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Alleshaber und Vielkrieger

Was ist? Was ist? Weiß nicht wozu, will aber haben. Muss mir gehören. Muss besitzen. Ding, Mensch, Tier, erstrebenswerten Zustand. Will, will, will! Begehren! Mehr, mehr, mehr von allem. Mehr von dem, was glänzt, was Lust spendet, was Freude macht. So viel davon haben, wie nur kann. Raffen. Alles zusammenraffen, was herumliegt. Sucht nach mehr, nach allem. Besitzen. Besitz haben. In Besitz nehmen wollen. Alles besitzen wollen. Niemals wieder hergeben. Mit hineinnehmen, ins Grab. Festkrallen daran. Nichts mehr auslassen. Nicht kümmern um die Moral. Moral egal. Weiß nicht wofür. Muss trotzdem haben. Selbst anhäufen. Alles bunkern, was zu kriegen ist. Alles berühren und zu Gold werden lassen.
Nach dem Neuen schauen. Ausschau halten. Erster sein beim Neuen. Neues befriedigt. Besitz befriedigt. Nur kurz. Befriedigt nur kurz. Nur für ein Weilchen. Dann. Dann aber. Dann aber wieder: begierig nach Neuem. Begierig nach Haben, Haben, Haben. Wissen, wissen, wissen. Fühlen, fühlen, fühlen. Leben, leben, leben um jeden Preis. Dürsten, dürsten, dürsten nach Werden. Sehnen, sehnen, sehnen nach mehr. Nach noch mehr. Nach allem.
Zufriedenheit langweilt. Wünschen, wünschen, wünschen, was es noch nicht gibt. Dann aber haben, haben, haben. Nie wunschlos, wunschlos, wunschlos sein. Stets begehren. Nachgeben, nachgeben, immer nachgeben dem Wünschen, Wünschen, Wünschen. Nie, nie nie! Es ist nie genug! Darf nie enden! Nie aufhören. Ohne Unterlass. Niemals ohne Boni, Boni, Boni. Besser als Maroni. Grenzenloses Wollen. Will Macht! Macht! Macht! Der Säckel ist voll. Die Kammern sind voll. Die Garagen sind voll. Die Schränke sind voll. Zu wenig. Zu wenig. Mehr. Noch mehr. Noch viel mehr. Habenwollen. Nichts davon hergeben ist geil. Erotisch.

Million ist zu wenig. Million ist gar nichts. Million mal Million. Klingt besser. Klingt nach mehr. Exklusiv, exklusiv. Genuss, Genuss. Reichtum beruhigt ungemein. Anhäufen, anhäufen. Werte anhäufen. Macht attraktiv. Besitzen lenkt ab. Vom Elend anderer. Vom eigenen Schicksal. Lenkt ab von der Leere.
Günstling sein. Vor allen. Vor Gott. Überall Rabatt kriegen. Sonderkonditionen einfordern. VIP sein. VIPer sein. Vor den andern da sein. Nicht hinten anstellen müssen. Vor den andern hinein dürfen. Nimmersatt sein. Ein Upgegradeter sein. Ein „Den Hals nicht voll genug kriegen“ sein. Günstig. Stets alles günstig kriegen. Begünstigt sein. Ein Günstling sein. Alles geschenkt bekommen. Ein „Seiner des Herren“ sein. Alles im Schlaf kriegen. Alles gratis genießen können. Schnorren. Nichts hergeben. Eingeladen sein. Bevorzugt sein. Fußfrei haben. Fußfrei sein. Ein „Von nichts etwas abgeben“ Seiender.
Niemals was rausrücken. Rational sein. Pseudorational sein. Knausrig sein. Knickrig. Eitel, eitel, eitel sein. Vornehm tun. Vornehm sprechen und trotzdem ein Schwein sein können. Ein „Auf andere herabsehen“ Seiender werden. Privilegien haben. Habenmüssen zur Hauptsache machen. Zur Staatsaktion machen. Begehren spornt an. Macht heutig. Ist nichts für Gestrige.
Nichtswollen ist Stillstand. Sattsein ist Leere. Ist der Tod. Gewinn, Gewinn, Gewinn. Gewinn machen. Plus haben. Im Haben sein. Alleskrieger sein. Alleskrieger und Vielhaber sein. Alleskrieger und Alleshaber sein. Zum Alleskrieger, Alleshaber und Allesbesitzer werden. Alles erwerben. Erwerben im Übermaß. Nehmen, nehmen, nehmen. Niemals nach dem Nutzen fragen. Habenmüssen zum Selbstzweck machen. Habenwollen zum Lebenszweck machen. Streben, streben, streben. Danach streben. Maßlos sein. Güter an sich reißen.

Leidenschaftlich besitzen. Alles hineinstopfen. Anfüllen. Gelten wollen. Anerkannt sein. Das Ego verwöhnen, verhätscheln, anbeten, vor sich hertragen. Sich selbst sehen. Seinen Vorteil sehen. Seinen Vorteil immer bedenken. Süchtig nach sich sein. Auf Kosten anderer da sein. Zum Nichtsnutz werden. Zum Abzocker werden. Haben als Selbstzweck. Durch Besitz unabhängig sein. Vermögen macht frei. Mehr haben als andere. Mehr sein als andere sind. Besser sein als die Konkurrenz. Besser abschneiden als die Konkurrenz. Überhaupt ein Besserer sein. Vorteile genießen. Vorteile vor anderen haben wollen. Alles herausziehen. Mehr herausziehen als drinnen ist. Horten, horten, horten. Spekulationen wagen. Der Kick! Den Kick erleben. Endorphine ausschütten. Dopamin erzeugen. Den Kitzel spüren.
Das Füllhorn wollen. Es über einen ausgeschüttet haben wollen. Das „Tischlein-deck-dich“ beanspruchen. Aus dem Vollen schöpfen können. Prallgefüllt sein. Einen prallen Sack sein Eigen nennen können. Drall im Auftreten und im Erscheinen. Niemanden vorbeilassen. Den Sitzplatz beanspruchen. Eineinhalb Sitzplätze vereinnahmen. Eine ganze Sitzreihe okkupieren. Rücksichtslos werden. Andere zu Bittstellern degradieren. Anlaufen lassen. Auflaufen lassen. Spaß am Darben anderer haben.
Sich selbst bedienen. Am Kuchen teilhaben wollen. Sich eine Scheibe davon abschneiden. Das größte Stück vom Kuchen nehmen. Es hinunterwürgen. Hineinschlingen. In den Rachen stecken. Reinstopfen. Bis zum Ersticken.

Norbert Johannes Prenner
(Textbeitrag zum Thema „Gier“, etcetera Heft, 59, 2015 LitGes St. Pölten)

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Der Soldat

Waffenruh. Keiner mehr da, der auf den zielen könnte, den er unter anderen Umständen vielleicht seinen Bruder genannt hätte. Tiefe, laue Nacht. Und ein Sternenhimmel wie zur Friedenszeit. Mondlicht.

Er saß am Rande des Schlachtfeldes. Mutterseelenallein. Wo mochte sie jetzt wohl sein, die Mutter? Welchen Rat würde sie ihrem Fleisch und Blut wohl erteilen? Wie lange hatte er ihn nicht gehört, den Rat der guten Mutter?

Stille. Beinahe aufdringlich. Ein Segen nach dem Lärm jenes Geräts, das Menschen erfunden hatten, um ihresgleichen zu vertilgen. Doch die Stille hatte ihren Preis. Sie alle waren nicht mehr. Sie alle, die sich Kameraden genannt hatten. Feind genannt hatten. Sie alle, die Menschen gewesen waren.

Er hatte den Wahnsinn überlebt. Gab es außer ihm noch jemanden? Sein Blick ruhte auf den Leibern, die die Nacht gnädig bedeckte. Das Antlitz des Hasses, hier offenbarte es sich. Im Mondenschein waren alle Waffenröcke grau. Konnte nicht mehr unterschieden werden zwischen Freund und Feind. Wie lange saß er bereits hier? Inmitten der gewollten, angeordneten Vernichtung? Der Ruf hatte sie ereilt und sie waren ihm gefolgt. Für ein Vaterland. Für eine Parole. Für einen, der sich besser und klüger wähnte als der Rest „seines“ Volkes. Für jene Kriegshetzer, die jegliches Leben ohne Skrupel opferten. Für eine größenwahnsinnige Idee.

