hörte meist unbeteiligt zu. Wenige Worte warf sie ein, aber sie war da, wenn auch bei sich.

Trat mein Vater aufgeregt ein, die neuesten Fernsehmeldungen stolz verkündend, so entfuhr einem der Männer der folgenschwere Satz: Jetzt kommt er wieder, der Mondsüchtige. – Darin lag all die Verachtung, die seine Jugendfreunde für ihn übrig hatten. Schließlich hatte er sich ihrer Meinung nach um den Kriegseinsatz herumgedrückt, seiner verlorenen Finger wegen. Er war nicht wehrtauglich gewesen, da er mit dem steifen Zeigefingerstummel der rechten Hand kein Gewehr zweckmäßig bedienen hat können. So ein Glück und so ein Pech!

Der „Mondsüchtige“ saß tief, und ohne ein Wort zu verlieren, legte er einen verlorenen Blick auf die feixende Runde und verschwand wieder zu den ununterbrochen gesendeten Bildern aus dem Weltraum. Es waren kalte Bilder von einem unwirtlichen Ort, mit Menschen, die man in ihren Schutzanzügen kaum als Menschen erkannte. Seltsam schwebten sie schweren Schrittes über die Kraterlandschaft, hissten die amerikanische Flagge, sammelten Mondgestein als Beweis für daheim, sonst hätte man ihnen wahrscheinlich gar nicht geglaubt, je dort gewesen zu sein. Seltsame Bilder wurden da um die Welt geschickt, und seltsame Worte. Sie erzeugten eine Anspannung, die schier alles zum Erliegen brachte, bis endlich die Astronauten in der Raumkapsel wieder im Atlantik aufschlugen. Dann ging ein Aufatmen durch die Wohnzimmer und die Gesichtszüge entspannten sich. Es krochen nach der Bergung tatsächlich die gefeierten Helden heraus, schraubten den Helm vom Schutzanzug ab und lächelten in die blitzenden Kameras. Sie waren dort gewesen, wo alle gern hinwollten. Sie hatten den Weltraum erkundet und waren wiedergekommen, allen davon zu künden. Und eines Tages, so Gott will erleben wir ihn noch, werden wir alle zum Mond reisen und vielleicht dort leben, wer weiß.

Mein Vater hat regen Anteil an diesen Ereignissen genommen. Er heftete daran eine letzte Hoffnung. Und das ist nun für mich heute das Erstaunliche. Das ganz und gar Neue und Ferne und Unerreichbare hat ihn seltsam fasziniert. Trotz aller Unbill, die das Leben für ihn bereithielt, hat er darin Trost gefunden. Mit verhaltener Genugtuung begegnete er dem Spott der Anderen. Sie würden schon noch sehen. Der Tag wird kommen. Er weiß darum, er gehört zum engen Zirkel der Eingeweihten, er wird gerüstet sein, wenn es denn so weit sein wird, für den Flug zum Mond oder nach nirgendwo.

Ich bin nun in diese Geschichte hineingeschlüpft und meinem Vater, der bereits seit mehr als fünfunddreißig Jahren tot ist, erstaunlich nahe gekommen. Das ist das Schöne am Erzählen. Immer wieder staune ich darüber, dass so vieles bewahrt wird und bleibt, und sei es nur für die kurze Zeit, die man zum Erzählen einer Geschichte braucht. Für mich ist es wie ein Hineingehen in ein verlassenes Schneckenhaus. Langsam taste ich mich voran und finde im Verborgenen die Fäden, die die Erinnerungsbilder zusammenfügen und ganz machen, was oft lange Zeit quälend diffus im Hirn hin- und herspukt. Es ist mir eine Erleichterung, wenn sich dann doch alles so fügt und zu einem Abschluss kommt, zu einem vorläufigen. Anders geht es nicht.
Aber jetzt muss ich noch einen Schritt weiter gehen. Ich kann nicht bei der Geschichte stehen bleiben. Ich muss vielmehr wieder herausgehen. Das ist das weitaus Anstrengendste. Und das macht das Erinnern auch erst lebendig. Ich muss einen Knoten zu meinem Leben machen, umkehren und den Weg aus dem Schneckenhaus heraus suchen.

Mit dem Erzählen ist mir klar geworden, dass jeder seinen Sehnsuchtsort hat und dass dieser Ort sich unablässig verändert. An guten Tagen finde ich ihn beim Blick aus dem Fenster oder beim Spaziergang durch die Wiesen und Wälder. An schlechten Tagen finde ich ihn tausende Kilometer entfernt und sehne mich nach dem Land, wo Milch und Honig fließt. Wohlwissend, dass das kein geographisch zu lokalisierender Platz ist. Und dann durchlebe ich natürlich auch Tage, an denen ich mich schier ganz unbeheimatet fühle. Und die sich selbständig machenden Gedanken martern mich, sodass ich am liebsten meinem Vater gleich in die Apollo 11 einsteigen möchte, um für immer zu entkommen. Und irgendwann würde sich dann sicher die Gelegenheit ergeben, aus dem Weltraum herabzuspucken und laut Ätsch zu rufen: Seht ihr, ich hab es doch geschafft, ihr Kleingläubigen, ihr Gratler.

Und dann ist es wieder gut, mich an eine Geschichte angebunden zu wissen.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16009

Ein Kind unserer Zeit

Dieses Leben bietet, abgesehen von Überraschungen, offenbar zur Genüge Wiederholungen dessen, was man schon einmal erlebt oder vielleicht gelebt hat. Vielleicht auch bloß in Variationen, aber immerhin. Das macht mich oft so müde, weil ich ohnehin schon genau weiß, wie’s ausgeht und wonach es schmeckt. Derartig vergleichbare Begebenheiten haben mir so manches Mal die ohnehin seltene Freude am Neuen bereits im Voraus genommen. Gibt´s was Neues?, frage ich manchmal trotzig und füge gleich dran, hoffentlich nicht, denn das Neue ist nicht immer gut. Dann lache ich. Aber mein Lachen ist gar keins. Bedauerlich für mich, nur für einen kurzen Augenblick ein so genanntes Kind unserer Zeit gewesen zu sein, denke ich. Vielleicht aus Langeweile an der Oberflächlichkeit ihrer Tendenzen? Ich hab mich recht früh von allem verabschiedet, was man eben so tut, und bin dadurch stets isoliert geblieben, wenn nicht sogar einsamer geworden als andere. Ich blieb an einer Vergangenheit hängen, die nicht die meine war, die ich mir jedoch zunutze gemacht habe. Oft überlege ich, wie weit ich mich zur Wahrnehmung über die Zeichen der Zeit hinauslehnen soll? Mehr als über mein eigenes Befinden, frage ich mich? Mehr als über meine kleine Welt, über den Bereich meines eigenen Tellerrandes hinaus? Weiter zu denken als über das, was in meiner unmittelbaren Nähe passiert oder passiert sein soll? Wozu?, denke ich dann.

Und wieder einmal beginne ich an der Sinnhaftigkeit dieses Lebens zu zweifeln, weil es ja doch enden wollend ist. Man will mir einreden, schätzen zu lernen, was alles in meinem bisherigen Leben von mir erschaffen worden ist, wie das schon klingt, und dass alles, worüber ich spreche, auch tatsächlich von mir so gewollt ist. Ich selbst bin mir da gar nicht so sicher, dass es so ist.

Ich fühle mich auch durchaus nicht als Herr des Universums, wie es die Esoteriker gerne unterstützen möchten, und mein Geist ist mir nicht immer dienlich, wie die das gerne sehen würden, im Gegenteil, manchmal ist er mir eine unglaubliche Last. Diese Leute haben da ein sinniges Rezept parat:

Du richtest einen Befehl an das Universum und lässt es wissen, was du willst. So einfach ist das. Das Problem bei mir dabei ist bloß, was will ich eigentlich? In Ruhe gelassen werden, da bin ich mir sicher. Na bitte! Sei nicht immer so negativ, sagt eine meiner inneren Stimmen, wohl die, die es immer so gut mit mir meint. Also gut, ich will es versuchen. Angenommen, das Universum spricht auf meinen Wunsch an, auf meine Gedanken eben, die ich an es richte. Besser, ich schreibe sie gleich auf, damit ich nicht vergesse, was ich mir gewünscht habe. Nur – wie soll das Gesetz der Anziehung wissen, was ich will, wenn ich mir selber nicht im Klaren darüber bin, was ich eigentlich begehre? Das hat was. Also gut, ich bitte um etwas. Ich bitte darum, dass ich so leben kann, dass sich meine Existenzängste auf ein Minimum reduzieren, und dass mir nie die Ideen ausgehen mögen, ohne die ich sonst völlig hilflos in dieser Welt herumhänge. Ich stelle mir daher das Universum als überdimensionalen Versandhauskatalog vor und suche mir darin etwas aus, oder? Ich möchte also, dass ich keine Angst mehr haben und mir von niemandem was gefallen lassen muss! Eine einmalige Bitte soll angeblich genügen. Hier also ist meine Bestellung. – Ich warte! – Ich warte noch immer! Da fällt mir ein, mein Konto ist überzogen und ich kriege Panik, denn es ist erst der Vierte des Monats.

Panik bedeutet Angst. Also was ist? Nichts tut sich. Alles wie immer. Vielleicht war mein Wunsch nicht exakt genug? Wovor soll ich mich nicht mehr fürchten? Ich bemühe mich um eine Formulierung. Sagen wir, vor diesen XXL-Typen etwa, die andern immer so locker sagen können, was Sache ist. Zu denen gehöre ich nicht. Das muss man mögen. Oder, ein anderer Wunsch: Schütze mich vor der Machtgier unbefriedigter Mitmenschen. Oder davor, dass mit einem Male alles aus sein könnte. Vor Abhängigkeiten. Genau! Abhängigsein ist ein schwerer Fehler. Zu viel?

Ach, wenn ich so zurückblicke! Warum ausgerechnet mir nicht der gerade Weg beschieden war, den ich lieber beschritten hätte, ohne die zahllosen Kaskaden meines angeblichen Begabtentums nützen zu müssen, Sturzsprünge der Verlegenheit, wie ich sie zu nennen pflege, um mich den eigentlichen Pflichten zu entziehen, die für eine „ordentliche“ Karriere unentbehrlich gewesen wären. Ich habe mich hinter diesen improvisatorischen Wasserfällen zu verstecken begonnen. Sie waren mir stets Schutzwall gegen die öffentliche Meinung des Nicht-eingeordnet-werden-Könnens, eine meiner ausgeprägtesten, ureigensten Haupt- und Staatsphobien. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, mit mir abzurechnen. Schon sehe ich meine Seele auf dem selbsterrichteten Operationstisch. Der „natus sum“ war sich selbst nicht gut genug, stelle ich fest. Man muss aus sich etwas machen, hat der Herr Papa immer wieder gepredigt. Muss man das, frage ich mich? Der homo faber in mir sollte dem homo sapiens weichen. Aber – hätte ich Bauer werden sollen? Transitiv ein Feld bereiten? Ursprünglich auf Haus und Kammer beschränkt, mein natürliches Umfeld gesucht zu haben? Etwas hervorgebracht zu haben, aus Feld und Flur, und daran gewachsen zu sein, auch wenn es mich nicht unsterblich gemacht und niemandem etwas gebracht hätte außer mir selber, als Matrix meiner genuinen Beschaffenheit vielleicht? Ich lasse Mut und Hände sinken, die ich, das Universum beschwörend, bis jetzt emporgehalten hatte, ohne zu bemerken, dass sie mich bereits schmerzten.

Da ist jetzt diese Therapie! Mit Akribie hat man in diesen letzten Wochen mein Inneres seziert, bearbeitet, gestreckt, gedehnt, teilweise massiert, dann aber auch wiederum geschunden. Es einzurichten versucht wie ein verrenktes Glied. Und es sind Wunden aufgeplatzt dabei, bereits vernarbte. Fast wäre ich innerlich verblutet.

Und jetzt? Was ist jetzt? Jetzt gähnen mich die offenen Stellen hämisch an, von denen ich meine, dass sie ein jeder sehen kann. So nackt und bloß, wie sie daliegen! Aber – es gibt einen leisen Unterschied zum Zustand davor – es macht mir nichts mehr aus, ob man hineinsehen kann, in die Aufgebrochenheiten! Ich denke, es hat sich in mir eine gewisse Stabilität etabliert, wie man es nennen könnte. Tatsächlich! Ich erkenne es daran, dass ich denjenigen, die mich durch ihre bewusstlosen Bosheiten verhindert haben, nicht mehr ihre Unfähigkeit vorwerfe, mich in meiner Individualität zu wenig wahrgenommen zu haben, sondern deren Methoden anzuzweifeln beginne, die überdies ausschließlich und allein auf die exakte Dokumentation meines Versagens ausgerichtet gewesen zu sein schienen.

Ich habe mir vorgenommen, die Dinge, die ich wirklich will, als meine eigenen anzusehen. Eigentlich lächerlich! Wer ist schon ganz unbeeinflusst von allem, was da täglich auf einen einwirkt? Auch egal. Vielleicht mehr Gleichgültigkeit an den Tag legen, sage ich zu mir. Ich rede mir ein, alles zu besitzen, was ich benötige, um einigermaßen glücklich zu sein. Dabei sehe ich in den Spiegel, um festzustellen, ob ich mich selbst belüge. Rot bin ich dabei nicht geworden. Was wäre noch wünschenswert? Wünschenswert wäre, wenn mir jemand meine Sorgen und Ängste abnähme.

Eigentlich ist alles nicht so schlimm wie ich es noch vor Wochen gesehen habe. Schließlich hat mir diese Zeit den Blick auf das Dahinter geöffnet, ein wenig – doch, ja. Zweifel? Hm, nun, wenn es ganz schlimm war, konnte ich dieses Seelenfenster eine Zeit lang wieder schließen, bevor ich daran völlig zerbrochen wäre, um es beim nächsten Mal, vorsichtiger als zuvor, aus purer Neugier wieder einen Spalt zu öffnen. Das mit dem Dahinter ist eine ambivalente Sache. Das Seelenskalpell hat manchmal tief angesetzt, zu tief gar, ein andermal hat es mich nur geritzt. Trotzdem ist Blut geflossen!

Neulich habe ich geträumt, unsere dicke alte Volksschullehrerin mit den Nilpferdbeinen hätte im Burgtheater Regie geführt. Sie wollte mir mit Erste-Fibel-Wissen weismachen, wie Goethes Faust zu inszenieren sei. Es hat mich rasend gemacht, dass ausgerechnet sie – nicht, dass ich so wahnsinnig auf Goethe stehe, trotzdem – ich habe ihr entgegengeschleudert, dass sich die berühmten psychologischen Elemente, die sie andauernd darin sehen wollte, in die sich das Genie auflösen lässt, ebenso in jedem Straßenfeger oder Monteur finden ließen, wenn man nur suchte. Was für ein Traum! Wow! Das habe ich mit „mein Geist ist mir nicht immer dienlich“ gemeint. Hat man denn keine Ruhe, nicht einmal im Schlaf? Aber – es ist mir leider in diesem Traum verwehrt geblieben, ihr Dienstgesicht nach meiner frechen Antwort genauer sehen zu können. Vielleicht war das nicht so wichtig. Und doch – es war sowas wie ein Sieg! Dieser Traum hat mich den Glauben an mich selbst wieder erleben lassen, wenn auch nur für einen kurzen Moment lang, aber – immerhin.

Und? Danach? Nun, mein Vorhaben, es mir im wirklichen Leben gleichzutun wie in jenem Traum, gewinnt zunehmend an Gestalt.

Heute denke ich, ich bin ein Kind unserer Zeit. Was denn sonst? Dieser Satz geht mir nicht aus dem Kopf. Torberg, Schüler Gerber. Ein Gedicht. Ich weiß den Wortlaut nicht mehr. Ich bin in die Vergangenheit abgerückt, eben wegen der allzu oberflächlichen Tendenzen dieser Zeit und habe mich zu sehr mit jenen der Vorfahren identifiziert. Und das Ergebnis? Mein ganzes Hoffen ist in der Erstellung dieser Familienchronik gelegen, meine Gefühle an das Gewesene noch zu vertiefen. Es ist mir bis jetzt nicht gelungen. Stattdessen muss ich mich mit einer Gegenwart herumschlagen, die ich nicht akzeptieren kann und will! Schlimm!

Im Rückblick durchforste ich meine Gedanken-Partitur der letzten Wochen in der Hoffnung, dass ich beim Durchlesen des bisher Geschriebenen Dinge herausfinde, die ich heute vielleicht schon wieder anders sehe.

Eins habe ich dabei entdeckt, die Unzufriedenheit mit meiner alten Welt ist einer Gleichgültigkeit gewichen, die mich die Dinge, die angeblich die Welt bedeuten und so wichtig sein sollen, in etwas gedämpfterem Licht erscheinen lassen. Mir ist, als hörte ich auch schlechter als zuvor. Nicht mehr alles, oder zumindest nur das, was ich an mich heranlassen möchte. Auch komme ich nicht mehr im Sitzen außer Atem und auch der Wunsch, aus meinem Körper zu verreisen, ist nicht mehr so stark wie früher. Ein Liebling der Götter bin ich offensichtlich trotz alldem noch immer nicht geworden. Verflucht, entweder ist man einer oder nicht, denke ich, man kann keiner werden!

