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Die Katze, die vom Himmel fiel

Susanne und ich waren mit dem Mitternachtszug aus Moskau am Bahnhof angekommen und nahmen ein Taxi zum Hotel in die Große Starokonjuschennij-Gasse. Weil an der Ecke des Newski eine Baustelle war, stiegen wir einige Häuser vor dem Hotel aus dem Taxi. Wir hatten jede nur einen kleinen Koffer mit und mussten nur drei Nummern bis zum “Feniks“ zu Fuß gehen. Wir waren auf einer Recherchereise für das geplante Festival zu St. Petersburgs 300. Geburtstag.

Obwohl die Strecke nicht mehr als einhundert Meter betrug, waren das wahrscheinlich die schwersten Schritte meines Lebens. Der Gehsteig war nicht vom Schnee gesäubert, sodass unsere Rollis nicht vorankamen. Wir mussten sie tragen und dabei darauf achten, dass uns der Schneesturm nicht umwehte. Ich wünschte mir einen Moment, dass ich einen Riesenrolli hätte und darin Ziegelsteine. Ich kenne Leningrad/St. Petersburg schon lange, habe jede Jahreszeit und jede Wetterlage erlebt. Aber so etwas wie in dieser Jännernacht hatte ich noch nie mitgemacht.
Der Wind stürmte von der Newa her und trug Millionen von winzigen Eisnadeln mit sich. Man konnte sich nicht schützen, er zerstach das Gesicht und blies unter den Mantel, dass er sich aufblähte und wegzufliegen drohte. Mit der einen Hand musste man den Koffer tragen, mit der anderen Mütze und Schal festhalten, also war keine Hand mehr übrig, um den Mantel wieder einzufangen. Jeder Schritt ein qualvoller Kampf. Ich blieb stehen, setzte den Koffer ab und versuchte, die Mütze mit dem Schal festzuzurren. Gerade als ich zu diesem Zweck die Arme hob, sauste etwas von oben an mir vorbei, so nahe, dass ich den Luftzug spürte, bevor das Ding neben mir mit einem dumpfen Knall am Boden auftraf. Es muss von großer Höhe und mit großer Geschwindigkeit gefallen sein, weil ich ein Sausen hörte und einen Luftzug an meinem Mantel spürte.

In der Gasse war es fast vollkommen dunkel. Der quer treibende Schnee verdunkelte die Straßenlaternen zur Unkenntlichkeit. Ich erschrak furchtbar, merkte aber, dass mich kein Ziegelstein getroffen hatte und ich nicht verletzt war. Nach so etwas schaut jeder automatisch nach oben, und da konnte ich gerade noch sehen, dass im 3. Stock zwei Fensterflügel geschlossen wurden. Natürlich meint man auch, das dazugehörige Geräusch zu hören.

Es war auch gar kein Ding, das da herabgefallen war, sondern eine Katze, die jetzt auf ihren vier Beinen stand, sich an mein rechtes Bein drückte und leise maunzte. Verdammt, war sie so etwas gewohnt? Wo war ich, in einer Erzählung von Gogol oder neben Susanne auf dem Weg zum Hotel „Feniks“? Ich schaute am Haus nach oben, drei Stockwerke und kein einziges Fenster erleuchtet.

Susanne hatte davon nichts mitbekommen und war weitergestapft, weit nach vorn gebeugt gegen den Sturm ankämpfend. Ich schrie mir fast die Seele aus dem Leib.
Bitte, bleib stehen, bitte warte, da ist eine Katze! Eine Kaaatzee!
Der Sturm verschluckte meine Stimme mit Leichtigkeit.
Sechs Schritte vor mir merkte sie, dass ich nicht mehr an ihrer Seite war und drehte sich um.
Was ist, komm weiter, was stehst du da rum?
Wir waren ziemlich gereizt gegeneinander, gegen die Kälte, den Sturm und den Eisnadelschnee.
Komm zurück, bitte, ich muss die Katze hineintragen.
Unwillig kehrte sie zu mir zurück.
Komm, gehen wir rein, ich trage die Katze rauf.
Du spinnst, komm, geh weiter, ich will ins Bett.
Nein, ich kann die Katze nicht allein lassen.
Du hast einen Vogel, ein wildfremdes Haus, es ist Mitternacht vorbei.
Weißt du, wo wir sind? Wir sind in Pieter, nicht in Wien.
Das weiß ich besser als du,
keppelte ich zurück auf den Russland-Neuling.
Ich war schon in Leningrad, da hast du noch in die Hose gemacht und nicht einmal gewusst, dass es Russland überhaupt gibt.
Ein ständiges Streitthema zwischen uns. Ihr frischer Blick der Unwissenden gegen meine Erfahrungen.

Höchst eigenartig, das Haustor war nicht abgesperrt. Die schwere Holztür ließ sich aufdrücken. Die Einfahrt war so hoch und breit, dass noch die größte Kutsche vom Newski-Prospekt einfahren hätte können. Leider war sie ohne Beleuchtung.
Wutschnaubend folgte mir Susanne und knallte ihren Koffer gegen eine Wand. Im Gegensatz zu mir hatte sie nichts für Katzen übrig. Mir waren Katzen schon immer fast teuer wie mein eigenes Leben.
Diese Katze, die vom Himmel gefallen war, hielt sich eigenartig steif, war aber eindeutig nicht tot. Unter meinem ständigen Streicheln begann sie leise zu schnurren und krallte die Pfoten in den Wollstoff meines Mantels.
Das alles war nicht ganz von dieser Welt, unter- oder überirdisch.
Kein Wunder in einer Stadt, die bevölkert wird von gestohlenen Mänteln, flüchtenden Nasen, lebendig werdenden Porträts, rückwärts laufenden Droschken und hellblauen Ferkeln, die aus Bäckereien auf den Newski Prospekt stürzen.

Bleib da stehen und pass auf die Koffer auf, ich geh rauf.
Ich hielt die Katze fest an den Körper gepresst und fand am Ende der Einfahrt einen offenen Stiegenaufgang, die zweite Auffälligkeit. Seit in Russland der Kapitalismus Einzug gehalten hatte, hatte sich das Land rasend schnell kriminalisiert. Die Menschen verrammelten sich noch in der letzten Hundehütte mit Alarmanlagen, Zahlencodes, Eisentüren, Ketten und Vorhangschlössern, manchmal alles in Kombination. Einen offenen Stiegenaufgang gab es im ganzen Land nirgendwo, noch unwahrscheinlicher um Mitternacht in einer Sturmnacht in St. Petersburg.