Ob die Mutter noch lebte? Und warum hatte das Schicksal ihn verschont? Warum war er noch im Diesseits? Um Zeuge zu sein für Grausamkeiten, die jenseits der menschlichen Vorstellungskraft lagen? Um daran zu zerbrechen? Durfte er sich nun Kriegsveteran nennen? Nach dieser Hölle? Sie hatten die Waffen gesegnet. Auch seine. Hatten sie jenem Gott geweiht, den sie angefleht hatten, ihnen zum Sieg zu verhelfen. Sie alle hatten ein Vaterunser vor der Schlacht gebetet. Auch er. Und jetzt? Sollte er es abermals beten? Zum Dank für sein Leben?

Die Schulter tat ihm weh. Doch er wollte die Verwundung nicht in sein Bewusstsein dringen lassen. Irgendwie war sie passiert. Irgendwann hatte er den Schmerz verspürt. Und ihn ausgeblendet. Ein Tier zog sich zurück und leckte seine Wunden. Für ihn gab es keinen Ort, der ihn lockte. So saß er hier am Rande des Schlachtfeldes und schaute wie gebannt die Gefallenen an. Der Kampf war vorbei. Auch für ihn. Was verteidigte er eigentlich mit seinem Leben? Wusste er es noch? Oder hatten ihm die Jahre seinen Glauben geraubt? Die Heimat war fern des Herzens. Fern des Empfindens. Fern der Sehnsucht. Dies hier war die Wirklichkeit. Wohin also sollte er gehen? Mit seinen Wunden?

Plötzlich war es da. Verwundert sah er es an, wähnte sich verrückt. Jetzt war es so weit. Sein Verstand verließ ihn. Narrte ihn. Er bildete sich doch tatsächlich ein, ein Kind vor sich zu sehen. Ein Kind! Seine Halluzination war ein kleines Mädchen mit gelockten Haaren. Es trug ein Kleidchen mit einer Weste darüber. Er schloss die Augen, verharrte ein paar Sekunden und öffnete sie wieder. Doch das Trugbild war noch immer hier. Falls seine Sinne ihn nicht täuschten und dieses überirdische Wesen in der Realität bestand – woher kam es so unerwartet? Die Kleine war im Mondlicht allerliebst anzuschauen. Ein Schleifchen zierte ihr Haar. Wie alt sie wohl sein mochte? Vier? Fünf?

„Wer bist denn du?“, fragte er heiser. Doch das Kind schaute ihn nur an. Mit großen, wachen Augen. Ob es ein verirrtes Flüchtlingskind war? War die Familie mit seiner Armee mitgeflohen? Bevor der Feind ihrer habhaft werden konnte?

„Wo ist deine Mama?“

„Weiß ich nicht …“ Die Stimme klang hell und glockenrein.

„Und dein Papa?“

„Im Himmel beim lieben Gott.“

„Wie heißt du?“

„Ich heiße Anna.“

„Aha …“ Zu mehr war er im Moment nicht fähig. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Er musste sie ordnen. Seiner Überraschung Herr werden. Sich auf die neue Situation einstellen. Der Flüchtlingsstrom – war er aufgerieben worden? Eingeholt vom feindlichen Heer? Und die Mutter der Kleinen? Ob sie noch lebte?

„Wie ist dein Familienname?“

„Weiß ich nicht …“

„Und woher kommst du?“

„Weiß ich nicht …“

War sie nicht alt genug, um Nachnamen und Heimatstadt zu wissen? Schon wollte er nachhaken, als ihm bewusst wurde, was das Kind durchgemacht haben musste. Das Entsetzen packte ihn an. Er als Erwachsener tat sich schwer genug, die furchtbaren Eindrücke und Erlebnisse zu verarbeiten. Was also musste in der Kleinen vor sich gehen? Womit musste sie fertig werden? Die Mutter war entweder tot oder verschollen. Einerlei. Freiwillig hätte sie ihr Kind nie im Stich gelassen. Eine liebevolle Mutter, die in höchster Gefahr ihrem Kind das Haar frisierte und es band. Das rührte ihn. Schon lange hatte ihn nichts so berührt wie diese Schleife. Und jetzt? Kein Mensch weit und breit, der sich um das Mädchen kümmerte. Gott allein wusste, wie lange es bereits umherirrte. Über Schlachtfelder ging. Es war ein Wunder, dass es noch am Leben war. Und ihn dünkte, dass nun er gefordert war. Anna war auf die Hilfe einer alten Frontsau angewiesen. Eine alte Frontsau, ja, das war er wohl. Ganz vulgär ausgedrückt. Und nun hatte er ein Kind an seiner Seite. Es war unfassbar.

Die Kleine starrte ihn eindringlich an. Ihr Blick ließ ihn schauern. Was hatten diese Augen wohl gesehen? Was hatten seine Augen gesehen? Zu viel, großer Gott, zu viel. Reue überkam ihn. Warum hatte er sich nicht geweigert, damals, als der Einberufungsbefehl gekommen war? Weil sie ihn sofort exekutiert hätten? Nun musste er dafür geradestehen. Vor einem unschuldigen Kind, dem das Grauen zur aberwitzigen Heimat geworden war. Es ließ sich nicht ermessen, welchen Schaden es davontrug. Aber es war am Leben. Genau wie er. Und beide hatten sie nicht mehr als dies nackte, armselige Leben. Und eine Schleife als Vermächtnis einer Mutter. Tränen stiegen in ihm hoch, die er zu unterdrücken suchte. Er musste jetzt funktionieren. Genau jetzt. Die Kleine und sich selbst in Sicherheit bringen. Sie und sich selbst versorgen. Durch das Niemandsland seiner Seele spazierte ein kleiner Mensch. Arglos und unbedarft. War einfach da. Und die Wunde? Ach, vielleicht war sie nicht so schlimm. Er musste den Schmerz erdulden. Stark sein. Er hatte plötzlich eine Aufgabe. Eine, die Sinn machte. Mehr Sinn, als Menschen zu hassen, weil es irgendjemand befahl.

Mühsam erhob er sich. Doch, die Wunde schmerzte. Er musste sie erträglich halten, durfte die Schulter nicht belasten. Anna beobachtete jede seiner Bewegungen. Plötzlich stellte sie sich neben ihn und schob ihre Hand in seine: „Anna mit.“ Er spürte den zarten Druck der kleinen Hand, ihre Wärme. Und ihm war, als hätte sie sein Innerstes ganz sacht berührt. Diesmal rollten ihm die Tränen über die Wangen, er war machtlos gegen sie. Die Kleine wartete. Wartete auf den ersten Schritt des Mannes.

„Komm“, sagte er leise und merkte, wie sein Soldateninstinkt erwachte. Angestrengt lauschte er in die Nacht. Er musste sich zu den Kameraden durchschlagen. Mit dem Kind. Schleichwege finden. Deckung suchen. Der Schutz der Nacht war sein Verbündeter. Wohin sollte er gehen? Er musste einen Bogen um den Feind machen. Durfte ihm nicht in die Hände fallen. Seine Muskeln spannten sich, sein Kopf war wach, seine Gedanken klar. Er würde dieses Kind durchbringen. Er musste es. Versagen ausgeschlossen. Ein letztes stummes Stoßgebet gen Himmel. Ein inbrünstiges Versprechen an die Mutter. Wo immer sie auch sein mochte. Das Kind schwieg. Doch von ihm ging eine Kraft aus, die sich auf ihn übertrug. Er spürte die Leichtigkeit des Frühlings, spürte, wie sie sich mit seiner Erfahrung verband. Und so gingen sie los. Der altgediente Soldat und das kleine Mädchen. Er wusste nicht, was auf sie wartete. Doch sein Schritt wurde fester. Sein Gang aufrechter. Er straffte die Schultern. Und Anna sah zu ihm auf. Demut überkam ihn. Das Schicksal gab ihm einen Grund, ins Leben zurückzukehren. Und wenn sie das hier überlebten, mein Gott, wenn sie das hier überlebten … Spielzeug wollte er ihr schenken und lernen, selbst eine Schleife ins Kinderhaar zu binden. Und so gingen sie voran. Hand in Hand einem neuen Morgen entgegen.