Und immer öfter schon ertappe ich mich in letzter Zeit dabei, dass etwas in mir, dem Stummen, zu singen beginnt und ich vor mich hin summe, so ganz unbewusst, leise zwar, und doch deutlich hörbar.

Es hat einmal eine Zeit gegeben, da dachte ich, ich wäre unsterblich. Diese Ansicht habe ich immer noch nicht völlig aus meinem Kopf verbannt. Dabei bemerke ich, wie sparsam ich mit meinen Ressourcen umgehe, wie vorsichtig ich mich ernähre, wie behutsam ich etwas vom Boden aufhebe, um mich nicht zu verletzen, wie neidisch ich mein Sperma bewache oder mit Akribie auf meine Ruhezeiten achte. Jetzt, da ich zurückblicke, sehe ich einiges, was mich bisher kaum gestört hat, ja, mir nicht einmal aufgefallen ist. Muster sind es, die ich mir angewöhnt habe. Alte Muster, die kaum aufzubrechen sind, und immer wieder tappe ich hinein. Die Eile, Dinge zu erledigen zum Beispiel. Als ob es nicht auch langsamer ginge! Mag sein, dass darin die Ursachen dafür liegen, dass mir alles aus den Händen fällt. Ich packe zu wenig fest zu. Alles, was mit mir passiert ist, ist nur meiner Vorsicht, sich zu vergeuden, sich zu verschwenden, anzulasten. Und dann – ach!, denke ich, es wird langsam Zeit, in die wärmende Märzsonne hinauszugehen.

Das tue ich dann auch. Mein Weg führt wie immer durch den Volksgarten, über den Heldenplatz in den Burggarten. Das Palmenhaus ist vor elf Uhr geschlossen. Ein Drang, der mich plötzlich nicht mehr loslässt und dem es gilt nachzugeben, führt mich auf die Toilette des Augustinerkellers, gleich neben der Albertina. Im Vorraum sitzen vier Fiaker-Kutscher bei der Jause. Draußen warten ihre Pferde geduldig. Als ich die Tür zum Pissoir öffne, meinte ich, der Koch hinter der Glastür hätte gerufen: „Do is scho wieda ana. Sperrt‘s zua!“ Ich könnte mich auch getäuscht haben und lasse mich von meinem Vorhaben nicht abbringen. Doch während ich pinkle, höre ich plötzlich, dass jemand die Tür hinter mir zusperrt. Ich lasse mich in meiner Verrichtung nicht beirren, obwohl mich das flaue Gefühl meiner vagen Wahrnehmung von vorhin nicht in Ruhe lässt.
Eiliger als sonst schließe ich den Reißverschluss, wasche meine Hände und will auch schon die Tür nach draußen aufstoßen. Geht nicht! Tatsächlich! Sie ist verschlossen. Mir wird heiß. Ich überlege fieberhaft, was zu tun sei. Die Polizei rufen? Einen Skandal daraus machen? Ich bemerke, wie sich meine Brust verengt, mein Herz rast. Ich versuche, durchzuatmen. Geht nicht. Panik! Dabei schien mir die Sonne grad vorhin noch so wunderbar ins Gesicht. Die ersten warmen Strahlen. Und jetzt? Gefangen! Ich trommle wie verrückt an die Tür. Herz klopft wild. Niemand reagiert. Ich trommle weiter, bis mir die Knöchel zu schmerzen beginnen. Nichts. Das Handy, denke ich und nehme es aus meiner rechten Manteltasche. Nein, es ist zu früh für einen Notruf. Vielleicht hört mich doch noch jemand? Ich schlage verzweifelt an die Tür. Da, endlich! Eine weibliche Küchenhilfe, nehm ich vorerst an, rüttelt an der Tür und schreit: „Komm eh glei. Wart a bissl!“
Nichts tut sich. Ich setzte mein Trommelfeuer fort. Dann zücke ich die Brieftasche und entnehme ihr eine Visitenkarte, auf der ich mir den Namen desjenigen aufschreiben werde, der mich, obwohl einige Angestellte mitangesehen hatten, dass ich noch im Pissoir war, hier eingesperrt hat. Der Schlüssel wird umgedreht. Ich stürze hinaus. „Wer war das?“, brülle ich wie ein Rasender. „Ich bin oft genug Gast hier gewesen. Wer von euch hat hier zugesperrt? Das ist Freiheitsberaubung! Sie alle haben es genau gesehen. Ich werde Anzeige erstatten!“ Ein bosnisch aussehender Küchengehilfe weicht vor mir zurück, sagt kein Wort. Ich stürze hinein in die Stube. Drinnen, ein schlitzäugiger junger Mann, sieht mich verschlagen an. Durchtriebenes Pack, durchzuckt es mich! „Wo ist der Geschäftsführer?“ Keine Antwort. „Wie heißt der Geschäftsführer?“ Die beiden wenden sich stumm von mir ab. Na gut, ich mache kehrt, gehe zum Ausgang. Mein Herz schlägt wie verrückt. Die Fiaker schauen mir blöde nach und grinsen. Ich hasse dieses beschissene Wien, denke ich. Irgendwann ziehe ich von hier weg. „Hier bin ich längste Zeit Gast gewesen!“, brülle ich. Das tut gut.

Aber, kurze Zeit danach, ich bin erstaunt, wie rasch sich mein Herz beruhigt hat. Beinahe so, als ob nichts passiert wäre, schlendere ich am Palais Epstein vorbei. Aus den Stallungen wird ein Lipizzaner in den gegenüberliegenden Hof geführt. Überall riecht es nach Pferdemist. Sollte ich jetzt einen Kaffee trinken gehen? Ich weiß nicht so recht. Ein wenig schwach sind meine Knie noch, ziemlich wackelig eigentlich.

Irgendwann habe ich mir die Frage gestellt, ob nicht einfach mehr dabei sein sollte, bei allem, auch wenn ich nicht genau weiß, wobei. Also studiere ich das aktuelle Theaterprogramm und entscheide, in die Nachmittagsvorstellung Ödön von Horváths „Der jüngste Tag“ zu gehen. Seit dem grandiosen Umbau des Josefstädter-Theaters war ich ohnehin noch nicht dort. Mein Sitzplatz ist im Orchester rechts / Reihe 4 / Platz 6. Ich bin mit meinen vierundfünfzig offensichtlich der Jüngste im Publikum bei dieser dramatischen Angelegenheit. Die sogenannte dramatische Handlung, soll Horváth gesagt haben, sei eine rein sekundäre Angelegenheit und wäre bloß der Rahmen. Schöner Rahmen! Hinter mir ignorieren zwei uralte Abonnentinnen die angespannte Stille des Einganges zum ersten Akt und müssen ihre Eindrücke der ersten Szene unbedingt hörbar kommentieren. Auf der Bühne wird das Kommen eines Zuges erwartet.
Das dauert, wie im richtigen Leben. Schließlich – „Kommt kein Zug?“, fragt die erste ungeduldig. „Es kommt einer“, flüstern sie dann unisono. Der Bahnhofsvorstand geht nach vorn an den Bühnenrand und stellt die Weichen. Ein Signal am oberen Bühnenrand wird auf Rot gestellt. „Das hab ich schon erlebt“, sagt die andere laut hinter mir, „als Kinder haben wir immer gewunken, weißt noch?“ „Schau, die hat ja ein Nachthemd an“, lispelt die erste für alle hörbar, als eine Schauspielerin die Bühne betritt. Mein Gott! Ich rutsche unruhig auf dem neuen Sessel hin und her, der mehr als bisher Platz für die Knie zum vorderen Sitz lässt. Erst als auf der Bühne gesprochen wird, halten die zwei aufgetakelten Hofratswitwen endlich ihren Mund. Ich selbst würde nie wagen, während der Vorstellung laut zu sprechen, weil ich zu viel Anstand habe, und auch Angst, von jemandem zurechtgewiesen zu werden. Ich bin eben ein Man-tut-das-nicht.
Dann werde ich endlich Teil des Stückes und gehe aufmerksam mit, wie auf der Bühne Bewusstsein und Unterbewusstsein eindrucksvoll miteinander kämpfen. Eine Tragödie muss ich mir anschauen, ich Idiot! Als ob es mir nicht selber schlecht genug geht! Meine Stücke sind Tragödien, hat er gesagt, der Horváth, und komisch werden sie nur, weil sie unheimlich sind. Also, ich finde gar nichts Komisches dran, sondern alles wirklich unheimlich, auch die Sitznachbarn. Trotzdem halte ich durch, weil die Schauspieler so fantastisch sind. Zum Glück bin ich keiner geworden. Schauspieler, mein ich. Wenn ich denke, wie einen die Leut´ andauernd anstarren, nein, das wäre nichts für mich! Sämtliche Zustände befallen mich, wenn ich mir das vorstelle und ich beginne schon in Gedanken mühsam auswendig gelernte Sätze zu stottern, die Stimme bleibt mir weg, und ich schwitze wie ein Pferd, das einen schweren Wagen zieht. Die beiden Urahnen hinter mir lachen an Stellen, wo es überhaupt nichts zu lachen gibt. Gott, ist das peinlich! Und irgendwann ist das Stück ja schließlich aus. Am Ende des letzten Aktes applaudiere ich wie alle begeistert und erlaube mir freudig und wichtig festzustellen, oh, jetzt war ich also doch wo dabei. Endlich! Also scheint noch nicht alles verloren.

Norbert Johannes Prenner
Romanauszug aus „Der Chronist“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 15157

Es war erst gestern

Ich bin in eine frostige Zeit hineingeboren worden. Es war ein großartiger Tag! Oder etwa nicht? An jenem Sonntag meiner sehnsüchtig erwarteten Geburt war es überwiegend stark bewölkt, und das bei weiterer Neigung zu mehr oder weniger starken Schneefällen im Laufe des Tages. Die Temperaturen lagen zwischen minus zehn und minus fünfzehn Grad. Kein ideales Klima zum Ankommen! Gegen vier Uhr vierzig durfte ich das diffuse Licht dieser Welt erblicken, wenn der Bericht jenes Krankenhauses stimmt, in dem der Geburtsschein ausgestellt wurde. Um sieben Uhr sechsundzwanzig hätte man hingegen den Sonnenaufgang beobachten können, wäre es nicht total bewölkt gewesen.
Sie, die Sonne, hatte also an diesem Tage nicht viel zu tun und war bereits um sechzehn Uhr einundfünfzig wieder hinter dem Horizont verschwunden. Zurückgelassen hatte sie eine klirrend kalte Nacht, eine erschöpfte Mutter und ein quäkendes Bündel. Und während die einen den Kampf um die Ausrottung der Kinderlähmung fortsetzen, gewinnen andere einen internationalen Klavierwettbewerb, etwa der junge Friedrich Gulda in Genf und der Grazer Alfred Brendel in Wien.
Im Volkstheater gibt man ein Stück von Sean O’Casey, symbolistische Abrechnung mit dem Krieg und seinen Schuldigen, in der wieder einmal der liebe Gott als Urheber allen Übels herhalten muss, ohne sich dagegen wehren zu können. Aber erstaunlicherweise kippt die Stimmung, und der Dichter kommt letztendlich zu dem Schluss, es wäre doch die Menschheit selbst, die für ihren selbstinszenierten Jammer verantwortlich ist. Im Kino kann man Gary Cooper in „Schiffbruch der Seelen“ sehen. Diese Welt ist ein Narrenhaus. Und ich bin in sie hineingeboren.

Und während ich den ersten Tag meines Lebens hinter mich brachte, amüsierte sich, laut Medienberichten, Ernst Happel (ein bekannter Fußballer, nach dem ein Stadion in Wien benannt ist) als „Wassermann“ in Montevideo bei dreißig Grad im Schatten, was ihn dazu veranlasst hatte, in die kühlenden Fluten des nahe gelegenen Meeresstrandes zu tauchen. Mich hat man vermutlich die nächsten Tage in einer alten verzinkten Blechbadewanne gesäubert, in der Dienstwohnung meines Vaters, mit „fließend“ Kaltwasser.

Damit scheint meine Frage an mich, was kann schon großartig an diesem Tag passiert sein, für mich beantwortet. Ach ja, und dass ich geboren worden bin eben.

Man hat mich von Anfang auf darauf aufmerksam gemacht, stets an die Freuden des Lebens zu denken, die es in meinem Leben ja irgendwann einmal auch gegeben haben muss, auch wenn ich mir dessen nicht bewusst bin. Aber – wenn ich darüber genauer nachdenke, bestanden solche grundsätzlich aus sehr kurzen Momenten. Etwa sonntags, wenn man endlich einmal die neuen Schuhe anziehen durfte, die zwar steif waren und überall gedrückt, aber wunderbar geglänzt haben. Man musste höllisch darauf aufpassen, dass sie an der Spitze vorne nicht gleich abgestoßen wurden. Diesen Zustand hat der Herr Papa mit Argusaugen beobachtet und wehe, wenn man die Beine nicht entsprechend gehoben hat – dann war ein Donnerwetter fällig. Man könne nicht jeden Tag so etwas kaufen und andere wären auch noch da, die immer Schuhe brauchen und so weiter. Die Freude am neuen Schuhwerk war also begrenzt aber immerhin latent vorhanden. Ähnlich verhielt es sich mit dem Vergnügen an dem neuen Anzüglein, in das man gesteckt wurde, ausschließlich am Sonntag, versteht sich, dessen Sakkoärmel immer etwas zu lang waren, damit das Ding in weiser Voraussicht möglichst auch noch die nächsten Jahre passte.

Da kam dann ja auch irgendwann einmal unweigerlich der erste Schultag. Spannend, ja, durchaus. Freude hat er jedoch nicht hinterlassen. Das Drama begann damit, dass jeder zur „Feier des Tages“ ein Bild zur Ansicht vor sich liegen hatte. Darauf war ein Zug abgebildet. Vorne die Lok, dann folgten drei Waggons. Die Frage lautete, wo ist die Mitte dieses Zuges? Bereits hier zeigte sich eine bereits ausgeprägte Kompliziertheit individueller Gedankengänge, indem ich die Lok in meine Berechnungen mit einbezog und daher das ganze Gefährt rein hypothetisch als eine untrennbare Einheit betrachtete. Demnach also lag die Mitte des Zuges für mich nicht im zweiten Waggon, was angeblich logisch gewesen wäre, wie ich hinterher erfuhr, nein, sondern exakt zwischen zweitem und drittem Waggon. In der Mitte des Zuges, hatte es geheißen. Es lagen also, meiner Vermutung zufolge, links von der Mitte die Lok und der erste Waggon, rechts von der Mitte die zwei anderen Waggons.
Denkste! So wäre das nicht gemeint, hatte die Frau Lehrerin milde lächelnd gemeint und flugs mit ihrem Rotstift – Rotstift!, der sollte damit für alle Zukunft unser aller ständiges Disziplinierstäbchen sein, den mittleren der drei Waggons gekennzeichnet. Verdammt! So summierte sich langsam aber stetig Enttäuschung um Enttäuschung, und genau von da an habe ich diesen Verein schon gehasst. Freude war es also nicht, was ich bis dahin und von da an empfand.

