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Braune Blätter

Wie der Herbst
fällt das Gefieder ab
Wolken umnebeln den Himmel
Er fällt hart,
zwischen allen

Kaffeebohnen werden zerstückelt
Heiße Dämpfe zwischen dem Echo
von leeren Wörtern,
Bankkonten,
Versicherungen

Dazwischen dein Körper,
beobachtend und regungslos,
die Welt zerflossen von Jahren

Eine Leitung Richtung Dach
und wieder hinunter
Zittrig und ein Schwindel im Kopf
Reste von den Mohnkeksen
Körper werden alt gehalten,
konserviert

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno| Inventarnummer: 16169

Das georgische Kreuz

Ein Medaillon um den Hals, eine Ikone vor der Brust, ein Flachmann vielleicht oder Knoblauchzehen, das Lieblingsbuch, ein Bild der Geliebten, eine Haarsträhne oder auch nur ein metallener Mantelknopf – Geschichten über lebensrettende Amulette gibt es viele. Meist ist es der unverbrüchliche Glaube an diese Helfer, die Segnungen und guten Wünsche von Müttern oder Geliebten, immer im Abschied unter vielen Tränen, die damit verbunden sind, und nicht der tatsächliche Schutz, die sie wirkungsmächtig machen. Denn dafür wären Westen oder Helme sicher besser geeignet, früher Rüstung oder Schild.

Ein Kreuz ist von der Natur ausersehen, dass es das unpraktischste Format unter all diesen Gegenständen hat. Nicht rund, nicht quadratisch, nicht flächendeckend, ein Nichtraum. Da kreuzt sich etwas, dazwischen ist nichts, ein Nichts von übereinander gelegten Balken. Zwei oder vier Teile übereinander, mehr ist ein Kreuz nicht.
Und trotzdem besitze ich ein solches Kreuz, ein georgisches Kreuz.

Geschenkt hat es mir Korneli, ein Freiwilliger der Tiflis-Bürgerbrigade, im Februar 1991, als ich für den ORF Moskau nach Georgien reiste, um die Volksabstimmung über die Unabhängigkeit und den sich abzeichnenden Bürgerkrieg zu beobachten. Die Demonstrationen für und gegen den damaligen Präsidenten Swiad Gamsachurdia nahmen immer gewalttätigere Ausmaße an, und die Fronten waren aus der Ferne nicht mehr zu überblicken. Es war noch die Sowjetunion, in der sich Journalisten nicht frei und unbegleitet bewegen durften. Daher bekamen wir im Informationsministerium- einer Abteilung des KGB – einen Fahrer und einen Begleiter zur Seite gestellt und wurden zu einer Reise nach Gori verdonnert, an den Geburtsort des größten Sohnes des Landes Josif Dschugaschwili alias Stalin. Ich wäre gerne in der Stadt geblieben, die summte von Demonstranten, und hätte am liebsten sofort ein Interview mit dem neugewählten Staatsoberhaupt Gamsachurdia geführt. Unser Glück dabei war, dass man uns als Begleiter den jungen, smarten Ghia, genannt Gigi, zuordnete, obwohl weder Wolodja, der Moskauer Kameramann, noch ich einen Dolmetsch brauchten. Gigi hatte Anglistik und Amerikanistik studiert, schrieb Gedichte und erzählte ziemlich früh frei heraus, dass er in die Schweiz auswandern und bisnisman werden wolle.

Wenn in der hügeligen Ebene mit den vielen heißen Quellen schon die ersten Anzeichen des Frühlings zu sehen waren, herrschte in den Kaukasus-Bergen noch König Winter. Der Fahrer Ivan schraubte den robusten Lada-Jeep die schmalen Straßen immer höher hinauf und zwischen mannshohen Schneehaufen durch, die gnädigerweise die tiefen Schluchten links und rechts verdeckten.

Gori ist ein hässliches Riesendorf sowjetischer Prägung, in dessen Mitte der Stalin-Tempel thront, der über der ebenfalls künstlich nachgebauten Geburtshütte errichtet worden war, mitsamt all den erbarmungswürdigen Devotionalienläden und andächtigen Wallfahrern.
Wolodja gelangen einige schön-bizarre Aufnahmen und mir einige Interviews, keineswegs nur alte Stalin-Nostalgiker, sondern auch Schulklassen und Hochzeitspärchen, die sich vor dem Tempel ablichten ließen. Junge, glückliche Gesichter, Plastikgläser auf eine lichte Zukunft!

Wie die durchnässten weißen Kleidersäume schlapp über die Stiefel in den Februar-Matsch hingen, das ist das Bild, das ich mitgenommen habe.
Nachdem wir den Gori-Ausflug pflichtschuldig hinter uns gebracht hatten und uns der Hauptstadt näherten, peitschten plötzlich Gewehrsalven durch die Landschaft. Ivan reagierte blitzschnell und legte eine Vollbremsung hin. Schlitternd kam der Lada zum Stehen, Ivan riss die Tür auf und warf sich auf die Erde, Gigi und ich taten es ihm nach, und Wolodja gelang es noch geistesgegenwärtig, die Kamera an sich zu reißen. So lagen wir mit dem Kopf nach unten im Gatsch des Straßenrandes, platt am Boden und versuchten zu erlauschen, woher die Schüsse über unseren Köpfen kamen. Ich konnte und musste den drei Sowjetmännern vollkommen vertrauen, hatten sie doch alle mindestens drei Jahre Armee hinter sich. Ich war seit den jugendlichen Räuber- und Gendarmspielen solche Körperertüchtigung nicht mehr gewohnt. Als ich einmal wagte, den Kopf ein paar Zentimeter zu heben, sah ich, wie Wolodja sich salamanderartig zur Seite bewegte, die Kamera mit einer Hand hochhaltend. Er stieß einen leisen Pfiff aus, es ihm nachzutun. Ivan und Gigi blieben im Schutz des Lada liegen, während Wolodja und ich tiefer in den Weingarten hineinrobbten. Wenn schon Rebstöcke mit dem vollen Sommerlaub nicht der großartigste Wall gewesen wären, so waren sie jetzt in ihrem entlaubten Zustand nicht mehr als ein Wald von Zahnstochern, zwischen die sich die Kugel leicht verirren konnten. Und weit und breit kein Haus, kein Zaun, keine Hecke, sondern sanfte Rebhügel, soweit das Auge reichte, die berühmte Weinlandschaft von Kachetien, die ein paar Monate später wieder die herrlichsten Säfte liefern würde.

Natürlich dachte ich in diesem Moment nicht an den zukünftigen Wein. Blöd gelaufen, klassisch, zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie schossen sicher nicht auf uns persönlich, sondern wir waren irgendwo dazwischen geraten. Aber die Sowjetunion zeigte sich in einem Zustand, in dem nicht einmal eine KGB-Begleitung Sicherheit garantieren konnte.
Dazu würde ich Gamsachurdia im Interview befragen müssen, wenn wir da je wieder herauskamen. So ungefähr sah es in meinem Hirn aus, als ich am Boden liegend, die Wurzeln der Rebstöcke studierte. Ich weiß nicht, wie lange, in solchen Augenblicken erstirbt das Zeitgefühl.

Da tippte mir jemand leicht auf die Schulter, und als ich herumfuhr, sah ich über mir einen Mann mit Kalaschnikow, der mir zuzwinkerte und seinen Zeigefinger an die Lippen hielt. Pssst!
Er bedeutete mir, dass ich mich in die Halbhocke aufrichten und hinter ihm tiefer in den Weingarten hineinlaufen sollte. Hinter einer Holzhütte, wahrscheinlich ein Geräteschuppen, wartete schon Wolodja und empfing mich mit einem erleichterten Lächeln.

Das war Korneli, ein Kämpfer der Bürgerbrigade des Präsidenten Gamsachurdia. Das erfuhren wir aber erst später, nachdem er uns in ein Dorf mit festen Häusern gelotst hatte, wo seine Einheit stationiert war. Sie waren eine Freiwilligeneinheit von Paramilitärs, die gegen die moskaugesteuerten „Fledermäuse“ kämpften. Wir waren in ein kleines Geplänkel geraten, aus dem uns später Korneli und zwei seiner Männer zurück nach Tbilisi führten. Hier vereinigten wir uns glücklich mit Ivan und Gigi, die selbständig zurückgekommen waren. Als Entschädigung für den Schreck lud uns Korneli in unserem Hotel auf ein üppiges georgisches Mahl ein, bei dem ich mich auf das heilsame Borschomi-Mineralwasser beschränkte, weil seit dem Weingartenerlebnis meine Gedärme rumorten. Mir wurde das ausnahmsweise gestattet, nicht ohne den Hinweis, dass auch in Jalta Stalin den magenkranken Roosevelt mit in Borschomi aufgelöstem Weinbrand traktiert hätte. Nach ungezählten Gläsern mit rotem Kindzmarauli, weißem Zinandali, nach den nicht enden wollenden Toasts auf Heimat, Freundschaft, Liebe und die Frauen, öffnete Korneli seine Uniformbluse und zog ein Kreuz hervor, das er mit einem Lederriemen auf der Brust trug. Er will, er muss es mir schenken, es hat seinem Vater gehört und schon ihn beschützt, als er im Großen Vaterländischen Krieg gekämpft und mit der Roten Armee meine Heimat befreit hat. Geschnitzt hat es sein Großvater aus einem alten Wurzelstock, als er im Bürgerkrieg 1918 für das unabhängige Georgien kämpfte. Ich protestierte heftig, das könne ich nicht annehmen, aber gegen die georgische Gastfreundschaft ist kein Kraut gewachsen. Was ein Georgier anbietet, muss man annehmen, und sei es die Großmutter oder der eigene Sohn.

So kam das georgische Kreuz zu mir. Es ist aus dem Holz eines Rebstockes geschnitzt, in einem Stück, etwa zwanzig Zentimeter lang, rötlich-braun und an den Seiten abgeflacht und poliert, dass man die Maserung sehen kann. Die Querbalken zeigen leicht nach unten, sodass es eine Ähnlichkeit mit einem Mann-Piktogramm hat, das die Arme sinken lässt. An der Vorderseite verlaufen fein ziselierte Messingleisten in alle vier Äste, die sich zu kleinen Kugeln verdicken. Nicht zu übersehen, dass die Verzierungen der mäandernden georgischen Schrift nachempfunden sind. Vielleicht haben sie sogar etwas zu bedeuten, was für ein Spruch? Am unteren Ende ragt an einem gebogenen Stiel ein kleiner Kerzenhalter hervor, in den eines der dünnen Bienenwachsstäbchen der orthodoxen Kirche passt. Auch Weihrauchkörnchen kann man darin abbrennen.

Ich bin kein Kreuzträger, kein Fetischist, kein Kerzerlanzünder oder Amulettträger. Aber dieses georgische Kreuz hing seither neben jedem meiner Schreibtische, bis heute. Wenn ich nach rechts oben aufschaue, ruhe ich mich darauf aus. Es strahlt harmonische Energie aus, vielleicht entspricht es dem goldenen Schnitt. Sogar jemand, der meine Geschichte und Kornelis Geschichte dahinter nicht kennt, sieht sofort, dass das Kreuz kräftig und zart zugleich ist, dass es erdig und schwebend wirkt, dass es einfache Volkskunst ist, aber in einer der uralten Formen des frühesten christlichen Volkes, die jetzt noch überall in den Kirchen und Friedhöfen Georgiens zu finden sind.

P.S.: Bilder von den wild tobenden Demonstrationen bekam ich in den nächsten Tagen zur Genüge, und durch Gigis Vermittlung auch das Interview mit Gamsachurdia. Dieses geriet allerdings zur größten Pleite meiner journalistischen Laufbahn.
Der Dichter, Dissident und Neupolitiker Gamsachurdia war so begeistert davon, dass mir Rudolf Steiners Schriften bekannt waren und ich aus dessen Heimat kam, dass er ausschließlich über ihn reden wollte. Er hatte nach Englisch und Französisch extra Deutsch gelernt, um Steiner im Original lesen zu können. Als verurteilter Nationalist hatte er in fünfzehn Jahren Gulag und Verbannung viel Gelegenheit dazu.
Schon sein Vater Konstantin, ebenfalls Dichter und Literaturprofessor, Germanist und Übersetzer, war Steinerianer und gründete die erste anthroposophische Gesellschaft Russlands. Sohn Swiad sprach mit Begeisterung darüber, wie er Orthodoxie mit Anthroposophie verbinden und zur Staatsphilosophie des neuen Georgien machen wollte. Ich erkannte, dass ihm Monologe lagen. Wenn Monologe gut sind, ziehe ich sie Dialogen vor. Aber ich war nicht in der Position der genießenden Zuhörerin, sondern eine Journalistin, die ein brauchbares Interview, ein paar bearbeitbare Wortspenden heimbringen und eine Story darum herum basteln musste. Ein Monolog ist, als beobachte man einen Menschen, der ein Buch nur für einen selbst schreibt: Er schreibt es, liest es vor, spielt es, korrigiert es, genießt es, freut sich darüber, freut sich über seine Freude; dann zerreißt er es und wirft die Schnitzel in alle vier Winde. Es ist ein erlesenes Schauspiel, denn während er es vorführt, ist man ein Gott für ihn, falls man nicht ein gefühlloser, ungeduldiger Trottel ist.
Große und lange Bögen zog er von Kolchis, den Argonauten, dem Goldenen Vlies zu Medea, zur der legendären Königin Tamar bis zum heutigen Tag. Ich hatte keine Chance. Er war in jeder Hinsicht massiv und eine merkwürdige Mischung: 1,90 Meter hoch, noch im Sitzen sah er aus wie ein Adlerhorst, ein großer Kopf, den ich für typisch georgisch hielt. Die Hände waren zu klein für den Körper, zu zart für einen Machtmenschen und die Gesten zu sanft. Er hatte etwas ausgesprochen Tragisches an sich, das seine lebhafte Mimik noch betonte. Die Augen unter buschigen Augenbrauen und schweren Lidern, groß wie Granatäpfel und dunkel wie Kaukasus-Seen, eine Adlernase, auch die dicken Lippen unter einem struppigen Schnurrbart und der dichte graue Haarschopf schienen ständig adlerumflattert. Er schien die ganze Zeit nur von sich zu reden und wirkte dennoch nie egozentrisch. Er sprach von sich, da er sich für die interessanteste Persönlichkeit hielt, die er kannte. Das gefiel mir, weil es mir manchmal ebenso ging. Er sprach von sich genauso wie von seinem Land. Seine Familiengeschichte führte er bis an Tamars Hof im 12. Jahrhundert, ins Goldene Zeitalter, zurück, ein Adeliger der ersten Stunde. Obwohl wir russisch sprachen, musste der Ministeriums-Übersetzer Gigi an meiner Seite sitzen, der ständig nickte wie eine chinesische Katze, auch seine Rustaveli-Familie hat einen Stammbaum bis zu Tamar. Meine Fragen zur aktuellen Politik ignorierte der Präsident ebenso elegant und gewalttätig wie vollständig. Alles, was er in seinem Monolog von sich gab, war sehr interessant für ein Geschichts- und Literaturseminar, aber ich bekam von ihm keine einzige für den aktuellen Bericht „verwertbare“ Antwort. Ebenso klar wie das Scheitern meines Interviews war, dass Gamsachurdia der falsche Mann auf diesem Posten war und sicher besser in die Argonauten-Saga passte.
Er lachte über die Ironie der Geschichte, die ihn, den Stubengelehrten, Dichter und Gulag-Häftling an die Spitze des Staates geschwemmt hatte. Er sah stets die humoristische, lächerliche Seite der Dinge – das wahre Kennzeichen einer tragischen Gesinnung.
Am Platz vor den Toren des Palastes wogten die Massen hin und her, die Miliz prügelte sich in Hochform, ab und zu drang ein Knall durch die dicken Wolkenvorhänge. Ich habe den Saal als ins Rosige getauchte Hölle in Erinnerung, in der der Präsident von Kolchis und dem Mittelalter schwafelte. Möbel und Parkett aus Rosenholz, alle Bezüge der falschen Biedermeiermöbel, alle Karaffen und Gläser, voll mit dem entsprechend farbenen Granatapfelsaft, funkelten diese Farben wider. Mir war schlecht. Mir war düster. Eine solche Verzweiflung, dass ich seine fünfzehn Sekunden Originalton im Georgien-Bericht ausnahmsweise in einer freihändigen Übersetzung darüberlegte. (Ein spätes Geständnis, für alle Pegidas und AfDs, aber zu meiner Rechtfertigung, meine Einschätzung der Lage in Georgien stimmte.)

Zur georgischen Staatsphilosophie kam es nicht mehr. Gamsachurdia wurde Ende 1993 durch einen Militärputsch gestürzt und kam unter nie geklärten Umständen ums Leben.