Luise Fötsch

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Hymne auf einen bemerkenswerten Vogel

Bist nicht Gans und auch nicht Ente, an Eleganz und Anmut kaum zu überbieten. Und neidlos zugegeben, im Wasser ein Talent, geübt in Sachen Schwimmen. Auf sanften Wellen treibend, majestätisch, hoheitsvoll und graziös, wiegst, still bewundert, du gerne dich auf dunklen Wassern. Rauschst flügelquietschend über Seen und Teich. In deinen weichen Daunen trotzt du jedem Wetter, ganz gleich ob Regen oder Schnee, auch wenn sich niemals Nebel lichten. Ziehst in verwunsch´nen Nachen Helden mir nichts dir nichts fort in eine andre Welt. Verwandelst, unbemerkt vor unseren abgelenkten Blicken, zunächst noch hässlich, nach kurzer Zeit dich zur Vollkommenheit. Jedoch, singst du beim Mondschein einsam und allein dein Lied, ehe du stirbst, so ist´s, als wär es eines Sängers letzter Auftritt.
Du Mittler zwischen Traumgespinst und Wirklichkeit. Allegorie der Reinheit, unnahbar schön und eitel doch zugleich. Verführerisch wie eh und je die Sünde. Mit deinem stolzen Hals, als Attribut der Schönheit, hoheitsvoll, stets elegant getragen, nährst du den Hunger ungestillter Sehnsucht. Dem Irdischen erscheint wohl gar nichts heilig. Profan, wie diese Welt nun einmal ist, das Vorbild solcher Biegsamkeit, dient ihm als Halterung zur Leseleuchte. Verbindungselement, halbsteif und doch elastisch. Gewendelter Metallschlauch sozusagen. Man sagt, ein Traum von dir soll heilsam wirken? Verführt uns gar zu Liebesabenteuern? Du weißer, reiner Vogel giltst, schier unberührt, als Bindeglied für hier und drüben, für einst und jetzt, für göttlich und für sterblich. Dein Trauerflor jedoch verheißt den Tod.

Dein Anblick lässt uns Ungeahntes hoffen. Es wird gesagt, du stehst für Treue und Vollendung. Dennoch, zwei Seelen stecken, ach, in deiner Brust. Wirst gar vom Lamm zum Wolf, wenn du mit vorgestrecktem Hals und Zischen, schlangengleich, zum Angriff übergehst. Wenn du so bist, so soll dies gar von Bösem künden. Nichtsdestotrotz bedeutest du das Licht am Horizont, bist oft Musik und Virtuos´ zugleich. Ach, heil uns, bloß durch dein Erscheinen!
Im Dienst der Götter scheinst du einst gewesen, du Bote, der dich zu den Asen trug. Walküren, unverletzbar, künden laut in deinem Federkleid vom Schicksal. Entführen gern gefall´ne Helden nach Walhalla, der Grenze zwischen Jetzt und Ewigkeit. Der Göttervater selbst, der Schelm, getarnt in flauschigem Gefieder, verfolgt vom Adler, sucht´ Schutz im Schoße der Geliebten. Und Leda selbst? Das kennt man ja! Anfangs zwar keusch, doch bald schon siegt die Wollust.

Wer hätte das gedacht? Ein Wunder ist´s wohl kaum, wo just in diesem einen edlen Teil der Vogel einem Mann an Ähnlichkeit kaum unterliegt. Was willst du mehr, du einzigartiges Symbol der Liebe? Besinn dich nur des Auftrags, Herr Lohengrin, der Herzogin zum Schutz gesandt zu werden! Dann dies, ein harter Schlag für dich, die Rollen neu verteilt. Nicht du, ein plumper Storch soll plötzlich kleine Kinder bringen! Was soll´s? Wenn du dich flügelschlagend aus den Wassern hebst, dann hängen, Trauben gleich, Poeten an karottengelben Flossen, frech, und faseln wie im Wahn von längst verfloss´nem Eros, von Jugend und Vergänglichkeit. Und was tun wir? In deine Daune flüchten wir uns jede Nacht, wird uns der Tag zur untragbaren Last, in Wärme und Geborgenheit, wenn draußen unbarmherzig Eisesstürme toben.
Sinnbild du, der hohen Kunst des Reimes! Und wie man hört, zierst du die Wappen edelster Geschlechter, von Königen und Pharaonen. Hältst steinern Wache über Teich und Zinnen. Heilig bist du, ja, heilig! Verbirgt nicht eine Jungfrau oder gar ein Prinz sich hinter aufgeplustertem Gefieder, die voller Sehnsucht auf Erlösung warten?

Woanders wiederum mimst ungeniert du die verzauberte unglückliche Prinzessin, die nur durch wahre Liebe die Erlösung findet. Doch da, da vorn! Ein ganzer Schwarm von deinen Artgenossen! Der Trieb zur Jagd erfasst den jungen Prinzen. Wird´s jetzt nicht endlich Zeit für dich, ganz plötzlich aufzutauchen? Gewiss, im fahlen Mondlicht trittst du aus dem Wasser, verwandelt, in deiner unnachahmbaren Gestalt. Wenn der dir ew´ge Liebe schwört, dann kann er dich erlösen. Es ist zu hoffen, er spielt die Rolle gut! Voll Grazie tanzen deine Schwestern und die Brüder.

Den Part des Sterbenden beherrschst du wirklich gut, du hochverehrtes Opfertier! Schlägst eindrucksvoll mit deinen Flügeln, indes du auf dem linken Knie solierst. Dein Köpfchen, von Federflächen, die dich tragen, schamhaft zwischendurch bedeckt.
Du stirbst in wirklich eindrucksvoller Anmut. Wenngleich, vielleicht ein wenig parodistisch, nicht? Das reicht für eine Nummer in der Tierrevue! Was soll dein theatralisches Verhalten? Heißt das, du bist ganz einfach hin, total Banane? Die ganze Zeit, durch diese schnulzige Romanze, ein Cello dich hinübergeigt. Ist dir bewusst, so nebenbei, dass jemand eine Totschlagfalle nach deinem eleganten Hals benannt?
Und weiter? Dem Orient orakelst du, die Welt entstünd´ aus deinem Ei. Du Urquell aus der Sonne! Aus deinem frühen Ovum entschlüpften einst ein Knabe und ein Mädchen. Du leistetest Apoll Gesellschaft. Am Schnabel der Weissagung hängend bot´st du Venus deine Flügel als Begleiter. Einer wie du macht unsre Träume wahr.

Bist stets Symbol für Glück und Liebe, du treuer Einzelgänger du. Nur selten fliehst du schützendes Gewässer, den Sumpf, den See, die flachen Tümpel oder Lacken. Und wo die Wasser nicht zu tief sind, dort stocherst du mit deinem Löffel still nach Tang. Geschickt entgingst du bis zum heut´gen Tag dem Spieß, das hast du nicht zuletzt dem Truthahn zu verdanken. Den derben Briten kümmert´s wenig. Selbst in der Bibel steht zu lesen, man soll den Adler, Habicht, Fischreiher, die Weihe, Geier und auch Raben, den Strauß, nicht Nacht- und Tageseulen, und auch nicht Kuckuck, Fledermaus, besonders dich, als auch die Rohrdommel nicht essen. Nur reine Vögel sollt ihr essen!