Nach vier langweiligen Jahren kam man in die nächste Anstalt. Die Begeisterung darüber war nicht sonderlich gewachsen. Die einzelnen Gegenstände wurden mehr, und schwieriger. Die Aufgaben komplizierter und mengenmäßig unverschämter. Die Zeit zum Träumen und Spielen immer kürzer. Ich selber wurde größer und pubertärer. Zeitgleich mit diesem Phänomen entwickelten sich die eigenen Probleme ungehindert direkt proportional zur Körpergröße. So weit, so gut. Doch da! Unerwartet und unaufhaltsam, erreichte urplötzlich (diese Wortneuschöpfung gab es zu dieser Zeit noch nicht) eine neue Volkskultur in Gestalt unzivilisiert anglophiler Rockmusik inklusive dazugehöriger Modefummel das darüber zutiefst verstörte Vater- und Mutterland, welche die Vorstellungen gelebter Ordnung bislang relativ problemlos miteinander kommunizierender Generationen ziemlich ins Wanken brachte. Erzkonservativen Funkbetreibern zum Trotz drangen diese krankhaften Auswüchse jugendlichen Irreseins via röhrenbetriebener Empfangsgeräte quasi unaufhaltsam bis in die hintersten Winkel bis dato wohlausgestatteter und -bewachter Jugendzimmer.
Plakativ und höchst anschaulich unterstützt durch die periodische Muss-unbedingt-haben–Fandruckschrift „Bravo“, die die singenden oder Gitarre zupfenden Musikgöttinnen und -götter in für deren Konsumenten viel zu langen Abständen darin abkonterfeiten und lebensgroß, zum Ausschneiden und An-die-Wand-Hängen, ablieferte und dadurch bislang normierten Vorbildgalerien absolut den letzten Wind aus den Segeln nahm. In demselben offiziellen Sprachrohr, welches die herkömmliche Musikgeschichte völlig über den Haufen zu werfen drohte, fand sich ebenso die Ikonografie irrer Klamotten im Kanon außergewöhnlicher Jeansmode, Hosen also, mit im unteren Beinbereich unvorstellbar flatternd flügelartig erweiterten Endröhren mit eingelegter Doppelfalte und Kettchen dran, bunt unterlegt, bis hin zu Miniröcken, die in ihrer unglaublichen Kürze den vor lüsternen Blicken stets geschützten Bereich intimen „Darunters“ absolut durch nichts mehr zu verheimlichen vermochten. Tja, und dann waren da noch die Songs, um die es eigentlich in der Hauptsache ging, mit ebenso bemerkenswerten Texten wie etwa:

Die kommt einfach daher, so bunt. Ein bunter Vogel. Egal, wo sie hingeht. Die ist echt bunt. Ein Regenbogen. Ja, wie ein Regenbogen. Sie fährt sich mit den Fingern durch die Haare. Wenn sie hier ist, bleiben Farben in der Luft. Farben, überall. So kommt sie daher. In allen Farben einfach. Sie ist – wie ein Regenbogen, ja, wie ein Regenbogen.
Hast du sie je in Blau gesehen? Schau dir den Himmel an da vorne, und ihr Gesicht, weiß wie Segeltuch, so fahl und blass. Hast du je eine Frau gesehen, die schöner war als sie?
Und in Gold? Hast du sie einmal in Gold gesehen? Wie eine Prinzessin aus dem Märchen, was? Nach allen Seiten strahlt sie ihre Farbenpracht aus, wie die untergehende Sonne. Jetzt sag´ schon, hast du je eine schönere Frau gesehen?

Oder den hier:

Mach dir keine Sorgen darüber, was sein wird, meine Güte. Ich hab keinen Stress, echt, bin nicht in Eile. Ich kann mir jede Zeit der Welt nehmen, Baby. Bin ich jetzt rot geworden? Meine Zunge wird immer schwerer. Ich bin außer mir und krieg einen trockenen Mund. Aber ich bin echt high, Wahnsinn, und immer wieder versuch ich´s, dir zu sagen, bleiben wir die Nacht zusammen, ja? Ich brauche dich. Ich brauche dich mehr als je zuvor. Verbringen wir die Nacht zusammen, jetzt gleich, ok?
Ich fühl´ mich so gut, wow, ich kann´s nicht verbergen, Baby, kein Scheiß. Enttäusch mich jetzt nicht, ok? Lass mich nicht hängen. Was könnten wir für Spaß haben, wenn wir´s ganz einfach treiben, drunter und drüber, was sagst du? Verbringen wir die Nacht zusammen. Ich brauch dich, mehr als je zuvor. Bleiben wir die Nacht über zusammen, jetzt gleich. Komm, lass uns die Nacht zusammen verbringen, Baby, jetzt.
Ich mein, das passiert mir ja nicht jeden Tag, Baby, lass uns die Nacht zusammen verbringen, komm, keine Ausreden, ja? Ich erfülle dir jeden Wunsch, alles, was du dir je erträumt hast, Baby. Und jetzt bin ich mir sicher, du willst mich auch glücklich machen. Oh Baby! Wir wollen die Nacht zusammen sein, ja? Lass uns die Nacht zusammen sein, Baby, jetzt, ganz einfach zusammen sein. Ich brauch dich. Ich brauch dich mehr als je zuvor. Ich mach alles, was du willst. Und ich weiß, das willst du auch für mich tun. Bleiben wir die Nacht zusammen, von jetzt an, Liebes. Ich brauche dich, mehr, als du denkst. Ich will dir alles geben, und du willst mir alles geben.

Oder diesen:

Ich kann einfach keine Befriedigung finden und ich versuch´s und versuch´s, und versuch´s und versuch´s, ich find einfach keine. Egal, wenn ich mit meinem Wagen fahre und dieser Typ im Radio mir mein Hirn zuknallt mit all seinem unnötigen Info-Scheiß, der meine Fantasie anregen soll, das gibt mir nichts.
Wenn ich vor meinem Fernseher sitze und dieser Typ dann kommt und mir erzählt, wie weiß meine Hemden sein könnten, so einer kann doch kein richtiger Kerl sein, der raucht ja nicht mal die gleiche Zigarettenmarke wie ich. Das alles gibt mir nichts.
Ich kann einfach keine Befriedigung finden. Kein Mädchen schenkt mir Beachtung. Da kann ich machen, was ich will, ich finde ganz einfach keine. Wenn ich um die ganze Welt fahre, hier was mache und dort was anstelle, oder versuche, irgendein Mädchen aufzureißen, und wenn die dann sagt, Baby, komm vielleicht nächste Woche noch mal wieder.

Dann siehst du, ich hab ganz einfach Pech. Ich kann einfach keine Befriedigung finden.
Das gibt mir alles nichts, ich sag´s euch, das gibt mir alles nichts. Ich kann keine Befriedigung finden und ich versuch´s, ich versuch´s, ich versuch´s und ich versuch´s. Ich find einfach keine.

Und noch einen:

Heut hab ich sie an der Rezeption gesehen, mit einem Glas Wein in der Hand und ich wusste, sie würde sich mit ihrem Typen treffen, und – zu ihren Füßen einer, der sie anbetet. Aber du kannst ganz einfach nicht immer kriegen, was du willst. Du kannst nicht immer kriegen, was du gerade willst. Du kannst es nicht kriegen. Aber wenn du dich anstrengst, kriegst du manchmal, was du brauchst.
Ich ging zur Apotheke runter, um dein Rezept einzulösen. Dort stand ich in der Schlange mit Jimmy, und, Mann, sah der kaputt aus und ich sage, du kannst nicht immer das kriegen, was du willst. Du kannst nicht immer kriegen, was du willst. Echt, du kannst nicht immer das kriegen, was du gerade willst.

Und genau so war´s. Zumindest der letzte Refrain hat mir direkt aus dem Herzen gesprochen und – wenn ich ehrlich bin, haben wir alle nicht so richtig mitgekriegt, worum es in den Texten eigentlich ging. Hauptsache war, die Musik war laut und schrill. Es war eben unsere, auch meine Musik, die mir niemand streitig machen konnte. Der strenge Papa war schwer zu bewegen, eine dieser verrückten „Glockenhosen“ für den unwürdigen Sohn zu erwerben, so eine, wie sie eben jetzt die Popstars trugen, und ebenjener Sohn regte sich auch noch auf, weil er sich überdies seit Neuestem strikt dagegen wehrte, endlich einmal zum Frisör zu gehen. Lange Haare, kurzer Verstand und ähnliche Sprüche musste so einer über sich ergehen lassen.
Ja, es war in der Tat ein Martyrium! Ausschließlich durch die inständige Intervention der gütigen Mutter, die meinte, der Dingsda, Sohn aus bestem Hause und allgemein anerkanntes Vorbild, hätte auch schon eine, konnte er dazu bewegt werden, dafür endlich einige Scheine locker zu machen, damit man nicht zum Außenseiter verdammt würde. Jedoch, auch wenn schon aus den Radios und über die Plattenspieler andauernd der lautstarke Ruf nach „Satisfaction“ erklang, geschlechtsspezifische Angelegenheiten wurden mehr oder weniger mit den Klassenkameraden auf dem Schulhof ab- oder aufgeklärt. Aufgeklärt wurde man offiziell nicht, man hatte ja vom Herrn Kaplan ein kleines Büchlein bekommen, mit einem blassen sommersprossigen Bürschlein auf der Titelseite drauf, welches schuldbeladen die blauen Äugelein senkte, in dessen kümmerlichen bildlosen vierzig Seiten bloß andauernd von Selbstbefleckung die Rede war. Und davon, dass man ein Bursch zu sein hätte. Ein Held. Schon wieder. Vorbildlich, und vor allem korrekt zu den Mädchen.
Und obwohl die Heldenfriedhöfe noch vom letzten Krieg übervoll waren, hörten sie nicht auf, diesen Helden immer wieder in einem zu fordern. Doch die neuen Helden sahen anders aus. Und sie waren anders. Sie hatten lange Haare, T-Shirts und enge Hosen an, und hielten sich an einer E-Gitarre fest. Die alten Helden schienen tot. So ein neuer Held wollte man schon lieber werden. Und erst als man am eigenen Leibe, durch Zufall wohl, erfahren hatte, was es mit der Selbstbefleckung auf sich hatte, begann man zu verstehen, um welches Thema es sich eigentlich handelte, wenn Erwachsene in Anwesenheit Jugendlicher plötzlich leiser zu sprechen begann, kicherten und tuschelten. Dann war, wie man im Laufe der Zeit herausbekam, oftmals die Rede davon, was in mehr oder weniger milden Nächten so alles hinter vorgezogenen Gardinen abging.
In anderen Kulturen werden die jungen Männer und Frauen zumindest in Form eines Fruchtbarkeitsfestes in die Geheimnisse des Menschseins, des Mann- und Frau-Seins eingeführt. Uns drückte man ein Büchlein in die Hand, das wohl den frommen Wunsch des guten Gelingens implizierte. Wie der Akt der Fortpflanzung in der näheren Umgebung tatsächlich abgelaufen sein könnte, ist grundsätzlich unvorstellbar und nicht nachvollziehbar. Die meisten von uns haben das alles nur als unnötigen Ballast, über den man nicht spricht, empfunden und wahrgenommen, und es bedurfte unserer ganzen Improvisationskunst, aus dieser unnatürlichen Situation im Laufe der Jahre eine natürliche werden zu lassen.

Norbert Johannes Prenner
(bearbeiteter) Romanauszug aus „Der Chronist“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 15151

Die Klavierstunde

Der Kalender zeigt Dezember neunzehnhundertdreiundsechzig. Ein Freitag, wieder einmal. Immer wieder ein Freitag, an dem man, gut verschnürt, mit Schal und Wintermantel, die Tasche unter den Arm geklemmt, losmarschiert, in Richtung Musikschule. Die magische Uhrzeit, in der man seine Stunde eingeteilt bekommen hat, lautete, man musste sie wiederholen, Freidoch umma drei, also, Freitag, fünfzehn Uhr. Um diese Zeit läuten immer die Kirchenglocken und erinnern an die Leiden Jesu. So auch an diesem Freitag.

Aus der fernen Stadt hat  s i e  offensichtlich ohne größere Schwierigkeiten hierher gefunden. Auf einem Motorroller. Ein Puch hundertfünfundzwanzig, in vergilbtem Grasgrün, am Gepäckträger ein Reservereifen befestigt. Hatte was, das Ding da hinten drauf. War ein echter Hingucker für den Buben. Drei Jahre später sollte sie ihn gegen ein VW-Cabrio tauschen, in Silbergrau, mit schwarzem Verdeck. Toll! So eines hatte man von Matchbox, in Miniatur.  S i e  ist jedenfalls die Klavierlehrerin, und gleichzeitig auch die Leiterin der Musikschule des Ortes. Blond, vollschlank, Mitte vierzig, mit Brille und einem seltsamen Dialekt. Sie verlangt den Oswes (den Ausweis) von einem, ehe die Unterrichtsstunde beginnt. Man kriegt einen Stempel und einen Krakel hinein. Meist in Rot. Rot ist keine wirklich willkommene Farbe, besonders wenn es sich um Schulisches handelt, das weiß man bereits. Sie sagt ooch (sic!) anstatt auch, und neen (sic!), wenn sie nein meint. Aber man gewöhnt sich daran.

Die Musikschule ist im Westflügel jener Schule untergebracht, von der bereits die Rede war. In diesem Teil des Gebäudes befinden sich auch einige Dienstwohnungen, in welcher nicht nur sie, sondern auch jener Lehrer, der lieber Politiker sein wollte, ihre Bleibe haben. Der Politikus hat Familie. Sie lebt allein. Interessant für alle in der Gemeinde.
Der Weg in die Musikschule dauert normalerweise zehn Minuten, wenn man nicht trödelt. Weil aber die Angst vor der Klavierstunde derart groß ist, nimmt man einen Zickzack-Kurs durch die Straßen, der einen zunächst über eine Brücke führt. Unter dieser Brücke fließt ein Bach, und der führt Hochwasser, wegen der spontanen Schneeschmelze, und das Anfang Dezember. Das Wasser ist braun und zeigt viele Strudel, die die Fantasie anregen, wie es denn so wäre, wenn man von einem erfasst und hinuntergezogen würde, in die Tiefe. Zahllose Albträume bearbeiten dieses Thema schon längst und führen immer wieder zum selben Schluss, man fällt in diese braune Brühe und ersäuft jämmerlich. Danach erwacht man schweißgebadet, holt erst mal Luft und schläft dann beruhigt weiter. Es ist ja nur ein Traum. Nebenan schnarchen die Eltern. Alles in Ordnung.

Wenn man also diese Brücke passiert hat, kommt man an einer Buchhandlung vorbei, faszinierendstes Geschäft im Ort. Zumindest in dem Alter. Gleich in der ersten Auslage ist eine elektrische Spielzeugeisenbahn aufgebaut, mit Tunnels und so, und wenn man Glück hat, ist sie eingeschaltet. Dann fahren zwei Züge, meist eine grüne E-Lok und eine Dampflok auf zwei Gleisen durch zwei mit grüner Rasenstreu getarnte, felsenartig naturgetreu nachempfundene Tunnels aus Karton. Um dort alles genauestens zu inspizieren, benötigt man mindestens fünf Minuten, inklusive der Zeit, in der man sich vorstellt, selbst in einer dieser Lokomotiven zu sitzen, oder noch kühner, selbst eine solche Eisenbahn zu besitzen, was allerdings völlig ausgeschlossen ist. Nicht einmal dran denken, sagt der Vater immer. Oder er bläst seine Wangen auf, schlägt mit der Hand kurz drauf, sodass die Luft lautstark wie ein Furz durch den Mund hinausfährt, und sagt, dort fliegt sie.

Dann muss man aber weiter. Die Rathausuhr hat schon dreiviertel geschlagen. Jetzt kommt man an der Zuckerbäckerei vorbei. Dort liegen schon die roten Säckchen mit allerlei Naschzeug für den Nikolaus- und Krampustag bereit. Aus manch einem Säckchen ragt eine Weidenrute heraus, mit einem roten Samtmascherl drauf und einem samtgrünen Drahtteufelchen mit einem roten Gesicht und einem langen Schwanz. Das sind die interessanteren. So eines hätte man gern. Aber zum Zuckerbäcker geht man erst, nachdem die Folter mit dem Klavier vorbei ist und das junge Leben wieder Sinn macht.

Den langen Gang über den Hauptplatz begleiten einen bange Gedanken. Die Hände werden feucht, der Mund trocknet aus, das Herz beginnt schneller zu schlagen. Was wird heute wieder sein? Was wird sie heute wieder sagen? Wird sie wieder herumbrüllen? Man hätte üben sollen, ja, sicher. Aber wegen der Spielzeugkiste, deren Inhalt wichtiger ist als das blöde Klavier, hat man es immer wieder vergessen, oder gerne vergessen wollen. Schule ist ohnehin schon genug.
Das Schulhaus ist schon in Sicht. Jesus Christus hat für uns gelitten. Und dieses Leiden beginnt nicht erst am Kreuz von Golgatha.
Lieber Gott, lass diese Stunde an einem vorübergehen, und warum lässt du das zu?, betet man inständig, und gib, dass der Zuckerbäcker heute nicht wieder dieselben Katzensäcke mit demselben Inhalt hat, von dem man ohnehin schon alles doppelt und dreifach besitzt. Den roten Kreisel mit der blauen Spitze, die Plastikarmbanduhr mit den drei Kügelchen drinnen, die man in die Löcher kriegen muss, und die Gummischleuder aus Kunststoff, die immer gleich bricht, wenn man den Gummi zu stark spannt und eben sonst so alles.
Und dann steht man unweigerlich vor den Treppen, die zur Garderobe führen und steigt diese mit mulmigem Gefühl im Bauch nach oben.