Wien, 18.11.16

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16170

Das lange und glückliche Leben des Franz Rieser

An einem sonnigen Frühlingstag im Jahr 2013 verließ Franz Rieser sein Haus. Er versperrte die Eingangstüre und setzte sich auf die rustikale Holzbank vor seinem Heim. »Murli, Minka!«, sagte er halblaut, doch laut genug, dass seine beiden Katzen ihn hören konnten. Sie sprangen zu ihm auf die Bank und schnurrten vor Behaglichkeit, während er sie streichelte.
Zehn Minuten später küsste er die Katzen auf ihre Köpfe und verließ sein Grundstück. Mit langsamen Schritten mühte er sich den kleinen Hügel hinter seinem Haus hinauf. ›Es wäre besser gewesen, einen richtigen Spazierstock zu nehmen‹, dachte er. ›Dieses schwere Ding taugt nicht zur Gehhilfe.‹

Auf der Kuppe des Hügels stand ein Apfelbaum in voller Blüte.
Unter diesem Baum ließ Franz Rieser sich nieder. Er hatte ihn vor vielen Jahrzehnten gemeinsam mit Maria, seiner Ehefrau, gepflanzt. Er saß, seinen Rücken an den Baumstamm gelehnt, im Gras. Seine rechte Hand hielt einen zylindrischen Gegenstand, diesen betrachtete er. Er drehte ihn zwischen seinen Fingern und fühlte, wie er langsam wärmer wurde. Dann zuckte Franz Rieser mit seinen Schultern und schob den Zylinder in die linke der beiden für ihn vorgesehenen Öffnungen.

So saß er da und dachte über sein Leben nach, welches nun schon dreiundneunzig Jahre andauerte und, von zwei Ereignissen des Unglücks abgesehen, glücklich verlaufen war. Naturgemäß, wie das bei vielen Menschen so ist, kamen ihm diese beiden Ereignisse zuerst in den Sinn.
Das erste von beiden war der Michael gewesen, sein Sohn. Dieser war im Alter von vierunddreißig Jahren in Wien gestorben. In einer kalten Novembernacht im Jahre 1974 war der Michael in die Donau gestürzt und ertrunken. Lange Zeit hatten Franz und Maria keine Erklärung für den Tod ihres Sohnes finden können. Der Michael war ein hervorragender Schwimmer gewesen, also hätte er nicht ertrinken müssen. Monika, seine um drei Jahre jüngere Schwester, hatte ihren Eltern oft gesagt: »Ich bin mir sicher, dass der Michael jemanden in der Donau hat treiben sehen. Und da konnte er eben nicht anders, als ins Wasser zu springen, um diesem Menschen das Leben zu retten. Ihr wisst ja, was für eine hilfsbereite Art er gehabt hat. Und dabei, bei diesem Versuch zu helfen, ist er umgekommen.«

Maria Rieser hatte sich leichter mit dieser Erklärung zufriedengeben können als ihr Mann.
Dieser war eigens nach Wien gefahren, drei Wochen nach dem Begräbnis seines Sohnes, und hatte sich in dessen Umfeld umgehört. Was er damals erfahren hatte, behielt er stets für sich, denn er wollte seine geliebte Ehefrau nicht mit Dingen belasten, die nicht mehr zu ändern waren, und Monika, Michaels geliebte Schwester, wollte er auch nicht verstören.

Er hatte mit sämtlichen Freunden seines Sohnes gesprochen und Folgendes erfahren: Der Michael war die Monate vor seinem Tod sehr unglücklich gewesen. Ein paar Freunde sprachen von todtraurig, einer gar von ärztlich diagnostizierten Depressionen. Der Alkohol war in seinen letzten Monaten das einzige Lebenselixier des Michael gewesen, erfuhr er weiters, Seelentröster und wohl auch Schlafmittel. Der Grund für diese Verzweiflung wäre wohl eine Frau gewesen, sagte man ihm, aber Genaueres erfuhr Franz Rieser nicht, natürlich aus dem Grund der Diskretion.
All das, was er erzählt bekommen hatte, sagte ihm, dass der Michael mitnichten das Leben einer anderen Person hatte retten wollen, sondern dass er seiner gequälten Seele wenigstens durch seinen Tod den Frieden hatte schenken wollen, den diese im lebendigen Michael nicht mehr hatte finden können.

Wie er so dasaß, an den Baum gelehnt und an seinen Sohn denkend, stiegen ihm die Tränen in die Augen.
›Wenn er doch nur gesagt hätte, dass ihn etwas quält‹, dachte er, ›dann hätte ich ihm doch helfen können. Dann hätte sich der Bub nicht umbringen müssen. Aber er hat ja nie etwas gesagt.‹ Er weinte stumm vor sich hin. ›Er hat nie etwas Vernünftiges gemacht, der Michael‹, dachte er weiters, ›keine Arbeit hat er gehabt, und eine eigene Familie auch nicht. Aber er hat es immer geschafft, wenigstens irgendwie durchzukommen. Vielleicht hätte seine letzte Idee, es mit dem Schreiben zu versuchen, zum Erfolg geführt. Wenn er nur durchgehalten hätte. Ach, was denke ich da? So war es eben. Schad um den Bub.‹
Monika, das zweite Kind von Maria und Franz Rieser, hatte stets entsprochen und die ihr gestellten Aufgaben aufs Beste erledigt. Sie hatte Medizin studiert und arbeitete als Hautärztin in Graz. Sie war mit einem Notar verheiratet und hatte zwei wohlgeratene Töchter, welche selbst jeweils zwei Kinder zur Welt gebracht hatten.

Am Tag vor diesem Frühlingstag im Jahr 2013 hatte Franz Rieser mit seiner Tochter telefoniert. »Monika«, hatte er sie gefragt, »was soll ich der Mama von dir ausrichten?«
»Papa«, hatte sie geantwortet, »es wird noch eine lange Zeit dauern, bis du die Mama wieder triffst!«
»Wenn ich sie treffe, ganz egal wann das sein wird: Was soll ich ihr sagen?«
»Bitte sag ihr, dass es uns allen gut geht und dass wir sie vermissen.«
»Das werde ich. Soll ich ihr noch etwas sagen?«
»Ja. Sag ihr, dass ich erkannt habe, dass sie recht hatte.«
»Womit hatte sie recht?«
»Sie hat immer gesagt, dass zwei Menschen oder Dinge, die zusammengehören, stets beisammen sein müssen.«
»Ja, das hat die Mama oft gesagt.«

Und sie hatte es nicht bloß gesagt, Maria Rieser hatte nach diesen Worten gelebt, so wie auch ihr Ehemann.
Von Kindesbeinen an hatten sie sich gekannt, waren sie doch auf benachbarten Bauernhöfen aufgewachsen. Sie waren im selben Jahr, 1920, geboren worden, bloß drei Wochen trennten ihre Geburtstage. Sie hatten die selbe Klasse in der Volksschule besucht, und danach auch in der Hauptschule nebeneinander gesessen.
Maria hatte eine Lehre zur Schneiderin abgeschlossen, Franz eine zum Tischler, doch hatten sie ihre Berufe nie zum Gelderwerb ausgeübt, denn Franz Rieser war es, als einzigem Kind seiner Eltern, bestimmt, den Hof seiner Familie zu übernehmen.

Im Alter von sechzehn Jahren waren die beiden eine, zunächst heimliche, Beziehung eingegangen, die bis zu Marias Tod Bestand hatte, und sogar über diesen hinaus, denn Franz hätte niemals zugelassen, dass eine andere Frau als seine Maria neben ihm liegt. Auch fühlte er sich zu alt dazu.
Sobald sie volljährig geworden waren, hatten sie geheiratet, und im Alter von zwanzig Jahren hatte Maria Michael und drei Jahre später Monika zur Welt gebracht. Vom Zweiten Weltkrieg waren sie verschont geblieben. Franz Rieser hatte es durch verwandtschaftliche Beziehungen so einrichten können, dass er nicht an die Front musste, und in der kleinen Ortschaft im steirischen Hügelland fand der Krieg so gut wie nicht statt.

Franz führte den Hof seiner Familie vorbildlich. Er sorgte gut für das Vieh, und mit der Zeit wurde der Hof immer größer. Neue Ställe wurden erbaut, Obstgärten von benachbarten Gehöften übernommen, und bald galt das Ehepaar Rieser als reich.
Und in der Tat, Sorgen hatte es keine. Franz liebte seine Arbeit, und so verwundert es nicht, dass er sie gut verrichtete. Er konnte es sich leisten, ein großes und ertragreiches Jagdrevier mit vielfältigem Wildbestand zu pachten und wurde ein begeisterter und eifriger Jäger.

Seine Ehefrau widmete sich den Kindern, die beide das Gymnasium des Nachbarortes besuchten. Monika lernte gut und maturierte mit Auszeichnung, der Michael musste zwei Klassen wiederholen und legte seine Matura mit Ach und Krach ab. Monika studierte dann Medizin in Graz und der Michael Kunst in Wien. Jedoch brach er sein Studium nach wenigen Semestern ab und lebte vorwiegend von dem Geld, das ihm von seinen Eltern überwiesen wurde.
Auf Urlaub fuhr die Familie Rieser selten, und wenn doch, dann bloß für wenige Tage nach Italien. Selbst als längst Knechte und Mägde auf dem Hof beschäftigt und die Kinder aus dem Haus waren, gönnten sich Maria und Franz keinen langen Urlaub.
Sie waren sich eben selbst genug. »Das Wichtigste ist, dass wir stets beisammen bleiben«, hatte Maria oft gesagt. »Und das können wir zu Hause genauso gut wie in Spanien oder auf den Malediven.« Und Franz hatte ihr dann stets beigepflichtet.
In all den Jahrzehnten ihrer Ehe hatte es keine einzige Nacht gegeben, die sie nicht nebeneinander verbracht hatten. Und es hatte niemals Streit gegeben, noch nicht einmal Zank. Kein Ohr der Welt hätte von einem bösen Wort zwischen den Eheleuten Rieser berichten können, denn kein solches war jemals gefallen.

Franz Rieser saß unter dem blühenden Apfelbaum und dachte an seine Maria. Wieder weinte er stumm.
Vor genau einem Jahr war Maria Rieser gestorben.
Sie war ohne erkennbare Anzeichen einer Krankheit an seiner Seite eingeschlafen. Aufwachen hatte er alleine müssen.
Er griff in die Tasche seiner Jacke und zog einen weiteren zylindrischen Gegenstand heraus. Auch dieser wurde in seiner Hand bald warm, so warm, wie es ihm ums Herz war beim Denken an Maria.
›Ach, meine Maria‹, dachte er, ›vor genau einem Jahr bist du gegangen. Wie geht es dir? Und wie geht es dem Michael? Ist er bei dir? Ich habe dir heute Blumen auf dein Grab gelegt. Und nachgedacht. Schon bald werde ich wieder an deiner Seite sein.‹ So dachte er, während er den Blick fest auf den Gegenstand in seiner Hand gerichtet hielt.

Nicht nur, dass sie niemals voneinander getrennt geschlafen hatten, man sah Franz und Maria Rieser bloß zu zweit in der Öffentlichkeit. Die raren Besuche der Dorfkirche standen sie gemeinsam durch, auch die seltenen Einkehren in das teurere und bessere Gasthaus des Ortes fanden gemeinsam statt. Sie hatten sich nicht absichtlich vom Dorfleben ferngehalten, es hatte sich einfach so ergeben, dass sie die meiste Zeit auf ihrem Hof zubrachten. Gastfreundlich, das waren sie. Wann immer jemand aus dem Dorf auf ihren Hof kam, wurde dieser Mensch großzügig bewirtet, oft mit Gerichten aus Wildfleisch, das Franz von seinen zahlreichen Jagdausflügen mit nach Hause brachte.
So war es auch nach dem Begräbnis des Michael. Beinahe alle Dorfbewohner waren auf den Hof der Riesers gekommen, um ihr Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen, denn trotz ihrer sehr privaten Lebensführung waren diese im Ort hochgeachtete Leute. Und alle wurden sie bewirtet, obwohl der Michael vielen von ihnen als Sonderling gegolten hatte, zu dem man besser Abstand hielt. Und des Michaels Eltern hatten das genau gewusst.

›Du warst die einzige Frau, die ich geliebt habe. Kein Schrei, keine Träne kann die Tiefe des Lochs ausdrücken, das dein Fortgehen in mich gerissen hat‹, dachte Franz Rieser. Das Objekt in seiner Hand war nun mehr als nur warm. Es war heiß, ganz so, als drängte die Hitze aus ihm heraus. Und Franz fühlte diese Hitze. Sie begann nämlich, von seiner Handfläche ausgehend, sich in ihm auszubreiten, immer näher kam sie seinem Herzen. ›Vorige Woche habe ich das Geld vom Verkauf des Hofes der Monika überwiesen. Selbst unsere Enkelkinder sind nun befreit von Geldsorgen. Und das ihr Leben lang, wenn sie geschickt mit dem Geld umgehen.‹

Zwei Monate nach dem Tod seiner Ehefrau hatte Franz Rieser den großen Hof verkauft und sich bloß ein kleines Haus am südlichen Rande des Anwesens behalten. Der Besitzer des örtlichen Sägewerks hatte eine sehr große Summe bezahlt und zugesichert, worauf Franz bestanden hatte, nämlich dass sämtliche Mägde und Knechte ihre Arbeitsstellen behalten durften.
Er hatte es in dem großen Haus, das er mit seiner Frau bewohnt hatte, nicht mehr ausgehalten. Jeder einzelne Einrichtungsgegenstand erinnerte ihn an sie, mit jedem Winkel eines jeden Raumes waren Erinnerungen verbunden, und zwar ausschließlich schöne.
Er, der in seinem ganzen Leben niemals eine andere Frau als seine Maria geküsst hatte, der niemals auch nur einen einzigen Gedanken darauf verschwendet hatte, einer anderen Frau die Füße zu streicheln, hätte unmöglich weiter in diesem Haus leben können. Noch dazu, wo ihr Geruch in jedem Zimmer deutlich wahrzunehmen war.
›Die Möbel habe ich den Knechten und den Mägden geschenkt. Sie werden sie in Ehren halten. Ich habe die Monika gefragt, ob sie etwas davon brauchen kann, doch bis auf ein paar Tischtücher, die du genäht hast, hat sie nichts davon brauchen können, und ihre Kinder auch nicht.‹
Er hatte sein kleines Haus mit neuen Möbeln eingerichtet, die günstig aber formschön waren, denn er hatte es nicht übers Herz gebracht, Dinge, die ihn an seine Frau erinnert hätten, mitzunehmen.

Dieses eine Jahr, dieses exakt eine Jahr, nach Marias Tod war das schlimmste im Leben des Franz Rieser gewesen.
Nach ihrer Beerdigung, an welcher eine große Zahl an Menschen teilgenommen hatte, hatte er sich um den Verkauf des Hofes gekümmert. Danach war er in ein tiefes seelisches Loch gefallen.
Er hatte jeden Tag bis zur Mittagszeit im Bett gelegen, jedoch keineswegs schlafend, sondern hellwach und in Gedanken versunken. Allein, er wusste oftmals selbst nicht, woran er dachte. Natürlich dachte er oft an Maria. Diese Gedanken waren die einzigen, die für seine Seele greifbar waren, denn jedes Mal, wenn sie wieder verschwinden wollten, hielt diese sie fest und zerrte sie zurück in den Fokus seiner Wahrnehmung.
Dann stand er auf, versorgte Murli und Minka, die Katzen, und bereitete sich ein kärgliches Mittagsmahl zu, meist bloß Suppe und ein Stück Schwarzbrot. An den Nachmittagen spazierte er oft über seinen ehemaligen Hof und unterhielt sich mit den dort arbeitenden Menschen, bevor er, schon am frühen Abend, ermattet zu Bett ging.

Monika, seine Tochter, war viele Male aus Graz gekommen, um ihrem Vater Gesellschaft zu leisten. Wenn es das Wetter zuließ, saßen sie auf der Holzbank vor seinem Haus und sprachen über Verschiedenes.
»Ich wünschte, ich wäre bereits wieder bei der Mama.« Diesen Satz musste Monika oft hören und auch ertragen.
»Papa«, pflegte sie dann zu sagen, »der Augenblick wird kommen, in dem du wieder bei der Mama bist. So wie er eines Tages auch für mich kommen wird, dich und die Mama wiederzusehen. Und den Michael.« Den letzten Satz sagte sie oft seufzend.

Eines Tages erzählte Franz Rieser seiner Tochter, was er vor vielen Jahrzehnten in Wien über die letzten Monate im Leben des Michael erfahren hatte.
Monika brach daraufhin in Tränen aus, aber es waren keine Tränen der Trauer, sondern solche der Befreiung. »Papa«, schluchzte sie, »ich habe es immer gewusst, dass der Michael sich umgebracht hat.« Das Wort ›gewusst‹ schrie sie beinahe heraus.
»Wie, du hast es gewusst?« fragte Franz erstaunt.
»In seiner Wohngemeinschaft gab es dieses eine Mädchen. Sie hat mich angerufen, nachdem der Michael gesprungen ist. Auf dem Küchentisch hatte er einen Brief für mich hinterlassen. Darin steht, dass er seine Schatten nicht mehr aushält. Und dass ich euch nichts davon erzählen darf, dass es Selbstmord war. Weil er euch nicht noch mehr belasten wollte.«
Franz legte seine Hand auf die seiner Tochter, sah ihr lange in die Augen und flüsterte: »Ich habe es auch gewusst. Ich hatte zwar keinen Beweis, aber tief in mir habe ich es gewusst.« Dann lagen sie sich in den Armen, minutenlang und weinend.