Apoll hast du die Gabe weiszusagen zugestanden, das ist doch so? Und ihm den Geist der Musen und Musik bewahrt? Du hast ihn mit der Gabe des Gesangs versehen, ihn in den Sternenhimmel hoch erhoben, wo heut´ er noch als helles Sternbild glänzt. Als Wächter gar im Reich der Toten, wo Mitternacht die Sonne hoch am Himmel steht, treibst du dich rum! Vermittler zwischen hier und drüben. `Ne ziemlich graue Zone, wie? In zahllosen Legenden kommst du ganz gut weg, Symbol von Eros und der Liebe du! Zugvogel warst du, vor Venus´ und Amors Wägelchen gespannt.
Die Heil´ge Schrift vergleicht die Reinheit deiner Federn mit jener von Maria. Und der, der diese Schrift erneuert hat, Herr Luther, vergleicht sich selbst mit dir. Ist irre, oder etwa nicht? Du Kunstmotiv, du und dein Ritter Lohengrin! Ist kaum zu glauben, was dein Erscheinen so bewirkt. Die einen denken, es würden ihre Wünsche nie erfüllt. Den andren bist du Schönheit, Reichtum, Macht und Liebesglück zugleich. Unfassbar, von dieser Welt des Kapitals zum schützend´ Vogel des Geschäfts erkoren! Du Wappentier schnöder Ökonomie!

Wenn du zu Land recht unbeholfen und einsam durch die Gegend latscht, bedeutet dies, Verborg´nes wird ans Licht geführt. Na, hin und wieder schaffst du´s ja, den schweren Körper in die Luft zu heben, das heißt, man würde demnächst wohl genarrt. Dem andren wird ein Wunschtraum jäh erfüllt. Mag sein, dein Schneeweiß kündigt eine gute Zukunft, dein dunkler Teint jedoch Tyrannis oder Tod. Du nährst sogar erotische Gelüste, die heimlich im Verborg´nen blüh´n. Wer denkt schon dran, wenn man dich füttert, an treue Freundschaft bis zum Tod? Dein Kreischen oder Singen, das kann man glauben oder nicht, verkündet schrill, dass einer stirbt. Drum bitt ich dich, sei endlich still! Wo noch dazu ein totes Exemplar von euch als Zeichen gilt von Überdruss. Mir ist das gleich, ich denk nicht gleich an Kindersegen, wenn ich dich seh! Auch glaub ich nicht, dass zwei von euch, im Doppelpack, verführ´n zur Hoffnung an das Gute. Ich fleh dich daher an, hör auf zu singen, und stirb gefälligst, wo man dich nicht sieht! Du raubst uns unsre Illusion, dass alles einmal besser war, du schräger Vogel! Zu guter Letzt, sei nun bedankt, dass ich nicht anders kann. Zieh endlich in die weite Flut zurück, dahin, wo du einst zogst den Kahn. Komm nur, wenn´s sein muss, hier zurück, dann sei verdammt dein Dienst getan. Leb wohl, leb wohl, mein lieber Schwan!

Norbert Johannes Prenner
In: Der Dreischneuß, Anthologie. Marien-Blatt Verlag, Lübeck, Nr. 25, 8/2013, Seite 36 -39

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Ein Fenster zur Schrift

Ijob 39,16-21 „Die Straußenhenne behandelt ihre Jungen hart wie Fremde; war umsonst ihre Mühe, es erschreckt sie nicht. Denn Gott ließ sie Weisheit vergessen, gab ihr an Verstand keinen Teil. Im Augenblick aber, wenn sie hochschnellt, verlacht sie das Ross und seinen Reiter. Gabst du dem Ross die Heldenstärke, kleidest du mit einer Mähne seinen Hals? Lässt du wie Heuschrecken es springen? Furchtbar ist sein stolzes Wiehern. Es scharrt im Tal und freut sich, zieht mit Macht dem Kampf entgegen.“

An einem Montagmorgen im nebligen Februar teile ich in der 10. Klasse die Bibeln aus, jene roten Ausgaben der Einheitsübersetzung, die seit Jahrzehnten im Bücherkeller die Regale belegen. Der Einband ist kaum abgegriffen. Wenig wurden sie aufgeschlagen und selten wurde in ihnen gelesen. Manchmal ist „Fuck“ sorgfältig mit dickem schwarzem Filzstift über die Schnittstelle der Seiten geschrieben. Die Swastika findet man kaum mehr hineingeschmiert. Die Zeit hat sie überholt. Phallus-Symbole hingegen erfreuen sich steter Beliebtheit. An einigen Ausgaben ist der Buchrücken abgerissen. Die Ecken des Kartoneinbands sind gelegentlich umgebogen oder abgeschnitten. Man darf die Mühe nicht unterschätzen, die derartiges Werkeln den Schülern bereitet.

Mir ist heute daran gelegen, in den Antithesen der Bergpredigt zu lesen. Und ich lasse das 5. Kapitel im Matthäus Evangelium aufschlagen. In den Versen 44 bis 47 heißt es: „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes?“

Ehe meine Schüler diese Stelle finden, die mir schon seit dem Morgengrauen im Kopf rumgeistert, entsteht reichlich Durcheinander: Ist die Bergpredigt im Alten oder im Neuen Testament? Wo ist das Inhaltsverzeichnis? Auf welcher Seite muss ich suchen? Meine Schüler haben diese Bücher schon lange nicht mehr in Händen gehabt, umso erstaunter und aufgeregter sind sie. Wüst wird hin- und hergeblättert. Für Sechzehnjährige im Jahr 2015 ist das in Händen halten der Bibel exotisch und altertümlich.
Dann gibt es einen Aufschrei. Ein Junge ist auf etwas gestoßen, das Anlass zum Aufschauen und Aufhorchen gibt. Alle Blicke richten sich auf die zweite Reihe links vor mir. Er hat die Bibel ungefähr mittig aufgeschlagen und hält mit der linken Hand einen Stapel Blätter hoch, es sind bestimmt gut hundert Seiten, aus denen ein Rechteck von ca. zehn Zentimeter Höhe und fünf Zentimeter Breite herausgeschnitten ist. „Ich war´s nicht“, sagt er, während er mit vier Fingern durch die Öffnung greift und den Daumen schützend um den noch verbliebenen Rand legt. Alle lachen und rufen durcheinander: „Mensch, zeig her! Hey, echt geil!“ Ich schaue wortlos auf das fehlende Rechteck. So etwas ist mir bisher noch nicht untergekommen. Dreist, denke ich! Dabei fällt mein Blick auf ein Plakat, das am Schwarzen Brett hängt. „Guantanamo“ steht groß darüber. Anlässlich eines Referats ist es vor Wochen angefertigt worden und ziert seither die Wand mit  grausamen Folterbildern, Tag für Tag meinen Unmut hervorrufend. Wobei meine Schüler mir stets aufs Neue sagen, ich sei viel zu zart besaitet. Das ist die Realität und davor dürfe man nicht die Augen verschließen. Das mag ja Realität sein, aber ich will sie weder kennen noch im Detail sehen. Deswegen drehe ich das Poster immer um, wenn ich das Klassenzimmer betrete. Heute habe ich es vergessen.

Dann kehrt mein Blick wieder zu dem Loch in der Bibel zurück. Mir fehlen immer noch die Worte, aber das Gejohle unter den Jugendlichen dringt wieder an meine Ohren. Ich klatsche in die Hände, mahne zur Ruhe und nehme die beschnittene Bibel an mich. Der Junge, der sie entdeckt hat, händigt sie mir mitleidig lächelnd aus und meint tröstend: „Sie ist von 1980, aus dem letzten Jahrtausend, älter als ich.“ Klar, nach so vielen Jahren kann man ein Buch getrost ausmustern. Eine neue Bibel kostet nicht mal zehn Euro. Es lohnt nicht, sich aufzuregen.
Trotzdem kann ich nicht anders, als den Schaden eingehend zu betrachten. Der zweispaltig gedruckte Text bildet einen Rahmen um den ungewöhnlichen Hohlraum. Ein Fenster in der Schrift. Das achtunddreißigste Kapitel im Buch Ijob ist betroffen. Das herausgeschnittene Rechteck reicht von der Seite sechshundertelf bis siebenhundertsiebenunddreißig. Das Buch der Psalmen sowie das der Sprichwörter sind gewissermaßen ausgehöhlt. Ebenso die ersten fünf Kapitel im Hohelied. Während ich mir still den Schaden besehe, schauen mir die Schüler und Schülerinnen voll Anteilnahme zu. Das Feixen hat aufgehört.
Ein Packen Schrift ist herausgeschnitten, etwas fehlt, Entscheidendes fehlt, und der umrandende Text ist unlesbar geworden. Die Worte ergeben keinen Sinn mehr. Ich nehme die einhundertfünfundzwanzig malträtierten Seiten in die rechte Hand und befühle das glatte, hauchdünne Papier mit den Fingerkuppen sowie die kaum spürbaren Erhebungen, die der Druck erzeugt hat. Seltsam, so liebevoll habe ich das Innenleben der Bibel noch kaum gestreichelt. Die Schnittflächen am Durchguck sind gestaffelt. Es war bestimmt mühsam, mit einem Taschenmesser durch all die Seiten zu ritzen. Ich kann mir vorstellen, dass mehrmaliges Ansetzen notwendig war.
Jetzt ist in der Bibel ein Geheimfach entstanden, groß genug, um ein Handy darin zu verstecken, ein flaches Schnapsfläschchen, einen Spicker, einen Liebesbrief, Rauschgift, eine geheime Botschaft, eine Abhöranlage, …. wobei meine Fantasie bei James Bond angelangt ist.