Ob der gefährliche Schulwart, der unberechenbare, irgendwo auf den Gängen ist, und kontrolliert, ob man die Hausschuhe anhat? Manchmal wirft er mit dem Besen, dem großen, breiten und man muss schnell die Stiegen hinauflaufen, sonst erwischt er einen und man fängt eine Ohrfeige. Geschafft! Er ist noch im Turnsaal beschäftigt, man hört das Geklapper seines Besens und der Mistschaufel.
Heilige Jungfrau Maria, lass nie den dritten Stock kommen! Man riecht schon den Zigarettenrauch. Immer, wenn einer gerade Klavier spielt, macht sie eine Zigarettenpause auf dem Flur und sagt, übe gefälligst, ich höre alles. Dann kommt sie nach zehn Minuten wieder in das kleine Zimmer mit der schrecklichen Topfpflanze, die mit ihren Blättern den gesamten Raum vereinnahmt wie ein Riesenkrake. Es ist ein Fikus oder so ähnlich, den sie mehr liebt als alles andere, und während man spielt, zupft sie immer die alten Blätter ab und spielt bei den neuen Geburtshelfer, indem sie sie aus ihrem Blätterkokon herausschält. Genau, den liebt sie mehr als ihre Klavierschüler, bis auf eine vielleicht, oder zwei, weil die so toll spielen, und ihre selbstgeknüpften Teppiche, die liebt sie auch.
Und manchmal bleibt sie eine Viertelstunde weg, um eine Reihe zu knüpfen, oben, in ihrer Wohnung und man muss üben, bis sie wiederkommt. Und dann schimpft sie ohnehin nur. Und die Frau Klavierlehrerin riecht schrecklich nach Zigarettenrauch und Alkohol, weil sie draußen auf dem Gang so viel raucht und auch immer Schokoladenbonbons, die mit Schnaps gefüllt sind, isst.

Ihre Finger sind runzelig und gelb, und sie stinken nach Tschik. So sagt zumindest die Schwester immer, die, die immer alles weiß und selber so toll ist, und die viel besser Klavier spielt als man selbst, und neben der man immer schlechter dasteht und die einem oftmals eine knallt, wenn man ihr auf die Nerven geht und zu ihr sagt, du Duttelsau. In der Wut, versteht sich, weil man neidisch ist auf sie und weil man das irgendwo aufgeschnappt hat. Der Vater hat gelacht und die Mutter auch. Also kann es nicht so schlimm gewesen sein, denkt man. Aber sie, die Schwester, versteht keinen Spaß, und man kriegt zwei ordentliche Watschn dafür, wenn man nicht aufpasst. Einmal nimmt man ihr eine Erdbeere weg und isst sie schnell, ehe sie sie einem wieder wegnehmen kann. Daraufhin setzt es eine Watschn, infolge der man mit der Nase auf die Tischkante stößt und sich die Nase bricht. Alles ist voll Blut und man kriegt geschimpft, nicht sie, weil man so sekkant ist und einem da eben leicht die Hand ausrutscht. Seit dieser Zeit ist sie leicht verbogen, die Nase.
Aber jetzt weiß man immerhin auch, was ein Tschik ist. Auf einem Finger trägt die Klavierlehrerin einen goldenen Dukaten zu einem Ring verarbeitet, so mit Verzierungen, wie ein Geländer rundherum.

Schließlich steht man endlich vor dieser verdammten Tür. Aber das Kindervokabularium kennt diesen Ausdruck noch nicht. Und wenn, dann nur vom Religionsunterricht und dass es was ist, was man nicht sagen darf. Denn die Verdammten sind die in der Hölle, sagt der Kaplan immer. Dessen ist man sich aber gar nicht mehr so sicher. Durch die Türe hört man das Geklimper eines ihrer Schüler. Plötzlich hört man von drinnen schreien: Fis!, und man zuckt vor Schreck zusammen.
Wird es bei einem selbst auch bald so weit kommen? Die Knie werden weich. Aber man muss jetzt endlich klopfen, denn es ist bereits Punkt drei auf der Ganguhr. Herrrein!, brüllt sie und es hört sich an, als sei man nicht willkommen. Das Herz ist nicht mehr zu beruhigen. Eine zittrige, feuchte Hand bemüht sich, die Klinke der Türe zu drücken, sie vorsichtig zu öffnen, um sich, so lautlos und unauffällig wie möglich, in die Folterkammer zu zwängen.

Die Schülerin drinnen, hochrot im Gesicht, atmet erleichtert auf. Die ersehnte Ablöse ist da. Man würde alles geben, um an ihrer Stelle zu sein, auch sein bestes Rennauto. Aber Mädchen machen sich nichts aus Rennautos, höchstens aus Puppen, heißt es. Der Schülerwechsel geht formlos vonstatten. Nun sitzt man auf dem verhassten schwarzen Folterstockerl. Herunter, zu hoch! Die Klavierlehrerin schraubt ihn missmutig herunter. So, jetzt, aufsitzen. Den Oswes. Da, bitte. Das Hausübungsheftchen! Hier. So, die Tonleiter. Was für eine Tonleiter? Na die, die sie aufgeschrieben hat. Wo steht das? Da oben. D-Dur. Wie geht die?
Zaghafter Beginn, wie das denn so gehen könnte. Fis, du Trottel! Noch einmal von vorn. Mit den zittrigen Fingern, den feuchten, geht das gar nicht so einfach. Sie schlägt einem die Hände von den Tasten. Schreibt etwas ins Heft. Nichts Gutes, wird vermutet. Etwas, damit der Vater wieder was zum Meckern hat. Dann die Etüde. Czerny, Vorschule der Geläufigkeit. Beiläufigkeit, ätzt die Schwester, die blöde, immer, weil sie älter ist und gescheiter, und immer alles besser kann. Weiter als drei Takte sind nicht drin.
Da schmeißt sie den Klavierdeckel auf die kleinen Finger. Autsch! Tränen trüben das Notenbild. Der Deckel wird wieder geöffnet. So, jetzt übst du das, du Faultier!, schreit sie, zündet sich eine Zigarette an und geht auf den Gang hinaus. Ich höre alles, ruft sie noch von draußen herein. Jetzt erst rinnen die Tränen so richtig fett und kugelig über die Wangen.

Die Mutter weiß von alldem nichts und ist weit weg. Vielleicht gerade einkaufen? Hoffentlich vergisst sie die Bensdorp-Schokolade nicht, die blaue? Also dann, Note für Note wird heruntergespult bis – was ist das für ein Ton? Hoffnungslos sucht man in der Umgebung dieser Note eine ähnliche, die man vielleicht schon einmal gespielt hat und jetzt nur nicht gleich erkennt? Aber es findet sich keine. Nochmal von vorne. Doch vor der großen unbekannten Zweischlagnote ist wieder Endstation.
E!, schallt es von draußen herein, E wie Esel! Die Tränen hängen wieder tief. Fehlt nicht viel, sie zu wecken. Wie lange wird es noch dauern, bis man wieder vor seiner Spielkiste sitzen darf? Man muss doch noch den einen Kran fertig bauen. Der Metallbaukasten ist ein sinnvolles Spielzeug für dieses Alter, sagt der Vater. Alles muss immer sinnvoll sein. Klavierspielen ist nicht sinnvoll.
Jetzt setzt sie sich neben einen und zählt laut mit. Ens, zwe, dre! Doch der verflixte Ton an dieser Stelle lässt sich nicht bezwingen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu erklingen. Sitz gerade! Die kantige Ecke eines hölzernen Lineals fährt einem unsanft in den Rücken. Man schnellt empor in die Idealstellung und verharrt in dieser Position, ohne erneut zu wagen, wieder in sich zusammenzusinken und einen Katzenbuckel zu machen.
Mist!, sagt sie, das ist lauter Mist. Was ist mit der Sonatine? Was soll schon mit der Sonatine sein? Her mit dem Heft. Seite fünf muss das gewesen sein, die Seite, die ohnehin schon so vollgeschmiert ist mit ihren Kugelschreiberhinweisen, Vorzeichen, lauter, leise, cis, du Trottel und so weiter, dass man die Noten kaum mehr sieht.
Aber aus Clementis Sonatine wird leider nichts. Noch einmal von vorne.
Jetzt steigen die Tränen wieder in die Augen, bis man erblindet. So geht es noch weniger.

Die Klavierlehrerin nimmt das Sonatinenalbum und schlägt es einem mit derben Händen unsanft auf den Kopf. Schoo, dass d‘ rooskommst, damit ich dich nicht länger sehen muss!, schreit sie hysterisch und wirft das Heft hinterher, das sich im Flug in seine einzelnen Seiten aufzulösen beginnt.
Man darf das alles aber nicht zu Hause erzählen, sonst schimpfen wieder alle mit einem und das Aufgabenheftchen mit den grauslichen Bemerkungen kann man auch irgendwo verstecken. Dann hat man zumindest eine Woche lang Ruhe. Und eine Woche ist schon eine kleine Ewigkeit.
Der Schulwart rumort jetzt im Obergeschoß, aber man ist schon draußen aus dem verhassten Bau und eilt in der kalten Luft, befreit im Herzen, dass die Folter nun für dieses Mal vorüber ist, über den Hauptplatz, dem einzigen positiven Ziel des Tages entgegen, der Konditorei, mit ihren Schaumspitzen, Kaugummis, Katzensäcken, Kokosstangerln und Akim- und Tibor-Heftchen, die der Vater zu besitzen strengstens verboten hat, denn er ist auch der Direktor der Volksschule und nimmt jedem solche Heftchen ab, wenn er eines erwischt, denn es sei Schund, sagt er.

Norbert Johannes Prenner
Romanauszug aus „Der Chronist“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 15144

Irrenhaus in Hinterwald – Teil 2

Der Waldschrat

Und wieder hatte es sich begeben, und wie schon zuvor auch diesmal in irgendeinem Ort, in einem vielleicht nicht ganz so unbedeutenden wie bereits beschrieben, aber trotzdem letztlich irgendwo, vor nicht allzu langer Zeit, in einem altehrwürdigen, mit Ritterburg und so, jedoch aufstrebenden und ehrgeizigen Ort, wie eben alle Orte im Zeitalter des Wirtschaftswunders. Ein Gymnasium, wo nie zuvor eines gewesen war, spontan ins Leben gerufen, ohne genügend qualifizierte Lehrkräfte dafür zur Verfügung zu haben. Den wenigen, denen man es zutraute, das erforderliche Bildungsprogramm umzusetzen, fehlt zum Teil die entsprechende Ausbildung und manche darunter sind bloß Volks- oder Hauptschullehrer.
Sonst scheint alles wie überall. Und doch ist alles nicht wie überall. Nein, wohl einzigartig. Dreiundzwanzig Knaben, in irgendeinem Klassenzimmer. Man schreibt das Jahr 1969. Mathematikunterricht. Kreidestaub und der Geruch pubertierender Knaben liegen in der Luft. Ein hölzernes Dreieck und ein Tafelzirkel am Katheder.
Der Waldschrat steht hinter einem Schüler. Eine Textaufgabe, wie kann es anders sein? Der Schüler ist ratlos. Warum kannst du das nicht, du Idot?, empört sich der Waldschrat. Zu seinem eigenen Leidwesen und zum Gaudium der Schüler kann er kein „i“ in Kombination mit anderen Vokalen sprechen. Der Bursche zuckt mit den Schultern. Ja, ich weiß eh, weil du noch viel blöder und depperter bist wie (sic!) deine Schwester, schreit er. Waldschrat haben die Kriegsmatura schon und das Studium nicht beendet. Scho, nuschelt er, scho, das ist eine Art Verlegenheitswort, soll schlicht und einfach ja heißen, welches in jeden seiner Sätze einfließt: scho, jetzt haltet‘s einmal die Papp‘n und hört‘s zu.
Und er erzählt. Einen Film. Er erzählt den Film Rififi, denn es ist kurz vor Weihnachten. Da erzählt er in allen Klassen immer den Film Rififi, die Geschichte des eben entlassenen Strafgefangenen Tony, der zusammen mit der Bande eines alten Freundes einen gemeinsamen Geldschrankraub durchführt. Das Unternehmen gelingt, wobei alle Beteiligten in einer Auseinandersetzung mit einer konkurrierenden Bande ums Leben kommen. Man ist daran gewöhnt, wie er die Übeltaten der Verbrecher wie jene des saunftn Tony (der sanfte Anton) des rodn Edi (der rote Eduard) und von Schau (Jean) schildert. In der Klasse ist es totenstill. Die einen schlafen, die anderen amüsieren sich an seiner schrulligen Aussprache.
Die Schule ist in einem Zubau an einer anderen Schule untergebracht. An der Treppe zum ersten Stock fehlt noch das Treppengeländer. Die Gymnasiasten toben durch das Stiegenhaus. Waldschrat hat Gangaufsicht und ruft den Schülern nach, sie mögen doch langsamer gehen, sonst fällt noch einer hinunter und bricht sich das Genick, hinterher war’s dann wieder keiner, setzt er hinzu.
Nun, nicht bloß Mathematik, nein, auch Chemie ist sein Fach. Und wenn es die Zeit und seine Laune erlauben, zeigt er hin und wieder den einen oder anderen Versuch in der Klasse. Da es keinen eigenen Chemiesaal gibt, wird improvisiert. Immerhin verfügt der Klassenraum über ein funktionierendes Waschbecken. Der Waldschrat hantiert mit Kaliumpermanganat, oder wie er es nennt, Kalumpermaganat (sic!), Glycerin und Wasser. Die Klasse wartet gespannt auf die versprochene chemische Reaktion im Waschbecken.
Nichts tut sich. Da hält es einer der Schüler nicht mehr aus. Aus der letzten Reihe läuft er nach vorne, um, über das Becken gebeugt, Nachschau zu halten. Da geht es los. Zischend spritzt ihm die ätzende Flüssigkeit direkt ins Gesicht. Was für eine Aufregung! Der Waldschrat brüllt, du Idot, hab ich gesagt, du sollst dich da drüber beugen? Der Schüler schreit, ist im Gesicht verätzt und muss sofort zum Schularzt. Diese Geschichte gehört seit Jahren zum Standard seiner Erzählungen und sie klingt so: Scho, ich mach da neulich einen Versuch mit Kalumpermaganat (sic!) verstehst, und bevor das ganze Zeugs da in die Luft geht, lauft mir ein Idot aus der letzten Reihe nach vor und steckt seine Nasn da hinein, das Kaibl (dummes Kalb) das blede. Aus der letzten Reihe!

 

El Commandante

Turnstunde im nach Geschlechtern geteilten Turnsaal. Auf der einen Seite die Burschen, auf der anderen die Mädchen. Es ist immer noch neunzehnhundertneunundsechzig. Während die Mädchen ein kleines Volleyballfeld abgesteckt haben, marschieren die Burschen in Viererreihen im Gleichschritt, oh du schöööhener Westerwald anstimmend durch den Saal. Dicht gefolgt vom Commandante dahinter, mit einem Metallpfeifchen an einer Schnur. Tritt jemand nicht im Schritt, gibt’s eins auf den Hintern mit dem ständig im Kreis geschwungenen Trillerding. El Commandante kommandiert nach Herzenslust, das sieht man ihm an. Braungebrannter Endfünfziger mit starkem roten Einschlag im Gesicht und zahllosen kleinen rot-violetten Äderchen im Nasenbereich, Weltkriegsteilnehmer, Parteigenosse.
Da erscheint eine Kollegin. Weißt du nicht, dass das verboten ist, ruft sie für alle hörbar. Daraufhin lässt er Marsch und Lied abbrechen. Alle ans Reck. Man übt den Felgauf- und -abschwung. Schmerzende Kniekehlen gelten nicht als Ausrede. Stahlharte Burschen will er sehen, der Commandante, sogenannte Burschen aus Stahl, fügt er hinzu, und schlägt einem mit dem Handrücken hart auf die Brust. Die Mädchen schauen herüber, sehen die Knaben in ihren schwarzen schlotternden Turnhosen und lachen. Ruhe!
Irgendwann ist Schikurs. Die Jungs zünden sich am Schlepplift genüsslich eine Zigarette an und singen „Pulverschnee und Pistenwind“. Hier, in diesem Abschnitt des Waldes, kann sie unmöglich jemand dabei beobachten. Der Alte sollte oben bei seiner Gruppe sein oder mit ihr auf irgendeiner Piste abfahren. Doch El Commandante ist mittendrin ausgestiegen und wartet mit seinem Notizblock hinter einer mächtigen Fichte.
Es kommt, wie es kommen muss. Die Strafe lautet, zu Fuß, also ohne Lift, hochsteigen. Eineinhalb Stunden stapfen die Burschen die Lifttrasse entlang hinauf, bis sie, lange Zeit atemlos, von dort aus wieder mit den anderen abfahren dürfen. Ihr Pippen ihr, man sollte euch ungespitzt in die Erde schlagen, tobt El Commandante, einer seiner Leitsprüche, die man schon immer kennt.
In der Nacht wird auf den Zimmern Karten gespielt. Draußen, auf den Fensterbrettern, stehen Bierflaschen zwecks Kühlhaltung. Wer trinkt schon gerne warmes Bier? Gegen zweiundzwanzig Uhr ist Nachtruhe. El Commandante kommt persönlich gute Nacht sagen. Im Zimmer riecht es stark nach Zigarettenrauch. Alles auf den Gang. Liegestütz die ganze Bande. Ermattet steigt man ins Bett.
Am nächsten Tag, Halbzeit, also der dritte Tag. Man hat Ausgang am Nachmittag. Kein Schifahren, wegen der erhöhten Unfallgefahr. Die Jungs kommen in Damenbegleitung gegen achtzehn Uhr aus dem Gasthaus. Nachtmahlzeit. Durch den Hintereingang. Der ist sicherer. Doch autsch, da steht El Commandante. Atemkontrolle! Du, du und du, ihr meldet euch nachher bei mir. Einer hat längere Haare. Unser Mädchen, ätzt El Commandante. Der Junge verdreht die Augen. Langsam sollten sich die Alten dran gewöhnt haben. Schließlich ist das Flower-Power-Zeitalter angebrochen. Unter den Heimkehrern befinden sich auch einige Schülerinnen aus der Parallelklasse. El Commandante holt eine zu sich her, klopft ihr mit der rechten Hand auf die Brust und tätschelt daran herum. Dann sagt er, so so, da sieht man, dass sie langsam eine Frau wird.
El Commandante unterrichtet auch Geschichte. Wenn er die Klasse betritt, in Rollkragenpulli unter dem Sakko, lässt er die Klasse aufstehen und inspiziert sie ausgiebig. Setzen. Dann schlägt er das Klassenbuch auf und fragt einen, wo sind wir stehengeblieben? Keine Ahnung. Ein anderer meldet sich, bei den Römern. Der Commandante nimmt die Brille ab und sagt kryptisch, die Römer? Stille. Die Römer? Was war mit denen? Er sieht einen der Knaben an. Der zuckt die Achseln. Was soll schon mit den Römern gewesen sein?
In der Turnstunde wird schwimmen gegangen. Wer hat keine Schwimmsachen mit? Unser Mädchen, natürlich. Du zahlst fünf Schilling in die Kasse. In welche Kasse? In die Kasse für – El Commandante reißt sich die Brille von der Nase, frag nicht so blöd! schreit er, aber er weiß wohl selbst nicht genau, für welche.
In den Pausen steht man zu dritt in der engen Herrentoilette zusammen und raucht. Rauchschwaden steigen über die Köpfe der qualmenden Schüler. Man hat das leise Öffnen der WC-Türe nicht gehört, die Stimmung ist gut hier drinnen, trotz Androhung einer Schularbeit in der nächsten Stunde, das Lachen zu laut. Da erschallt El Commandantes Stimme: Ich gehe davon aus, dass hier niemand schwul ist, also nehme ich an, es wird geraucht. Alles heraus. Immer die Gleichen, sagt der Commandante.
Das bedeutet zwei Stunden Karzer. Danach kriegt man gerade noch den Abendbus nach Hause. Die Eltern werden sich schon Sorgen machen. Am kommenden Vormittag eilt die Sekretärin mit einem Schreiben durch die Gänge und verkündet in jedem Klassenzimmer lauthals die Botschaft: Die Raucher fühlen sich wieder sicher! Es wird darauf hingewiesen, dass jeder, der beim Rauchen erwischt wird, mit Karzer und einer Disziplinarstrafe zu rechnen hat.