An diesem Frühlingstag im Jahr 2013, unter einem blühenden Apfelbaum sitzend, wusste Franz Rieser, dass er zu seiner Maria gehen wollte und auch würde.
›Meine Maria, du hattest recht‹, dachte er. ›Was zusammengehört, muss zusammenbleiben. Und das gilt auch für die Seelen. Zwei Seelen, die zusammengehören, müssen wieder zusammenkommen. In wenigen Augenblicken sind wir wieder vereint, du, der Michael und ich.‹

Ein letztes Mal blickte Franz Rieser auf die Schrotpatrone, die er in seiner Hand hielt, dann schob er sie in den rechten Lauf und spannte beide Hähne.
Als Monika hörte, was vorgefallen war, dachte sie: ›Leb wohl, Papa. Und sag der Mama bitte, dass sie recht hatte.‹

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16132

Mein See – Sommersymphonien am Mondsee

Den Vater meiner Mutter habe ich nie kennengelernt und weiß auch bis heute nur wenig über ihn. Er ist acht Jahre vor meiner Geburt gestorben. Die Tochter, auf die Namen Sieglinde Mathilde Hermine getauft, hat nie viel von ihrer Familie preisgegeben. Ich wusste, dass sie keinen ihrer Namen mochte und fand auch für keinen einen passenden Kosenamen. Unsere Vorschläge wie Siegi, Matti oder Hella lehnte sie ab. Mein Vater nannte sie Mama. Einige wenige Gegenstände aus dem Besitz ihrer Vorfahren sind auf uns gekommen. Alle bewunderte ich: den gravierten Handspiegel aus Silber mit Kamm und Bürste, eine Rosenthaldose für Schmuck, eine Amethystkette, die ich als Sechsjährige beim Prinzessinnenspiel verlor – alle schienen mir von außerordentlicher Schönheit und von Geheimnissen umgeben zu sein.
Sogar von Mamas Stiefmutter, die sie als Fünfjährige bekommen hat, habe ich spät und nur aus zweiter Hand erfahren. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals nach ihrer Kindheit gefragt zu haben.

Aus ihrer Salzburger Schulzeit hat sie Erinnerungen an die Trapp-Familie, mit deren einer Tochter sie das Gymnasium besucht hatte. Vielleicht sind wir auch deswegen sieben Kinder geworden? Papa machte einmal eine halbernste Bemerkung, dass Mama eigentlich acht Kinder wollte, um zumindest in dieser Hinsicht die Trapps zu übertreffen.
Gesichert ist: Großvater Karl Bruche war Ingenieur und Zeichenlehrer an technischen Schulen in Salzburg und Wien. Seine Vorfahren stammen aus Norddeutschland und aus der Zips in der Slowakei. Auf Fotos sehe ich einen alten Mann mit Kaiser-Franz-Joseph-Bart. In den Sommerferien bereiste er als Hobbymaler die Adria-Küsten. Einige Malbücher und einzelne Blätter sind erhalten geblieben und ruhen im Familienfundus.
Als Kind habe ich darin so gerne geblättert wie in Velázquez- oder Dürerbänden.

Später schenkte mir meine Mutter ein Aquarell ihres Vaters, das er zusätzlich mit Buntstiften kolorierte. Es stellt eine Küste dar, wahrscheinlich in Istrien; gerahmt von Pinien, treffen Meer und Himmel in einer Linie zusammen, am linken Rand eingeschnitten von einem Felsenstrand mit Macchia-Büschen.
Wenn ich von meinem Schreibtisch aufschaue, zurückgelehnt wie an einen Pinienstamm, kann ich das warme Harz riechen und das Konzert der liebestollen Zikaden unter dem beständigen Meeresrauschen hören.
Ein Sehnsuchtsbild. Das Land der Griechen mit der Seele suchen. Beide Eltern waren Altphilologen und Germanisten. Und sie liebten Italien: Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen? Dieses Bild hat wahrscheinlich, obwohl keine große Kunst, die Grundlage für meine Überzeugung gelegt, dass Kunstwerke in erster Linie Nutz- und Gebrauchsgegenstände sind. Lebensmittel, Überlebensmittel. Ich habe ihm vor Jahren einen schlichten Holzrahmen verpasst, er könnte von einem Baum von dort sein.

Um dem ungekannten Großvater näherzukommen, habe ich mir immer gern vorgestellt, dass dies sein Lieblingsplatz war, dieser Blick aufs Meer unter den Bäumen, vom letzten Erdstreifen hinaus ins Unendliche. Wie er auf seinem einbeinigen Malerstockerl sitzt, vorm Sonnenaufgang alleine im Nebel, in der Stille der Mittagshitze das Meer glitzert und sich im Sonnenuntergang gold-purpurn färbt. Die Farbe von reifem Weizen, hatte Homer festgestellt. Einmal auf meinen vielen Istrienreisen, habe ich in einem Moment des Schauens gemeint, bei Bale, nördlich von Pula, genau diese Stelle gefunden zu haben. Julia hat dort ein Bild gemalt und dabei unwissentlich denselben Winkel gewählt. Vererbung des Blicks, ob es so etwas gibt?

Immer lebendig und präsent war der Salzburger Großvater aber mit seinem Vermächtnis, dem Sommerhaus am Mondsee. Welche Weitsicht hat er bewiesen, als er zu Beginn der Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts ein Seegrundstück kaufte und darauf ein Holzhäuschen im Stil der Mondseer Bootshütten errichten ließ.
Im Rücken die Drachenwand und der dreigipfelige Schober, gegen den See hin eine ein Meter hohe Steinmauer, leicht rechts die stumpfe, gutmütige Nase des Schafbergs, gegenüber die sanften Wellen des Mondseer Hochmoors, später auch das Ungetüm der Autobahnraststation. Wieder ist er da, dieser Blick vom Ufer auf das Wasser, auf die Berge und in die Wolken. Morgenrot – Gutwetterbot, Abendrot bringt Schmutz und Kot – oder ging‘s umgekehrt? Hat der Berg an Huat, wird das Wetter guat, hat der Berg an Sabl, wird das Wetter miserabel.

Die Schafsnase hatte nach dem Regen oft einen Sabl. Diese Bauernregel bewahrheitete sich immer, wie Papa leicht triumphierend feststellte, als hätte er etwas dazugetan. Er war der von Mama etwas respektlos genannte „Wolkenzutzler“, weil er abwechselnd nach Westen schaute, hinter unserer Hütte, in den Wetterwinkel Richtung Salzburg, oder auf der Bank an der Hauswand sitzend, den Schafberg studierte, weil der angeblich alles verriet, was für die Wetterprognose wichtig war. So viel ist sicher, dass wir uns nie an den im Abendrot rauschgolden angemalten und von zuckerlrosa überhauchten Kalkwänden im Morgenrot sattsehen konnten.
Von diesem kleinen Uferfleck aus ließ wahrscheinlich schon der Großvater seine Blicke vom Almkogel über Scharfling bis zu den Felsstürzen und Geröllhalden auf der Brust des Schafbergs schweifen und runter, wo hinter dem Bergzwickel von Unterach der Attersee lag. Es ist leicht auszudenken, dass der Bruche-Großvater auch hier gemalt und gezeichnet hat, obwohl davon keine Spuren auf die nächste Generation gekommen sind. Oder vielleicht doch? Das Zeichentalent meiner Brüder und das meiner Tochter – stammt es von ihm? Der große Unbekannte hat uns viele schöne Sommer an diesem See geschenkt. Er hat für sich und uns mehr als eine Sommerfrische begründet, nach der Geburtsheimat Mühlviertel uns in eine mindestens ebenbürtige zweite Heimat eingepflanzt, uns im Salzkammergut eingewurzelt, bis heute, in der vierten Generation nach ihm.

Die Seligkeit war nicht zu überbieten, wenn man unter dem Glucksen, Gurgeln und zärtlichem Schmatzen des Sees gegen die Steinmauer aufwachte und sofort wusste – Ostwind – das Versprechen auf einen schönen Badetag. Über die Innenseiten des Daches zittern Kringel, die Wellen spiegeln sich in tanzenden Lichtflecken. Noch bevor man aufstand, meldeten sich die Schwaneneltern Hänsel und Gretel und ihre Jungen mit einem leisen Fiepsen, die Enten mit ihrem Geschnatter und verlangten ihr Frühstück. Wir pflückten Löwenzahn und Gras von der Wiese und bröckelten altes Brot in den See. Dass Schwäne schön aussehen, aber böse sind, erfuhren wir, als einmal der Hansl meinen Vater unter scharfem Zischen in den großen Zeh biss, so fest, dass der Nagel blau anlief und er lang nicht in die Schuhe kam.

Sogar die heftigsten Gewitter habe ich in guter Erinnerung, auch wenn Donner und Regengüsse tobten, die Blitze mit hohen Fontänen in den See einschlugen und der Sturm das Wasser aufpeitschte. Dann verwandelte sich das stille, sanfte Gewässer in Meeresungeheuer, vor denen sogar Odysseus Respekt gehabt hätte. Wir wussten uns aber in Sicherheit, weil es ja rundherum viele höhere Gebäude gab und Bäume, dass die Blitze unsere kleine Hütte mit Sicherheit nicht treffen würden. Wir zählten immer von 21 aufwärts die Sekunden zwischen Blitz und Donner, so viele Kilometer war das Gewitter noch entfernt. Schaurig-schön war es, als einmal auf dem gegenüberliegenden Ufer ein Blitz in ein Bauerngehöft einschlug und wir dem nächtlichen Inferno zusahen. Unser privates Feuerwerk. Wie alle Kinder waren wir ein wenig grausam, dem Spektakel mehr zugeneigt als dem Mitleid. Wie wir zwischen dem Donnergrollen das Tatü-Tata der Feuerwehren hörten und im Licht der Blitze und des Feuers die Männlein mit Leitern und Schläuchen hin und her wieseln sahen, das Vieh, das aus den Ställen getrieben wurde und die Menschen händeringend durcheinander liefen. Aber was wollte man gegen das Schicksal machen, wenn man Brandlgschwandtner hieß? Seither weiß ich, dass es die Angst-Lust wirklich gibt.

Wir können uns alle noch an das Bild erinnern, als die Schafbergbahn über dem langgezogenen Rücken ihre Rauchwölkchen ausstieß, zweimal in der Stunde.
Den Schafberg haben wir oft bestiegen, von jeder Seite, jeden Steig kannten wir, jede Geröllhalde auf und ab, nur nicht die Schafbergbahn selbst, die kannten wir nur aus der Ferne, nie waren wir in ihr drin gesessen. Wir kannten sie gut und wieder auch nicht, überquerten oft ihre Geleise, von unten sahen wir immer nur ihre Rauchwölkchen über dem Schafsrücken aufsteigen oder flach liegen, je nach Luftdruck – für Papa ein wichtiger Hinweis für seine Wetterprognosen. In der Senke, knapp bevor es zum Hals aufstieg, hielt es still – das war die Mittelstation. Eine Fahrt mit diesem Wunderding der Technik konnte sich eine Familie mit sieben Kindern nicht leisten. Nie. Auch in das mondäne Schafberg-Hotel waren wir nie eingekehrt. Diese steinerne Trutzburg mit den rot-weiß-roten Fensterläden blieb für uns verschlossen, wir bogen darum herum zum niedrigeren Nebengipfel, dem Adlerhorst, und schauten in die steilen Gräben des Nebengipfels hinunter auf die kühn segelnden Bergdohlen, die im Auftriebswind stehenden Bussarde und bei Glück auf Gämsen in Felsgraten und Latschen.
Als ich nach meinem Amerika-Jahr meine Gastfamilie durch Österreich, dabei auch durch das Salzkammergut, führte, lud sie mich zu einer Fahrt mit der Schafbergzahnradbahn und zu einer Jause in das Hotel ein. Ich war nicht weniger gerührt als meine New Yorker Gäste, wenn auch aus anderen Gründen. Eine späte Enttäuschung war es, als ich feststellte, dass die dieselgetriebene Zahnradbahn die Rauchfahnen schon lange künstlich herstellte.

In der Realzeit sind die Sinneseindrücke nicht getrennt, sondern eine Symphonie aller Sinne von Sehen, Hören, Schmecken, Tasten und Riechen. Am Mondsee wurde der Gleichzeitigkeitssinn geschärft, die Verdichtung des Lebens. Alles war farbiger, klarer, schmackhafter, geruchsintensiver und mit vielen Wundern gesättigt. Mit acht Jahren war ich mit der Mondsee-Initiation dran; das wurde erst möglich, nachdem die drei älteren Geschwister als erwachsen genug eingestuft wurden, im Sommer allein ihrer Wege zu ziehen. Da erst durften wir Jüngeren nachrücken, weil ja nie genug Platz für alle sieben in der Hütte war. Wir hatten damals noch kein Auto, fuhren also umständlich von Tulln mit Bahn und Autobus nach Bad Schallerbach zu Onkel Karl, der in Bachmaning eine Gemischtwarenhandlung betrieb und einen kleinen Militär-grauen Renault hatte. So einen, bei dem die Türen in der Mitte zueinander aufgehen und die Winker mit einem lauten Klicken auf den Seiten herausschnellen wie kleine Streckenwärter. Der brachte uns, ich weiß nicht wie, zusammengepresst, zu fünft nach Plomberg am Mondsee, mit allem Gepäck. Papa fuhr mit dem Rad nach. Everything goes.

Die Kirschen von Bachmaning, ich weiß nicht mehr, ob aus dem Onkel Karl- oder in einem Nachbargarten, sie sind bis jetzt noch immer die besten auf der Welt. Die Spannung in der Hand beim Griff in einen der großen Glasbehälter mit dem schrägen Hals, zu dem mich Tante Hermi eingeladen hat, ich kann sie jetzt noch spüren. Die Seidenzuckerl der Tante Hermi. Die größte Sensation, an die ich mich erinnere, war die Schartner Bombe, gespendet von den mir unheimlich reich scheinenden Onkel Karl und Tante Hermi. Das Göttergetränk in der dunkelgrünen, rundlichen Flasche mit einer gelben Zitrone drauf, das spritzig kitzelte auf der Zunge und explodierte am Gaumen, bald schon war es warm und schlabbrig wie Kinder-Lulu. Es roch im Zustand der Zersetzung nach Kaugummi, wenn wir so etwas schon gekannt hätten. Aber in diesem Geschmack aus Scharten winkte die große, neue Welt!

Bei uns geriet fast jede Situation zum Wettbewerb. Wer sah in dem Bergzwickel hinter Regau als erstes den Attersee und rief als erster: „Ah, der See!“ Wer sah nach dem Hochmoor als erstes die Spitze des Schafbergs, das erste Segelboot am Mondsee? Wenn wir an einer Burg vorbeikamen, nie vergaß Mama das „Riesenspielzeug“ von Chamisso anzustimmen, in das wir wie trainierte Papageien im Chor einfielen: “Burg Nideck ist im Elsass der Sage wohl bekannt/Die Höhe, wo vor Zeiten, die Burg der Riesen stand… /
Ein großer Silberschöpfer bei uns im Haushalt, wahrscheinlich das einzig erhaltene Stück eines Services, hieß „der Suppenlöffel von der Burg Nideck“.
Bis zu den letzten Zeilen schmetterten wir durch den VW-Käfer: „Sie selbst ist nun verfallen, die Stätte wüst und leer./Und fragst du nach den Riesen, du findest sie nicht mehr.“ Gerade da tauchten die Ruinen von Burg Wartenfels auf halbem Weg zum höchsten Schobergipfel mit dem Kreuz auf, und die heiße, beengte Autofahrt hatte in Plomberg ihr Ende. Ob die bildungsbürgerlichen Eltern uns damit die größere Realität von Dichtung praktisch vorführen wollten oder selbst nur ihren Spaß hatten? Sie sagten einander stundenlang Gedichte und Balladen auf, ihr Wettbewerb? Wer kann das heute noch wissen. Auf jeden Fall trainierte Mama bis ins hohe Alter mit dem Gedicht- und Balladenschatz ihr ohnedies ausgezeichnetes Gedächtnis. Sie hatte eine eigene Wikipaedia im Kopf.

Am Mondsee erkannte ich, dass das Salzkammergut ganz anders roch als meine Donau-Mühlviertler-Umgebung. Das frisch gemähte Gras hinter unserer Hütte bis zum Hanslbauer, das Heu, der klare, nicht modrig-algige Geruch des Wassers, wie ich es von der Donau kannte, hier viel frischer, weil aufgemischt vom durchsichtigen Seewasser, vom zitronigen Schilf und angereichert mit den Wald- und Beerengerüchen.