Die Bibel ist greifbar geworden und das Buch Ijob hat ein Loch bekommen, kein zufälliges von einer Bücherwurmfamilie herausgefressenes, sondern ein sauber herausgeschnittenes. Die betroffenen Schriften sind unlesbar, aber es ist jetzt möglich, durch die hindurchzuschauen auf das Hohelied. Im sechsten Kapitel der kleingedruckten wohlfeilen Ausgabe ist zu lesen: „Ich gehöre meinem Geliebten, und er verlangt nach mir.“ (Vers11) Diese Aussicht ist nicht zu überbieten. Wie gut, dass das Fenster den Blick durch die vielen Seiten ausgerechnet auf diesen Vers lenkt. Der jahrtausendealte Text, mühsam von klugen Professoren in unsere Sprache übersetzt, während sie sich bestimmt grübelnd hinter den Ohren kratzten, hat jetzt ein banales lächerliches Loch. Kein Wunder, dass die spontane Reaktion der Schüler ein schallendes Lachen war.

Lächelnd klappe ich die Bibel zu, bedecke ihre Scham und berge sie in meiner Tasche.
Es ist nach diesem unvorhergesehenen Zwischenfall nun wirklich an der Zeit, mit den Worten Jesu die Feindesliebe betreffend im Matthäus Evangelium fortzufahren.

Am Nachmittag lege ich das Buch auf  den Tisch in meiner Bibliothek. Liebkosend streichle ich mit den Händen darüber, hülle es in ein besticktes Baumwolltuch und flüstere ihm zu: „Hier bist du sicher. Niemand wird dir etwas zuleide tun.“  An meinen Handflächen nehme ich den gleichmäßiger und ruhiger werdenden Pulsschlag wahr. Ich glaube, der Bibel fallen die Augen zu. Wäre es ein Wunder nach diesen Aufregungen? Wer weiß, wie lange sie mit der unentdeckten Wunde einsam in einer kalten Kiste zwischen fröhlich und entspannt plaudernden Gefährten gelegen hat? Jetzt kann sie sich endlich in den wohlverdienten Schlaf versenken und sich von den Träumen küssen lassen. Erleichtert atme ich tief ein und aus. Wie gut, dass ausgerechnet mir heute dieses Buch in die Hände gefallen ist.

Claudia Kellnhofer

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Was bleibt. Besuch in der Regensburger Synagoge

Später sollte sich herausstellen, dass es die letzte Begegnung mit Dr. Andreas Angerstorfer war. Im darauffolgenden Juli wurde er tot in der Toilette der theologischen Fakultät aufgefunden.

Es ist ein Apriltag im Jahr 1942. Es ist nicht der 1. April und das, was geschieht, ist wahrlich kein Scherz. Ein Zug von Männern bewegt sich durch die Maximilian Straße, sie gehen auf der Fahrbahn in Richtung Bahnhof. Die Standarte des Begräbnisvereins wird von einem jungen Burschen vorausgetragen, nicht freiwillig. Er wurde genauso wie alle anderen gezwungen, an diesem traurigen Marsch teilzunehmen. Aber sie führen keinen Verstorbenen mit sich. Es handelt sich um kein Begräbnis. Die Männer richten den Blick beschämt zu Boden. Sie gehen, setzen Schritt vor Schritt und wollen da nicht hin, wohin sie der Weg führt.
Die Bürgersteige links und rechts sind dicht bevölkert. Schulkinder, Männer und Frauen. An einem Donnerstagvormittag ist schulfrei und offensichtlich auch arbeitsfrei. Alle nehmen sich Zeit, um diesem Schauspiel beizuwohnen. Auch die Fenster im ersten Stock der anrainenden Häuser sind mit Schaulustigen besetzt, von denen sich später niemand mehr an den traurigen Marsch erinnern wird. Zum Zeitpunkt des Fotos aber sind alle noch interessiert an dem, was passiert. Sie wollen es mitbekommen, sonst hätten sie sich in die hintersten Winkel ihrer Wohnungen verzogen und die Bettdecke über den Kopf gezogen, um nicht nur nichts von diesem Auszug der Juden aus ihrer Stadt zu sehen, sondern auch die begleitenden Geräusche nicht hören zu müssen.

Hat man Derartiges einmal durch Augen und Ohren in sein Innerstes gelassen, so plagt es einen ein Leben lang und lässt sich nicht mehr abschütteln. Man muss die Erinnerung daran bekämpfen, sie unterdrücken, leugnen, tottrampeln und hartnäckig behaupten, nichts gehört und gesehen zu haben, sonst lassen einen diese Bilder und Geräusche nicht in Ruh. Ist das die Rache der Sensationslust? Tatsache ist, dass die Wenigsten zu ihrer Erinnerung stehen. Leugnen scheint einfacher zu sein, aber es scheint nur so.

Es gibt auch Uniformierte, die den Zug der Männer mit den gesenkten Köpfen begleiten. Sie sind an diesem Tag in der Rolle der Stärkeren und vermeintlichen Sieger. An diesem Tag und einer Reihe von anderen Tagen. Sie feixen und grinsen schadenfroh. Sie weiden sich am Leid, an der Scham, am Unglück der anderen. Es werden noch viele Tage folgen, dreimal dreihundertfünfundsechzig ungefähr, an denen ihnen das trügerische Glück hold zu sein scheint. Die schmucke Uniform, die Braunhemden und die Halstücher werden sich abnützen, aber auch das Feixen wird ihnen vergehen und ihre grinsenden Grimassen werden sich in Leidensmienen verzerren, die vortäuschen wollen, Opfer statt Täter zu sein. – Aber das ist an jenem 2. April noch nicht abzusehen.

Die erhaltenen zehn Fotos, allesamt Auftragswerke, sind heute Zeitdokumente. Auf Befehl der NSDAP Kreisleitung wurde dieser Schandmarsch auf Zelluloid gebannt. Stolz hielt man fest, wie siegreich und tapfer die moderne Zeit mit den Juden fertig wird und sie zum Güterbahnhof treibt. Den Männern mit den gesenkten Köpfen ist es peinlich, fotografiert zu werden. Ihnen steht die Demütigung ins Gesicht geschrieben. Sie haben Mühe, Haltung zu bewahren. Was wird ihnen zugerufen? Die Fotos erzählen davon nichts. – Gott sei Dank, wer könnte es ertragen zu hören? Die Ahnung davon reicht schon aus, um einen erschaudern zu lassen. In den Köpfen dieser Männer überschlagen sich die bösen Ahnungen, die Erinnerungen, die Bemühungen, Haltung und Würde zu bewahren. Gibt es noch ein Entrinnen? Lässt Gott ein Wunder geschehen?