 

Pater Quardian

Ein schmächtiger Mann in brauner Kutte. Schütteres helles, beinahe weißes Haar. Krankenkassenbrille. Sandalen ohne Socken, sogenannte Herrgottspatschen. Seine Taille umgürtet ein geflochtener heller Strick. Ein Meister seines Faches wie auch der lateinischen Spwache, pardon, Sprache. Der Glaube ist ein Geheimnis, sagt er immer. Twummer, zuw Pwüfung, sagt er salbungsvoll. Er kann aber kein „r“ sagen, der Knabe heißt Trummer. Was weißt du übew die Iswaeliten? Nichts. Der Bursche schweigt. Setzen, Nichtgenügend, haucht der Padre. Ein andewew. Er deutet auf einen Schüler in der letzten Reihe, einen mit langen Haaren und einem Milchbart. Ich lasse mich nicht prüfen.
Pater Quardian wird stutzig. Wieso nicht? Weil ich das nicht glaube. Wieso soll der Glaube ein Geheimnis sein? Wenn er nicht für alle da ist, ist es ein Unsinn, sagt er. Der Pater steht unmittelbar vorm Herzinfarkt. Er springt entsetzt auf und stottert, awawawa – dadada – ich – ich – ich hoffe, alle ham’s gehöwt?, und trägt ein Nichtgenügend in den Klassenkatalog ein. Jeder bekommt eine zweite Chance. Versuche, den aufmüpfigen Schüler erneut zu prüfen, beginnen meist bloß mit den Worten: Zahlt sich’s aus! Der Schüler schüttelt den Kopf. Fünf. Das gibt eine Mahnung am Semesterschluss.
Dann gibt es einmal eine Schülermesse in der Klosterkirche. Pater Quardian hat, wenn auch nicht sofort, seine Zusage zu diesem Spektakel gegeben, soll doch eine Rockband, bestehend aus Schülern des hiesigen Gymnasiums, zur Heiligen Messe aufspielen. Schon beim Soundcheck stürzt der Pater voll Entsetzen herbei.
Nein, unmöglich, unbedingt leiser drehen. Das Türchen des Tabernakels vibriert scheppernd vom E-Bass. Zur Kommunion spielt die Band Joshua fought the Battle of Jericho. Der Schlagzeuger landet einen besonders harten Schlag auf dem Becken, wobei es durch die Schwingungen aus der Verankerung gehoben wird. Laut scheppernd fällt es auf den Steinboden. Den Pater trifft beinah der Schlag. Er wird blass und blässer und scheint beinah in seiner goldenen Kutte versinken zu wollen.
Die Schüler lachen, und das in seiner Kirche!
Viele viele Jahre später schreibt der langhaarige Nichtsnutz ein Entschuldigungsschreiben an den bereits greisen Pater ins Altenheim, dass er alles, was er ihm je im Unterricht angetan hat, zutiefst bereut. Pater Quardian hat ihm gerührt verziehen, er könne sich aber leider gar nicht mehr daran erinnern. Auch schade.

 

Old McDonald

Englisch. Tatsächlich, ein Schotte. Gegen diesen Professor ist nichts zu sagen, nichts zu sagen! Gnadenlos gegenüber Ignoranten, ja, das ist er. Schularbeitshefte werden quer durch die Klasse fliegend zurückgegeben mit kurzen, aber prägnanten Worten, wie Nichtgenügend, oder: very short and primitive! Man ist in der siebten Klasse. Manche unter den Schülern sind starke Raucher. Einer hustet auffällig oft. Mac Donald fordert ihn mit einfühlsamen Worten auf wie: Hey, Mister Dingsda on the back seat, die at home and not in my lesson! Sein Weihnachtsprogramm läuft wie folgt ab: Er betritt die Klasse mit einer doppelläufigen, nein, doppelhalsigen Laute, Kontralaute oder so. Dann schwingt er sich auf den Katheder. Von dort oben weiß er gekonnt und mit äußerst eindrucksvoller Stimme schottisches Liedgut authentisch wiederzugeben. Ausnahmslos hören die Schüler dem Barden gebannt zu. So vergeht die Stunde, gottlob ohne unangenehme Fragereien nach der Hausübung, die man ohnehin nicht gemacht hat.

 

Der Dux

Latein. Eine zurechtgestutzte, schon leicht ergraute Fliege ziert das narbige Gesicht unter seiner Nase. Aufgrund widerborstigen Haarwuchses lässt sich kein Scheitel damit machen, schon gar keiner nach rechts. Es bleibt die Igelfrisur. Die Figur, eher zart, klein von Wuchs. Er ist schlank. Anzug stets in Grau. Und er riecht stark nach Tabak. Er zeigt ein Päckchen Smart her. Was steht da drauf? Einer liest umständlich. Semper et ubique. Was heißt das? Sie da vorne? Ratlosigkeit. Immer und überall, schreit der Dux und grinst selbstgefällig. Sein Bärtchen dehnt sich dabei etwas und zittert.
Amare, sagt er. Sie dort hinten. Konjugieren S‘, und stehn S‘ gefälligst auf, wenn S‘ mit mir reden, kommandiert er. Nehmen S‘ die Hände aus den Hosentaschen und lassen S‘ die Hände runterhängen, befiehlt er schroff. Der Schüler stammelt. Nehmen S‘ Haltung an. Hände an die Hosennaht. Wo kommt er her?, fragt er den Schüler in der dritten Person. Aus – der Schüler stammelt einen Ortsnamen. Das ist doch dort, wo sich Fuchs und Has’ gute Nacht sagen, richtig?
Der Schüler räuspert sich. Er will nicht widersprechen. Ja, sagt er kratzig, ohne sich geräuspert zu haben. Das Futurum will nicht so recht gelingen. Das Präsens erst recht nicht. A-a-amo, aaa-mas, stottert er, a-a-a- amariat! Ein gebräuchliches Schimpfwort im Süden dieses Bundeslandes. Möglicherweise ein Fluch, wer weiß. Was redet er denn für einen Schwachsinn?, fragt der Dux grantig und hilft ihm schließlich bei der Ableitung. So geht das. Hat er vielleicht schon einmal gehört von?, deutscht er. Bitte? Der Schüler ist verwirrt. Sollte das eine Frage gewesen sein? Setzen, befiehlt der Dux kopfschüttelnd.
Es ist Schularbeit. Darf ich mich schnäuzen, fragt einer vorsichtig. Nein, kommt nicht in Frage, reagiert der Dux unwirsch, lassen Sie’s runterrinnen. Womöglich haben Sie Ihr Taschentuch mit Vokabeln gespickt, fügt er an. Mit den Händen am Rücken zieht er seine Kreise durch die Bankreihen und lässt seine Blicke immer und immer wieder über jeden einzelnen Schüler gleiten. Im Übrigen, ich warne Sie, sehen Sie nicht zum Fenster hinaus, es könnte ein Hubschrauber draußen fliegen, der Ihnen die richtige Antwort sendet. Ihre Blicke sind ausschließlich auf Ihr Heft gerichtet, verstanden?
Man darf auch nicht auf die Toilette, dort könnte ein Freund versteckt sein, den man zuvor bestochen hat, der einem die richtige Übersetzung liefert. Also, geben Sie auf, niemand kann Ihnen helfen, erklärt er den Schülern ihre ausweglose Lage. Lediglich der Primus grinst selbstzufrieden vor sich hin und schreibt, als kriege er dafür bezahlt.

 

Der Net Woa

Ein alternder Volksschullehrer wird mit dem Biologieunterricht betraut. Hochgewachsen. Das schüttere Haar, auf der einen Seite lang gehalten und kunstvoll zum Scheitel formiert, will, über das gesamte Haupt gekämmt, auf den kahlen Stellen des weisen Hauptes partout nicht halten und fällt immer wieder zur Seite herab. Dort schreit es förmlich nach Bändigung. Und flugs wird ein Kamm gezogen, einem Pistolero gleich, und schon ist es wieder dort, wo es vorgesehen ist, um für kurze Zeit an Ort und Stelle zu verweilen.
Die lateinischen Namen haben es ihm angetan. Schließlich unterrichtet man jetzt im Gymnasium, und die Schüler sind nicht irgendwelche Lümmel, nein, sondern Studenten, zu denen man Sie sagen muss. Ganz anders, als in der Volksschule.
Da wären also einmal die Selachier, net woa, Selachii, sogn die Lateina, und er lacht hoch, hihihi. Die Queeermäuler. Dabei strapaziert er besonders das lange e. Einer der Schüler steckt seine Zeigefinger in den Mund und zieht ihn auseinander. Damit zeigt er sich den hinteren Bankreihen. Gelächter. Die sogenannten Plagiostomen, wiederum Plagiostomi, net woa? Die meisten gähnen. Einer hat ein Pornoheft. Im Nu sitzen acht Burschen um den herum. Was ist dort hinten los, net woa?, sondiert der Oberlehrer. Nur ein Biologiebuch, sagt einer. Ah so, aber seid‘s leise, net woa, bittet er sich aus. Die gehören in die Ordnung der Knorpelfische, net woa? Charakterisiert durch ein knorpeliges Skelett, net woa, den auf der Unterseite des Kopfes angebrachten Mund in Form einer weiten Querspalte – Lachen. Chinesinnen, schreit einer. Gebrüll. Vorne hat einer das Wort aufgefischt.
Die Klasse will sich nicht mehr beruhigen. Ich kann auch zum Direktor gehen, net woa, versucht der Net Woa Druck zu machen. Langsam wird es ruhiger. Die drübere Seite der Klasse blättert heftig im Pornoheft. Jetzt wart doch, du Trottel, blätter zurück, nicht so schnell. Bist du deppert, raunen zwei. Der Net Woa, neugierig geworden durch die Ansammlung in der letzten Reihe, ist aufgestanden und zieht mit beiden Ellenbogen seine Hose hoch, die der alte ausgeleierte Gürtel ohnehin nur recht und schlecht zu halten vermag.
Langsam geht er nach hinten. Weg weg, raunt einer. Das Heft verschwindet in der Bank. Alsdann, was hamma da, net woa? Wir sind schon fertig, Herr Professor, sagt einer. Wird auch gut sein, net woa, sagt der und geht wieder zum Katheder. Weiter. Durch sackförmige Kiemen, net woa, und noch viele minder hervortretende anatomische Merkmale, net woa – Mehr hat es nicht gebraucht. Die Klasse tobt. Jeder gibt sich seiner eigenen Fantasie über die sackförmigen Kiemen hin und versucht in schaustellerischer Manier das Objekt, so gut es geht, für die anderen in Mimik und Gestik darzustellen. Es muss auch a bissl ruhig sein, net woa, mahnt der Oberlehrer nun etwas lauter als vorhin, und will fortfahren. Ihre Haut, liest er aus dem Lehrbuch, net woa, ist mit kleinen Knochenkörnern – weiter kommt er nicht. Die Klasse ist außer Rand und Band. Der Oberlehrer steht auf. Holt die rutschende Hose wieder herauf in ihre vernünftige Position und kämmt die langen Strähne von der einen Seite auf die andere. Es hat den Anschein, als sei er auf einmal nicht mehr so ganz sicher, ob es nicht doch bloß Lümmel sind, und keine Studenten, net woa, und er droht erneut mit dem Direktor.

Norbert Johannes Prenner
Romanauszug aus „Der Chronist“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: anno |Inventarnummer: 15133

Von Münze und Zigarre IV

Wien war nicht auf sieben Hügeln erbaut worden.

Der Junge mit der Matrosenmütze wusste das allerdings nicht.

Wahrscheinlich hatte er auch noch nie darüber nachgedacht.

Ihm schien lediglich bewusst zu sein, dass die Stadt die Stadt war und er Teil einer Skizze, die er nicht überblickte. Es lag nicht an der Größe seines Körpers oder der seines Geistes …; wenn er das also verstanden hatte, bedeutete das schon viel. Weshalb die Dinge nun so waren oder ob es andere Dinge gab, die diese wiederum hätten ändern können, interessierte ihn nicht. Diese Straßen, jene im Hier und Jetzt; wo? – na im Dort und Da! – hießen ihn >Willkommen<, da gewohnt des Kindes Augen an ihren Anblick, und im Sonnenuntergang hatte es sogar etwas Romantisches so zwischen all den toten Gebäuden verlorener Ideen.

Der Junge mit der Matrosenmütze schleppte sich missmutig nach Hause. Der Tag hatte ihm Aufstieg und Fall beschert, unglücklicherweise auch in dieser Reihenfolge.

Die ihm geschenkte Zigarre: gestohlen!

Gestohlen von einem Mädchen mit einer Fliegerkappe auf dem Kopf. Der Junge schämte sich so sehr! Der Streichhölzer hatte er sich entledigt. Im hohen Bogen geworfen, hatte sie die weiße Schlange Wiens gefressen. Nur ein kleines Plätschern hatte die Schachtel von sich gegeben, die zuvor so große Wellen geschlagen.

Die Silbermünze hingegen hielt er immer noch in seiner Hand.

Manchmal spielte er mit seinen Fingern damit, ließ sie dahin- und darübergleiten, manchmal musterte er sie einfach. Wie wertlos sie ihm erschien im Gegensatz zu seiner Zigarre.

Wertvoller mag einem immer das erscheinen, was man nicht besitzt.

Wenn er nur gewusst hätte, dass er mit dieser Münze fünf derselben Zigarren beim richtigen Anbieter hätte kaufen können …

Aber er war nur ein Junge – mit einer Matrosenmütze auf dem Kopf.

Was konnte er schon wissen?

Auf seinem Weg begegnete er einem alten Bettler, der dort bei der Kirche sein Plätzchen (sowie später vermutlich auch sein Grab) hatte. Ausdruckslos beäugten sie einander, der eine so im Dasitzen, der andere so im Vorübergehen.

Einer der beiden warf dem Anderen eine Silbermünze hin.

Da nimm, dachte derselbe, ohne je einen weiteren Gedanken an das silberne Tauschmittel zu verlieren. Die Geschichte war für ihn beendet.

Wien lag im Schatten seiner selbst. Die Sonne benetzte nur mehr die Gipfel der höchsten Gebäude mit ihrem dünnen Licht, alles darunter füllte sich langsam, aber stetig mit Dunkelheit.