Die ganze Schönheit des Lebens konnte einem in einem Sommersonntag aufgehen: Draußen in der Seemitte flattern und knattern weiße Segel im Wind, Reihe um Reihe ist aufgezogen. Wir haben Glück und sitzen in der ersten Reihe, denn unserem Ufer gegenüber liegen die Wendebojen der Mondseer Segelregatta. Postkarten- und Landschaftsmalermotive mit glitzernden, türkisblauen Wellen und Schäfchenwölkchen darüber. Das Licht funkelt und flimmert, als hätte ein freigiebiger Zauberer Edelsteine ins Wasser geschüttet. Nachdem wir alle schwimmen gelernt hatten, durften wir das Holzboot des Tischler-Ebner-Nachbarn ausleihen, nach links bis zur Mündung der Fuschler Ache ins Schilf fahren oder nach rechts um den Mündungsspitz des Klausbaches, in die Bucht mit den Bootshütten bis zum Hotel Plomberg.
Viel später bekamen wir ein eigenes Ruderboot aus Plastik, das man leicht auf den Steg ziehen konnte. Franzi war der geborene Fischer und verbrachte viel Zeit im Boot, wobei er nicht einmal den Regen scheute, weil da angeblich die Fische noch besser anbissen. Mehr als einen ungenießbaren Weißfisch oder eine lebensmüde Aalrutte brachte er meiner Erinnerung nach nie nach Hause. Das Fischen ist das Ziel, nicht der Fisch, lautete einer von Mamas stehenden Sprüchen, ähnlich wie beim Wandern, keine Müdigkeit vorschützen!
Mir imponierte, dass der ganze See in Privatbesitz war und einer Frau gehörte (laut Wikipaedia heute 16 Millionen Euro wert, habe ich gerade gegoogelt). Die Gänge in das Allmeier‘sche Schloss in Mondsee, wo man die Fischereikarten lösen musste, hatten immer etwas von der Andacht einer Wallfahrt.

Wenn ich in die Tiefe der Erinnerungs-Bilder schaue, gefällt mir aber ein anderes noch besser. Wenn man vor Sonnenaufgang aufstand, und ich tat das, weil ich immer nur kurz schlief, konnte man den Fischer in seiner flachen, langgezogenen Zille hinausfahren sehen – hieß sie nicht Plätte? – eine einsame, aufrechtstehende Gestalt, im Morgennebel Netze auswerfend. Ein Bild wie von einer tausendjährigen Steinabreibung vom südchinesischen Meer hat sich eingeprägt. Wenn wir beim Frühstück saßen, bei Milch und Eiern vom Hanslbauer, Joghurt und Käse aus der Mondseer Molkerei und Brot aus der Teufelsmühle, selbst eingekochte Him- oder Heidelbeermarmelade darauf schmierten, dann fuhr er die Saiblinge und Reinanken, Forellen und Hechte ein, die er aus den ausgelegten Netzen und Reusen einsammelte.

Ich kann nicht entscheiden, zu welcher Zeit der See am besten roch. In aller Früh, wenn Fische, Algen und Schilf zusammen ihre Gerüche an Land schickten oder in der prallen Sonne, wenn das Heu duftete, die imprägnierten Holzbalken der Hütte in der Hitze siedeten oder nach dem Regen, wenn die Luft getränkt war mit Erd- und Waldgerüchen.
Obwohl wir oft genug Anlass hatten, über das Salzkammergutwetter, den Schnürlregen, zu jammern, der uns an den Badefreuden hinderte, habe ich auch die Regentage in schöner Erinnerung. Wenn die Tropfen anscheinend endlos an den Fensterscheiben herunterrannen und draußen die putzigen, von uns Duckanterl genannten, Haubentaucher ihre Köpfchen-unter-Wasser-Spiele aufführten, wir die Sekunden zählten und die Meter schätzten, wie lange sie unter Wasser bleiben konnten und wo sie wieder auftauchen würden.
In der Geborgenheit des Dachgiebels, auf den staubigen Strohsäcken liegend, ein Buch auf den Knien, hörten wir dem vielstimmigen Trommeln und Prasseln des Regens zu.

Wir hatten immer viele Bücher dabei und lasen um die Wette, spielten viele Gesellschaftsspiele, Quartette oder Stadt-Land. Das Hüttenbuch lag immer bereit. Alles wurde aufgeschrieben, dieses Buchführen war vor allem Mamas Leidenschaft. Aber wie bei allem, hatten unsere Eltern auch für die Ferien ein Programm, niemand durfte einfach nur so in den Tag hineinleben. Oft wurden wir unter Murren, ausgerechnet bei schönstem Wetter, vom See in die Berge zum Wandern gestampert. In den ersten Jahren noch mit der Bad-Ischlerbahn, später mit dem Postautobus, in den letzten Jahren mit Papas VW-Käfer, klapperten wir Orte und Berge im ganzen Salzkammergut ab.
Wir bevölkerten die Almen, Bergseen, Hütten, Schluchten und Latschenhänge, Adlerhorste und Gipfelkreuze mit ihren Gipfelbüchern und Stempeln. Ich glaube, wenn wir anderen Wanderern begegneten, fragten die sich, ob wir ein Kinderheimausflug waren. Wir hatten genagelte Goiserer an den Füßen, die mit knarrendem Eigensinn Blasen produzierten, Hubertuswetterflecke, die bei Regen schwer wurden als Ziegeldecken, nach Schaf rochen und auch in Tagen nicht trockneten; der Familienrucksack mit den Aluminiumproviantdosen ging zum Tragen reihum. In der am Gürtel baumelnden Feldflasche war nie Kracherl oder Sirupsaft, sondern immer nur reinstes Quellwasser. Auf mancher Almhütte waren wir dem Genusshimmel nahe, wenn wir einen Becher Buttermilch bekamen.

Wenn andere Kinder nach den Ferien von ihren Sommerfrischen am Atter-, Traun-, Hallstätter-, Altausseer oder Wolfgangsee schwärmten, mit ihren viel größeren Flächen, größeren Schiffen, berühmteren Orten, Hotels, Villen und namhaften Gästen, hielten wir dagegen, dass der bescheidene Mondsee das bessere Wasser habe und mehr Fische. Manche verstiegen sich sogar dazu, den Mondsee abschätzig als „Tor zum Salzkammergut“ zu bezeichnen. Was, wir sollten nur Türlsteher sein? Wir waren die Perle! Einmal geriet ich mit einer Freundin in Streit, deren Familie eine Villa à la Habsburg in Steinbach bewohnte, weil sie behauptete, nur die Salzburger und Steirer Gebiete gehörten zum Salzkammergut, nicht aber das ordinäre Oberösterreich.
In gekränktem Lokalstolz hielt ich heftig dagegen: Unser Seewasser ist dafür in Sonnenperioden viel wärmer und weicher. Bis zu 28 Grad, eine Kinderbadewanne, in der man sich stundenlang suhlen kann, ohne blaue Zitterlippen zu bekommen und ohne die Eiseskälte wie in Hallstatt oder Gmunden, mit dem unheimlichen, fast schwarzen Wasser oder gefährlichen Strömungen wie im tiefen Grund des Attersees. Ja, vor allem das weiche Wasser priesen wir, in dem man keine Seife zum Waschen brauchte und keine Geschirrspülmittel. Wir bewiesen immer wieder seine Trinkwasserqualität, indem wir bei unseren Luftmatratzenschlachten literweise Seewasser schluckten.

Wenn wir vom Steg oder Boot ins türkise, kristallklare Wasser schauten, konnten wir metertief auch noch die kleinsten Spennadler erkennen und den weißen Kies am Grund. Während der Blaualgenpest verwandelte sich das türkise Kristallwasser in eine blaue Brühe, unappetitlich anzusehen, aber für die Schwimmer harmlos. Und von gutem Wasser verstehen alle Teile der Familie etwas. Waren doch die Männer der väterlichen Hälfte Bierbrauer und Wirte, die mütterlicherseits Weinbauern bei Baden. Aber es gibt auch wissenschaftliche Beweise für das gute Wasser des Mondsees. Es wird schon kein Zufall oder persönliche Vorliebe von Biologen gewesen sein, dass die Fischzuchtanstalt der Hochschule für Bodenkultur vor vielen Jahrzehnten in unserem Nachbardorf Scharfling eingerichtet wurde. Noch früher hinterlegte Kaiser Maximilian beim Fürsterzbischof seinen Wunsch, lieber in Mondsee begraben zu werden als in Innsbruck, was ihm aber verwehrt wurde.

Abgesehen von messbarer Wasser- und Luftqualität erschien mir alles um den Mondsee sauber, echt, unschuldig und unverdorben. Vielleicht weil noch eingehüllt in das „Jenseits von Gut und Böse“? (Religion: gut ist gleich schön) Vielleicht weil dort die Wurzeln der Eltern zusammenkamen? (Blut & Boden) Vielleicht weil es eine Urlandschaft war, der Prototyp einer Landschaft, in der die Menschen alles fanden, was sie zum Leben brauchten? (Blaue-Blume-Romantik).
Eine Mischung von allem, von allem etwas, was sich zu einem heilen Ganzen fügte. Weil diese Gegend in den überschaubaren Jahrhunderten keinen größeren Schicksalsschlägen ausgesetzt und daher von positiver Energie besetzt war? (Esoterik) Weil sein Name auf die rührende Volkssage vom bayrischen Herzog Odilo zurückging? (Historismus). Mama wusste natürlich, weil sie alles wusste, dass der Name nicht vom Mond herkam, sondern dem alten Adelsgeschlecht der Mann.

Es gab sicher nicht so viele spektakuläre Berge, Gebäude und Menschen wie woanders, alles war lieblich und sanft bis zur Unscheinbarkeit. Zugegeben, unsere Schiffe „Mondsee“, „Helene“ und „Wartenfels“ waren viel bescheidener als die der anderen Seen. Aber wir hatten oft das bessere Wetter, weil der Mondsee nicht von so hohen Bergen umgeben war, an denen die Salzkammergut-Regenwolken leicht hängenblieben. Und schwere Gewitter, die oft Muren und Bergstürze brachten. Wir waren auch besser gefeit gegen die badehungrigen deutschen Touristenhorden, die die anderen Seen regelmäßig überfielen, sodass kein Parkplatz und kein Bett freiblieb, man sich vor zudringlichen Blicken kaum retten konnte, die Grundbesitzer die Buchenhecken übermannshoch wachsen ließen, überall Tafeln mit „Privat – Zutritt verboten“ aufstellten, Ketten spannen oder Felsbrocken in die Einfahrt rollen mussten, die Preise in die Höhe schnellten und auf den Speisekarten so unselige Wörter wie Quark- und Blaubeerkuchen, Brötchen, Frikadellen, Eisbein und Klöße auftauchten, auf den Badeplätzen es nur so von Schippen und Eimern schepperte, von Heinz-Jürgens und Annegrets und, nöö, kuckmal! dröhnte.

Und wer hat – Hallstatt ausgenommen – etwas Ähnliches aufzuweisen wie die Mondseekultur mit Pfahlbauten und Einbäumen aus der Jungsteinzeit? Trotz all der illustren Orte konnte sich keiner mit so einem rätselhaften Namen wie „Schwarzindien“ schmücken. Das brachte einen doch gleich zu Kolumbus und Darwin. In der Kirche von St. Lorenz, mit den uralten Linden vor der barocken Pracht der zwiebeligen Doppeltürme, betete der diensttuende ugandische Priester für gutes Wetter. Weil er einen direkten Draht nach oben und zu den afrikanischen Wettermachern hatte, waren seine Gebete von größerer Wirkung als die Bayerische Wetterumschau.

Das Wort kannten wir wahrscheinlich noch nicht, aber wir fanden unseren See viel romantischer als die großen Nachbarn – wahrscheinlich sagten wir gemütlicher – weil viel mehr „unser eigener“ als die berühmten Touristenattraktionen. Meine altphilologische Mutter wird sicher so etwas wie „Locus amoenus“ von sich gegeben haben, nicht ohne auf die besondere Geschlechtssituation von Locus und Domus zu verweisen. Der Mondsee ist zweifelsfrei lieblich. Außerdem gehörten wir zu den ältesten, stolzen Seegrundbesitzern, wenn auch nur von der Größe eines Tischtuches mit einer Einzimmer-Holzhütte aus groben Balken darauf, mit von Papa selbstgebauten, himmelblau lackierten Möbeln, einem Gaskocher mit erst einer, dann – welch Fortschritt – zwei Flammen und einer Gasflasche, mit vier Strohsäcken im Dachgiebel, einer Hühnerleiter, einem Plumpsklo, das alles ohne Strom und Fließwasser.
An den Abenden saßen wir über Büchern und Schreibheften, wir spielten Städte- oder Blumenquartett, Kennst du Österreich, Mikado ohne Ende, in der Mitte Kerzen, später eine Gaslampe, heftig umflogen von allerhand Insektengetier. Ich kann mich an keine einzige Krankheit oder Krise erinnern, die uns am Mondsee erreicht hätte. Oder doch eine: Der jüngste Bruder Franz produzierte einmal einen Wutanfall, als ihn Papa zwang, den verhältnismäßig großen Weißfisch wieder freizulassen, weil er eh nur aus Gräten bestand.

Aber gab es ein besseres Stroh und Heu aus dem Stadel oder Wasser aus dem Brunnen vom Hanslbauer? Kein Hotel konnte bessere Betten, kein Restaurant frischere Fische haben. Die wirklich großen Katastrophen kannten wir nur aus Erzählungen und kleinen vergilbten Fotos, als etwa beim Jahrhunderthochwasser 1954 der See einen Meter hoch im Hütterl stand, es einzustürzen drohte, und die Familie zum Hanslbauern flüchten musste. Oder als einmal ein Sturm die große Linde fast aufs Hütterldach geworfen hätte; sie wurde gefällt, und nur der abgeschnittene Stumpf vor der Türe erinnerte noch daran.

Wegen seiner schriftstellerischen Tätigkeit bekam Papa oft Gäste aus aller Welt, auch in Plomberg. Die Amerikaner sagten immer lovely, how lovely, und so many children, so sweet and cute und dachten wahrscheinlich, dass unsere Familienhütte für ihren Hund in Kentucky zu klein gewesen wäre.
Ich habe immer viel gelesen, beobachtet, nachgedacht und in den Nachthimmel hinaufgeschaut. Die Sternbilder lernte ich dort kennen und entwickelte eine typisch jugendliche Begeisterung, wenn sich zum ersten Mal die Welt ins Unendliche ausdehnt. Als ich einmal im beginnenden Teenageralter dem Vater vom Kosmos vorzuschwärmen begann, sagte er so etwas Rätselhaftes wie: Verwechsle nie Quantität mit Qualität, Masse und Mensch. Und gab mir Elias Canetti und Ortega y Gasset zu lesen.

Die Luft war sauber und vollkommen dunkel bis hinauf zu ihrem Geblinke. Wenn es unter dem Dach auch in der Nacht noch zu heiß war, durften wir in der Wiese schlafen und wachten taubeschlagen auf. Der Klausbach rauschte damals noch vom Almkogel herunter in einigen Stufen von Wasserfällen, gleich neben uns schüttete er sich in einem kleinen Delta in den Mondsee, ein Sandstrand, wo wir spielten und von dem wir in Kübeln Kies für die Wege um die Hütte holten. Ein tägliches, morgendlich ungeliebtes Ritual für uns Kinder, die langen Fleckerlteppiche auszuschütteln und die Hütte auszukehren. Ordnung muss sein.

Ich hatte damals keine Vergleiche, aber Jesolo (sie sagten Dschesolo), Caorle oder Lignano Sie sagten Liknano), von denen damals schon manche Mitschülerinnen schwärmten, können nicht schöner gewesen sein. Da war ich sicher.
Sie redeten von Gelati und Tutti frutti, ich dagegen war selig, wenn ich in der Mondseer Milchtrinkhalle ein Erdbeer-Frufru bekam. Das Viertelglas war braun, hatte eine Metallkappe und darunter eine zweifingerdicke Schicht von Marmelade. Der Löffel war überlang, damit man sich die Finger nicht ankleckern sollte. So einen Löffel hatten wir bei uns nicht. Aber genau das liebte ich, das Abschlecken der Finger, des Löffels, des Randes und das ewige Auskratzen bis zum letzten Restchen. Auch das ist eine Mondseesymphonie, das helle Klingeln, unser Klingeln mit den Löffeln in den Glasfläschchen.