Trotzdem, diese Tür war eindeutig nicht versperrt, und im Stiegenhaus gab es sogar einen leuchtenden Lichtknopf. Es war eine breite Steintreppe mit einem pompös geschwungenen, reich geschnitzten Holzgeländer. In jedem Stockwerk gab es nur eine Wohnung, also ein hochherrschaftliches Haus, ich sehe darin die Karenins und Wronskis aus- und eingehen.
Ich horchte an der breiten Doppeltür – also die Hausherrenwohnung – im ersten Stock,  zu läuten traute ich mich nicht. Was sollte ich auch sagen, wenn tatsächlich jemand öffnete? Das Gleiche im zweiten Stock, eine geschlossene, aber einfache Tür, ich lege mein Ohr daran. Nichts.
Was hatte ich erwartet. War ja wirklich blöd, was ich da machte. Jetzt ging das Licht aus, und ich tastete nach dem Knopf. Als es wieder aufblitzte, blinzelte mich die Katze an, sie war groß wie ein Tigerbaby, langhaarig, semmelblond, bernsteinfarben ein Auge, das andere veilchenblau, sie schien zu schielen, ein Riesenschnurrbart und aus den Ohren kamen Fellbüschel. Sie war wunderschön. Nur die Nase war nach meinem Geschmack etwas zu flach, eingedrückt, was ihr ein leicht dümmliches Aussehen verlieh.
Sicher irgendeine kostbare Rasse. Wer warf so Prachtstück aus dem Fenster? Wer wirft überhaupt eine Katze aus dem Fenster? Und von selbst springen tun Katzen nie, außer vielleicht nach einem Vogel. Das konnte aber hier und jetzt nicht der Fall sein.

Ich keuchte in den dritten Stock hinauf und fand mich auf einer breiten Rampe mit einer balkonartigen Ausbuchtung ins Stiegenhaus. Beide Flügel der pompösen Wohnungstüre waren aufgeschlagen. Daneben brannten auf beiden Seiten Kerzen in fünfarmigen Haltern. Von außen sah ich in einen breiten Flur hinein, der mit ebenfalls Kerzen beleuchtet war, von den Wänden Kandelaber.
Ich trat nicht ein, lugte nur ins Halbdunkel, wo ich weiter hinten in einem ebenfalls mit Kerzen ausgeleuchteten Zimmer mehrere Menschen um einen runden Tisch sitzen sah.
In einer Formation wie zu einer Séance. Sie sprachen nicht und sahen alle auf einen leeren Stuhl. Die sechs Menschen waren gekleidet im Stil des ersten Viertels des 19. Jahrhunderts. Ich rief laut ins Zimmer hinein:
Hallo, ich habe hier Ihre Katze. Sie ist aus dem Fenster auf die Straße gefallen.
Obwohl ich kein Französisch spreche, hörte ich mich, wie ein Tauber, der plötzlich zu einem Gehör kommt, ihn auf Französisch ansprechen.
Gleichzeitig bemerkte ich, dass die um den Tisch Anwesenden nicht schwiegen, sondern ebenfalls Französisch sprachen, sie saßen aber zu weit weg, als dass ich Worte hätte versehen können, eher so wie wenn auf einem Tonband der Soudtrack auf Französisch eingestellt war, ein französisches Rauschen sozusagen.

Ein Mann in Puschkin-Aufmachung löste sich vom Tischkreis und kam zu mir an die Tür. Ohne ein Wort nahm er mir die Katze ab und ging in das Zimmer zurück. Auch keinen Dank, als wäre dies die normalste Sache von der Welt, dass jemand die Katze auffing und zurückbrachte. Ich erkannte eine gekräuselte Perücke mit Zopf, hoher Stehkragen, bunte Weste, Spitzenjabot, Kniebundhosen, weiße Strümpfe, Schnabelschuhe und ein Stöckchen mit Silberknauf – eine perfekte Imitation, so viel konnte ich in der Geschwindigkeit erhaschen.
Vielleicht eine Theaterprobe?
Ein Schauspielerklub?
Verein der Freunde Gogols?
Puschkin lebt! e.V.

Vieles war möglich in dieser phantastischen Stadt. Manchmal meint man ja, dass man es mit einer Fata Morgana am Meer zu tun hat, in einem wirren Albtraum oder Fieberwahn steckt, nicht in einer modernen Viermillionenstadt.
Aber wenn es eine Séance war, um Puschkin, Gogol oder Tolstoj herbeizurufen, warum musste man eine Katze aus dem Fenster werfen?
War sie ihr Medium? Eine Inkarnation? Käme dann der Geist eher?
Ich kann mich nicht erinnern, je in der russischen Literatur von einer fliegenden Katze gelesen zu haben, nicht einmal bei Gogol. Der hat es nur zu fliegenden Kürbissen gebracht.
Aber Katzen gelten ja seit den alten Ägyptern als heilige und geheimnisvolle Tiere, oft als Begleiterinnen von Zauberern, aber auch des Teufels. Teuflisch, unheimlich, dass meine Phantasien manchmal wahr werden. Aber wenn jetzt noch Anna Karenina und Wronski hereinrauschen, werde ich mich freiwillig für verrückt erklären lassen.

Ich stürzte die drei Treppen hinunter. Susanne stand im Eingang, scharrte ungeduldig mit den Füßen und rauchte. Vom Innenleben dieses Hauses erfuhr sie nichts, wir gingen schweigend bis zum Hotel. Genauso gut hätte ich ihr erzählen können, ich sei einem Einhorn begegnet. Sie war absolut phantasielos. Ich verriet auch nicht, dass ich gerne noch geblieben wäre, um diese seltsame Runde vielleicht beim Verlassen des Hauses beobachten zu können. Wir haben nie über dieses Erlebnis gesprochen. Sie hat auch nicht gefragt. Sie ist ein zu nüchterner Charakter, als dass sie mir ein Wort von dem Gesehenen geglaubt hätte. Sie hat auch keinen Bezug zu den St. Petersburger Besonderheiten, dieser phantastischsten, unwirklichsten Stadt der Welt.

Deshalb erfuhr sie auch nichts von meinen Assoziationen zu Puschkin, Gogol und den Karenins. Vielleicht hat sie das Tagebuch eines Wahnsinnigen schon gelesen? Zu oft schon hat sie mich für meine überschäumende Phantasie ausgelacht, als sei dies etwa eine Krankheit oder zumindest eine schlechte Gewohnheit, die ich mir besser abtrainieren sollte. Ich habe sie daher auch nicht für meine Kunstprojekte engagiert, sondern als Assistentin für Finanzen und Organisation. Das machte sie ausgezeichnet. Für die fliegenden Katzen war ich zuständig.