Vorbei am einsamen Reiterdenkmal des Heldenplatzes, den ehemals so schönen Gärten und berühmten Museen, trieb es den Jungen in Richtung Schönbrunn, wo einst die Affen laut durch die Nächte geschrien hatten, anstelle deren Toben nun ein stummes Loch klaffte, das jegliche Geräusche in seiner Umgebung verschluckte.

Lediglich die eigenen Schritte folgten den Klängen der nächsten …

Zumindest zu Beginn. Denn irgendwann spuckte das schwarze Loch einen Schatten aus, in Gestalt eines Fremden, der auflauernd auf jemanden zu warten schien. Im Zwielicht vermochte der Junge mit der Matrosenmütze das Gesicht desselben nicht auszumachen; – aus Angst verlangsamte er stetig sein Tempo.

Irgendwann blieb er deswegen sogar stehen.

Die beiden Figuren betrachteten einander, jener stumm, jener gebannt. „Lassen Sie mich in Ruhe“, sprach der Junge zögerlich, doch mutig.

Der Fremde lächelte.

Daraufhin wich der Junge ein Stück zurück. Wohin konnte dieser Tag noch führen? Der Fremde antwortete mit einer entgegenkommenden Bewegung, wobei er etwas an der Wand entlangschabte – kurz durchzuckten Funken die Finsternis! – und dasselbe Etwas fing wie durch Zauberhand an zu rauchen.

Es handelte sich um eine Zigarre.

Der Fremde hatte sie sich tatsächlich ohne Streichhölzer entzündet. Genüsslich paffte dieser nun, blies eine große Rauchschwade in die Richtung des Jungen mit der Matrosenmütze, schmunzelte.

„Genuss“, sprach der Fremde leidenschaftlich. Dem Akzent nach war er ein Russe. „Das ist Genuss“, wiederholte derselbe und demonstrierte vielsagend die rauchende Zigarre als wäre sie ein Schatz. Es folgten ein weiterer Zug, Rauch – der Fremde hob ab, um zwischen fernen Sphären zu schweben – ein gelassenes Lächeln  …

„Probiere einen Zug!“, bot er dem Jungen mit der Matrosenmütze an: „Hier, Bursche, nimm!“, versuchte er: „Nimm und lerne“, und der Bursche nahm.

Unsicher hielt er sie in den Händen. Seine Finger schienen auch zu klein für das große rauchende … Ding. Irgendwie roch sie komisch. Der Junge verzog das Gesicht und der Russe musste lachen. Daraufhin nahm sich der Junge mit der Matrosenmütze zusammen.

„Kein Genuss für kleinen Mann?“, fragte noch der Russe, als der kleine Mann die Zigarre ansetzte und tatsächlich an dem rauchenden Rohr zog, bis ihm die Ohren rot wurden.

Der Russe verstummte – der Junge hustete und prustete.

Trotzdem zog er ein zweites und drittes Mal an dem rauchenden Ding. Fürsorglich klopfte ihm der Russe währenddessen auf den Rücken, als gelte es hier etwas Wichtiges zu gewinnen oder zu beweisen.

Insgesamt betrachtet waren es aber nur ein Russe und ein Junge mit einer Matrosenmütze auf dem Kopf, rauchend im nächtlichen Wien; ähnlich einer väterlichen Szene in etwa.

Hätte sie jemand gesehen, hätte man sich vielleicht gewundert. Vielleicht wäre man aber auch einfach nur an ihnen vorbeigegangen, sie keines zweiten Blickes würdigend.

Wer weiß das schon?

Es ging ja niemand vorbei.

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 15111

Der Wehrmann

Nun ist man endlich neunzehn geworden und hat die Schnauze von Schule und Elternhaus so ziemlich voll. Sich freiwillig zum Heer zu melden, scheint zu diesem Zeitpunkt die einzige, zwar nicht attraktivste, doch immerhin realistischste Methode, um sich der Umklammerung durch diese Instanzen zu entziehen, und weil man ja doch irgendwann einmal dorthin muss. Der Herr Vater ist erstaunt jedoch machtlos gegen diesen Entschluss, sollte man doch vorher das Gymnasium beenden. Schließlich aber wird man in den Zug gesetzt, der einen in Richtung Kaserne befördern soll.
Nun also ist der Tag gekommen, an dem man plötzlich Wehrmann ist. In gewissem Sinne war man eigentlich immer schon Wehrmann, denn man hatte sich stets gegen alles erfolgreich gewehrt, was mit Frühaufstehen, Disziplin und geregeltem Tagesablauf in Verbindung zu bringen war, doch diesmal liegt der Fall anders. Es scheint Kalkül dahinter.

Da stehen sie nun herum. Ein wilder Haufen junger Männer, aus allen Gegenden des Landes. Eine Kaserne weit außerhalb der Zivilisation. Auf Dächern langgezogener Gebäude sind große rote Kreuze in weißen runden Feldern auf Dachziegel gemalt. Ein Wachtmeister, komischer Vogel, mit schiefem Lächeln und wenig Grips unter der Mütze, kommandiert: ab zur Kleiderkammer. Die Ärmel sind zu lang. Hände abbiegen. Passt! Man kriegt vom Hemd bis zu den Schuhen alles, und alles ist zu groß. Strapazschuhe, Lauflernschuhe genannt, Schaftstiefel. Warten. Mittagessen. Warten.
Eines der Hauptvokabeln ist -mäßig. Es heißt gefechtsmäßig, vorschriftsmäßig.

Am Nachmittag geht´s hinaus in den Hof, zum Exerzieren. Das ist wichtig, denn bisher konnte man ja kaum richtig gehen, wird erklärt. Davor aber Grüßen lernen. Die Hand an die Schirmmütze, Füße zusammen. Einer fragt, bitte die Hand tangential an die Schirmkante anlegen? Der Vogel versteht nicht. Was soll das heißen, tangential? Ist wohl ein Mathematiker darunter? Dann: Habt Acht! Vergatterung! Was wird gewollt? Ach so, man bildet vier Reihen, jede Reihe ist ein Glied. Gelächter. Ruh im Glied, schreit der Vogel. Dann setzt sich der Zug, die vier Reihen sind also ein Zug, in Bewegung. Im Schriiiiiitt! Das Ganze links, a links a links zwo drei vier, kräht der Wachtmeister. Rechts. Richtung geradeaus. Dann halbrechts. Die vier an der vordersten Reihe biegen sofort ab, in die Rosensträucher am Grünstreifen. Idioten, brüllt der Vogel, erst dort vorne, an der Wegbiegung! Wer soll das wissen? Also rückwärts Marsch. Die Gruppe setzt zurück, schwerfällig wie ein Lkw. Wachtmeister Vogel ist schon über vierzig und hat drei silberne Plastiksterne und einen Balken am Revers und ist schon oft degradiert worden, weil er so schlampig ist. In der Kantine grüßen ihn die jungen Korporäle mit guten Morgen, Herr Hauptmann. Dann wird er grantig, der Vogel. Aber einer der Korporäle entschuldigt sich und sagt, Verzeihung, die Sonne, ich hab geglaubt, es sind drei goldene, und alle lachen. Vogel wird rot und brüllt, halten S‘ Ihr Maul.

Die Tage vergehen. Immer derselbe Trott. Man hat Glück und wird nicht Mannschafts-Vieh, sondern Kompanieschreiber. Das ist sehr praktisch, denn es erspart einem das Mitmachen bei Nachtübungen und sonstige Schikanen. Der Spieß, Offizier-Stellvertreter Bindl, ist ein rauer Bursche, aber in der Schreibstube relativ zahm. Immer in Uniform fällt man nicht besonders auf. Bis man eines Tages beim Ausgang gesehen wird, mit Wollmütze und Dufflecoat, Jeans in braunen Lederstiefeln. Sie seh‘n ja aus wie ein Kanak‘, ruft der Spieß hinterher. Beim Morgenappell stellt er sich breitbeinig vor die stramm stehende Kompanie und brüllt: Noch was, ich war gestern auf Ihrem Scheißhaus brunzen. Dort schaut es aus wie in einem Bauernscheißhaus. Da gibt es offenbar sogenannte Kunstscheißer. Die scheißen nicht in die Schüssel, sondern auf die Wand. Gelächter. Maulhalten! So also ist das bei der Armee.

Da ist noch der Kompaniekommandant, der Hauptmann Himmelhund, weil er die Truppe immer mit „Himmelhunde“ begrüßt. Sonderbarer Mensch. Immer in Schaftstiefeln, Hände auf dem Rücken, die Mannschaft musternd. Einer hinterm anderen. Decken Sie Ihren Vordermann, heißt es. Sonst ist er recht wortkarg. Er hat aber etwas Überhebliches in seinen Augen. Sieht auf seine Unteroffiziere von oben herab.
Seit Wochen ist Verbandslehre angesagt. Sanitäter müssen üben und nochmals üben, sagt er. In einem der Lehrsäle wird soeben ein Gerät zum Wasserfiltern zusammengebaut. Zwischendurch kontrolliert der Himmelhund immer wieder den Fortschritt der einzelnen Gruppen. Kaum ist der Wasserfilter betriebsbereit, inspiziert der Himmelhund auch schon die Wasserqualität. Herschaun!, sagt er. Den Mistkübel her, Aschenbecher auch! Er leert alles in den Trichter über dem Gerät. Einschalten, sagt er barsch zu einem Ausbildner. Sehen Sie, und hält das Glas gegen das Licht, ganz klar, obwohl es trüb zu sein scheint. Er trinkt und spuckt das Wasser sofort wieder aus. Verdammt! Himmelhunde! Man hat vergessen, die Filter einzubauen. Der Ausbildner kann sich was anhören.

Die Zimmerbelegschaft ist akzeptabel. Sogar ein Schulkollege aus dem eigenen Ort ist dabei. Franz. Franz hält es nicht so genau mit seinem Spind. Spindkontrolle. Jeder muss sich davor hinstellen und sagen: Das ist der Spind des Wehrmannes soundso. Ihr Nachthemd, sagt der Unteroffizier zu Franz, das müssen Sie nachteeren, da kommt das Weiße durch. In den Laden liegen geöffnete Konservendosen herum. Ein paar weiße Maden kriechen auf dem Blechrand. Das gibt ein Nachspiel. Wochenende gestrichen. Spind in Ordnung bringen. Aber Franz ist ein guter Mensch. Als man sturzbetrunken aus dem Bett fällt, trägt er einen auf Händen zur Toilette, zum Übergeben. Das macht ihn unvergesslich.

Ein anderer ist beinahe dreißig, Anthroposoph oder so ähnlich, hat ein Doktorat. Erwin. Er ist schon verheiratet und darf zu Hause schlafen. Man beneidet ihn. Erwin wird zum ständigen persönlichen Begleiter im Lehrsaal, wegen des Schreibstubendienstes jedoch selten auf dem Felde, oder zumindest nur bei wichtigen Übungen, bei denen jeder dabei sein muss, auch der Kompanieschreiber. Erwin erklärt einem die Welt neu. Schließlich ist man auf dem Lande groß geworden. Erwin ist bei einer schlagenden Studentenverbindung. Er hat eine Narbe über dem Auge. Das ist ein Schmiss, sagt er, und erzählt den staunenden Zimmergenossen, wie das so ist, bei einem Degenkampf.
In den Lehrsaal geht man in Lehrsaaladjustierung, lehrsaalmäßig, das heißt, ohne Krawatte.
Beim Gefechtsdienst trägt man Krawatte. So einfach ist das. Hin und wieder macht man Dienst mit der Waffe. Die Waffe hat stets eingeölt zu sein, wird einem eingeimpft. Neben dem Lehrsaal ist eine Kantine. In den Pausen trinkt man weißen Spritzer. Erwin hebt sein Glas und ruft, streng nach Vorschrift, leicht einölen. Gegen Mittag sind alle betrunken. Die Stimmung ist gut. Der Ausbildner wirft, um Zeit zu sparen, jedem Rekruten eine Rolle Verbandsmull zu, bis hinten in die letzte Reihe, für das Üben von Übungsverbänden. Man übt Kornähren. Am Bein, an der Hand, am Arm. Mit dem Dreieckstuch macht man sich Kopftücher.
Die Stimmung wird nach jeder Pause ausgelassener. Leicht einölen! Jawoll, gefechtsmäßig einölen!, grinst man sich an. Am Ende der Stunde werden die Faschen wieder eingesammelt. Alle werfen die Rollen nach vorne, die sich während des Fluges in der Luft von alleine entrollen und ineinander verheddern. Tobendes Gelächter. Der Lehrsaal sieht aus wie im Fasching. Der Ausbildner ist machtlos, brüllt etwas von ordentlich aufrollen, aber niemand kümmert sich darum. Übermütige werfen noch zusätzlich aufgehobenes Verbandszeug nach vorn, um das Spektakel noch zu steigern.

Manchmal bleibt einem der Gefechtsdienst trotz Schreibstubendienst nicht erspart. Das bedeutet, hinaus in die Kälte. Es ist der dreißigste November neunzehnhundertdreiundsiebzig. Raureif hat das Gras weiß eingesponnen. Es ist kalt. Als Kind kriegt man einen warmen Schal umgebunden.

Es gibt einen dicken Vizeleutnant, Hornig, der ist für das Leben im Felde zuständig. Die Uniformen haben allesamt goldene Knöpfe, fein ziseliert. Auch die der Rekruten. Und es gibt viele dran. Unsichtbar machen, kommandiert Hornig. Das heißt, die Knöpfe mit Erde beschmieren, damit sich nicht mehr glänzen und blinken und dem Feind verraten, wo man sich befindet. Hinterher kriegt man die nie mehr sauber, auch nicht mit einer Bürste. In den feinen Vertiefungen der Strukturen hält sich der Dreck besonders gut. Das kann den Urlaubsschein kosten, wenn die Uniform schmutzig ist.
Hornig befiehlt Liegestützen, wenn man etwas falsch gemacht hat oder seine Waffe nicht mehr richtig zusammenbauen kann. Dann schreit er, machen Sie zwanzig Liegestütze. Und während man Liegestütze macht, schreit er, und ficken Sie nicht das Mauseloch. Man darf aber nicht lachen, sonst muss man zehn mehr machen. Hornig erklärt auch den Schuhputz und belehrt einen, dass Schuhe ausschließlich dazu da sind, um geputzt zu werden.

Zwischen den einzelnen Tagesbefehlen liegen immer wieder Wartezeiten. Warten gehört dazu. Im Felde spielt man Ernstfall. Plastikwunden, sogenannte Mullagen werden umgebunden und die scheinbar Verletzten im Gelände liegend verteilt. Schockgesicht, offener Beinbruch, Darmaustritt. Die Verletzten müssen um Hilfe rufen. Alle lachen dabei. Man muss die Verwundeten aufspüren und erstversorgen. Dann kommt der Bergepanzer, rollt über Sanitäter und Verletzten drüber, wobei der Verletzte von der Sanitätsmannschaft durch ein enges Loch ins Innere des Panzers gezogen wird. Es ist ratsam, sich recht schlank zu machen, um nicht unter die Ketten des Fahrzeugs zu kommen.
Manche haben schon irgendwie Angst, wenn das Riesending so ratternd und fauchend und donnernd über einen drüberfährt. Man übt auch das Laufen und gebückte Laufen in Deckung mit Verwundeten durch Tragbahren. Einmal kriegt man einen besonders dicken draufgelegt. Sprung, vorwärts, decken, mit dem Fettwanst drauf! Aber der wird schon nach kurzer Zeit wieder abgeworfen, wenn es der Ausbildner nicht sieht, indem man die Bahre flugs umdreht. Da ist er auch schon unten. Und der Dicke tut gut daran, bis zum Sammelplatz gefälligst zu Fuß zu gehen, wenn er mit der Tragemannschaft nach Dienstschluss keine Probleme haben will.
Biwakieren ist eine eisige Angelegenheit mit einem Zeltblatt, aus dem die Beine ragen und einer einzigen Wolldecke, die obendrein noch unangenehm riecht. Die Bohnen in der Dose wollen über dem Spirituswürfel nicht so richtig warm werden, also isst man sie kalt. Das hat Folgen und man macht die ganze Nacht kein Auge zu wegen der Blähungen, auch der Schreiber der Kompanie nicht, denn einen Gefechtsdienst muss auch dieser mitgemacht haben.