Einer unserer schönsten Spielplätze war der Klausbach, solange er nicht bei Gewittern wild wurde. Von der Mündung durchs wilde Bachbett sprangen wir rauf oder runter, von Stein zu Stein, in den natürlichen Badewannen dazwischen plantschten wir im eiskalten Wasser und kletterten an der Thekla-Kapelle den Wildsteig an das Steilufer hinauf. Ich müsste jetzt nachschlagen, d.h. googeln, wofür die Heilige Thekla zuständig war, dort und damals. Das Innere der Kapelle war übersät mit Bildchen, Briefen und Devotionalien: Beine, Arme, Herzen und andere unbestimmbare Körperteile, dazu Kerzen, Münzen und Blumen. Die Sträuße in den Vasen, das Tannenreisig und die Farne waren immer frisch, auch die Gaben von Beeren, Äpfeln und Nüssen, also mussten Menschen, Frauen, diesen Ort häufig besuchen.
Ich erinnere mich an die Abbildung der Hl. Thekla mit einem Löwen und anderen wilden Tieren, die in dieser Gegend nicht vorkamen. Der altarähnliche Aufbau über einem weißen Leinentuch mit eingesticktem Kranz von IHS war einem Scheiterhaufen nachgebildet, auf dem die Figur der Märtyrerin stand. Sie war der erste Mensch, den Paulus taufte. Eigentlich war die in Syrien als römische Offizierstochter geborene Thekla nur eine Protomärtyrerin. Denn nach den Paulusakten hatte sich das Feuer geweigert, die als bekennende Christin angeklagte Jungfrau zu verbrennen; die wilden Tiere, die sie im Zirkus eigentlich zerreißen sollten, retteten und versteckten sie in einer Höhle im syrischen Dorf Maalula, wo sie bis ins hohe Alter ein Eremitendasein geführt haben soll.
Ein orientreisender Dichterfreund hat mir erzählt, dass er im dortigen Thekla-Kloster das Vaterunser auf Aramäisch, der Sprache der Bibel, in tiefer Bewegung gehört hat. Die Menschen sprachen den altsemitischen Dialekt, dessen sich auch Christus bedient hat. Das waren die Laute, mit denen Wasser in Wein verwandelt, Fisch und Brot vermehrt, die Bergpredigt gehalten und Lahme gehend gemacht wurden. In ihrer Höhle hat er aus derselben Quelle getrunken wie die Römerin. Thekla war schon im frühen Christentum so populär, dass man ihr schon im 4. Jahrhundert in Mailand eine Kirche widmete, an der Stelle, wo heute der Dom steht und wo man sie noch heute in der Krypta besuchen kann.
Übrigens: Was hat es zu bedeuten, wenn überhaupt, dass ich nun schon seit 42 Jahren in einer Wohnung lebe, die sich genau zwischen Paulaner-Kirche und St. Thekla befindet? Darauf bin ich gerade erst gestoßen, als ich diesen Text verfasst habe.

Unsere Thekla-Kapelle im Plomberger Wald stand auf keiner Lichtung, sondern auf einem von Baumstümpfen und einigen grob gezimmerten Holzbänken umsäumten Platz zwischen Tannenstämmen, so hoch, dass kaum je ein Sonnenstrahl auf den Boden traf, und niemand den Himmel oben sehen konnte. Etwa in einer Erwachsenen-Kopfhöhe, wir waren viel zu klein, um näher daran zu kommen, hingen von den Baumstämmen dunkle, verhutzelte Fetzen herunter. Es hätten Flechten sein können. Hedi und Franzi waren gewiss dabei, weil ich sie immer hüten musste. Ich weiß nicht, ob sie sich daran erinnern. Das waren an die Stämme angenagelte Plazentas, als Fruchtbarkeitskult und zur Abschreckung? Ich habe nie danach gefragt. Eindeutiger waren da schon die Totenbretter, die ebenfalls an die Tannen genagelt waren mit eingeritzten Jahreszahlen. Was sollte die erste christliche Jungfrau aus Kleinasien ausgerechnet mit einem Plazenta-Kult zu tun haben? Heute vermute ich, dass dieser Brauch wahrscheinlich älter als das Christentum ist, wahrscheinlich ein keltischer Kultplatz, der später in die Thekla-Verehrung hineinkulturiert wurde. Die Rundtänze der Feen und wilden Weiber auf diesem Platz malte ich mir besonders gern aus.
Aber unser selbst geschaffenes Zauberreich lag im Wald zwischen den moosüberwachsenen Felsmugeln rechts von der Thekla-Kapelle, oberhalb des Weges, im Geröll des Drachenwandfußes, wo die Farne größer waren als wir.

Die Geschwister werden immer dabei gewesen sein, aber ob sie die gleiche Beziehung zur unsichtbaren Welt hatten, kann ich nicht sagen. Ebensowenig, ob sich die ältere Lisl für unsere Zauberwelt interessiert hat. Ich sehe sie in diesen Zwergenwaldbildern nicht, viel deutlicher den Kopf mit den schönen, dicken Zöpfen über ein Buch auf den Knien gebeugt und dabei strickend. Oder stickend. Kreuzerlstiche in grobes Naturleinen hinein, rot und schwarz. Immer mehr Tischdecken und Polster begannen das Hütterl und das Tullner Haus zu beleben. Sie war in dieser Hinsicht genial, sie konnte beides gleichzeitig.
Wir bauten den Zwergen, Trollen, Feen, Waldschraten und Geistern, von denen wir den Wald so sicher bewohnt glaubten, wie wir an den lieben Gott glaubten, kleine Häuschen, ja ganze Dörfer bauten wir, damit sie nicht immer unter der Erde bleiben müssten. Aus Zweigen, Ästen, Steinen, Tannenzapfen, Bockerln, Gras und Moos legten wir die Anlagen zwischen den Felsblöcken an, bestreuten die Wege mit weißem Kies aus dem Klausbach, pflanzten Bumen, Beeren und Bäume aus Farnen und Fichtenzweigerln, bauten Bankerl und Vordächer, damit auch sie vor Regen geschützt waren. Die Erdgeister erschienen als Feuersalamander, die Feen als Schmetterlinge und die Nymphen als Libellen.

Der Wald war reich an duftenden Zyklamen; dass sie nach unserem Blumenquartett unter Naturschutz standen ebenso wie der Enzian, kümmerte uns nicht, der Zweck heiligt die Mittel. Aus Farnen und Tannenreisig bastelten wir Palmen. Die Fenster legten wir sogar mit von St. Nikola mitgebrachtem Katzensilber aus. Meine Bewunderung für Moose und Flechten geht auf diese Zwergerlarchitektur zurück. Es gab viele Arten mit verschiedenen Farben und Formen. Wir hinterließen auch milde Gaben: Beeren, Nüsse und Brotbrösel. Schließlich könnte es ja auch im Wald noch Hänsel und Gretel, Brüderchen und Schwesterchen, Schneewittchen, Schneeweißchen und Rosenrot geben, vielleicht auch Dornröschen und Rapunzel. Meine Lieblingsfigur war die Schlangenkönigin mit ihrem Krönchen am Kopf, der man, das wusste ich von der Großmutter in St. Nikola, immer ein Schüsselchen mit Milch hinstellen musste.

Wenn wir unsere Bauwerke manchmal zerstört vorfanden, wahrscheinlich von Dorfbuben oder achtlosen Spaziergängern, bauten wir die Dörfer unermüdlich wieder auf, noch reicher und prachtvoller, und sagten uns, die Bewohner seien unzufrieden mit ihren Häusern gewesen. Ich war überzeugt, dass sie, wie im Märchen die sieben Zwerge, im Erdinneren lebten und zur Arbeit ins Bergwerk gingen, während Schneewittchen den Haushalt besorgte. Ich durfte aber nie, um die Existenz von Schneewittchen und den Zwergen zu überprüfen, um Mitternacht in den Wald. Bis heute eine große Erkenntnislücke. Ich fühlte mich als Expertin, schließlich war meine erste Bühnenrolle bei der Katholischen Jungschar der 7. Zwerg, der zwar keinen einzigen Satz allein sagen, aber immerhin im Chor, mit einem angeklebten Bart aus Werg am Kinn, über die Bühne stapfen durfte, wenn wir im Gänsemarsch, mit roter Zwergerlmütze und einer Laterne über der Schulter in den Stollen marschierten. Das Schneewittchen war Hedwig, die Hübscheste, so sicher wie ein Naturgesetz.

Die Hitze liegt noch immer auf dem See und brütet still in den Wiesen, wenn die Sonne langsam hinter der Drachenwand verschwindet und mit den letzten Strahlen die Schafsnase rosa-golden färbt. Zwischen uns und den Bergen macht sich ein Gemisch aus kurz- und kleingehackten Schatten breit. Obwohl der Maler den großen Nachbarsee für seine Sommerfrische bevorzugte, ließ er uns bescheidenen Nachbarn doch genügend klimt‘sches Wiesengrün mit Safrangelb, silbriges Grün mit den dunklen Flecken des Hochwalds übrig. Er hat am Attersee nicht alles weggemalt, er hat dort nur akribisch die Natur als Theorie der Optik untersucht und sich dabei vom zuvielen Wiener Gold erholt. Mit Mohn, Margeriten, Glockenblumen, Wiesenschaumkraut, Zittergras, Arnika, Skabiosen, Thymian, Wermut, Hahnenfuß und Johanniskraut.
Einiges davon sammelten und trockneten wir für Tees. In einer Seitengeschichte gibt es die Erinnerung, dass Mama einmal die ganze Familie fast vergiftet hat. Mit Waldmeistersekt, der in die falsche Richtung aufgegangen war. Auf ein „Komponierhäusel“ wie das des Gustav Mahler, in dem er 1893 in nur wenigen Wochen die 2. Symphonie aufs Papier warf, kann der Mondsee nicht verweisen, auch nicht auf illustre Gäste aus Salzburg, Staatsoper, Burgtheater und Musikverein.

Ich jedenfalls habe nichts vermisst. Für uns waren die Familien der Hanslbauer und Tischler-Ebner mit ihren vielen Kindern, der Fischer, die Kramerin und die Drachenwandwirtin, die geheimnisvolle Seebesitzerin und der Müller in der Teufelsmühle die wahren Hüter meines Kindheitsparadieses. Wenn wir den heißen Zehn-Kilo-Brotlaib im Rucksack nach Hause trugen, brannte die Haut nicht nur vor lauter Erwartung und es duftete, wenn wir von der Verkäuferin in der Mondseer Milchtrinkhalle eine Scheibe Mondseer Käse geschenkt bekamen und die Eltern jedem eine frische Kaisersemmel und ein Flascherl Erdbeer-Frufru kauften und das auf einem Bankerl der Uferpromenade verzehrten, waren wir reich und glücklich.
Vor Mamas Heimatstadt Salzburg hatten wir Respekt, sie zeigte uns ihre Schönheiten, die wir anerkannten, die uns aber nicht zum Verweilen einluden. Niemand von uns hat dort studiert oder sich angesiedelt. Ich glaube, dass sich keines von meinen Geschwistern in die Stadt verliebte. Wir flüchteten jedes Mal in Entsetzen vor der Künstlichkeit der Stadt und den Touristenmassen zurück an unseren See.

Aus der sorgsam gefrästen Seesichel kriecht langsam die abendliche Kühle hervor.
Das letzte Licht, das vom Westen hinter dem Schober auf das Wasser geworfen wird, ist gelb-grün-rosa. Bei leichtem Wellengang tanzen die letzten Lichtsprenkel auch noch ins Türkis-Silbrige. Die Schafsnase zieht sich ins Dunkel zurück. Nacht, gute Nacht.
In so einem Augen-Blick war es wahrscheinlich, dass Mama mit ihrer Zitierfreude an ihrem geliebten Mörike nicht vorbeikam. Wenn Papa sie seine „wandelnde blaue Blume“ nannte, verstanden wir das damals nicht, spürten aber, dass es liebevoll gemeint war.

„Gelassen stieg die Nacht ans Land/Lehnt träumend an der Berge Wand;/Ihr Auge sieht die goldne Waage nun/Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;/Und kecker rauschen die Quellen hervor,/Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr/Vom Tage/vom heute gewesenen Tage.“
(Eduard Mörike: Um Mitternacht, 1828)

Erst viel später stieß ich auf eine weniger romantische, aber umfassendere Definition von Magie, bei Franz Kafka in einem Brief vom 14. Juli 1923 an Robert Klopstock aus dem Ostseeort Müritz: “Ich glaube an die Macht der Orte oder richtiger an die Ohnmacht des Menschen.“

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16093

Die Brücke

„Sie haben die Erlaubnis, die Brücke zu passieren“, sagte die Frau in der schwarzen Uniform der Staatsschützer zu ihm, „aber Sie dürfen dann nicht mehr zurückkehren. So ist die Verordnung.“

Der Mann war unsicher. Das hatte er nicht gewusst. Er hatte angenommen, er könnte beides haben, hier seinen Wohnbezirk, dort ein bisschen Abenteuer. Nein, das war nicht möglich.

„Wollen Sie nun gehen oder bleiben?“, fragte die Staatsschützerin.

Der Mann musste sich festlegen. Fast vierzig Jahre war er hier gewesen. „Gehen“, sagte er.

Johannes Tosin

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16068

Fundstücke

Gestern Abend entdeckte ich auf dem Dachboden des Häuschens meiner Mutter eine Truhe, die mir irgendwie bekannt vorkam.
Ich hatte mich auf den Dachboden zurückgezogen, denn ich wollte vermeiden, dass meine werte Frau Mama mitbekam, in welchem Zustand ich mich um acht Uhr abends als achtunddreißigjähriger Mann befinde, wenn ich die Stunden zuvor, meist drei an der Zahl, mit meiner Lieblingsbeschäftigung verbracht habe.
Ziemlich angetrunken, wie ich eben war, öffnete ich das hölzerne Gebilde und wich vor Erstaunen zurück.

Heute, in nüchternem Zustand, halte ich meinen ersten Gedanken nach dem Aufmachen ‘Eine Schatztruhe!’ für überzogen. Als solche würde ich eher den hintersten Raum unseres Kellers bezeichnen, in welchem meine Vorräte an Bier und Spirituosen lagern und ihrer Konsumation durch mich harren – wobei ich mir natürlich im Klaren über meine luxuriöse Situation bin: Ich verfüge über eine begehbare Schatztruhe.

Ich öffnete also die Holzkiste und war erstaunt. Darin lagen Gegenstände, die ich vor vielen Jahren verwendet hatte.
Ich nahm ein großes Glas mit in Alkohol eingelegten Weichseln heraus, welches mein in allen Belangen umsichtiger Großvater mir geschenkt hatte. Ich erinnerte mich an seine Worte: “Michael”, hatte er gesagt und eine bedeutungsvolle Miene aufgesetzt, “iss die Weichseln und lass die Frauen den Schnaps trinken.”
Nun, es hat funktioniert. Die Weichseln brachten mir von meinem zehnten bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr große Freude, und dann lockerten sich die Mädchen bei meinem Schnaps auf. Danke, Opa! Prost!

Dann bemerkte ich eine seltsame Kappe in der Truhe, blau und mit einem schwarz-rot-goldenen Band verziert. Verdutzt blickte ich auf das Utensil und versuchte mich an dessen Verwendungszweck zu erinnern. Bald kam mir dieser in den Sinn: Der von Staub bedeckte Burschenhut war einst von mir gestohlen worden.
Ein Freund aus Jugendtagen hatte mich eines sehr fröhlichen und noch feuchteren Abends dazu überredet, ihn zum Haus seiner Schülerverbindung zu begleiten. Ich ging mit ihm dorthin, bekam das Käppchen und war plötzlich kein Österreicher mehr, sondern Deutscher. Kaum hatte ich es auf dem Kopf, war ich Germane. Setzte ich es ab, war ich wieder ein Steirer, also ein Österreicher von rustikaler Wesensart.
Ich stahl die Kappe und versuchte etliche Male, mich in einen Deutschen zu verwandeln, doch da kein anderer Kappenträger anwesend war, gelang mir dies einfach nicht. Stattdessen erntete ich bloß mitleidige und spöttische Blicke von den anderen Gästen in meiner Stammkneipe.

Des Weiteren fand ich ein Schienenstück und einen Waggon einer Modelleisenbahn.
‘Ach’, dachte ich, ‘einst wollte ich Lokführer werden, doch es hat nicht einmal zum Zugbegleiter gereicht!’
In diesem Augenblick, gestern, betrunken und allein auf dem Dachboden, wurde mir bewusst, wie glücklich mein Leben verlaufen wäre, hätte ich diesen Beruf ergriffen. Ich hätte eine schöne Mütze tragen dürfen, und mich insgeheim als Germane fühlen können, hin und wieder ein Gläschen mit den Lokführern oder Stammpassagieren geleert und wäre zwangsläufig immer in Bewegung gewesen.
‘Was ist stattdessen aus mir geworden?’, fragte ich mich und zerdrückte eine Träne.
‘Ein Schriftsteller, der sich mit dem Zug von einem Stammlokal ins nächste bringen lassen muss, weil er kein Auto hat und zu faul zum Laufen ist’, beantwortete ich meine Frage und seufzte.

Doch dann beschloss ich, einer plötzlichen Eingebung folgend, das Beste aus der Situation zu machen und meinen Jugendtraum wenigstens für ein paar Minuten in meinem Versteck wahr werden zu lassen, nachdem die bereits vergessene Fundgrube mit Utensilien aus meiner Jugend offen vor mir stand.
Ich nahm einen großen Schluck aus dem Glas mit den Weichseln und fühlte mich sogleich bereit, die Kappe, trotz meines mittlerweile langen Haupthaares, erneut aufzusetzen. Ich tat dies und –
Ich blieb zwar Österreicher, doch kam ich mir sogleich wie ein Schaffner vor.

Nur konsequent, gab ich dem Spielzeugwaggon einen Stoß und rief: “Dieser Zug fährt von der Steiermark nach Nirgendwo! Bitte alle die Fahrkarten vorweisen! Wer keine gültige hat, wird ohne Erbarmen -”
In diesem Augenblick ging das große Dachbodenlicht an und ich vernahm die schneidende Stimme meiner Mutter, die meinen Satz zu Ende brachte: “ein weiteres Mal mit Hausarrest belegt, denn mit knapp vierzig Jahren sollte man vernünftiger sein!”