Nur einmal wurde Susanne stutzig. Ein Teil des Festivals sollte im Stadtschloss der Fürsten Scheremtjew abgehalten werden. Es diente seit der Revolution als städtischer Kulturpalast. Der erste Scheremetjew war ein Mitstreiter und Günstling Peters des Großen und für seine Dienste reich belohnt worden. Später wurden sie reicher und mächtiger als alle anderen Adeligen zusammen, fast so reich wie die Romanows. Sie unterhielten ein eigenes Theater für Opern und Ballette mit dreihundert Leibeigenen, eine Musik- und Malschule, viele Paläste, eine Flotte und dreihunderttausend Seelen auf Gütern im ganzen Reich. Ein Scheremetjew heiratete sogar eine junge, schöne, begabte Sängerin der Oper, eine Leibeigene.

Der Direktor persönlich gab uns eine Führung und zeigte uns in einem der Säle eine geheime Tapetentür, hinter der eine enge Wendeltreppe in die Tiefe führte. Es war der Hinterausgang des Palastes zur Fontanka, wo Bewohner und Gäste ein Boot besteigen und ungesehen verschwinden konnten. Ob ich hinabsteigen darf? Ja, der Direktor ging uns mit einer Taschenlampe voran und führte uns durch kanalartige Gänge bis zu einem Türchen. Dieses könne er allerdings nicht öffnen, das dürften nur die Beamten für das städtische Flusswesen. Ich bedauerte dies sehr, dachte ich doch an die Besucher in der Bolschoj Starokonjuschennij. Susanne ließ sich zu ihrer emotionalsten Äußerung hinreißen, die ich je von ihr gehört hatte:
Tolle Geschichte, toll erfunden und noch toller inszeniert.

Ich dagegen glaubte dem Direktor jedes Wort und sehe sofort die Figuren vor mir, die in Kapuzenmäntel gehüllten Liebhaber, Geliebte, Ballettmädchen, Zigeunerinnen, Zauberer, Geldwechsler, Goldmacher, Wunderärzte, falsche Mönche und Meuchelmörder, wie sie durch die Korridore schleichen, durch das Türchen treten, in die auf der Fontanka wartende Barke steigen und lautlos im Dunkeln entkommen.

Das Rätsel um die Katze aus dem Palais in der Bolschoj Staronkonjuschennij perulok Nummer 7 und seine Besucher konnte ich nicht aufklären, obwohl ich in den nächsten Tagen noch zweimal zu diesem Haus ging. Das Haus stand tatsächlich da und sah bei Tageslicht genauso aus wie um Mitternacht. Es war aber jedes Mal fest verschlossen und hinter den Fenstern nichts zu sehen. Ein ehemals herrschaftliches, jetzt aber heruntergekommenes Stadtpalais, wie es sie in St. Petersburg um den Newski Prospekt herum zu Hunderten gibt.

14.7.17

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 17145

Wandern

Samstagmorgen. Ich konnte nicht weiterschlafen. Gudrun hatte das Bett, in dem wir die letzten fünf Nächte verbracht hatten, früh verlassen. Ich stieg aus dem warmen weichen Bett, welches an Wärme und Weichheit gewinnt, wenn sie ebenfalls darin liegt, ging in die Küche, küsste sie, brühte mir einen Kaffee, rauchte eine Zigarette mit ihr auf dem Balkon, verrichtete dann meine Notdurft und stellte mich unter die Dusche.

Gudrun fragte mich, ob ich Lust hätte, mit ihr zum Haus ihres Vaters zu fahren, es würden Fotos angefertigt werden von den Mitgliedern der Familie zum Zweck der Behübschung der Einladungen für das bevorstehende Gartenfest. Ich bejahte, fuhr mit ihr (um präzise zu sein, fuhr sie mit mir – ich befinde mich nicht in Besitz einer Fahrerlaubnis), ihrem Bruder Clemens und dessen Freundin Kathi zum Haus ihres Vaters, vermied, allzu hingebungsvoll, was großflächig miteinschließt, von Lara, dem Familienhund, abgeleckt zu werden (das freundliche Wesen eines Hundes ist für Menschen überaus angenehm – Allergiker weinen in diesem Fall aus vor Freude strahlenden Augen) und durfte mit auf ein Foto, natürlich gemeinsam mit der Tochter des Hauses.

Nach dem Verzehr von Grünzeug (auf Gudruns Seite) und Fischsuppe (auf meiner) auf in den Süden. Die Fahrt ereignislos, die Musik eher die dunkle – was heißt unerwiderte oder verlorene – Liebe be-, aus- und fallweise das Lebenslicht zu Ende leuchtend; das undefinierbare Gefühl, das einen beschleicht, wenn man Lieder hört, die einen Ausweg be- und ausleuchten, den man selbst unzählige Male in Betracht gezogen hat.
Einige kleine Ortschaften, sogenannten ‘Kaffs’ nicht unähnlich, sogar noch schlimmer als das Kaff, das mich hervorgebracht hat, Werbebanner auf den übermannshohen Umfriedungen aus Maschendraht für die örtlichen Sportplätze (meist handelt es sich bei diesen um Fußballplätze, die sich durch eine Rasenqualität auszeichnen, die der von Übungsgolfplätzen nicht unähnlich ist, auf welchen blutige Anfänger Abschläge üben. Es ist nun nicht so, dass der Rasen an den in einem Gehege für Erdmännchen gemahnt. Gott bewahre! – Aber beinahe…).

Die Werbebanner machen, logisch, Werbung. Nicht für Rolex, Apple oder Mercedes Benz, vielmehr für örtliche Gewerbebetriebe. ‘Frisör Sabine’ ist beispielsweise in ruraler Gegend oft zu lesen. (Ich kenne durchaus Frauen, die Sabine heißen, doch keine von ihnen geht dem Beruf der Frisörin nach. Offenkundig verhält es sich in ländlicher Gegend – und Gesellschaft – vulgo Provinz – so, dass der Berufsstand in den Augenblicken festgelegt wird, in welchen die Taufkerze entzündet und dem Säugling geweihtes Wasser über den Kopf gegossen wird. Ein weiblicher Säugling, der den Namen Sabine erhält, ist, so sieht es aus, auf den Beruf Frisörin abonniert, während ein männlicher, der Manfred getauft wird, sein Leben allem Anschein nach entweder auf einem Rohbau, um diesen fertigzustellen oder in diesem zu wohnen und zu trinken, oder, wenn er motorisiert ist, auf einem Gabelstapler zuzubringen hat. – Ich persönlich würde diese Berufsbestimmung vermittels Vornamen als ‘Das Gesetz der Provinz’ bezeichnen.)