Am Abend wird in den Zimmern Karten gespielt und getrunken. Unter dem Stockbett wachen jeden Morgen unterschiedliche Kameraden auf. Unter ihnen ist auch einer, der später ein bekannter Kabarettist werden sollte. Er ist Kroate und mächtig stolz drauf. Und der auch nach dem Heer sehr human wurde. Aber zu dieser Zeit ist er noch nicht besonders human, denn er stößt, betrunken, wie immer, einen Rekruten mit deutschem Akzent mit seinem Stiefel vor die Brust über die Treppen der Kleiderkammer, weil ihm nicht gefällt, wie er spricht und sagt dabei, Spatzi, wos wüst? Wenn er unter dem Bett hervorkriecht, nachdem Tagwache gerufen worden war, ist er zur Gänze voller Lurch. Das erspart das Aufkehren an dieser Stelle des Zimmers. Er zündet sich sofort eine Gauloise an und sagt dann: Spatzi, gibt mir einen Schluck von der Flasche dort. Auf dem Tisch steht ein Doppelliter Wein vom Vorabend, den die Zimmerkollegen nicht ganz ausgetrunken haben.
Überhaupt setzt sich das Wort Spatzi innerhalb der Truppe in dieser Zeit stark durch. Vom kleinen Tischchen des diensthabenden Korporals vom Tag, draußen am Flur, dringt laut „Satisfaction“ bis in die Zimmer, bis der Spieß kommt und fragt, ob man deppert ist oder derisch. Das Radio wird abgedreht. Unter denen, die öfters unter fremden Betten aufwachen, ist auch ein Kandidat der Medizin. Er ist jeden Tag stockbetrunken. Er sagt auch Spatzi zu jedem und ist ein Freund des Kabarettisten. Er steht mit allen Ausbildnern und Unteroffizieren auf gutem Fuß und trinkt mit ihnen. Er darf auch den Kurs für die Instrumentenkunde leiten, selbstverständlich betrunken, für das chirurgische Besteck und so. Nichts deutet darauf hin, dass er kein Antimilitarist ist. Als „Beinahe-Arzt“ haben sie ordentlich Respekt vor ihm, und nicht nur, weil er so viel Alkohol verträgt. Jahre später wird er Kompaniekommandant in derselben Kaserne und Primararzt.

Acht Wochen sind vergangen. Schließlich hat man auch die Prüfung zum Sanitätsgehilfen bestanden und damit die Ausbildung beendet. Alle anderen werden verschiedenen Kasernen als Sanitäter zugewiesen. Selbst ist man dem Ministerium zugeteilt worden und muss per Straßenbahn, mit Rucksack, Stahlhelm und Sturmgewehr den Standort wechseln. Mittlerweile ist es Winter und bitterkalt draußen. Der Mantel ist zu lange, die Schultern zu breit, der Rucksack zu schwer. Da reißt ein Riemen und der Stahlhelm kollert durch das Innere der Straßenbahn. Ein Bild, erbarmungswürdig. Die Leute in der Straßenbahn lächeln. Weihnachten ist man nur für drei Tage bei der Familie. Es ist besser so, damit die alten Wunden nicht wieder aufbrechen. Es gibt nicht viel zu erzählen. Wie es eben so ist, hält man sich bedeckt. Es kann einem ja doch niemand helfen. Da muss man durch. Man hätte es ja so gewollt, also was soll´s?

Nun wohnt man in einer Blechbaracke einer Kaserne in der Stadt. Keine Isolierung. Das Fenster ist außen ebenso vereist wie innen. Der Boden asphaltiert. Man hat ständig kalte Füße und Schnupfen. Luftschutztruppenschule heißt es dort. Der Rekrut am Telefon meldet sich mit Lustschutztruppenschule und lächelt dabei vielsagend. Versteht sowie keiner. Am Tage der Umsiedelung wird in der neuen Kaserne soeben der alte Kommandant verabschiedet. Es hat gefroren in der Nacht. Die beiden Offiziere stehen sich gegenüber, der alte und der neue. Sie gehen im Stechschritt aufeinander zu. Da gerät der Alte auf eine Eisplatte, als er jäh zu stehen kommt, rutscht er darauf aus und fällt in Slapstickmanier auf den Hintern. Das Gelächter von vier Kompanien erschallt über den Kasernenhof. Ruuuuhäääää!, brüllt ein Offizier. Allleeee Urlaubsscheine sind ab sofort gestricheeen! Scheiße! Das ist also der erste Tag hier.

In der Blechbaracke ist eine kleine Kompanie untergebracht, bestehend aus Akademikern im vorderen Teil und Kraftfahrern im rückwärtigen. Warum man hier sei, als Schüler noch dazu, man hat doch einen Onkel irgendwo, man könne es ruhig sagen? Also ausschließlich was für Privilegierte. Wieder Glück gehabt. Und man hat keinen Onkel. Man hat niemanden. Vielleicht Vater und Mutter, weit weg. Der Kompaniekommandant ist ein Oberstleutnant und er hasst Männer, weil sie hässlich seien, sagt er, im Gegensatz zu den Frauen, sagt er. Sein unmittelbarer Unteroffizier, Wedlhammer, ist ein selbstbewusster Mann, der seinem Vorgesetzten immer gerne widerspricht und die Jungmänner vor ihm in Schutz nimmt. Der Oberstleutnant wurde im Weltkrieg wegen besonderer Eignung zum Offizier ernannt. Das kennt man schon. Und seine Haut im Gesicht ist tiefrot und er hat einen Goldzahn vorne.

Der Dienst im Ministerium ist leicht. Es wird erwartet, dass man ein paar Formulare ausfüllt, Krankmeldungen erkrankter Rekruten ordnet, hin und wieder eine Kopfwehtablette in ein Zimmer bringt und manchmal in die Kopierstelle nach unten fährt, um etwas abzuholen oder kopieren zu lassen. Es gibt einen Lift, einen Paternoster, in den man auf allen Ebenen ein- und aussteigen kann, während sich das Ding ohne stehenzubleiben auf der einen Seite hinauf- und der anderen Seite hinunterbewegt. Das ist sehr unterhaltsam.
Man liebt diese Wege, bei denen man ihn benutzen kann. Einmal vergisst man, rechtzeitig im Obergeschoß auszusteigen und kriegt Angst, weil es unters Dach geht, wo die Seile und Rollen sind und alles knarrt und knattert. Aber es passiert nichts und man kommt nach der Umrundung wohlbehalten wieder unterhalb an. Im Zimmer sitzen ein Amtsrat, Herr Asteck und ein C–Beamter für die Schreibdienste, Herr Weber. Herr Asteck und Herr Weber mögen einander nicht. Asteck deckt Weber immer auf, weil er trinkt und viele Rechtschreibfehler in seinen Schreibarbeiten hat und so viel Unsinn redet. Weber mag Asteck nicht, weil der immer alles weiß und ihn immer wegen seiner Fehler überführt, auch wenn er sie geschickt zu überspielen versucht.
Weber geht viertelstündlich auf die Toilette. Asteck verrät, Weber hätte einen Doppler in der Klospüle, aus dem er immer trinkt. Und Weber hat eine blauviolette zerfurchte riesige Nase. Das kommt vom Saufen, sagt Asteck. Oft ist nichts zu tun. Asteck steckt sich eine Flirt an, legt die Ellenbogen auf seinen Schreibtisch und beginnt dann immer, Weber zu verhören. Na, Herr Weber, waren wir wieder beim Heurigen am Wochenende? Selbstverständlich, Herr Asteck, sagt Weber dann. Was haben Sie denn gegessen, fragt Asteck und Weber sagt, eine Stelze, wie immer, Herr Asteck. Und dazu haben Sie eine Flasche Wein getrunken, richtig?, bohrt Asteck. Selbstverständlich, sogar zwei, sagt Weber dann stolz. Seh´n Sie, wendet sich Asteck dann an den Rekruten, wie gut es dem geht, und lacht.
Nächstes Jahr fahren wir in die Cämpän, sagt Weber. Wohin?, lacht Weber und sagt, das heißt doch Campagne, nicht wahr, zum Rekruten. Man sagt besser nichts dazu. Dann entfacht sich ein Streit zwischen Asteck und Weber wegen der Aussprache der Cämpän. Kurze Zeit später fährt Weber mit dem Paternoster hinunter in den dritten Stock, wo die Kantine ist. Er geht an die Bar, hebt den Zeigefinger, kriegt automatisch ein Viertel Rot, und während er eine Zigarette raucht, trinkt er das Glas mit drei Schlucken aus. Hernach begibt er sich wieder in die Kanzlei nach oben. Ist dann wieder nichts zu tun, sieht Astecker Weber längere Zeit spöttisch an und fragt: Na, Weberin, was gibt´s Neues? Dann wird Herr Weber wild und sagt: Sagen Sie nicht Weberin zu mir, wenn ich bitten darf, nicht vor dem jungen Mann da.

Im übernächsten Zimmer sitzt ein Oberstarzt mit einem Glasauge. Er raucht ununterbrochen. Wenn man in sein Zimmer gerufen wird, sieht man ihn oft nicht wegen des Rauchs. Er bietet einem einen Platz an und erzählt von seiner Jugend und vom Krieg, und dass er in einem Straflager mit Sträflingen in einem Steinbruch war, in dem er vor Schwäche beinahe gestorben wäre. Nur einer der Sträflinge hat ihn über die Runden gebracht, sonst säße er heute nicht hier. Einmal wird man wieder in sein Zimmer gerufen, um ihm einen Krankenakt eines Rekruten zu bringen. Machen Sie sich nichts draus, sagt der Oberst und bläst den Rauch seiner Zigarette vor sich her, ich hab‘ einen fahren lassen.

Im anderen Nebenzimmer sitzt der General-Arzt, Astecks und Webers unmittelbarer Vorgesetzter. Er ist jüngst zum Heeressanitätschef ernannt worden. Asteck hat ihn sofort nach Bekanntwerden der neuen Beförderung mit dem neuen Titel angesprochen. Der aber hat abgewehrt und gesagt, er mache sich da nichts daraus. Sekunden später läutet das Telefon beim General. Er hebt ab und schreit in den Hörer, Heeressanitätschef Generalarzt Doktor Britt.

Gegen siebzehn Uhr ist der Dienst beendet und man fährt mit der Bim wieder in die Kaserne. Dort gibt es die abendliche Standeskontrolle, und danach hat man Ausgang. Die Kraftfahrer machen immer wieder allerlei Unsinn, zerschlagen betrunken Sessel und Tische oder bleiben die Nacht über weg. Der Oberstleutnant will dafür alle bestrafen, auch die Rekruten aus der Akademikertruppe und kündigt für Freitagabend eine Nachtübung für alle an. Aber wirklich nicht, widerspricht ihm Wedlhammer, da kennan S‘ allanich hingehn! Die Truppe lacht. Der Oberstleutnant wird rot, flucht und nimmt Wedlhammer beiseite. Aber wenn der nicht will, geht gar nichts. Also belässt man es bei einer Bestrafung der tatsächlichen Übeltäter, womit schlussendlich der Gerechtigkeit Genüge getan wird.

Und dann ist es endlich März geworden und mit diesem Monat ist man Abrüster. Aaaaabrüsten hört man schon am frühen Morgen durch die Gänge der Baracke hallen und auf dem Flur hört man Tina Turner aus dem Kasettenrecorder mit Natbush City Limits und I´m free von den Who, und man schmiedet Pläne, was denn nach dem Militärdienst jetzt nun eigentlich werden soll.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 15131

Irrenhaus in Hinterwald – Teil 1

Der Werwolf

Und es begab sich, in irgendeinem Ort, irgendwo, vor nicht allzu langer Zeit, trockengelegt und „zuasphaltiert“, wie alle Orte im Zeitalter des Wirtschaftswunders. Eine Hauptschule, wie überall. Und doch nicht wie überall. Nein, wohl einzigartig. Fünfundzwanzig Knaben, in irgendeinem Klassenzimmer. Man schreibt das Jahr 1965. Mathematikunterricht. Kreidestaub liegt in der Luft. Ein hölzernes Dreieck am Katheder. Der Werwolf steht hinter einem Schüler. Eine Textaufgabe. Warum kannst du das nicht, du Trottel? Der Knabe zuckt mit den Schultern. Ja, ich weiß eh, weils d‘ blöd bist! Zack! Eine Ohrfeige. Der Knabe beginnt zu weinen. Was? Plärren auch noch? Doppelte Watschn. Eine sogenannte Hauswatschn, wie sie der Werwolf immer nennt.
Der Werwolf ist der Direktor. Der Knabe weint noch lauter als zuvor. Raus auf den Gang, dort störst niemanden, kommandiert der Werwolf. Der Knabe geht laut schluchzend vor die Tür. Der Werwolf beugt sich über einen anderen Schüler. Er kontrolliert die Rechnungen in seinem Heft. Der Lehrer stinkt aus dem Mund. Sein Sakko riecht stark nach Zigarettenrauch. Er hat gelbe Zähne. Die, die nicht gelb sind, glänzen silbern. Sie blinken, wenn er sein breites Maul öffnet. Beim Sprechen zieht sein Speichel vom Unter- zum Oberkiefer weiße Fäden. Ab und zu verzerrt er sein Gesicht zu einer Grimasse. Er verrenkt sich den Hals. Tut, als wäre ihm der Hemdkragen samt Krawatte zu eng. Dabei verschiebt er den Unterkiefer stark nach links. Mehrmals hintereinander. Immer dann, wenn er sich ärgert. Und er ärgert sich immer. Er ist sehr nervös.
Die Verrenkungen werden häufiger. Einer der Knaben schwitzt stark. Hör auf zu schwitzen, Schwitzerter!, befiehlt der Werwolf. Ein anderer will den Vorhang zuziehen, weil ihn die Sonne blendet. Lass den Vorhang in Ruh, Depperter, sei froh, dass dich die Sonn´ anscheint. Wenn s‘ dich nimmer anscheint, schaust du dir ohnehin die Erdäpfel von unten an. Er lacht als Einziger über seine eigenen Worte.
Dann sagt er, sich einem anderen Schüler zuwendend: Wenn du das nicht kapierst, du Trottel, dann wird´s nix mit´n Gymnasium. Sonderschul´ kannst gehn, wauns die nehman, Depperter. Dazu lacht er und erwartet, dass die Klasse mitlacht. Seine Silberzähne blinken im Sonnenlicht.

 

Das Frontschwein

Englischunterricht. Er war an der Afrikafront unter Rommel. Er hat einen fetten Hintern und einen feisten Wanst. Seine Zähne haben einen ausgeprägten Vorbiss. Die Augen quellen stark hervor. Sein kurzer Haarschnitt macht ihn einem Gorilla ähnlich. Sein Kopf zeigt entlang der Schläfen zwanzig Jahre nach dem Weltkrieg immer noch die Spuren des Stahlhelms, wo dieser aufgesessen ist. Er hält zwei Vierziger-Lineale in der Hand.
Einer der Knaben kann die Vokabeln nicht. Neunzig Grad, brüllt der Veteran. Der Knabe muss sich über eine Schulbank in der ersten Reihe bücken. Der Englischlehrer legt beide Lineale übereinander und schlägt damit zwanzig Mal auf des Knaben Gesäß. Der Knabe wird rot im Gesicht. Kurz darauf beginnt er zu brüllen. Die Klasse sieht versteinert zu. Die Schüler atmen nicht. Erst wieder, als alles vorbei ist. Keiner möchte der Nächste sein.
Der Englischlehrer erzählt zum x-ten Mal denselben Witz. Ein Mann wird beschuldigt, einem anderen ein blaues Auge geschlagen zu haben. Der Beschuldigte beteuert, jener sei ihm in die Faust gelaufen. Die Klasse lacht. Weil sie muss.