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16058

Vorläufige Grabungsergebnisse

Vorläufig. Und um nicht an ein Ende gelangt zu sein: das Abgeschlossene eines Prozesses, der wahrscheinlich – wäre er nicht von uns ins Leben gerufen worden – nie existiert hätte. Wir nehmen es hin, dass wir immer und immer wieder nur die halbe Wahrheit wissen können. Wir nehmen es hin, dass vielleicht unsere Gedankenübungen überhaupt keine Ergebnisse zu Tage fördern werden. Wir nehmen alles so hin. Man hätte sich einmal und nur einmal auf die Suche machen müssen, nach all dem Opaken, das unterhalb unserer Wirklichkeit sich befände. Das Bewusstsein, dass wir nicht die Ersten waren und nicht die Letzten sein werden. Unser Boden der Tatsachen sollte von nun an seine Tragfähigkeit unter Beweis stellen oder ein letztes Mal unter Beweis gestellt haben. Du kannst dir kaum vorstellen: Wir hier oben leben so vor uns hin und dort unten ist vielleicht alles ganz anders. Die Reste der Zivilisation von zehntausenden Jahren und ein Zeitrahmen, der für die Erde nur ein Tag gewesen sein muss. Vielleicht, so dachte er, werde die Zukunft vorhersehbarer, hätte man nur ein genaueres Bild von der Vergangenheit und deren Vorvergangenheiten. Aber auch dies war nur eine Spekulation. Eine nichtstattfindende Grabung. Vielleicht unabgeschlossen, in Gedanken, als ob man diese Grabung nur so unternehmen könnte.

Oberflächlichkeit des eigenen Denkens, immer nur auf kürzere Zeit, ein paar Tage im Voraus, ein paar Tage im Nachhinein. Längere Pläne waren nicht mehr zu erstellen, und vielleicht war es mal einer jener Tage, in denen dir kalt wurde vor der Welt draußen, draußen, das heißt: außerhalb deines Lebensmittelpunktes. Worte, gesagte, die nichts ausdrücken sollen; Arbeit, bezahlte, die zu nichts weiter mehr führen sollte als zur Verwaltung und zu bloßem Wiederkäuen eines Apparates, der außerhalb deiner Erinnerung angestoßen worden ist. Du hättest ja noch nicht einmal gewusst, was er auf die Ausgrabung hätte mitnehmen können. Es war nicht immer so wie im Film so leicht, und kaum würdest du ein paar Meter weitergraben, würdest du vielleicht überhaupt nichts finden. Boden, der auch vor tausend Jahren hier gewesen ist. Du denkst nicht darüber nach.

Ruhend in sich an ein Ende auch der Geschichten der letzten Monate gelangen: dieselbe Stille, die du gebraucht hättest, um deine Arbeit zu beginnen und um das Um-sich-Rauschen der Welt näher wahrnehmen zu können. Nicht viele Gedanken darüber machen, nicht vieles außerhalb deines Inneren in dich hineinbringen. Das In-dich-Hineingebrachte und das, was in deiner Grundstimmung, deiner suchenden, nichts verloren gehabt hätte: Geld ausgeben zu müssen, um Erlaubnis fragen zu müssen; alles noch einmal von vorne zu beginnen, sollte es nicht funktionieren. Das Ganze bedingt sich und Zuschüsse, die man zwar bekommt, aber immer öfter noch ist darüber nachzudenken, dass man nicht alleine deswegen damit anfangen sollte.
Leider hätte sich alles nicht so ergeben, wie das Ergebnis am Anfang in der Vorstellung hätte aussehen sollen, und auch die ganze Nachzukunft dieses Ergebnisses, das noch weit außerhalb deiner Reichweite gelegen ist. Stellten wir uns Menschen vor, vielleicht vor einhundertfünfzig Jahren zu Zeiten Schliemanns und Dörpfelds. Die hätten wahrscheinlich auch einmal so drauflosgegraben, draußen, wahrscheinlich auf irgend so einem Acker. Bei Vollmond. Trunken. Hineinphantasieren die Schlachten um Troja, den Untergang Pompejis in die Erde. Unter Umständen hätte man das Ganze in einem anderen Land fortsetzen können, wenn man hier mit den Trockenübungen begonnen hätte.

Äußerlich war alles noch beim Alten: Der Grabungstag hätte ein Montag werden sollen, der fünfundzwanzigste September um acht Uhr dreißig. Was haben wir eigentlich vor dem Internet gemacht? Und immer noch nicht das Zurückkehren in die Vergangenheit, das eigentlich Beschlossene in einer Zeit, in der wir mehr Ruhe gehabt haben. Bis zum dreißigsten Grabungstag irgendwelche Ergebnisse. Und wenn nicht: Erfand man nicht für uns welche? Das Einzige, was ich hätte machen können damals, ausgeschlossen von allem. Eingeschlossen und das Ganze, was noch nicht einmal geschehen war und nicht hätte geschehen können. Das Äußere noch, was nur die Scheinwelt einer anderen Welt sein soll. Oder ist das Innere die Scheinwelt?

Und wenn es nicht so gewesen wäre, wie wir es uns vorgestellt hätten, damals? Und wenn alles anders gewesen sein muss, wie es jetzt den Anschein erweckt von der Vorvergangenheit, von der wir nichts mehr wissen können außer der bilderlosen Ahnung, dass es sie gegeben haben muss. Das Wenigste, das noch hätte geschehen können, war vorauszuahnen gewesen: Zu einem inneren Nachdenken hätte es aber dennoch nicht reichen können. Wenn am heutigen Tag irgendetwas geschehen wäre, das erwähnenswert genug gewesen wäre, um erwähnt werden zu können, dann ist es das, was uns jener fünfundzwanzigste September gelehrt hatte, nämlich, dass eine Ausgrabung das Wort GRAB enthält und Sarg und Gras und Grab verbarg. Vorläufig, und um nicht an ein Ende gelangt zu sein. Wiederlebendigwerden aus der herausgetropften Ahnenbrühe. So wortlos in sich versunken in sein Elend in vier Holzwänden. Überwältigbar. Leicht. Auferstehend auferstanden. Amen.

Freilich hättest du auch anderes unternehmen können als diese Grabung, die doch zu keinem Abschluss wird führen können. Und in einigen Wochen wäre sowieso alles wieder vergessen worden. Alltag in deinen vier Wänden. Gewöhnlichkeit innerhalb der selbstauferlegten Komfortzone. Was freilich nicht heißt, dass nur in der Archäologie und im Tiefbau gegraben werden muss. Hätte man nicht den Pflug erfunden, gäbe es keine Häuser, keinen Sinn für Ordnung in der Welt. Erst der Gedanke an die gerade Linie, die bewirkte, dass wir Zeit als Entwicklung sehen, dass wir Menschen die Erde beherrschen könnten und nicht umgekehrt. Dass nichts wie im Kreise zurückkehrt und alles sein Ende, Ziel und seinen Sinn hat. Es hat kein Ziel, keinen Sinn, kein Ende sagst du dir und denkst:
Irgendwann. Wenn es dunkel wird, weitergraben und berauscht sein von der Nacht, die nun einen Schatten wirft auf den Tag und das Mondlicht, das uns dann scheinen wird und dann wird sicherlich die Öffnung des Grabens stattfinden und hervorbringen: Leichen, Knochen, Ähnliches. Fauliges, Gärendes, Schlammiges. Zu Tage aus dem In-der-Erde aber nicht In-der-Welt sein. Ähnliches: Erdöl für den ganzen Bedarf, wie viel Erdöl schon aus der Erde genommen worden ist und hoffentlich hört es irgendwann einmal auf. Den Rest kann man sich ausmalen.

Geschichten, von denen es schon genug zu geben scheint: ein Mörder, der eine Leiche verschwinden lassen muss, Zurückgelassenes von anderen Menschen, deren Leben schon vorbei war, als deine Welt nur eine Ahnung war. Erde, Erde, nichts als Erde und Gestein. Und Gefäße und das Gequassel der Mitarbeiter. Die wunderbare Entdeckung, das Unerwartete: Grabraub. Der Fluch des Pharao. Tod und Leben und Wiederauferstehung.

Es kann durchaus sein, dass etwas entdeckt wird, das noch niemand entdeckt hat, und schon die kleinsten Abweichungen von den bisherigen Funden könnten die Theorien der Wissenschaft in Staub und Asche legen. Das zum Neuen gewordene Uralte: ein Knöchel des Neandertalers, der doch anders war, ein unbekanntes Zeichen auf Münzen. Das Wetter macht sich seinen Reim drauf, du kannst auch noch schreiben, ach herrje. So man es nicht einfach zur Seite legen kann, das Ganze. Wiederlebendigwerden und die Zeit, die vergangene, nicht auf einer Achse, nicht in Zyklen. Ernten, Sommer. In dir die alten Gewissheiten deines Lebens: das Geldverdienen, das Erwachsenenwerden, die Pennälerweisheiten. Alles, was an einem gewissen Punkt nicht mehr tragfähig sein wird.

Michael Bauer
https://mb85inbox.wordpress.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16054

Der Streik

Es war ein Tag wie der andere. Dr. Erich Perner und der Redakteur Carl Hofbauer saßen bei Kaffee und Zeitung im Bräunerhof. Beide schienen sehr vertieft in ihre Blätter. Ab und zu hob einer den Kopf, um zufrieden in die Runde zu schauen, um vertrauten Gästen einen wohlwollenden Blick zuzuwerfen oder um eben nur ein paar Worte miteinander zu plaudern. Ober Franz war seine obligate politische Ansprache längst, unmittelbar bei deren Ankunft, losgeworden. Jetzt spähte er umsichtig im Lokal umher, immer darauf bedacht, etwaigen Wünschen seiner Gäste sofort nachzukommen. Gemessenen Schrittes, versteht sich, denn nichts war ihm so zuwider wie ein hudelnder Kellner.

„Ach ja“, seufzte Erich, „denen fällt auch nichts Neues ein“, und hoffte insgeheim, dass sein Gegenüber wenigstens nachfragen würde, was gemeint sei. Carl jedoch las unbeirrt in seiner „Tagespost“ weiter. Ein Geiger hatte neben der bildhübschen Pianistin Aufstellung genommen, breitete seine Noten am Pult aus, stimmte kurz und gab den Auftakt zu einem bezaubernden, dezent intonierten Operetten-Potpourri. Ja – Alt-Wien war eben Alt-Wien. Was sollte es denn sonst sein?
Die Musik vermittelte eine Stimmung wie in den Vierzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Lediglich die Kleidung der Gäste und die der Musiker wären nicht ganz zeitgemäß gewesen. Schließlich dauerte die mangelnde Gesprächsbereitschaft seines Gegenübers offensichtlich auch Carl zu lange. „Was sagst du, Erich?“, fragte er so, als hätte er Erichs Worte nicht verstanden. Erich sah von seiner Zeitung auf. „Lateinamerikanische Komödien, mein ich.“ „Versteh nicht!“ Jetzt nahm sich Erich mehr Zeit. „Ich sagte, die jährlich spielplanmäßigen Operettenrevolutionen, Carl, und ihre ständigen Revolten gegen Diktatoren und die bewaffneten Konflikte werden mittlerweile bagatellisiert, findest du nicht?“

Carl dachte kurz nach „Weiß nicht“, brummte er. „Die Amerikaner mischen sich kaum mehr ein“, stellte Erich fest, beinahe enttäuscht, „da ist doch was faul dran. Castro hat vor zwanzig Jahren versucht, die US-Zuckerbarone zu enteignen. So einen Spuk hat man damals mit dreihundert Mann Infanterie bereinigt, aber wenn sich die Amerikaner heutzutage aufmucken trauen, stehen die Russen sofort Gewehr bei Fuß und Washington zieht den Schwanz ein. Blöd werden sie sein, sich in die kubanische Innenpolitik einzumischen, oder sich gar zwischen Nicaragua oder die Dominikanische Republik zu stellen, was?“
Aber Carl hatte nur Augen für die entzückende Pianistin und schien sich für Erichs Darstellung der Weltpolitik kaum zu interessieren. „Sie hat rehbraune Augen!“, raunte er Erich zu. Dieser richtete seinen Blick nach oben, verzog seine Mundwinkel, und nach einigem Kopfschütteln meinte er: „Siehst du dich auch hin und wieder in den Spiegel, Mann? Die ist zwanzig – höchstens!“ „Ekelhaft nüchterner Mensch! Schauen wird man ja wohl noch dürfen?“, protestierte Carl.
„Seit Castros Machtübernahme herrscht in Kuba nur mehr das Chaos“, begann Erich ein zweites Mal. „Kannst du das nicht mit dem Herrn Franz besprechen“, seufzte Carl selig und himmelte die Pianistin an. „Der Geiger ist virtuos, wirklich, aber sie…“, schwärmte er, und wandte sich nun doch Erich zu, um genauer nachzufragen. „Noch einmal, bitte! Was ist da unten los?“, fragte er Erich. „Ich sagte, auf Kuba herrscht das Chaos, total! Ein Haufen Arbeitslose, verwahrloste Plantagen, radikale Straßenszenarien – die berühmten Sozialrevolutionen – alles bloß Romantik! Der Castro bereitet, ohne es zu wissen, den Boden für die Kommunisten vor, und wenn die Amis nicht aufpassen mit ihrer Lateinamerika-Politik, wird die Volksdemokratie vor ihren Toren demnächst Wirklichkeit, würd ich sagen.“ Carl hatte sein Kinn auf eine Hand gestützt. „Ja, eh“, meinte er abwesend. „diese Fingerl! Dieses G’sichterl! Einfach süß.“

Tags darauf im Pressehaus in der Bankgasse. Aufgeregt erklärte Redakteur Willi Schiedl den Kollegen, wie man strategisch vorgehen wolle, und zwar nicht um jeden Preis ein neues Presserecht zu erkämpfen, sondern eines, das auf echter Demokratisierung bestehen sollte, proklamierte er eindrucksvoll im Plenum der Journalistengewerkschafter, was ihm auch einigen Applaus einbrachte. „Was wir brauchen“, rief er, „ist eine dringende Imageänderung, verehrte Anwesende! Es kann nicht sein, dass wir Presseleute von der Politik als potenzielle Staatsfeinde behandelt werden! Immerhin stellen wir in unserer unabhängigen Meinungsbildung eine ganz wesentliche Institution der Demokratie dar, vergessen wir das nicht! Und was uns der Minister vorgeschlagen hat, ist eine gewisse Selbstkontrolleinrichtung der Presse, die wir in Form eines Presserates verwirklichen sollten. Dazu gibt es mittlerweile ja bereits eine konstruktive Verhandlungsgrundlage. Es ist ein Komitee nominiert worden, welches heute wieder einmal mit den Herausgebern verhandeln soll. Wie man uns überdies mitgeteilt hat, ist die kommunistische Fraktion ziemlich sauer darüber, dass sie keine Vertretung hat und weder im Verband, noch im Presserat eine haben wird. Dazu möchte ich eigentlich nicht mehr sagen als das, denn das Problem spricht für sich selber!

Und nun, verehrte Kollegen, darf ich Sie ersuchen, mir in den oberen Sitzungsraum zu folgen, wo in Kürze die Verhandlungen beginnen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!“ Als der Applaus geendet hatte, strömte die träge Masse der Teilnehmer langsam hinauf in den dritten Stock, wo bereits ein Buffet hergerichtet worden war. Zuerst wurden kleine Brötchen gereicht, dazu gab es diverse Säfte, aber auch leichte alkoholische Getränke. Für die Pause stand Gulaschsuppe in großen Behältern auf Warmhalteplatten bereit.

Eine elektrische Klingel ertönte, erst einmal, dann noch einmal und schließlich ein drittes Mal. Die Doppeltüren zum Saal wurden geöffnet und die Journalisten eingelassen. Als jeder einen Sitzplatz gefunden hatte, nahmen die Verleger Kommerzialrat Grünewald, Diplomingenieur Weigelt, Dr. Straubinger und Fritz Faustmann auf der linken Seite des langen Tisches vor ihnen Platz, Willi Schiedl von der „Kleinen Österreichischen“, Peter Bauer vom „Tagblatt“ und Georg Winkler von der „Tagespresse“ auf der rechten Seite.
Es wurde langsam ruhig im Saal. Manfred Weigelt verlas die Tagesordnung und ging auf die Punkte ein, die man nun gemeinsam näher besprechen wollte. Willi Schiedl sollte die Standpunkte der Journalisten darlegen und durfte als erster Redner näher auf die Wünsche der Gewerkschafter eingehen.
Der nächste Sprecher war Fritz Faustmann vom Herausgeberverband. Beide Seiten tasteten vorsichtig ihre Positionen ab. Es kristallisierte sich jedoch bald heraus, dass die Herausgeber lediglich über Standesfragen und Urheberrechte diskutieren und von den Forderungen, etwa seitens der Journalistengewerkschaft nach höheren Löhnen, offensichtlich nichts wissen wollten. Die Journalistenseite reagierte verbittert und wollte die Herausgeber zu Verhandlungen darüber zwingen.