Gleinstätten – ein erster Höhepunkt! Die durch den Ort führende Straße ist zweifarbig. Zum einen ist sie in der als gewöhnlich – also normal – zu bezeichnenden Farbe von Asphalt gehalten. Zum anderen ist sie – und das ist das Außergewöhnliche – in Teilen von ockergelber Farbe. Noch heute frage ich mich, was es mit dieser Zweifarbigkeit auf sich hat. Die Antwort, die mir als erste durch den Kopf schoss (es handelt sich um eine Art ‘Rauschparcours’ für die bekanntermaßen notorisch dem Alkohol zusprechende Landbevölkerung: Auf dem Weg vom Gasthaus in das traute Eigenheim gilt es – selbstverständlich ohne zu mogeln! -, sich an folgende Vorgabe zu halten: Die dunklen Stellen der Straße durch den Ort dürfen auf allen Vieren zurückgelegt werden, während der trinkende – oder getrunken habende – Gleinstättener die hellen Stellen aufrechten Gangs hinter sich zu bringen hat), halte ich nach reiflicher Überlegung für unbefriedigend. Auch andere Antworten bringen mich nicht weiter bei der Frage nach dem Sinn der Zweifarbigkeit dieses Straßenabschnitts.
Vielleicht hat der Gleinstättener Bürgermeister auch einfach eine Wette verloren, oder der wohl größte ortsansässige Betrieb plant, sämtliche Straßen nach und nach in eine Art (vielfarbiges?) Schachbrett zu verwandeln, um auf diese Art und Weise den durch den Ort fahrenden staunenden Nicht-Gleinstättenern die Vielfalt an Farben darzulegen, in der seine Dachziegel zu fertigen er in der Lage ist.

Gleinstätten – ein zweiter Höhepunkt! Gleinstätten verfügt über einen See! Nun ist dieser nicht so groß wie andere Binnengewässer, aber dennoch groß genug, um an dessen Ufer (geschätzte Ufer-Gesamtlänge: 150 – 200 Meter!) ein sogenanntes ‘Uferfest’ auszurichten. (Ich persönlich fühlte mich beim Anblick dieses Gewässers an eine von Dachsen ausgehobene Grube erinnert. – Nicht an einen Dachsbau, in welchem diese Tiere zu schlafen und ihren Nachwuchs auf die Freuden und Fährnisse seines zukünftigen Lebens als Dachse vorzubereiten pflegen. – Der Gleinstättener ‘See’ erinnerte mich vielmehr an die Grube, die die reinlichen Dachse ein wenig abseits ihres Baus ausheben.) Jedenfalls, es wird am Ufer ein Uferfest zelebriert.

Die beiden Tretboote, die auf diesem Gewässer bequem, also ohne zu kollidieren, ihre Kreissegmente ziehen können, werden, so nehme ich an, anlässlich dieses Großereignisses mit Werbebannern beklebt werden. (Eines mit dem Schriftzug des örtlichen Ziegelwerks und vielleicht mit dem Logo des örtlichen Dachdeckers – ’Meister Hannes deckt am besten!’ -, das andere anzunehmenderweise mit Werbung für Bier – ’Murauer Bier wünscht Gleinstätten – einen Abend, einen netten!’) Ich werde nicht die Gelegenheit haben, diesem Uferfest beizuwohnen, und insgeheim bedaure ich diesen Umstand. Ich würde gerne Frisörin Sabine beobachten, wie sie Staplerfahrer/Hauserbauer und -besetzer/Trinker Manfred die neuesten Frisurentrends aus Paris näherbringt, auch würde ich gerne Manfreds Blick sehen, ob er Sabine enerviert in die Augen oder freudig erregt auf ihr Dekollete blickt. Auch Meister Hannes würde mich interessieren, wie er der Köchin und Haushälterin – in Personalunion! – des örtlichen Pfarrers seine Erfahrung und Leidenschaft bezüglich des Deckens schmackhaft macht.

St. Ulrich im Greith – die(!) ‘Museumsstadt’! Eine Ausstellung, Dali bis Picasso, die, nun ja, ganz nett ist. Eine Vielzahl an ‘Hauptwerken’ dieser Künstler ist zu bestaunen und auch zu bewundern. Eine in offensichtlich mühevoller kunsthistorischer Kleinarbeit zusammengetragene Sammlung von Drucken (hätte der Sammler Konzertflügel oder Streich- oder andere Saiteninstrumente hergestellt, anstatt Saiten zu produzieren – wie würde sich die Sammlung dann wohl präsentieren? Und wo?). Auch ein Giacometti ist dabei. (Auf Papier, was offenbar haltbarer als Bronze ist.) Ebenso wie einige unaufgeregte Werke von Warhol, die gut in jedes Schlafzimmer passen würden (Junge Frau, Sie haben Schwierigkeiten einzuschlafen? Kein Problem! Besuchen Sie mein Schlafzimmer, sehen Sie sich meine Bilder von Warhol an und ich verspreche Ihnen …).
Da ich nicht die Zeit hatte, mich auf die in der Ausstellung gezeigten Werke, hinsichtlich ihrer Bedeutung und Bestimmung in kunsthistorischem Sinn, vorzubereiten, musste ich Gudrun, was mir grässlich unangenehm und sogar peinlich war, gestehen, dass ich ihr die Werke nicht erklären konnte.

Danach begaben wir uns auf Wanderschaft. Zwölf Kilometer sollte uns die Wanderroute über Ast und Stein, Hügel hinauf und wieder hinab führen. Sie in Wanderschuhen, die ohne Weiteres auch zum Bergsteigen geeignet sind, ich in den Feldschuhen der französischen Fremdenlegion (Ehrensache).
Der Waldweg, der vom ersten Teich (es handelt sich bei sämtlichen Teichen entlang des Wanderwegs, der ‘roten Route’, um solche, die der Aufzucht von Fischen verschiedener Art dienen – selbstverständlich zur späteren Verwendung in der Küche oder auf dem Grillrost im Garten) wegführt, war auf seiner linken Seite bestanden von einer geringen, doch für zwei Personen beinahe ausreichenden Anzahl Eierschwammerl, die ich sogleich an mich nehmen musste (der alte Pilzesammler in mir wurde in dem Augenblick des Erkennens, was da am Wegesrand wuchs, zu neuem Leben erweckt).
Mangels eines Behältnisses, wie Korb, Plastik- oder Stoffsack, entledigte ich mich meines T-Shirts, das ich unter meinem (grün-weiß karierten – ich bin Steirer!) Hemd trug, verknotete dessen Ärmel und den Rundkragen (Gudruns Expertise, was die Einsatzmöglichkeiten eines gewöhnlichen Haargummis anlangt, ist nicht hoch genug einzuschätzen) und legte die kleinen gelben Waldgewächse in den improvisierten Stoffsack. Wir hielten es in weiterer Folge so, dass sie auf dem Waldweg wanderte, während ich mich einige Meter von ihr entfernt auf einem steilen Waldhang nach Pilzen suchend vorwärts bewegte. Ich fand an diesem Tag keine weiteren Pilze.