Es ist ein Tag im April, vermutlich kündigte sich der Frühling schon an. Der Rabbiner, ein stattlicher, schlanker großer Herr trägt einen gut geschnittenen Mantel. Er schreitet aufrecht vorbei. Ein schwerer Weg ist ihm zu gehen beschieden. Später erfahre ich, dass ihm noch die Flucht nach London gelang, doch dort fand er bei einem Luftangriff den Tod.
Neben ihm geht ein jüngerer Herr, um die vierzig. An seinen Namen erinnert sich niemand mehr. Wer weiß, was ihn noch alles erwartet hat? Er ist am 2. April 1942 frisch rasiert und das Gesicht mit seinen klaren sympathischen Zügen konnte sicher auch lachen und andere zum Lachen bringen. Ein feiner zurückhaltender Mann, der gut gekleidet ist und aufrecht vor sich hin schreitet, der sein Schicksal annimmt an diesem Tag, der die Augen von der Kamera abwendet und lieber ins Unbestimmbare blickt. Oft und lange betrachte ich diesen Unbekannten nun schon auf dem Foto. Immer habe ich es bedauert, seine Augen nicht sehen zu können. – Jetzt bin ich mir sicher, dass es besser so ist. Bestimmt würden diese Augen sich so in den Blick des Betrachters eingraben, dass ich die Trauer und Angst nicht ertragen und nicht mehr loswerden könnte. Die Ahnung davon ist schon zu viel. Ich will mich nicht in weitere Gedanken versteigen. Es ist doch so vieles, was bleibt, was den Blick öffnet, die Erinnerung bewahrt und eine Begegnung ermöglicht.
Auch wenn es nur ein Foto ist, das verblasst. An die Namen der abgebildeten Menschen erinnert sich schon jetzt niemand mehr. Es findet dennoch Einlass durch meine Augen und fängt dort wieder zu leben an.

Zum ersten Todestag von Anderl, meinem Hebräischlehrer, der meinen Blick für so manches geschärft hat.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 15026

Wider den Stachel löcken

„Wider den Stachel löcken“ … eine kaum mehr verwendete Phrase

Der Stachel, wider gelöckt
Hat dem Löcker kaum jemals geschmeckt.
Doch er musste es wagen – die „Wahrheit“ zu sagen
Damit man ihn endlich entdeckt

Wer oder was ist der Stachel? Warum ist er spitz?
Wer ist der Löcker? Und warum löckt er (was weh tut) wider den Stachel?

Biologisch ist der Stachel (im Gegensatz zum Dorn = eigenes Pflanzenorgan) ein Zubehör und Produkt der Rinde, dem Haar auf der Haut vergleichbar. Er hat nur eine einzige Funktion, nämlich seinen Träger zu schützen, dessen Überleben zu sichern. Ganz und gar nicht ist er (der Stachel) ein wohlschmeckend abzulöckendes Genussmittel. Süß ist er auch nicht! Also warum wird er gelöckt, noch dazu wider, das heißt gegen den Strich. Und von wem? Und was soll dieser für den Löcker sehr schmerzhafte Prozess?

Diese schon ziemlich in Vergessenheit geratende Redewendung besagt, dass jemand beispielsweise: gegen die Parteidisziplin handelt, indem er einem Bonzen in aller Öffentlichkeit blöde (weil peinliche) Fragen stellt, und/oder dem Strom der Zeit entgegenschwimmt, d.h. das Gegenteil von dem tut, was von ihm erwartet wird. Auch das kindliche Rütteln am Watschenbaum kommt in die Nähe des Stachellöckens (= auffälliges, kontraproduktives Verhalten bzw. soziologisch(es) Fehl-/unangepasstes Verhalten in der Gruppe).

Den Stachellöcker zeichnen Rechthaberei, Aggression und Mut zum Risiko aus – es ist ja meist sehr ungesund, den Stachel unter Druck einzuspeicheln. Also warum dieser peinliche Masochismus?

Es gibt nur zwei Motive:
Entweder: Der Löcker will bekannt werden, sich von den anderen abheben und den Rest der Herde davon überzeugen, wie gut er ist.
Oder: Er glaubt eine Wahrheit entdeckt zu haben, er will die Menschheit, die Partei oder wenigstens die Abteilung retten.

Und dazu ist ihm jedes Mittel recht bzw. nimmt er die vom gelöckten Stachel aufgerissene Zunge in Kauf, noch dazu, wo er dafür vielleicht einen kleinen Märtyrerbonus erhält oder gar in den Ruch der Kühnheit kommt.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 15012

 

Fallstricke 3 – Karrieristinnenschicksal

Wir hab’n studiert, uns angestrengt, / in Männerwelten uns gedrängt.
Wir hab’n gelernt, uns durchzusetzen, / wenn Neider ihre Messer wetzen.
Wir leisten viel, wir kommen weiter. / Fleißiger sind wir und gescheiter,
als so manche der Kollegen, / doch irgendwann steh’n wir im Regen.

„Die toughe Frau, wer mag das schon? / Der rennt doch jeder Mann davon!
Schaut, die lebt immer noch allein! / Das muss eine Xanthippe sein!“
Das schmerzt, weil wir darunter leiden. / – So manche musste sich entscheiden,
weil sicher in den Wahnsinn treibt, / wenn alles an uns hängen bleibt!

Haushalt, Kinder und Karriere – / es heißt, dass sich das nicht gehöre,
wenn eine Frau das alles wollte, / weil es ihr doch genug sein sollte
– mehr noch, das Wichtigste im Leben! – / alles für Kind und Heim zu geben.
Dass dieses nicht gilt für den Mann, / der durchaus all das haben kann,
wird mit „der Natur“ begründet, / die Mütter an den Nachwuchs bindet.

Nun, gegen Tragen und Gebären / woll’n wir uns ja gar nicht wehren,
und auch zum Still’n sind wir bereit, /  doch damit ist begrenzt die Zeit,
in der die Mutter unersetzlich – / nur soweit ist’s naturgesetzlich!
Was darauf folgt, ist ganz allein, / die Vorstellung von, was soll sein.
Die Mutter wär, sein wir doch ehrlich, / nicht zur Gänze unentbehrlich!
Und nicht genetisch programmiert, / ist sie, auf was ihr hier passiert!
Im Tun lernt sie, ganz wie der Mann, / der was er nicht tut auch nicht kann.

So wie es ist, bleibt’s wohl dabei / – Karriere geht nur kinderfrei!
Und wir wehr’n uns vehement / gegen das Billiglohnsegment!
Wir verzichten, schuften, rackern, / wenn wir den Arbeitsmarkt beackern,
und stoßen doch zu uns’rem Schrecken, / plötzlich an unsichtbare Decken!
Denn für die wirklich guten Stellen / eignet sich in unsren Fällen
nur, wer nicht von heut auf morgen / Mutterpflicht hat zu besorgen!

Liebhaber sind leicht gefunden, / doch meistens sind die schon gebunden.
Frau und Kind sind ihre Ehre!  / – Doch viel zu spät kommt diese Lehre!
War’s das wert, musste das sein? / Wir werden älter, sind allein!
Unter und neben uns der Hohn, / über uns gläserner Plafond!

Michaela Harrer-Schütt

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 14075

Fallstricke 2 – Dumm gelaufen

Wie war das Leben angenehm, / solang wir waren ganz bequem
enthoben jeder Haushaltspflicht, / weil Mama drauf war so erpicht!
Dass diesen Umstand brachte schon / unser Familienstatus „Sohn“,
ließ bei uns Gedanken reifen, / dass – um als Mann uns zu begreifen –
es eine Frau braucht an der Seite, / die die Hausarbeit bestreite.
Mädels gibt’s in großer Zahl, / doch für uns steht nur zur Wahl,
eine, die noch nicht vergiftet, / von Emanzen angestiftet
zur Verweigerung der Rolle, /  die von Natur ihr zusteh‘n solle.
Was uns vorschwebt, kurz umrissen, / ist eine Frau, die ganz beflissen
in Schuss hält den Privatbereich / und die Kinder, doch zugleich
repräsentabel und adrett / und bombenmäßig ist im Bett.
Kaum glauben wir, dass wir gefunden / solch Exemplar, wird sie gebunden
mit Ring und Trauschein und Versprechen, / das wir mit Sicherheit nie brechen.
Warum auch, ist sie doch was Mann / sich im Traum nur wünschen kann:
Mutter, Dienstmagd und Gespielin! / Wer da glaubt, das sei zu viel in
einer einzigen Person, / der übersieht, dass wir das schon
genau so kennen von zu Haus. / Das macht die Ehefrau doch aus!