 

Der Hunne

Physikstunde. Man kann ihn nicht so recht verstehen, den Hunnen. Er ist nicht von hier. Jemand macht leise mimimimimi. Von den hinteren Bänken hört man Lachen. Der Hunne springt von seinem Sessel auf. Kommst ausse, Bärschl!, schreit er. Soll heißen, Bursche, komm heraus. Eöööh, macht der Hunne, Bärschl, kumm aussssi! Der Hunne schnellt seinen Kopf in den Nacken und fistelt etwas mit hoher Stimme. Er zieht die Luft durch seine spitz gemachten Lippen, so als wolle er heiße Suppe schlürfen. Aber es soll bloß sein Entsetzen signalisieren, dass einer der Knaben es wagt, seine Autorität zu untergraben. Er hat eine Glatze und das Sakko spannt über seinem Bauch. Mimimimimi?, macht er, wööör waaagt es, den Löhrer zu beleidigen? Sein Kopf fällt abermals in den Nacken, er verdreht die Augen. Er läuft auf einen Schüler zu und packt ihn am Kragen. Mit hoher Stimme, wie ein Dummerl, auf Kindergartenmanier: Hast du es gewagt, hörst, den Lehrer nachzumachen?, fragt er den Erschrockenen. Wieder im hohen Fistelton und diesmal ganz schnell: Ist es erlaubt, den Lehrer nachzumachen? Ist es erlaubt? Immer wieder: Ist es erlaubt, den Lehrer nachzumachen? Öööööööööiiiiiiiiiiii? Haucht: Den Leeehhhhrer naaachzumachen? Sein Kiefer klappt dabei auf und zu wie bei einem Krokodil. Ist es gestattet, fügt er nahezu beamtisch hinzu, ganz schnell, überdeutlich artikulierend.
Der Junge wird rot. Nein, stottert der, nein. Der Hunne zieht den Knaben am Ohr, so lange bis der schreit. Eine Ohrfeige folgt. Dann noch eine. Eine dritte. Mimimimi, der Hunne diminuiert in den höchsten Tönen. Wagst du es, hörst, den Leeeehhhrer nachzumachen? Ganz schnell und stolpernd: Wagst du es, den Lehrer nachzumachen? Nein, stottert der Junge. Dann leise, ganz sanft im Ton, belehrend: genau. Niemandem ist es gestattet, den Leeeehrer nachzumachen. Lippen spitz, Kopf nach hinten geworfen. Ihn zu verspotten! Flüstert: ihn lächerlich zu machen. Noch leiser, singend: ihn vor allen zum Gespött zu machen. Eöööööh!, verhallt es.
Dann, ganz plötzlich, brüllt er: Geh Platz! Platz! Sitz!
Es ist mucksmäuschenstill in der Klasse. Er selbst aber setzt sich bedächtig auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch. Dort blättert er in seinen Lehrbüchern und beginnt nach einer kleinen Pause andachtsvoll, Kusslippen: Füüüüsiiiiik – meine Herren, ist eine ernsthafte Wissenschaft. Er hat den Kopf wieder ganz nach hinten gelegt. Dann, wie der Priester in der Kirche, salbungsvoll, oder als wolle er die Klasse vorm Dummsein erlösen: Ich zeige euch heute einen Versuch, nach dem Hitze einen Körper auuuuuuuusdeeeehhhnt. Haucht: Uuuund, ihr werdet seh´n, was für ein Wuuuuunder der Natuuuuur geschieht. Er verzieht seinen Mund, beinahe abschätzig.
Die Klasse ist gelangweilt, sieht den Versuch schon zum zwanzigsten Mal. Es ist er einzige, den der Hunne zu bieten hat. Einer zeichnet Micky-Mouse-Figuren in sein Heft. Andere dösen vor sich hin.
Der Hunne nimmt einen Bunsenbrenner, hält eine Eisenkugel, die an einer Kette hängt, kurz über die Flamme. In der anderen Hand hat er eine Stange mit einem eisernen Ring daran. Ehe er die Kugel noch mehr erwärmt, demonstriert er, wie die Kugel durch den Ring glatt hinein und wieder heraus geht. Er hält nun die Eisenkugel eine halbe Minute über die Flamme des Bunsenbrenners. Dann versucht er, sie durch das Loch des Eisenringes gleiten zu lassen. Erwartungsgemäß geht das nicht, das Metall hat sich durch die Hitze ausgedehnt. Die Kugel bleibt im Loch stecken.
Der Hunne tut, als wäre es das achte Weltwunder. Ääuuuu, ruft er, und verdreht seinen Mund, tut so, als wäre er selbst überrascht von seinem sogenannten Wunder der Natur und gebärdet sich, als hätte er den Versuch selbst entdeckt, beinahe so, als wolle er sich zu dieser Meisterleistung selber beglückwünschen.
Die Klasse lacht. Er runzelt die Stirn, wird hochrot und zornig. Du lochst?, schreit er den Erstbesten an. Du lochst, Bärschl? Locht den Lehrer aus? Eööööö, hörst! Lochst den Lehrer aus, der Bärschl? Der Kerl locht den Lehrer aus, flüstert er für sich, aber hörbar für alle. Wieder eine Ohrfeige, die knallt. Lautes Weinen. Der Knabe darf sich setzen.
Langsam beruhigt sich alles wieder. Der Hunne sieht siegessicher in die Runde. Er geht, die Hände hinterm Rücken verschränkt, in der Klasse auf und ab. Er bewegt seine Lippen, als ob er leise mit sich spräche. Keiner wagt sich zu bewegen. Da bleibt er stehen. Sieht jeden der Schüler ganz genau an. Dann fragt er plötzlich, was denn jeder einzelne zu werden gedenke. Maler. Maurer. Gärtner. Einer sagt, Arzt. Der Hunne flötet eööööh, Herr Doktor! Herr Doktooooor! Eöööööh! Sechchchchzehn Wissenschaften, zischt er mit breitem Mund, und er reißt beide Hände hoch in die Luft. Dann beginnt er, diese aufzuzählen, mit hoher Stimme, den Kopf im Nacken, gespitzten Lippen: Physiiiiiik! Chemiiiiee! Und jedes Mal wirft er seinen Kopf wieder und wieder in den Nacken und quiekt wie ein Schwein, Anatomiiiiiie! Dann macht er einen Katzenbuckel. Bärschl, sechchchzehn Wissenschaften! Dann ganz schnell, hoch und mit spitzen Lippen: Physiiiik, Chemiiiiiie, Füüüüsiologiiiiie, Anatomiiiii….

 

Der Boxer

Wenn er spricht, ist es, als grunze ein Seelöwe. Er kann kein r ohne das ch dabei zu bemühen sprechen und begnügt sich ganz hinten im Rachen mit einem kehligen ch, welches dem r ähnlich sein möchte. Stenografie soll es sein, was er unterrichtet. Eine Zusatzprüfung berechtigt ihn dazu. Er ruft einen Namen auf: Duuuu daaaa, kchommmmm herchchchcchaus, und fixiert den Schüler mit stechenden Augen, der gemeint ist. Na, kchomm, lauf, rasch, geh geh geh geh! Er lacht dabei, steht auf, geht in die Knie, lässt die Schultern tief hängen und wippt dabei mit den Beinen wie ein Affe, der nach einer Banane giert. So, als wolle er ihn anfeuern, rascher nach vorn zu kommen.
Dann beginnt er, mit übertriebener Lautstärke, einen seiner zahllosen Sätze, die nie vollendet werden.
Der Knabe stellt sich neben die Tafel. Der Boxer grunzt, es klingt, als müsste er sich übergeben: Heute wollen wia – a – heute wollen – a- wia – wia wollen heute – a- heute wollen – a- wia, (das r entfällt ohnehin) – über – die- a- heute sprchchechen wia über – Er mustert den Schüler von oben bis unten. Hm!, grunzt er. Setzen! Der Schüler geht wieder zu seiner Bank. Dann plötzlich: Duuuuu da! Da hinten! Kchommmm herchchchaus! Dann wieder sanft im Ton. Geh na her da! Kchomm kchomm! Lauf! Rchenn! Gehgehgehgheghe! Sagggge mir, was du gelerchnt hast. Er legt den Kopf schief. Der Schüler ist verschüchtert. Schreib! Schreib auf! Lacht, chachacha.
Der Boxer liest einen Satz aus dem Lehrbuch. Der Junge nimmt ein Stück Kreide und versucht, das Diktierte stenografisch auf die Tafel zu bringen. Die Narchchchen sind jene, die anderche nicht aussprchchechen lassen. Da ist ein Kürchzel! Der Knabe zögert. Weiß ea nicht! Setzen! Pintsch! Pintsch heißt Nichtgenügend.
Der Schüler begibt sich wieder in seine Bank. Der Boxer steht vor einem Schüler. Er schnellt seine geballte Faust bis kurz vor dessen Brust und macht mit der Hand dabei eine Drehbewegung. Wenn dich dea getrchoffen hätt´, hmhmhm, lacht er. Was ist ein Hendiadyoin, fragt er einmal, wobei das oin ungefähr so klingt: oooooiiiiiiihn. Ein Schüler antwortet, ohne zu zögern: eine Legehenne. Die Klasse lacht. Es ist ein Hilfsausdrchuck, du blödes Rchhinozerchos, grunzt der Boxer. Hättest du geschwiegen, brummt er, wäarchst du Philosoph geblieben, so aber bist du nur (das r gurgelt irgendwo hinten in der Kehle) ein archmer Narrchch! Die Klasse bleibt stumm.

 

Der Blumendoktor

Naturgeschichte. Heute sagt man Biologie dazu. Einer der Knaben steht an der Türe und hält Wache. Er kommt, ruft er. Ein anderer stellt den Papierkorb auf die andere Seite des Waschbeckens. Der Blumendoktor kommt rauchend den Gang entlang. Alle glauben, er wäre neunzig, so alt und vergilbt sieht er aus. Er ist aber erst fünfundfünfzig. Wenn er die Klasse betritt, macht er eine Drehbewegung in Zeitlupe und wirft er die Kippe in den Papierkorb. Immer dasselbe Ritual. Diesmal wirft er daneben, der Papierkorb steht auf der anderen Seite. Er verzieht seinen ausgetrockneten Mund hühnerpopoartig zu einem runzelig runden Ding und sagt trocken: Heb das auf! Ein Knabe springt hinzu und hebt den Zigarettenstummel auf, wirft ihn in den Papierkorb.
Der eigentliche Unterricht beginnt immer erst dann, nachdem der Blumendoktor die stinkenden Pelargonien an den vier Fenstern entlaust, gegossen und die dürren Blätter entfernt hat. Meist dauert die Prozedur eine halbe Stunde. Dann wird gedüngt. Wenn einer der Knaben etwas nicht weiß, wenn ihn der Blumendoktor etwas fragt, verzieht dieser seinen Mund zu einem Grinsen und trägt, mit verzerrter Miene, eine Fünf in sein kleines grünes Notizbuch ein. Erwischt er einen beim Schwätzen, setzt es eine ordentliche Ohrfeige. Auch zieht er die Knaben an den kurzen Haaren an der Schläfe hoch, so lange, bis sie laut zu schreien beginnen. Dann macht er wie immer seinen Hühnerarschmund und lächelt zufrieden. Die Erziehung scheint wieder einmal gelungen.

 

Der Lord Major

Geschichte. Er ist ein großer, schwerer, dicker Mann in einem Salz- und Pfeffer-Anzug. Das ist sehr modern. Er trägt immer Anzug und läuft manchmal aus der Klasse, wenn ihn der Schulwart zum Telefon holt. Er ist der Lord Major und ungemein wichtig. Oft fällt die Stunde wegen dringender Erledigungen ganz aus. Geschichte ist ein sehr wichtiges Fach.
Der Lord Major duftet immer nach Parfüm. Er erklärt den staunenden Schülern, warum man in diesem Land das Heer brauche. Nämlich tann, (und er sagt immer hartes t, dort, wo ein weiches steht, wenn er etwas Wichtiges zu sagen hat). Tann näähmmlich, (sic!) (auch die Ems werden verdoppelt) sagt er, wenn ein Fluckzeuck über Össterreich (sic!) flickt, (seine Ges sind immer Kas) (eben dann, wenn er etwas Wichtiges zu sagen hat) und eine Pompe fallen lässt, tann müssen wirr (sic!) uns verteiticken. Tazu prauchen wir tass Puntesheer, meine Herren, fügt er hinzu.
Alle denken, er ist ein sanfter, friedlicher Mensch. Er hat so etwas Väterliches. Schließlich ist er der Lord Major und für alle da. Als der Schwitzer einmal nicht bloß schwitzt, sondern einmal schwätzt, beobachtet ihn der Lord Major schon die längste Zeit. Er hält den Schülern einen Vortrag darüber, wie gütlich er alles im Leben zu lösen pflegt, wenn es irgendwelche Probleme gibt. Schlagen, sagt er, und streckt seinen riesigen Bauch nach vor, Schlagen, nein, tass tu ich nicht! Dazu macht er mit der rechten Hand so hin und her eine ablehnende Bewegung. Kurz darauf fängt der Schwitzer zwei saftige Ohrfeigen von ihm, weil dieser noch immer nicht zu schwätzen aufgehört hat.
Der Schwitzer ist ganz rot an den Ohren und weint. Kürzlich ist man mit der ganzen Schule ins Kino des kleinen Ortes gewandert. Der Lord Major hat der Klasse zuvor den Film erklärt, den man sich ansehen will. Es ist ein Film mit Scharly Schoplään, (sic!) wie der Lord Major sagt, Goldrausch, und er spielt in Alaska. Da ja auch Geografie sein Fach ist, erklärt er lang und breit, wo Alaska liegt und tass tort tass ewige Eiss sei. Einmal konnte einer der Schüler in der Nacht nicht schlafen und er hat zum Fenster auf den Hauptplatz hinausgesehen, mitten in der Nacht. Da ist ein großer Hund in der Parkanlage herumgegangen. Aber es war kein Hund, es war der Lord Major, betrunken, auf allen Vieren.

 

Der Richthofen

Seine Fächer sind Deutsch und Turnen. Er spricht nur mit den Mädchen nett. Die Burschen, manche schon in der Vierten und einen Kopf größer, kriegen auf dem Gang eine Watsche von ihm. Es gibt immer einen Grund für eine Watsche. Man braucht bloß einen Hausschuh vor sich her zu schießen, wenn einer herumliegt. Der Kamikaze ist sehr schlank und bewegt sich elegant. In den letzten Kriegsmonaten war er ME 109 – Flieger. Damals war er siebzehn Jahre alt. Und er hat einen Flugplatz gegründet in der Gegend. Einen Flugplatz für Sportflugzeuge. Er ist stets gut gekleidet, mit maßgeschneiderten Sakkos und so. Er hätte in einem Fliegerfilm eine gute Figur gemacht, sicherlich. Diese Klasse hatte ihn nicht als Lehrer. Aber man kennt ihn vom Gang her, und wie er so ist.

 

Churchwarden

Er hat beim letzten Ball einen Rekord im Harte-Eier-Essen gebrochen. Man sagt, es wären zwanzig gewesen. Auf dem Ball betritt er die Tanzfläche, sieht sich um und sagt dann zum Kellner: Gib dem dort was zum Fressen, und dem auch. Er meint den Baumeister und den Bürgermeister. Hochwürden hat eine imposante Figur. Einer der Schüler hat eine goldene Uhr zur Firmung bekommen. In der Klasse sitzt er in der letzten Reihe mit drei anderen. Sie haben ziemlich Spaß, denn Religion ist fad. Da kommt ein Stück Kreide geflogen und trifft das Uhrglas der neuen Uhr, die Datumsanzeige hat. Das Glas zerspringt vom Aufprall. Hochwürden schickt den Schüler gleich in der Stunde noch zum Uhrmacher. Der Vater des Schülers ist Schuldirektor. Vor dem hat Churchwarden ziemlich Respekt, weil er auch an dieser Schule unterrichtet. Und der Schüler hat Glück gehabt. Normalerweise wirft Churchwarden mit dem Schlüsselbund. Auf seine Rechnung, wie er sagt, beim Uhrmacher, nicht vergessen! Wenn Churchwarden am Nachmittag seine Runden dreht, kehrt er manchmal im Geschäft eines der Eltern eines Schülers ein. Der Schüler weiß sofort, was er will. Er betritt den Verkaufsraum von hinten her und sagt zu seiner Mutter: Kommt er schon wieder betteln, der blade Pfaff? Churchwarden hat das wohl gehört. Das reizt den Pfarrer und in einer der nächsten Stunden schreit er dann den Knaben an: Lausbube, ich zeig dich an! Niemand traut sich zu lachen, denn Churchwarden ist hochrot. Und immer, wenn er hochrot wird, ist mit ihm nicht gut Kirschenessen. Sein Vorgänger hat während der Messe immer betont, dass er heute im Klingenbeutel ausschließlich Scheine sehen will, und nicht bloß Münzen. Der ist auch immer hochrot geworden, wenn er in der Predigt über die Sünder hergezogen ist. Der Vorgänger hat auch das Eislaufen vor dem Schulgebäude am Nachmittag, wenn Kindermesse war, verboten. Das hat dem Schuldirektor nicht gepasst und er hat sich beim bischöflichen Ordinariat beschwert. Wutschnaubend, hat er geschrieben, hätte der die Kinder vom Platz vertrieben. Es kam zu einer Klage. Der Schuldirektor musste tausend Schilling zahlen, weil er wutschnaubend geschrieben hatte.

 

Homo Politicus

Er ist groß, und stark, und hat eine gewaltige Stimme. Und er ist scheint´s immer schlecht gelaunt. Er schimpft mit den Buben. Die kriegen auch ihre Watschen. Die Mädchen verschont er. Schlechte Schüler haben einen schweren Stand bei ihm. Für alle anderen gilt, ihn bei Laune zu halten. Das heißt, so tun, als verstünde man alles, was er sagt.
Gleichungen kann er besonders gut, mit einer oder zwei Unbekannten. Darum darf er auch im Gymnasium unterrichten, weil es zu wenig Akademiker gibt. Er gibt nur Gleichungen auf, aber er ist zu Höherem geboren. Irgendwann geht er in die Politik. Ich habe es nicht nötig, mit meiner guten Bildung bei euch Idioten zu sitzen, sagt er. Die Klasse döst vor sich hin. Der Politiker droht immer. Täuscht euch nicht, meine Herren, sagt er dann. Täuscht euch nicht. Er meint, die Klasse nehme seinen Stoff auf die leichte Schulter.
Einmal fragt ihn der Direktor, und wie ist das da, im Parlament? Musst du nicht hin und wieder eine Rede halten? Nein, sagt der Politiker. Er muss nur an der richtigen Stelle die Hand aufheben. Und er ist für die nächsten Jahre vom Unterricht karenziert und bekommt sein volles Gehalt als Lehrer. Auch mit Fortschreitungen.

Norbert Johannes Prenner
Romanauszug aus „Der Chronist“ – in Entstehung

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