Stets den Blick auf den Boden (Pilze!) gerichtet, folgten wir dem roten Pfeil, der uns zum nächsten führte, dieser wiederum führte uns zum übernächsten usw. Gestärkt von Grünzeug und Fischsuppe und begünstigt vom Wetter (obgleich ein Tag in der Mitte des Sommers, war die Temperatur nicht zu hoch, auch wurde die Sonne von Wolken, die wie Regenwolken aussahen, ihr Nass aber für sich behielten, daran gehindert, die bisweilen unerbittliche Intensität ihrer dehydrierenden Strahlen auf unsere Körper loszulassen), wanderten wir weiter.

Die Landschaft war (und ist!) wunderschön. Mir schien, als würden sich zwei, drei Familien je einen Hügel samt darunterliegendem Tal teilen, denn allzu viele Häuser gibt es dort nicht. Die zahlreichen Teiche für die Fischzucht, an den Rändern der Wäldchen oder in der Mitte von Wiesen gelegen, fügten sich harmonisch in das Gesamterscheinungsbild der Landschaft (ich bin, obgleich ich nicht zur Schwärmerei neige, versucht zu sagen: in die Idylle). (Ich vermute, dass ich dieses Bild der Idylle dem Eindruck der Harmonie zu verdanken habe, den das satte Grün der Nadel- und Laubbäume, das der Wiesen und das grüne Wasser der Fischteiche in mir hervorriefen. Oder, dies vermutlich in größerem Ausmaß, weil ich, oft Hand in Hand mit meiner Freundin, diese Landschaft durchwanderte. – Ich glaube, dass dies der Hauptgrund ist.)

Die Menschen, die in dieser Gegend wohnen (ich denke, dass das Ergebnis aus der Anzahl der Menschen zum Quadrat in etwa die Anzahl der dort lebenden Katzen ergibt – dies nur am Rande, ich mag Katzen nicht besonders, doch akzeptiere ich sie), sind nett. Sie grüßen freundlich und lächeln dabei (ob diese Freundlichkeit in ihrer natürlichen Veranlagung begründet liegt, oder ob sie bloß hintanhalten wollen, von ihren Nachbarn beim Nichtgrüßen oder gar Unfreundlich-Dreinblicken beobachtet zu werden – um hernach von diesen ‘ausgerichtet’ zu werden, also eine schlechte Nachrede ‘angehängt’ zu bekommen -, entzieht sich meiner Kenntnis. Doch als stets positiv denkender Mensch gehe ich davon aus, dass diese Hügel- und Talbewohner von Natur aus friedlich und in gewissem Maße auch zutraulich sind).

Ich muss festhalten, dass auch Gudrun und ich stets entgegenkommend gegrüßt haben (wenn man in ein fremdes Habitat eindringt ist es besser, sich so zu verhalten) und uns zutraulich gaben – die Hunde haben es uns gedankt und sich ebenso friedfertig gegeben (bis auf einen – der hat uns verbellt! Ich denke jedoch, dass ich dies dem Hund nicht verübeln darf. – Je näher ein Hund nämlich, hinsichtlich Körperbau und/oder äußerem Erscheinungsbild, einer Ratte steht, desto ausgeprägter ist sein Hang zum Kläffen).

In einem der Teiche schwamm eine große Zahl an Goldfischen. Ich erkannte sogleich (jedoch bin ich mir heute nicht mehr so sicher, dass meine Theorie richtig ist), dass es sich bei diesen Goldfischen, die ja mit Karpfen verwandt sind und somit eigentlich genießbar sein sollten, um die Hauptingredienz des ‘Luxustellers’ handeln musste, der, so nehme ich an, auf dem Gleinstättener Uferfest den zahlungskräftigen Gleinstättener Großbürgern serviert werden würde. (Sabine und Manfred dürften sich mit gewöhnlichen Karpfen begnügen, also solchen ohne Epidermis aus Gold; dafür erhalten sie nach dem Verzehr des gewöhnlichen Karpfens eine kostenlose innerliche Schlammpackung. – Auch nicht schlecht!)

Gudrun und ich sprachen viel miteinander, wir redeten über vieles, küssten uns oft, wobei (aus meiner Sicht) dem Küssen eines verschwitzten Gesichts und Halses, noch dazu wenn man die durchaus anstrengende und schweißtreibende Tätigkeit des Wanderns über Ast und Stein gemeinsam ausführt, der eine somit, zu einem gewissen Grad zumindest, mitverantwortlich für das Schwitzen des anderen ist, eine hocherotische Komponente innewohnt.

Aus ornithologischer (ich war, und bin, immer gut bei Vögeln) Sicht war die Wanderung unergiebig. Ich konnte Gudrun einen vorbeifliegenden Terzel der Gattung Turmfalke zeigen, doch da diese kleinen Greifvögel die Tendenz haben, sich in schnellem Flug fortzubewegen, wenn sie nicht im sogenannten ‘Rüttelflug’ in der Luft ‘stehen’, um nach Beutetieren Ausschau zu halten, war dieses Vergnügen verständlicherweise von kurzer Dauer. Sie, die um meine Liebe zu Greifvögeln weiß, freute sich für mich, dass ich wenigstens einen Greifvogel zu Gesicht bekam, was wiederum mich sehr freute und auch rührte.

Einen Augenblick lang sah ich die Silhouette eines Mäusebussards, ich hörte auch die Rufe des Vogels, ebenso die seiner Partnerin oder seines Partners, doch war er verschwunden (wahrscheinlich hatte er sich auf einem Ast eines Baumes in dem Waldstück, über dem er gekreist war, niedergelassen), bevor ich ihn meiner Freundin hatte zeigen können. Einen Fasan erkannte ich an seinem Ruf, doch wir konnten ihn nicht sehen.
Ein Reh bekamen wir dafür zu Gesicht, doch als es mich sah (vor Gudrun hatte es mit Sicherheit keine Furcht gehabt – sie ist Veganerin), wurde ihm offenkundig bewusst, dass es von einem Karnivoren beäugt wurde, der große Stücke auf die Leber von Rehen hält, und es flüchtete.