Die Jahre geh‘n, die Kinder kommen, / und wir entsinnen uns verschwommen,
was wir damals uns gedacht, / als wir sie zu uns‘rer Frau gemacht.
Denn kaum den Ehebund besiegelt, / begann sie völlig ungezügelt,
durchzusetzen ihre Sicht / von was die Ehe ihr verspricht.
Ein Leben in Genügsamkeit, / nein, dazu war sie nicht bereit!
Während wir am Geldverdienen, / ließ im Café sie sich bedienen.
Und weil die Hausarbeit sie störe / und sich das überdies gehöre,
begann sie auch noch ganz vermessen, / uns eine Putzfrau abzupressen.
Ihr Argument zu uns‘rer Schmach, / war das Schloss zum Schlafgemach.
Abwarten, so dachten wir, / wenn sie erst ein Muttertier,
wird das Blatt sich schon noch wenden, / und sie wird mit eig‘nen Händen,
der Maniküre dann entsagend, / Windeln wechselnd, Einkauf tragend,
ihren Teil des Pakts erfüllen. / Ihre vielen schicken Hüllen
werden nur mehr um sie wallen, / um uns am Abend zu gefallen.

Als es endlich dann soweit, / waren wir wirklich hocherfreut.
Wir fühlten uns im Oberwasser! / Zum Ausgleich für die strapazierte Kassa,
machten wir uns rasch zu Nutze / die Chance zur Kündigung der Putze.
Wir dachten wirklich, dass sie nun / wohl wüsste, was sie hat zu tun,
um endlich doch noch zu erfüllen / die Vorstellung um deretwillen,
wir sie geschleift vor den Altar. / Doch was uns immer noch nicht klar,
war, dass sie durch den Kindersegen / uns neuerlich war überlegen.
Denn statt kochen, waschen, putzen / schien sie die Zeit mit Kind zu nutzen,
sich nur um dieses zu bekümmern. / Der Haushalt läge längst in Trümmern,
wenn wir nicht von der Arbeit kommen, / den Staubsauger zur Hand genommen,
wir all die Pflichten nun verrichten, / die – WIR wollten ja verzichten  –
die Putzfrau früher hat erledigt. / Wir fühlen uns nachhaltig beschädigt!
Wie konnte uns das bloß passieren, / dass wir jetzt eine Ehe führen,
in der von Pflicht zu Pflicht wir rauschen? / Doch haben wir nichts mitzuplauschen
soweit es um die Kinder geht, / weil das allein der Frau zusteht.
Sie nahm sich diese Kompetenz / mit derartiger Vehemenz,
dass wir dem nichts entgegen setzten. / Jetzt merken wir, wir sind die Letzten!
Das kratzt gewaltig an der Ehre, / doch viel zu spät kommt diese Lehre!
Mit scheelem Blick und voller Neid / sehen wir and‘rer Väter Freud,
die unterwegs mit ihren Kindern, / und niemand will sie daran hindern.
Im Gegenteil, die Mamis sind / in diesen Zeiten ohne Kind
zur allseitigen Zufriedenheit / recht glücklich bei Erwerbsarbeit.

Wir aber sitzen in der Falle, / weil sie mit ihrer gierigen Kralle,
sich krallt, soviel wir auch verdienen. / Es scheint wir haben nun zu sühnen,
dass uns der Hochmut hat verleitet, / anzunehmen, sie bestreitet
im Gegenzug, dass Geld wir bringen, / den Haushalt – und vor allen Dingen,
dass wir wirklich einst geglaubt, / wir seien Familienoberhaupt.
Längst wär‘n wir über alle Berge, / ging‘s nur um sie! Aber die Zwerge,
unsere Babies, unsere Kleinen, / wie würden wir doch um sie weinen,
wissen wir doch ganz genau, / dass sie – wir kennen diese Frau! –,
sollten wir uns je erdreisten, / einen Ausbruch uns zu leisten,
bestimmt alle Register zieht, / auf dass man sich nur selten sieht.
Dazu bereitet noch Verdruss, / dass Mann als Ex ja zahlen muss
nebst Alimenten Unterhalt, / wenn die Ehe dergestalt,
dass fern dem Arbeitsmarkt sie blieb, / mütterlich dem Kind zu lieb.
Gedreht, gewendet, alle Summen, / wir sind in jedem Fall die Dummen!

Michaela Harrer-Schütt

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 14074

Fallstricke 1 – Wider die Emanzen

Diese verkrampften Kampf-Emanzen, / nach deren Pfeife alle tanzen!
Es ist genug, es ist zu viel, / wir spiel’n jetzt unser eig’nes Spiel!
Wir wollen Männer, tough und stark, / und dominant und ganz autark!
Wir lassen uns recht gern beschützen / – zurückgelehnt, statt selber schwitzen.
DIE soll’n das Geld nach Hause tragen, / und dafür dürfen sie uns sagen,
wo’s langgeht. Uns ist das egal, / denn wer die Wahl hat, hat die Qual!

Er muss früh raus, wir bleib’n im Bett, / dann ins Caféhaus – das ist nett!
Bis wir dann heimgeh’n kann inzwischen / die Putzfrau alles sauberwischen.
Kommt er nach Haus, wird er verwöhnt, / und wieder mit der Welt versöhnt,
weil er ja, wenn auch widerwillig, / brav zahlt – das ist nur recht und billig.
Will er dann Kinder, uns ist’s recht. / – Ein Kindermädchen wär nicht schlecht!

Er sagt, das geht sich nicht mehr aus. / Er sagt, du bleibst jetzt schön zu Haus.
Und wegen der horrenden Kosten, / streicht er auch gleich den Putzfrauposten.
Nun Tag und Nacht Kindergeschrei, / ihm ist das völlig einerlei.
Denn was das heißt, kann er nicht seh’n. / – Der Mann muss ja zur Arbeit gehn.
Wir machen Frühstück, kochen, putzen, / was uns’re Kinderlein verschmutzen.
Und abends nach des Tages Plagen / hör’n wir ihn immer öfter sagen,
wir seien in letzter Zeit ein wenig / abgenützt und unansehnlich.

Jetzt haben wir den Schwarzen Peter! / Nach Hause kommt er immer später,
und auch mit Geld kommt er nicht mehr, / wenn wir nicht betteln – danke sehr!
Das Selbstbewusstsein ist schon platt, / weil er jetzt eine Freundin hat.
Ganz skrupellos und ungeniert / hat er sie auch noch ausgeführt.
DIE kann sich’s leisten, kann sich’s richten! / Kein Haushalt, keine Kinderpflichten,
nur ihre tolle Karriere – / doch viel zu spät kommt diese Lehre!
Weil wir – wie möchten wir uns hassen – / uns hab’n so gern beschützen lassen,
vor dieser rauen harten Welt! / Jetzt steh’n wir da, ganz ohne Geld!
Kein Job und keine Zukunftschancen. / Müssen nach seiner Pfeife tanzen,
und müssen uns zufrieden geben, / mit was er gibt von seinem Leben!

Alternativ gäb’s noch die Scheidung, / doch dann hängt’s ab von der Entscheidung
eines Gerichtes dergestalt, / was rechtens ist an Unterhalt.
Sobald die Kinder außer Haus / sieht’s insgesamt recht traurig aus.
Auch in Bezug auf neue Liebe / ist reichlich Sand in dem Getriebe.
Zum einen punkto Partnerwahl, / denn jung und knackig war’n wir mal.
Zum anderen sei angemerkt, / dass uns den Rücken auch nicht stärkt,
wenn – sollten wir doch jemand finden / und überlegen, uns zu binden –
sobald man sich zusammentut, / der Unterhaltsanspruch dann ruht.
Jedoch nicht erst ab neuer Ehe, / durch die Versorgung neu entstehe,
sondern bereits ab dem Moment, / in dem der Ex zum Richter rennt,
weil er glaubhaft machen kann, / dass uns mit einem and’ren Mann
ein – wenn auch zartes – Band verbindet, / und sich aus der Verpflichtung windet.