„Wir lassen uns nicht erpressen, meine Herren!“, rief Faustmann plötzlich, „Ihre Forderungen werden langsam aber sicher unverschämter denn je!“, und Grünewald, Weigelt und Straubinger riefen: „Nicht mit uns, meine Herren! Mit uns nicht!“ „Wir haben Ihnen längst signalisiert, dass diesbezüglich von Verhandlungen nie die Rede gewesen ist, das haben Sie wohl vergessen, wie?“, schrie Kommerzialrat Grünewald in den Saal und der sichtlich nervöse Dr. Straubinger fügte ein wenig gedämpfter hinzu: „Und wir weigern uns, solche auch nur in irgendeiner Form aufzunehmen, damit wir uns gleich verstehen!“
Aber auf Gewerkschaftsseite wollte man nicht verstehen. Kurzum, die Sitzung wurde abrupt beendet. Beide Seiten verließen beleidigt den Saal. Im Parterre scharten sich die Gremien um ihre Standesvertreter und diskutierten heftig, was nun zu tun sei. „Die glauben doch nicht, dass wir uns das so gefallen lassen!“, rief Peter Bauer vom „Tagblatt“ zornig. „Das muss endlich eine Aktion zur Folge haben, die sie nicht so schnell vergessen werden, Herrschaften!“, forderte Willi und die Kollegen gaben ihm sofort Recht. „Mit keinem Wort ist über die Vordienstzeiten gesprochen worden, das war doch ausgemacht, oder?“, fragte Georg Winkler. „Ausgemacht war gar nichts. Ich habe ja gar nicht mit ihnen vorher sprechen können, weil sie sich im Präsidialzimmer verbarrikadiert haben“, antwortete Willi und machte eine abfällige Handbewegung. „Was heißt hier Vordienstzeiten? Da wäre noch einiges auf den Tisch zu bringen gewesen!“, warf ein anderer ein, „die Neuberechnung der Grundgehälter zum Beispiel, oder, was ist jetzt mit der Erhöhung der Ausgleichszulage? Das ist mit keinem Wort bis jetzt auch nur erwähnt worden!“

„Genau!“, und „So eine Schweinerei!“, riefen einige. Vor den Türen gingen Saalordner auf und ab. Hochgradig nervös reagierten sie auf jedes lautere Wort, das hier unten gesprochen wurde und insgeheim wünschten sie, alle schon längst wieder draußen zu haben. Doch die Sektionsleiter benutzten die Gelegenheit der Anwesenheit aller, hier sofort ein Streikkomitee zu gründen, dem Journalisten aller Wiener Tageszeitungen angehören sollten. Und wenn es tatsächlich zu einem Streik kommen sollte, musste er von allen unterstützt werden, das war klar. Sogar die Sektion der Grafiker hatte sich solidarisch erklärt.

Am folgenden Tag versammelten sich die Gewerkschafter neuerlich in der Bankgasse. Diesmal wurden heiklere Punkte mit den Herausgebern angesprochen und – auch teilweise verhandelt. „Na also“, flüsterte Dr. Perner Carl Hofbauer zu, beide hatten in der letzten Reihe des Sitzungssaales Platz genommen, „es geht ja langsam!“
Und auch Kommerzialrat Grünewald atmete erleichtert auf, dass man sich ein wenig nähergekommen war und man seine Positionen trotzdem nicht völlig aus den Augen verloren hatte. Es war zwar nicht alles Wonne und Heiterkeit, doch niemand dachte heute mehr an Streik. Es kam also zur Abstimmung, in welcher der Herausgeberverband den verhandelten Punkten zustimmen sollte. Da neigte Grünewald seinen hochroten Kopf Faustmann zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Im Saal wurde es unruhig, denn die Journalisten hatten den Eindruck, als wollte Grünewald die Sache absichtlich verzögern. „Was ist jetzt? Macht endlich!“, raunte Willi Peter Bauer zu und spürte, wie seine Hände unbewusst die Aktenmappe umklammert hielten. Plötzlich stand Faustmann auf und sagte: „Meine Herren! Wir Herausgeber sind uns in einigen Punkten noch nicht so ganz einig. Wir ersuchen Sie daher, in unser aller Interesse, uns noch etwas Zeit zu geben, um in diesen Punkten noch beraten zu dürfen. Wir danken Ihnen!“, nahm seine Mitschriften unter den Arm, stand auf, mit ihm auch Grünewald, Straubinger und Weigelt, woraufhin die vier ganz einfach den Saal verließen.

Zurück blieb eine vorerst schweigende Menge völlig überrumpelter Journalisten. Dann brach eine Welle der Empörung los. „Die Herrschaften halten uns wohl für komplette Idioten!“, schrie Bauer in die Menge. „Es reicht! Das ist das Zeichen für den Ausstand!“, brüllte Winkler und hob die geballte Faust in die Höhe. Es mochte eine Weile gedauert haben, bis man sein eigenes Wort wieder verstehen konnte. Willi Schiedl, der dazwischen kurz den Saal verlassen hatte, war zurückgekommen und versuchte, beide Arme hocherhoben, die Ruhe wiederherzustellen, was auch gelingen sollte. „Verehrte Kollegen“, rief er außer Atem, „Man versucht, von ungenannter Seite, hier eine Verzögerung eines etwaigen Streiks zu erreichen! Ich kann euch jetzt nicht sagen, von wem ich das erfahren habe. Tatsache ist …“ „Was soll denn das heißen? Wir sind die Gewerkschaft, zum Donnerwetter, und wir werden selber entscheiden, ob gestreikt wird oder nicht! Ich möchte wissen, wer sich da einmischen will!“, empörte sich Peter Bauer lautstark. Alle stimmten ihm zu.

Willi Schiedl geriet zunehmend in Bedrängnis. Hofbauer, Karner, Perner und Gruber von der „Kleinen Österreichischen“ bemerkten, in welch bedenkliche Situation sich ihr Willi da gebracht hatte. „Also, das war nicht sehr g’scheit von ihm“, sagte Carl besorgt zu Erich. „Warte, ich versteh nichts!“, unterbrach ihn dieser. Aber Willi ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er wartete ab, bis sich die Aufregung gelegt hatte. „Also gut“, sagte er schließlich, „der Faustmann hat mir im Vertrauen gesagt, nicht als Herausgebervertreter, möchte er betonen, quasi als Vermittler, unter Ehrenkodex ….“ „Die wollen uns ja nur mundtot machen, wann begreifst du das endlich?“, rief ein Vertreter der Sektion Drucker und Papier zornig. „Jetzt wart einmal, Kollege“, bat Willi ganz ruhig, „es – sie wollen darüber noch einmal intern darüber beraten, versteht ihr? Danach wird man uns informieren, wie sie sich endgültig entscheiden werden.“ „Na prima! Es bleibt also alles so, wie es war, oder täusche ich mich da?“, war zu hören und, „Wenn jetzt nicht bald was passiert, trete ich aus.“

Nun schien der Karren endgültig verfahren. Carl Hofbauer war inzwischen nach vorne gelaufen und nahm Willi an der Schulter. „Hör zu, machst du jetzt gemeinsame Sache mit dem Grünewald oder mit der Sektion? Pass auf, dass dir nicht die Felle davonschwimmen, mein Lieber! Sieh dich um, die mögen dich!“, fügte er grantig hinzu. „Aber was soll ich denn jetzt machen?“, fragte Willi verzweifelt. „Streiken, du Narr! Worauf warten wir denn noch? Beschissen haben sie uns oft genug! Geht das bei dir da oben endlich hinein?“, reagierte Carl zornig und tippte mit seinem Zeigefinger auf Willis Stirn. Willi fuhr empört zurück. Die Umstehenden lachten. „Jetzt sei auch noch ein bisserl angerührt, du Mimose!“, schimpfte Carl, „tu was! Wozu hast du dich aufstellen lassen?“ Willi hatte verstanden. Wenn er jetzt nicht reagierte, wäre das Vertrauen, das man in ihn gesetzt hatte, für immer verspielt.

Punkt zwölf legten alle Tageszeitungen die journalistische Arbeit nieder und verhinderten damit die Freitagsausgabe. Alle, bis auf eine Tiroler und eine Vorarlberger Zeitung, die sich rasch Hilfskräfte geholt hatten, um ihre Ausgabe trotz allem zu bringen. Ansonsten hielt man sich überall hundertprozentig an die Streikparole. Erstaunlich war auch, dass die Herausgeber erst gar nicht versuchten, die Angestellten zur Produktion zu zwingen. Auch die APA stand hinter der Gewerkschaft. „Nun gilt es, die Nachrichten an die Fernschreiber zu unterbinden!“, riet Carl Hofbauer umsichtig, „damit uns nicht ein paar Vorzugsschüler in den Rücken fallen! Ich kenne jemanden in der Agentur!“, sagte er verschmitzt und hob seine Brauen vielversprechend. Erich, der ihn genau beobachtet hatte, lachte höhnisch: „Da steckt doch ein Weib dahinter, gib’s zu! Wenn wir dich nicht so gut kennen würden. Wenn das die Erni erfährt, gibt’s was mit der Teigwalze!“

Trotz der ernsten Lage waren die Umstehenden leicht zu einem Lachen zu bewegen. Carl rannte die Treppen der Redaktion hinunter und hielt ein Taxi an. „Austria Presseagentur, aber rasch!“, rief er dem Fahrer zu. Dort angekommen, musste er erst mühsam den Portier davon überzeugen, dass er selbst Journalist und in einer dringenden Mission unterwegs sei. „Zur Frau Hahn will ich, hören Sie!“, sagte Carl. „Moment, na hallo hallo, bleiben S’ da, ich muss erst anrufen!“, hielt ihn der übereifrige Portier am Mantel fest. „Ach was, lassen S’ mich in Ruhe, Sie Wachter, Sie verkappter! Wir sind ja hier nicht beim Militär!“, schubste ihn Hofbauer zur Seite und lief zum Lift. „Bleiben Sie stehen!“, rief ihm der aufgeregte Portier nach, „Stehen bleiben, sag ich!“
Da fuhr Carl bereits in den fünften Stock hoch, rannte um die Ecke, schnurstracks zum Büro von Frau Hahn. „Herein!“, hörte er eine forsche Stimme und stand schon im Zimmer der Redakteurin Elfriede Hahn. „Ah da schau her, der Herr Hofbauer! Dass du dich wieder einmal anschauen lässt! Was ist? Ist jemand hinter dir her?“, fragte Frau Hahn lachend und schüttelte ihm die Hand. „Dieser Beamtenstaat ist irgendwann mein Ende, Elfi!“, keuchte Carl und küsste sie sanft auf die Wange. „Jetzt setz dich erst einmal hin, du bist ja völlig devastiert! Da schau, das Hemd hängt dir auch heraus, Carli, Carli! Du wirst langsam alt!“, stellte sie lächelnd fest. „Na ja, wenn man so einen Scheißberuf hat!“, antwortete Carl, noch immer außer Atem. „Aber, hör zu, euer Telefon…“
„Was ist damit?“, fragte sie. „Das müssen wir verhindern, ich mein, dass von hier aus telefoniert wird. Es gehen immer noch Nachrichten hinaus in die Redaktionen. Wo ist denn hier bei euch die zentrale Telefonzelle im Haus?“ „Unten, im ersten Stock.“ „Kann man die nicht – du weißt schon?“ „Könnte man schon. Aber den Schlüssel hat der Sekanina in Verwahrung. Den müsste ich erst organisieren“, lachte sie, „und ich bin mir ganz sicher, dass er ihn freiwillig nicht herausrückt!“ „Dann bitte organisiere, ja? Tu’s für den Verband, für die Kollegen, aber tu es, ich flehe dich an!“, bat Carl inständig. „Also gut, für die Allgemeinheit. Warte hier!“

Die Hahn stand auf und eilte hinüber ins Chefbüro. „Herr Doktor, wir haben ein Problem!“, sagte sie zum Abteilungsleiter. „Nun? Was gibt’s, liebe Frau Kollegin?“ „Wie Sie wissen, befinden sich sämtliche Zeitungen für unbestimmte Zeit im Ausstand. Ich brauche Sie ja nicht darauf hinweisen, dass sich die APA längst angeschlossen hat.“ „Nun ja, ich habe zugestimmt, wenn auch mit Vorbehalt“, sagte Doktor Sekanina zögernd. „Über unsere Telefonleitung werden aber immer noch Meldungen an die Redaktionen durchgegeben. Der Gewerkschaftsabgesandte ersucht, dies für die Dauer des Streiks zu unterbinden. Ich möchte Sie höflich ersuchen, im Namen aller selbstverständlich, dass das für die Dauer des Streiks so veranlasst wird!“
„Wie Sie sich das vorstellen, verehrte Frau Hahn. Wir sind nicht in allen Angelegenheiten eine geschlossene Gesellschaft, wenn Sie verstehen, was ich meine?“ „Wir brauchen den Schlüssel für die Telefonzelle, Herr Doktor.“

Sekanina wand sich wie ein Wurm, begann herumzudrucksen und suchte krampfhaft nach den richtigen Worten. Frau Hahn wusste, dass sich der Schlüssel wie immer an seinem Platz an Sekaninas Schlüsselbrett befand und hatte ihn längst schon im Visier. Ein Schritt, ein Griff – und der Schlüssel verschwand in ihrem Ausschnitt. „Das … das … also ich muss schon sehr, bitten, Frau Kollegin! So geht das nicht! Also wirklich! Glauben Sie nicht, dass das keine Folgen haben wird für Sie!“, rief Dr. Sekanina völlig aufgebracht. „Doch, das glaube ich, und – vielen Dank, Herr Doktor!“, sprach’s, und war auch schon draußen auf dem Flur.

Sie eilte über eine Nebenstiege hinauf in ihr Büro, wo Hofbauer sie schon ungeduldig erwartete. „Was ist?“, rief er ganz aufgeregt, „hast du ihn?“ Frau Hahn sah ihn spöttisch an und sagte: „Nerven haben wir keine mehr, Herr Redakteur, was?“, und lachte. „Natürlich hab ich ihn, und jede Menge Ärger auch, damit du’s nur weißt. Das wird Folgen haben für Sie!“, äffte sie Sekanina nach und verdrehte die Augen. „Aha! Na, Hauptsache, es kann nicht telefoniert werden“, atmete Carl erleichtert auf. Da läutete ihr Telefon. Sie hob ab, hielt die Muschel mit der Hand zu und flüsterte: „Der Sekanina, psst! Ja, Herr Doktor? Ich weiß Herr Doktor – aber besondere Umstände machen das erforderlich – auch dass man mich fristlos entlassen kann – ja Herr Doktor – bin mir völlig im Klaren darüber. Guten Tag, Herr Doktor!“

Sie legte auf und setzte sich erst einmal. „Zigarette?“, fragte sie Carl. „Ich doch nicht, danke! Höchsten eine Zigarre.“ „Da bist du falsch bei mir“, sagte sie und lehnte sich in ihrem Sessel zurück, tat sehr entspannt und rauchte in vollen Zügen. Nach einer kurzen Nachdenkpause sagte sie plötzlich: „Ich weiß nicht, ob das klug war, was wir da gemacht haben? Carl, wir müssen den Fernschreiber lahmlegen, sonst hilft das alles nichts!“ „Meinst du? Und wie?“, fragte Carl. „Komm mit, ich brauche einen starken Mann!“ „Und der steht hier vor dir!“, gab er sich selbstbewusst.

Die Hahn kicherte. Auf dem Weg ins Parterre überredete sie einen ortskundigen Mitarbeiter, ihnen bei der Umsetzung ihres Planes zu helfen. Dieser führte sie zur Anschlussstelle des zentralen Postkabels. „So, da ist es!“, sagte Herr Bauer. „Na, alsdann, worauf warten Sie?“, fragte Frau Hahn ungeduldig. „Sie haben leicht reden. Haben Sie so etwas schon einmal herausgezogen?“, fragte Bauer.
Carl musterte das dicke Kabel mit einigem Respekt. „Dann wollen wir einmal“, sagte Bauer. Zu dritt packten sie den ungemein großen Stecker und zogen und rüttelten mit aller Kraft, bis er endlich aus der Dose heraußen war. „Kinder, ich bin total erledigt!“, stöhnte Carl und hielt sich den schmerzenden Rücken.
„Carli! So kenn ich dich ja gar nicht!“, lachte Hahn schadenfroh, „erst mimst du den starken Mann, und jetzt?“
Herr Bauer schmunzelte, hielt sich jedoch dezent im Hintergrund. „Also, dann -Operation beendet!“, triumphierte Frau Hahn. Bauer sperrte die Türe wieder ab. „Elfi, ich muss weiter. Es war mir ein Volksfest. Wir hören voneinander, gell? Wiedersehen Herr Bauer, und – vielen Dank auch!“, verabschiedete sich Carl und küsste die Hahn kurz auf die Wange.
„Bitte, bitte, es war mir ein Vergnügen, Herr Redakteur“, rief sie ihm nach, da hatte Carl bereits die Türe Richtung Ausgang hinter sich zufallen lassen. Elfriede Hahn schien sich ihrer Sache sehr sicher zu sein. „Herr Bauer, Sie schauen so nachdenklich aus! Ist irgendwas?“, fragte sie. „Also, das, was wir hier angestellt haben – ich würd sagen, erfüllt einige Tatbestände des Strafgesetzes.“ „Gehn S’, machen Sie sich keine Sorgen. Man wird uns schon nicht den Kopf abreißen. Und überhaupt, es weiß doch keiner, oder wissen Sie etwas?“ „Da haben Sie auch wieder Recht. Na dann, schönen Tag noch!“, sagte Bauer und ging zum Lift.