Wir gingen und vergingen uns, wir kamen zu einem Bauernhof, vor dem nicht ganz billige Autos aus verschiedenen Teilen des Landes geparkt waren (dieser Umstand ließ mich vermuten, dass es nicht bloß ein Bauernhof, sondern auch eine Pension war und ist), eine Musikgruppe bot gar grässliche volkstümliche Schlagermusik dar, und aus dem Stall des Bauernhofs drang das Geschrei von Schweinen. Dieses Geschrei wirkte auf uns wie Lautäußerungen, die von Tieren ausgestoßen wurden, die den eigenen Tod vor Augen hatten (beispielsweise wenn ein Schwein sieht, wie seinem Mitschwein ein Messer an die Kehle gesetzt wird, schlicht um es zu schlachten).
Gudrun isst kein Fleisch, ich schon, somit war ihr dieses Geschrei unheimlich, dies konnte ich dem Blick entnehmen, den sie mir zuwarf, selbst mir war nicht allzu wohl bei dem Gedanken, was in diesem Stall vor sich gehen mochte. Ich habe überhaupt kein Problem, den Tod von Tieren in Kauf zu nehmen, damit Menschen (also auch ich) Fleisch auf dem Teller haben, doch unmittelbarer Ohrenzeuge muss ich nun wirklich nicht sein.

Wir gingen mit schnellen Schritten weiter und – vergingen uns. Wir gingen eine, man kann es beinahe so nennen, Ellipse und kamen (nur dieses Mal – logisch – von der anderen Seite) wieder zu dem Bauernhof mit dem Schweinegeschrei. Dieses hatte sich in der Zwischenzeit gelegt, es war in eine Art zufriedenes Grunzen übergegangen, was uns vermuten ließ, dass die Schweine keine Angst vor dem Tod gehabt, sondern dass sie es vielmehr nicht mehr hatten erwarten können (zum Futter für die Menschen würden sie zu einem anderen, späteren Zeitpunkt werden), gefüttert zu werden.

Die volkstümlichen Musikanten gaben ein weiteres Lied zum Besten (Der Edeltraud, der hat noch nie vorm Zipf gegraut – oder so was in der Art), wir fragten nach dem Weg, erkannten, dass wir einen roten Pfeil schlicht übersehen hatten (dieser Pfeil ist aber auch wirklich unprofessionell platziert! Folgendes an den Setzer dieses Pfeils: Nicht genügend, setzen!) und waren wieder auf dem richtigen Weg.
Am Ufer des Teichs, der in der Nähe des Schweinegeschreihofs ausgehoben war, standen zwei Sessel, die nirgendwo sonst auf dieser Welt noch hätten Verwendung finden können, sie waren alt, ihr metallenes Gestänge rostig an den Stellen, an welchen die schützende Lackschicht abgeblättert war, doch waren sie uns zwei willkommene Sitzgelegenheiten; wir ließen uns nieder, tranken aus unseren mit auf die Wanderung genommenen Flaschen, rauchten und küssten uns.

Wir setzten unsere Wanderung entlang der roten Route fort. Auf einer vor Kurzem gemähten Wiese sahen wir in einiger Entfernung einen sich offensichtlich auf der Suche nach Nahrung befindenden Steinmarder, ein an sich schon kleines (und durch die Entfernung noch kleiner erscheinendes) Raubtier, und ich fragte mich, natürlich ohne Gudrun meine Überlegung mitzuteilen – ich wollte sie nicht schockieren oder nachdenklich (oder gar traurig) machen -, wie es denn mit den Kragen der Wintermäntel der dort wohnenden Damen aussieht (ob das wirklich alles Kunstpelz ist?).

Nach einer weiteren Verirrung (an den Setzer der roten Pfeile: ein weiteres Mal: Nicht genügend, setzen!) kamen wir zum Ausgangspunkt unserer Wanderung über zwölf Kilometer, rauchten, tranken (Gudrun fällt das Rauchen schwer, wenn sie keine Flüssigkeit aufnimmt), küssten uns, verstauten die Eierschwammerl im Kofferraum ihres Wagens und machen uns auf den Rückweg aus der Hochprovinz nach Graz.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 17096

 

Winterträume

So viele,
und immer dann bin ich nicht im Jetzt,
so viele schöne Gesichter,
finde ein paar Sonnenstrahlen darin
Sortiere ihre Namen,
sie schlafen mit meiner Phantasie,
emphatisch sprechen wir,
wenn sich der Raum verschoben hat
Der Glitzer von Träumen,
er schmeckt nach Zigaretten und Kaffee,
Winternächte und Wintertage,
Tiere hinterlassen Spuren,
Waldböden ausgestochen,
Eiskekse zerstreut,
verwehtes Mehl zuckert die schwarze Hose an,
Er peitscht eiskalt zwischen Ohren und Hals,
Seine Stimme verstummt nur,
dort wo die starren Riesen schlummern

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen| Inventarnummer: 17079

Graue Reise

Gassen werden eng,
kurze Bahnen durch Bezirke,
Windstöße durch die rostige Leiche,
ohne Ziel,
Macht ragt in der Mitte auf,
eine Gewalt,
unsichtbar aber präsent,
eine Ruhe entsteht,
die Kamera beobachtet,
verbinde Wege mit hoher Geschwindigkeit,
süßer Duft,
fremde Wörter sind Medizin,
Fett schwimmt zwischen Rädern,
der Wolf knurrt auch nicht mehr

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen| Inventarnummer: 17066

einsamer indianer

du reitest auf einem pferd namens pierre brice
durch die straßen von paris.
hinaus in die französische prärie
– gesehen hat man dich nie.
du schmückst dich mit federn, aber niemals mit fremden.
du konzentrierst dich vor allem auf eines: rauchzeichen senden.
in die einsamkeit zurückgezogen,
beschützt du deinen stamm aus der ferne mit pfeil und bogen.
im sicheren trab schüttelst du jeden angreifer ab.
du wirbelst viel staub auf,
selbst wenn du die stadt längst verlassen hast.

Anna Maltschnig

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 17057

sommernachmittag

die sonnenstrahlen bahnen sich ihren weg
durch die vergilbte terrassentür in den raum
und bringen – man merkt es kaum –
die motoren zum singen.
der start der formel 1 war deins.
alonso, senna, prost – geben mir jetzt trost.
das leben zieht draußen unbemerkt an uns vorbei – ich schätz’, es ist halb drei.
ewige sommer ohne ende.
dann kam die wende …

Anna Maltschnig

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 17054

Schöne Menschen

Zwei Menschen,
Zwei S-Bahn-Gleise,
Ruhe kehrt ein,
durch die kalte Nacht,
Elektrischer Himmel,
Autos in weiter Ferne,
eine Glocke schlägt zum Viertel,
Stress fliegt mit dem Wind,
findet keinen Weg zurück,

Einer fährt durch,
keiner steigt ein,
Steige in das quietschende Rot-Grau,
verschwommen mit Schwarz
ziehen Farben umher,
in Richtung,
schöner Sprache mit
schönen Menschen

(Gewidmet J.+V.)