Er seinerseits ist gänzlich frei / für jede Art der Liebelei.
Seine Arbeit gegen Lohn / verschafft ihm diese Position.
Und keiner mehr denkt jetzt daran, / dass der Mann nur leisten kann
mit voller Kraft am Arbeitsmarkt, /weil wir bis nahe dem Infarkt
gerackert in den hinteren Reihen, / ihn, Haus und Kinder zu betreuen.
Nach all den Jahren wie zum Hohn / gibt’s nicht mal Anspruch auf Pension,
wenn wir des Unterhalts verlustig, / weil uns die Einsamkeit zu frustig.
Wenn also keiner mehr bereit, / für uns’ren Rest an Lebenszeit
versorgungsmäßig aufzukommen, / indem er uns zur Frau genommen,
bezahl’n wir bis an uns’re Bahre / den Hochmut uns’rer jungen Jahre:
Auf uns’ren selbst gewählten Wegen / lacht Altersarmut uns entgegen!

Michaela Harrer-Schütt

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 14068

 

 

 

Welt am Draht

In die Straßenbahn tölpelt ein Schüler mit geschultertem Ranzen, fläzt sich auf einen gerade frei gewordenen Sitzplatz und fuchtelt das elektronische Brett aus seiner Hosentasche. Eine Schülerin tapst klumpfüßig mit ihrem Brett als trüge sie Lehm an den Schuhen. Ein Kind spielt auf dem Brett ein Spiel, das Figuren an Hindernissen vorbeihampeln lässt, was wiederkehrende Effektgeräusche erzeugt. Ein Handwerker im verklecksten Blaumann steigt zu und zupft das Brett mit links aus der Oberschenkeltasche. Eine Frau greift zum Brett, als die Kreuzritter-Fanfare geschmettert wird. Ein Mann schaut fasziniert auf das Brett. Ein anderer betrachtet das Brett irritiert und schüttelt den Kopf. Eine junge Frau schiebt mit einer Hand einen Kinderwagen, mit der anderen versenkt sie sich in die Widerspiegelungen des Bretts. Der Straßenbahnfahrer greift während eines Halts an der Kreuzung zum Brett. Ein Jugendlicher steigt ein und beugt seinen Kopf über das Brett. Ein Mann im Anzug greift nach dem Brett. Aufgebracht nestelt eine Frau in ihrer Handtasche nach dem Brett. Ein Mädchen erklärt dem Brett, es müsse jetzt Schluss machen, der Akku. Ein Knabe zeigt einem anderen Knaben, was er auf dem Brett sieht. Der andere wendet sich ab und schmollt über seinem Brett. Ein Halbstarker mit nahezu heruntergelassenen Hosen lässt beflissen den Daumen über das Brett wischen. Zwei Menschen sitzen einander gegenüber, jeder von ihnen starrt auf das Brett. Es steigt jemand aus, das Brett vor sich herhaltend wie eine gezogene Stichwaffe und rempelt gegen einen Gleichaltrigen, der zwar auf sein Brett achtet, nicht jedoch auf seine Umgebung. Es steigt jemand ein und gleich greift er nach dem Brett. Einer fingert das Brett angestrengt in ein starres Etui, dann holt er es daraus gleich wieder hervor. Eine Frau lässt das Brett fallen. Es poltert wie ein Brocken aus Guss. Ein Mann hält das Brett ans Ohr. Zwei Koreanerinnen stecken die Köpfe über einem Brett zusammen und gicksen; sie führen noch andere Exemplare mit sich. Eine Frau mit hochquellender Frisur spricht mit dem Brett über die Praktikabilität von Botox-Injektionen an Körperstellen, die man dafür gar nicht vorgesehen glaubt. Einer der zusteigt, gibt sich traumhäuptig wie ein Schlafkranker, er entspannt sich erst, als er nach dem Brett greift. Wieder steigen Schüler ein. Ein jeder und eine jede hat ein Brett dabei. Manch einer scheint damit wie verwachsen. Ein hagerer Mann steigt aus. Draußen holt er das Brett aus der Innentasche seines Staubmantels hervor. An der Haltestelle hält einer gebannt das Brett fixiert, sodass er das Eintreffen der Straßenbahn gar nicht bemerkt. Der eine liest auf dem Brett die Uhrzeit ab, der andere die Wettervorhersage in Luzern. Ein Schüler schießt Fotos mit dem Brett, der nächste filmt, was draußen an allen vorüberzieht. Jemand versucht sein Gegenüber in ein Gespräch zu verwickeln, dieses aber greift nach dem Brett. Wieder ein anderer himmelt ganz offensichtlich das Brett an, nicht aber seine Begleitung. Die tippt ihre Enttäuschung darüber in das Brett. Ein Mann scheint auf dem Brett etwas zu suchen, ein anderer scheint es gefunden und grinst, als wüsste er nun über einiges Bescheid. Ein Mittzwanziger zückt das Brett und zuckt, als er beim Aufstehen gegen Halteschlaufen stößt. Ein bulliger Kerl hält das Brett fest umschlossen wie einen Faustkeil. Eine Dame runzelt erst ihre Stirn angesichts des Bretts, dann heben sich ihre Augenbrauen und der Ausdruck von Erleichterung entspannt ihre Züge. Ein Mann klappt seinen Aktenkoffer auf und klaubt zwischen Mappen nach dem Brett. Dann betrachtet er es wie ein Juwel. Eine Betagte vertieft sich in die Anzeige des Bretts wie in ein Brevier. Ein junger Mann befingert unablässig das Brett, ohne es dabei anzusehen. Eine junge Frau ist mit dem Brett verdrahtet und wiegt ihren Kopf im Rhythmus einer dumpf wummernden Musik. Ein Brett fängt zu bellen an und jemand weiß, dass ein Freund versucht, ihn zu kontaktieren. Das jähe, gackernde Geräusch eines Bretts verrät den Eingang einer E-Mail oder das Posting eines Kurznachrichtendienstes, den Erhalt eines Tweets oder weiß der Geier. Aus einem Brett fängt in türkischem Herz-Schmerz-Pathos ein Liebeslied-Intro zu jaulen an, das mit einem Wort im Befehlston abgewürgt wird. Eine Frau mit Kopftuch und Rocksäumen, die beim Gehen den Boden fegen, drückt versonnen auf ihr Brett. Ein Schwarzer spricht in das Brett in einer Sprache, die Englisch sein könnte. In der Fußgängerzone stelzt ein Polizist vorbei, der sich seines Bretts in der Brusttasche kurz versichert, ehe er es wieder zurücksteckt. Ein Kleinkind an der Hand eines Vaters versucht, dessen Aufmerksamkeit für die Auslage eines Spielzeuggeschäfts zu gewinnen, der jedoch widmet seine ganze Konzentration der verzweifelten Inbetriebsetzung des Bretts. Ein Eilender mit bemerkenswert kurzen Beinen hält das Brett zwischen rechter Wange und Schulter geklemmt, während er links und rechts Henkeltaschen schleppt. Ein Radfahrer mit flatternder Jacke slalomiert freihändig zwischen den Fußgängern und guckt immer wieder auf das Brett. Eine Halsbrecher-Nummer für die Artistenmanege böte sich an: Salto mortale mit gleichzeitiger Smartphone-Bedienung. Eine Schülerin spricht in das Brett und wehrt ihre Mutter ab, die sich Schulnoten zu erfragen bemüht. Eine Schülerin spricht in das Brett mit einer Schulkollegin, die unmittelbar neben ihr zu sitzen scheint. Es stellt sich aber heraus, dass sich die Angerufene am anderen Ende der Straßenbahn niedergelassen hat. Jetzt kämpft sie sich mit dem Brett am Ohr und Boxerfaust zu ihren Freundinnen durch. Eine Frau motzt ein energisches NEIN in das Brett. Ein Mann nimmt das Brett und sagt JA. Einer hält das Brett wie eine Fernbedienung und zappt. Jemand schaut sich auf dem Brett einen Film an. Oder es sind Fernsehnachrichten. Oder ein YouTube-Video. Oder eine Botschaft der Klingonen. Ein Sonderling sitzt nur so da. Der hat kein Brett dabei, er schnäuzt sich lediglich.

Bernhard Hatmanstorfer

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 14034