Am Haupteingang eilte Hofbauer am Portier vorbei. „Ha! Jetzt hab ich Sie! Legitimieren Sie sich! Glauben S’, ein jeder kann da bei uns ein- und ausgehen wie er will, lieber Herr?“, fuhr ihn der Portier an. Carl eilte an ihm vorbei. „Ja, Sie mich auch!“, schleuderte er ihm entgegen und war schon auf dem Trottoir. „Unverschämtheit!“, rief der Portier erbost. Carl lief so schnell er konnte zur nächsten Telefonzelle, um Erich in der Redaktion anzurufen.
„Hallo? Ja! Auftrag ausgeführt! Mehr noch, wir haben den Fernschreiber liquidiert – ja, genau! Jetzt geht nix mehr, glaub mir. Was sagst du? – wer? – der Präsident? Der soll nur bitten, ha ha ha! Mit dem Grünewald setzen wir uns so schnell nicht mehr zusammen, das versprech ich dir. Ich werde den Willi schon weichmachen! Wie? Das is’ mir wurscht, ob er an einem länger dauernden Streik nicht interessiert ist, verstehst du? Der Streik dauert, so lange er eben muss, basta!“, schrie Carl atemlos ins Telefon, „und die Herren von der Bundesregierung werden so lange warten, bis wir unsere Forderungen durchgebracht haben, so schaut’s aus! Und dann werden wir ja sehen, wer hier am längeren Ast sitzt, nicht wahr?“

Am nächsten Tag lag ein Schreiben des ÖGB-Präsidenten an alle Redaktionen vor mit dem Ersuchen, die noch offenen Wünsche mit der Herausgebervertretung so rasch wie möglich zu verhandeln. Die Herausgeber würden sich verpflichten, einen für die Journalisten befriedigenden Abschluss anzustreben, hieß es darin wörtlich. Zähneknirschend musste Carl Hofbauer die Entscheidung Willi Schiedls zur Kenntnis nehmen, als dieser der Beendigung des Streiks am nächsten Tag, zwölf Uhr, zugestimmt hatte.
Immerhin konnten die Journalisten mehrfach mit dem Ergebnis der neuen Verhandlungen zufrieden sein, denn sie hatten eine Erhöhung der Mindest- und Ist-Gehälter erreicht und auch einige materielle Forderungen durchsetzen können. Alles in allem wog der ideelle Erfolg, den die Aktion nach sich gezogen hatte, schwerer, als man je zu hoffen gewagt hatte. Für existenzielle Anliegen auf die Barrikaden gehen zu können, und dies nicht bloß für ein paar Stunden, sondern für die Dauer eines Produktionstages und länger – das war schon was!

Norbert Johannes Prenner
Auszug aus dem Zeitroman „Das ungeteilte Vertrauen“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16048

Der falsche Mönch

Und es begab sich Anno Domini 1991, dass der fahrende Schüler Robert eine Studienreise ins Ursprungsland unserer Kultur, nämlich nach Irland machte. Bekanntlich waren es irische Mönche, die im Spätmittelalter zu uns Barbaren kamen, um uns Lesen und Schreiben zu lehren, womit sie (ohne es zu wissen oder gar zu wollen) dem Gottseibeiuns Microsoft und verwandtem Gelichter die spätere Basis schufen. Doch nicht um diese zu erforschen, sondern in sittlicher Einsamkeit (er hatte leider kein sündhaftes Weib überreden können mitzufahren) die frommen Urväter und deren romanische Behausungen kennenzulernen war sein Begehr. Unterwegs traf er einen Gesellen aus Ostdeutschland mit derselben Absicht – und so zogen sie miteinander fürbass, denn die Zeiten waren schlecht und die um Kaugummi und Pennies bettelnden Kinder lästig und zahlreich.

Eines Tages kamen sie an ein Kloster, das schon sehr verfallen war – und kein Führer da, der sie belehrt, keine Quelle, die sie getränkt hätte. So lagerten sie in der Mitte zwischen den eingestürzten Kreuzgängen und sogen den in einer Flasche Bushmill mitgeführten Heiligen Geist zur Gänze aus. Bald fielen sie in ein angenehmes Dösen, aus dem sie von einer anrückenden westdeutschen Großfamilie aufgeschreckt wurden: „Kuck doch mal, diese faulen Gesellen liechen da am hellichten Tach rum – und besoffen sind sie auch, das ist doch eine Whisky-Flasche da, oder?“ Blitzschnell dachte Robert „Management by situation ist angesagt“, und bevor sich sein Kollege noch hochgerappelt hatte, ging er schon auf die Gruppe zu: „I’m the guide here, the admission is one pound the adults, the kids 50 pee, it will last about half an hour!“ Gewohnt, einer Autorität zu gehorchen und für alles zu bezahlen, griff der fette Wohlstandsbürger ans Herz in der hinteren Hosentasche und spendete.

Was nun die deutsche Großfamilie Erstaunliches aus der Geschichte dieses Klosters zu hören bekam, weiß Robert heute nicht mehr genau, und Gott in seiner allwissenden Einsamkeit hielt sich gewiss manchmal die Ohren zu (er liebt die Menschen bekanntlich immer noch, überhaupt wenn sie ihn zum Lachen bringen) – aber es war Erstaunliches, Düsteres und teilweise auch gänzlich Unbekanntes für die Menschheit im Allgemeinen und die Kirchengeschichte im Besonderen.

Aber zum Teufel (der sicher auch grinsend zuhörte) noch mal, wo hätten die staunenden Touristen auch reklamieren wollen, wenn sie sich die Mühe gemacht hätten, das Gehörte nachzuprüfen. Und der stolze Preis rechtfertigte eine abenteuerliche Story – überhaupt die Einlage, dass die gewisslich im Grab rotierenden Mönche einmal im Jahr mit Alkohol und Frauen sündigen mussten, um hernach eine rechte Abscheu vor diesem Treiben zu bekommen.

Wie auch immer, der Herrgott sorgt nicht nur für die Sperlinge auf dem Dach, sondern auch für die fahrenden Schüler, die sein Wort – wenn auch manchmal arg verzerrt – verkünden und dafür den unverhofften Obulus für die notleidenden Pubs in der Umgebung spendeten.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16032

Das Haus, in dem ich wohnte

2016. Drei Jahre ist es nun schon her, dass ich zuletzt hier war. Nicht, dass mir Familie nichts bedeutet. Ich stehe meiner nur nicht besonders nahe. Anlass meines letzten Besuches im August 2013 war die Hochzeit meiner jüngsten Cousine Audra, ein Jahr nachdem unsere älteste Cousine Lara geheiratet hatte. Jetzt stehe ich selbst kurz davor, in den Hafen der Ehe einzulaufen (wie klischeehaft sich das doch anhört), Karriere zu machen und vielleicht sogar Kinder zu bekommen. Nicht, dass die Idee an sich schlecht ist, aber ausgerechnet der traurige Anlass, dass mein geliebter Großvater gestorben ist, gibt mir die Gelegenheit, noch einmal über die letzten Jahre und meine Zukunft nachzudenken. Darüber, ob ich das alles eigentlich wirklich will.

Der Blick über das Feld vor dem Haus meiner Großeltern scheint unendlich weit zu sein. Und die einzigen Geräusche, die ich wahrnehme, sind das Zwitschern von Vögeln, die seit Jahrzehnten ihr Nest in der Dachrinne haben, gelegentlich vorbeifahrende Autos, das Bellen der Hunde aus den nachbarlichen Gärten und das Rauschen der Äste der im Garten stehenden Bäume, wenn der Wind von Zeit zu Zeit stärker weht. Bei den Vögeln könnte es sich um Nachtschwalben handeln. Ganz sicher bin ich aber nicht. Störche, Spatzen und Amseln gehören zu den wenigen Vögeln, die ich mit Sicherheit erkenne; jedenfalls, wenn ich sie sehe. Ich frage mich, ob die Nachbarn noch immer den struppigen, sandfarbenen und kniehohen Mischlingshund haben, den ich vor einigen Jahren gesehen habe. Am Land ist es ja nicht unüblich, dass die unterschiedlichsten Hunde miteinander Nachkommen produzieren. Wie schon sehr oft in meiner Kindheit stehe ich am Schlafzimmerfenster meiner Großeltern und lasse die Aussicht auf mich wirken. Es wird wohl bald regnen. Und niemand wird mich hier stören, denn nur ich habe die Schlüssel zum Haus meines Großvaters, die ich kurz nach meiner Ankunft ausgehändigt bekommen habe. Ich sollte bald den Brief lesen, den er mir geschrieben hat, ein paar Tage, bevor er von uns gegangen ist. Aber solange ich den Brief nicht öffne, ist es noch nicht ganz real, dass mein Senelis, mein Großväterchen, gestorben ist.

Ich bin also wieder im Haus meiner Kindheit. Meine Großeltern haben in einem Backsteinhaus an der Hauptstraße gelebt. Auf der gegenüberliegenden Seite liegt eine weite Wiese. Schon damals habe ich mich immer gefragt, wohin der Feldweg auf der gegenüberliegenden Wiese führt. Aber als Kind habe ich mich nie getraut zu fragen, geschweige denn, den Weg zur Gänze entlangzulaufen. Unzählige Sommer habe ich hier verbracht. Tytuvėnai ist ein kleines Dorf in Litauen. Überschaubar, wie kleine Dörfer eben so sind. Abgesehen vom Friedhof. Diesen Ort habe ich immer schon gemieden; schon nach dem Tod meiner Großmutter. Ebenso wie in Kirchen habe ich auch auf Friedhöfen immer ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Deshalb habe ich auch der Beerdigung meines Großvaters heute Mittag nicht beigewohnt. Ich werde erst morgen hingehen, wenn wieder etwas Ruhe eingekehrt ist. Noch weniger als leere Friedhöfe mag ich Friedhöfe, die voll trauernder Lebender sind. Ich bevorzuge die einsame Art zu trauern. Das habe ich schon als Kind so gemacht: Ich habe mich zurückgezogen, bis ich für mich wieder Klarheit geschaffen hatte. Das Haus ist so still, jetzt, wo meine Großeltern beide nicht mehr sind. So sehr hätte ich mir gewünscht, gerade jetzt noch einmal mit meinem Großvater sprechen zu können.

Tytuvėnai ist ein Ort für sich. Irgendwie war mir dieses Dorf schon immer unheimlich, von Jahr zu Jahr mehr. Und dennoch ist es meine Heimat; der Ort, nach welchem ich Heimweh habe; auch von Jahr zu Jahr mehr. Die Hauptstraße, an der das Haus meiner Großeltern steht, führt durch das Dorfzentrum. Ringsherum gibt es nicht viel. Egal in welche Richtung man fährt, es dauert lange, bis man zum nächsten Dorf, geschweige denn zur nächsten Stadt kommt. Viel zu sehen gibt es also nicht: Störche, Wiesen und eine der schönsten Kirchen Europas, die früher Teil eines Bernhardiner-Klosters war. Noch dazu sind die Leute besonders abergläubisch: Meine Mutter erinnert mich heute noch immer daran, dass man in der Nacht vom 1. auf den 2. November nicht ausgehen soll, da dies die Nacht der Toten sei. Einmal soll angeblich eine Frau unter mysteriösen Umständen umgekommen sein, nachdem sie kurz nach dem Tod ihres Mannes in eben jener Nacht unterwegs war. Und das ist nur eine der Geschichten, an die sich meine Mutter erinnert. Meine Tanten würden noch mehr Geschichten kennen, sagt sie immer. Einmal hat mir meine Mutter auch von einem Mädchenmörder erzählt, der, wie sich herausgestellt hat, der Hausmeister der örtlichen Schule gewesen war. Sie hat mir erzählt, dass er sie eines Abends, als sie mit Freundinnen verabredet war, auf einen Tee eingeladen hat. Und was hätte sie sich damals dabei denken sollen? Und wer wäre ich geworden, wäre meiner Mutter damals etwas passiert? Nicht auszudenken.

In Tytuvėnai gibt es zwei Seen: Bridvaišis und Gilius. Der See Gilius von einem Wald umgeben. Und dieser Wald hört genau an der Friedhofsmauer auf. Jedes Mal, wenn ich mit meinen Cousinen und meinem Cousin nach den sommerlichen Tanzabenden zum Haus meines Onkels durch den Wald gegangen bin, habe ich Todesängste ausgestanden. Es war immer so dunkel, dass man die Hand nicht vor Augen sehen konnte. Ständig war das Knacken des Unterholzes zu hören. Besonders schlimm war das letzte Stück des Weges entlang der Friedhofsmauer. Ich hatte stets das Gefühl, jeden Augenblick müsse ein Axtmörder auftauchen. Oder ein lebender Toter, der noch eine Rechnung mit der Welt offen hatte.

Irgendwie habe ich erwartet, dass sich etwas geändert hat, seit ich vor drei Jahren zuletzt hier war. Aber offenbar haben die Uhrzeiger hier vergessen, dass sie dazu bestimmt sind, sich weiterzudrehen. Nicht einmal der Groll meiner Verwandten hat sich gelegt. Sie nehmen es mir noch immer übel, dass ich nie zurückgekehrt bin. Nicht einmal zu Hochzeiten, bis auf zwei. Auf dem Dachboden meines Großvaters habe ich schon als Teenager alte Briefe meiner Großeltern gefunden. Aus ihnen geht hervor, dass mein Großvater wegen meiner Großmutter eine andere Frau verlassen hat – am Tag der Hochzeit. Diese pikante Geschichte haben sie uns vorenthalten, glaube ich. Ob meine Verwandten davon gewusst haben? Ich habe jedenfalls nie jemanden darauf angesprochen. Auch habe ich meinem Großvater nie gesagt, dass ich von der Existenz dieser Briefe wusste. Ich weiß aber nach der Lektüre dieser Briefe besser als alle anderen aus meiner Familie, dass sich meine Großeltern sehr geliebt haben. Sie haben es jeden Tag gelebt und auch ihre Vorgeschichte zeigt es. Aus den Briefen geht auch hervor, dass die Eltern meiner Großmutter gegen die Beziehung waren, weshalb die beiden sich eines Nachts still und heimlich abgesetzt haben. Der älteste Bruder meiner Mutter ist unehelich auf die Welt gekommen, da meine Großeltern lange nicht an eine Heirat gedacht haben. Beide hatten einige Jahre in einem großen Hotel gearbeitet, ehe sie nach Tytuvėnai gezogen waren, um eine eigene Frühstückspension zu eröffnen. Ich glaube, meine Großmutter hat sehr darunter gelitten, dass die Dinge gelaufen sind, wie sie nun einmal gelaufen sind, auch wenn sie ihren Mann, ihre Kinder und Enkelkinder über alles geliebt hat. Sicherlich wollte sie auch nur das Beste für uns, ihre Wut auf das Leben hat sie jedoch nie verbergen können. Und besonders die auf mich nicht. Alle Enkelkinder hat sie heiraten sehen, nur mich nicht. Dabei hat sie eine Heirat immer als das allerwichtigste Ereignis im Leben eines Menschen erachtet; warum auch immer sie das so gesehen hat. Leon, mein Verlobter, spricht schon seit einem Jahr davon, dass wir endlich einen Hochzeitstermin festlegen sollen, wo wir doch schon lange verlobt sind. Eigentlich sollte ich doch glücklich sein, dass es ihm mit der Hochzeit nicht schnell genug gehen kann. Ich war doch auch einmal eines dieser Mädchen, die von einer romantischen Märchenhochzeit geträumt haben. Und jetzt finde ich mehr Gründe gegen als für eine Ehe. Ich meine, wozu noch heiraten? Vieles kann man heutzutage ohnehin schon mit Vollmachten und Verfügungen regeln. Und ob der gemeinsame Nachname wirklich die sicherste Basis für eine Beziehung ist?

Leon und ich sind schon seit beinahe neun Jahren zusammen. Und obwohl man uns von außen betrachtet als glückliches Paar bezeichnen würde, habe ich schon seit einer Weile meine Zweifel an dieser Beziehung. Um genau zu sein, seit unserer Verlobung vor einem Jahr. Vielleicht, weil der Gedanke an die Ehe für mich etwas Zwanghaftes, Fesselndes und Einengendes hat. Oft frage ich mich, ob manche Paare ohne Trauschein nicht besser aufgehoben wären. Mein Großvater hat Leon sehr gemocht und einer Hochzeit schon lange seinen Segen gegeben. Und nie hätte ich ihm sagen können, dass ich an der Ehe zweifle. An der Ehe im Allgemeinen und an der mit Leon im Besonderen. Ja, Leon ist ein toller Schwiegersohn, meine Eltern vergöttern ihn; wie übrigens meine ganze Familie. Er lässt sich nicht einmal den Frust über mein Hinauszögern der Eheschließung anmerken. Er ist einfach da und tut alles für mich, akzeptiert alles. Solange ich bei ihm bin. Das scheint sein größtes Glück zu sein. Und was ist mein größtes Glück?

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16031