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen| Inventarnummer: 17023

Der Geiger vom Donskoj-Friedhof

Gewöhnlich ging der alte Mann gegen Mittag zum Spielen hinaus. Unter dem Arm trug er einen alten, abgewetzten Geigenkasten. Gekleidet war er in einer Art von Uniform der sowjetischen Rentner. Auf dem Kopf eine Lenin-Schiebermütze, am Körper einen etwas zu groß gewordenen Stoffmantel mit abgestoßenen Kanten und großen, aufgesetzten Taschen. Immer hatte er auch eine Netztasche bei sich, wie alle Sowjetmenschen, für den Fall, dass es unterwegs unerwartet, aber immer erhofft, etwas zu kaufen gab. Er war sicher kein typischer Proletarier, sondern hatte einmal eine seriöse Anstellung gehabt. Sicher nicht in einem großen Orchester. Vielleicht in einem Kulturzirkel eines Arbeiterkollektivs? Vielleicht ein Musiklehrer einer volkseigenen Musikschule?
Wenn am Nachmittag die großen Begräbniszüge kamen, baute er sich vor dem Haupttor auf, etwas abseits der Mitte, damit er niemanden behinderte.

Vier Stufen führen vom Sockel des Denkmals für Wassilij Puschkin, den Onkel des berühmten Alexander, hinauf. Dort lässt sich der Geiger nieder, öffnet den Geigenkasten und wendet sich der Straße zu.
Er ist gut sichtbar in dieser Höhe, und er sieht von Weitem, wie groß und prächtig eine Prozession sein würde, welche viel Volk, Geistliche, Blumen und eigene Musik mitbringen würde. Kaum hat er seine Geige ausgepackt und den Bogen angesetzt, bleiben schon Menschen stehen in Erwartung seiner Musik: Kinder, Passanten, Liebespaare, Käufer vom Blumen- und Tabakskiosk. Alle lassen die Zeitungen sinken, verstummen und blicken zu ihm auf. Denn jede Musik tröstet und ist ein Versprechen auf ein besseres Leben. Im offenen Geigenkasten liegen ein Apfel und ein Stück Schwarzbrot, damit er, wenn er Hunger bekommt, etwas essen kann.

Sogar wenn nur ein einziger Zuhörer stehen bleibt und einsam lauscht, spielt er die Melodie zu Ende.
Er macht diese Arbeit freiwillig, nicht um Geld zu verdienen. Er bekam eine kleine staatliche Rente, von der er leben konnte. Wenn er auf Gewinn ausgewesen wäre, hätte er sich sicher nicht hier, an einem so stillen, abgelegenen Ort, sondern im Zentrum aufgebaut, zum Beispiel beim großen Alexander-Puschkin-Denkmal auf der Gorki-Straße, wo es einen ununterbrochenen Strom von Menschen gab.

Er war etwas anderes, er war kein Bettler.
Er wollte den Menschen etwas Gutes tun, und darum ging er bei jedem Wetter zum Donskoi Friedhof, um dort zu spielen. Ob er mehr als eine Art von Katzenmusik machte, war nie endgültig auszumachen und auch nicht wichtig. Die Klänge seiner Geige erhoben sich über den Straßenlärm, stiegen auf und senkten sich von oben wieder herunter. Manchmal waren die Töne zerrissen, manchmal waren ganze Melodienbögen eindeutig zu erkennen. Sie drangen in die Herzen der Menschen ein, berührten sie und beflügelten sie in ihrer Hoffnung auf ein schöneres Leben. Die Zuhörer holten sofort Geld hervor, Kopekenstücke, alle waren mehr oder weniger gleich arm, aber auch Fünf- und Zehn-Rubelscheine waren dabei.

Weil er oben auf der vierten Stufe stand, wussten die Leute nicht, wohin sie das Geld legen sollten. Manche versuchten, mit einem kühnen Wurf in den Geigenkasten zu zielen. Andere ließen es einfach auf einer der Stufen liegen, zu Füßen des marmornen Puschkin-Onkels.
Seit das Donskoi-Kloster wieder geöffnet, wenn auch noch nicht renoviert war, kamen vermehrt Spaziergänger auf den Friedhof. Es ist noch nicht lange her und unter den Liebhabern des alten Moskau noch ein Geheimtipp. Jeder kannte den nahen Gorki-Park mit seinen zahlreichen Vergnügungsattraktionen, kaum jemand das Donskoi, über dem sich ein Rad eines Karussels wölbte.
Auch der Radioturm von Schukow gleich nebenan war ein unübersehbares Wahrzeichen am südlichen Rand der Moskauer Innenstadt. Der Staat des noch nicht ganz neuen Russland im letzten Jahr des Gorbatschow hat das Donskoi der orthodoxen Kirche zurückgegeben, 73 Jahre nachdem die Bolschewiki Kloster und Friedhof zum Teil zerstört und dann geschlossen hatten. Es lag verborgen hinter einer hohen Mauer im schon 73 Jahre andauernden Dornröschenschlaf. Gebaut ist es als eine Wehranlage mit zwölf gigantischen Türmen, obwohl gerade im Gründungsjahr 1591 die letzte große Gefahr, der Ansturm der Krimtataren, unter Zar Fjodor siegreich abgewehrt werden konnte.

Ich kannte es wahrscheinlich als einer der wenigen Menschen gut, zumindest aus dem Vogelblick, weil ich vom Balkon meiner Wohnung im siebten Stock der Donskaja ulica direkt in den Friedhof und auf das Kloster hinabsehen konnte. Bald hatte ich einen Mann ausgeforscht, der als Wächter ab und zu auf das Gelände kam, ich weiß nicht, wofür. Für ein paar Kopeken ließ er mich ins Innere, es war zu sehen, dass er dem Wodka nicht abgeneigt war.

Die Große und die Kleine Kathedrale waren in einem erbärmlichen Zustand. Viele Mauerstücke lagen wüst vermengt mit Unrat am Boden, selbst schon wieder bedeckt von der Patina des Efeus und Hollunders.
Seit der Revolution war nichts renoviert worden, vielmehr vieles zerstört, abtransportiert und gestohlen. Wie viele kirchliche Gebäude hat man sie zweckentfremdet, entweiht und dem Verfall preisgegeben. Die Grabdenkmäler und Grabsteine waren zum Teil umgestürzt, manche Figuren geköpft oder anderweitig verletzt mit abgeschlagenen Armen und Nasen, mit ausgekratzten Augen und zerstörten Inschriften. Auch die wuchernden Pflanzen und die unbarmherzige Witterung trugen das Ihre zum Zerstörungswerk bei.

Dabei lasen sich die Namen auf den Grabsteinen, soferne man sie noch lesen konnte, wie das Moskauer Who is Who des 18. und 19. Jahrhunderts, fast so viele ehr- und gedenkwürdige wie auf dem größeren und berühmteren Friedhof des Neujungfrauen- Klosters. Der erste Dichter in russischer Sprache Sumarokow war hier begraben.
Auch der erste Philosoph Pjotr Tschaadajew, Sollogub, ein Schriftsteller, Schukowski, ein Mathematiker und Luftfahrtpionier, der Maler Perow.
Der letzte Klosterbewohner war Patriarch Tichon, ein erklärter Gegner der Revolution, den die Bolschewiken hier bis zu seinem Tod 1925 einsperrten. Die 28 Mönche hat man umgebracht oder vertrieben.

Wenn die großen Begräbnisse vorüber waren, packte der alte Geiger seine Sachen zusammen. Er wickelte die Geige in ein schwarzes Tuch, verstaute den Bogen in einem Sack und setzte sich zu Füßen des Puschkin-Onkels nieder. Er blickte rund um sich und verzehrte seine Jause. Die Kopekenstücke und Rubelscheine sammelte er achtlos und ohne sie zu zählen auf und steckte sie in die Manteltasche. Dann verließ er seinen Posten auf den Stufen und ging eilig tiefer in den Friedhof hinein.

Lange verstand ich nicht, was der Alte dort suchte.
Er beachtete keine der Kirchen, nicht das Refektorium, keines der Mausoleen, keine der Werkstätten, auch die Urnenmauer interessierte ihn nicht. Keines der verwahrlosten Kulturdenkmäler erregte offensichtlich seine Aufmerksamkeit. Er schlenderte nur, ohne dass ich ein Muster erkennen konnte, so wie ich ihm von Grabstein zu Grabstein, von Baum zu Baum, nachging, über die Wege zwischen den Grabsteinen, in unerforschlichen Schlingen. Traumpfade. Er interessierte sich offensichtlich nicht für die Architektur, nicht für die verworrene Natur oder die halb lesbaren Grabinschriften.
Suchte er jemand bestimmten? Wollte er sich an etwas oder jemanden erinnern, das und den es nicht mehr gab? Wartete er auf jemanden?

Ich hatte nicht so viel Zeit, ihn öfter und näher zu beobachten, wie ich es gewünscht hätte. Denn meine Arbeit beanspruchte mich sehr, und ich war oft auf Reisen. Eine sehr bewegte Zeit.
Eines Tages im Oktober setzte das erste Schneegestöber ein. Ich sah auf meinem Weg vom Büro in die Mittagspause, dass das Haupttor zum Donskoi offenstand. Schnell stellte ich das Auto ab und lief über den Vorplatz auf das Kloster zu.

Der alte Geiger stand wie immer auf der obersten Stufe des Puschkin-Onkels und spielte das letzte, das 24. Lied der “Winterreise“ von Schubert, das traurige Lied vom Leiermann. Die Worte flogen mir unhörbar zur Melodie dazu: Drüben hinterm Dorfe steht ein Leiermann / Und mit starren Fingern dreht er, was er kann.
Es klang etwas kratzig, manche Töne waren schief, wahrscheinlich waren seine Finger auch schon starr.
Er hatte keine Zuhörer; er spielte für sich und für die verfrorenen Spatzen. Sie umflatterten ihn zerzaust und hofften auf ein paar Krumen von seinem Schwarzbrot.
Ein besonders fürwitziger Spatz sprang hinein und suchte selbst nach Brosamen. Der Geigenkasten war schon halb zugeweht vom Schnee.
Als er die letzten Klänge beendet hatte, packte er schnell zusammen und verschwand im Inneren des Friedhofs. Ich schlich ihm nach, obwohl ich nicht mehr zu meinem Mittagessen kommen würde. Weit hinten entdeckte ich den Geiger an einem frischen Grab. Die Grube war offen, und vor dem Grab stand einsam ein Pope, der Gebete herunterleierte, eine violette Stola umgelegt hatte, das Weihrauchfass schwang und aus einer Metallschüssel mit einem Besen freigiebig Weihwasser über die Grube verspritzte. Da verstand ich das Wort „Einsegnung“ zum ersten Mal.

Und die Aufgabe, die sich der alte Geiger gestellt hatte: Es sollte kein Mensch ohne Begleitung von dieser Erde gehen müssen. Der Pope war sozusagen nur ein offizieller Abgesandter, der seinen Dienst versah, so wie es vorgeschrieben war. Aber ein so einsamer Mensch, der allein gestorben war und niemanden hatte, der ihn auf seinem letzten Weg begleitete – der sollte zumindest von ihm mit seinem Geigenspiel verabschiedet werden.
Der alte Mann hatte sich seinen eigenen Dienst vorgeschrieben.
Er machte das nicht für Geld, nicht für Ruhm, nicht für Ansehen, nicht zu seinem eigenen Vergnügen. Denn da hätte er auch zu Hause bleiben und in seinem warmen Wohnzimmer spielen können. Vielleicht machte er das in Gedanken an seinen eigenen einsamen Tod.

Wer würde ihn begleiten? Wie oft würde er spielen müssen, bis er sich seine eigene Auferstehung erspielt hatte? Nach orthodoxem Glauben muss ein Verstorbener einen Begleiter haben, denn sonst kann er am Jüngsten Tag nicht aus Hölle oder Fegefeuer herausgeführt und erlöst werden. Die Todes-Vorbereitungen des alten Geigers rührten mich so, dass es mir hinter meinem Baum die Kehle zuschnürte und ich diese grausame Religion verfluchte.
Nach diesem Winter sah ich den alten Mann nie wieder.

Zu Ostern wurden die Glocken der Großen Kathedrale neu geweiht. Als ich sie zum ersten Mal von meiner Wohnung aus läuten hörte, brach so ein Sturm los, dass ich dachte, das Jüngste Gericht sei angebrochen. Ich hoffe, es hat auch den Geiger erlöst.

25.12.16

Veronika Seyr
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