Schlagwort-Archiv: verliebt verlobt verboten

Deine glatten blonden Haare

„Du hast so schöne glatte blonde Haare“, sagt sie. „Ich liebe glatte Haare, meine sind kraus, deine Haare sind wunderschön. Ich liebe auch dich, nicht nur deine Haare, aber deine Haare machen einen großen Teil meiner Liebe für dich aus.“ Sie streicht ihm durch die Haare und freut sich wie ein junges Mädchen.

Die Cornrows-Frisur des nanah afro american hair salons

Die Cornrows-Frisur des nanah afro american hair salons

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 21102

Seeing Isa

In der Wiese sitzend fragte sie
und erhoffte bloß ein Ja
Gründe – im Grunde – verstecken nicht gut
dass Nein seine Antwort war

Erklären ist nicht reden und lieben nicht alles
Schwere Kost auf schmerzenden Magen
Auf dem Teller liegt das Gänseblümchen
das sie ausriss, um nicht nur weinend zu warten

Emma Kreska

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 21081

Blaue Haare

Wählen einer Nummer vom Mobiltelefon.

Tüt-tüt.

Günther:
Hallo Rainer. Alles Gute im neuen Jahr! Ist ja erst ein paar Stunden her, dass wir zusammen waren. Ich hoffe, deine Laune ist besser als das Wetter draußen. Bist du zuhause?

Rainer:
Hallo Günther. Nein, ich bin nicht zuhause. Ich bin auf einem Dachboden. Ich weiß nicht, wie ich da raufgekommen bin. Ich kenne das Haus gar nicht. Dir auch alles Gute natürlich. War ja auch eine wilde Nacht.
Mir ist komplett der Faden gerissen. Und dann finde ich in meiner Jackentasche eine blaue Haarsträhne. Eine lange Haarsträhne. Sag, habe ich gestern mit einer Frau mit blauen Haaren geredet?

Günther:
Für dich beginnt das neue Jahr ja mit reichlich Abwechslung! Du hast gestern wohl mit vielen Frauen herumgealbert, aber denen warst du wahrscheinlich zu überdreht. Die sind alle gegangen. Keine von denen hatte blaue Haare.
Du hast dann Hermann getroffen. Du weißt, ich mag den nicht so gerne, also habe ich mich vertschüsst. Frag ihn! Vielleicht kann er dir weiterhelfen.

Rainer:
Danke für die Auskunft, Günther. Verstehst du, ich finde das so schräg, blaue Haare, zu Silvester, eine, die sich abgibt mit einem wie mir. Auch wenn es so mühsam wird, die Frau zu finden, wie einen Kolibri im Regenwald zu fangen, ich werde es versuchen. Ich habe nichts zu verlieren. Ich will einen neuen Anfang wagen. Und ich war schon so lange nicht mehr verliebt. Bis jetzt.
Mach’s gut, Günther, bis demnächst.

Günther:
Na dann mal viel Glück bei der Suche. Mach’s besser, ciao.

Die Verbindung wird gekappt.

Kurze Pause.

Rainer tippt in sein Mobiltelefon.

Tüt-tüt.

Hermann:
Yo Mann. Dass du überhaupt noch lebst, ist ja ein Wunder. Rufst du nur so an oder kann ich dir meine erste gute Tat des neuen Jahres angedeihen lassen?

Rainer:
Servus Hermann. Erst mal alles Gute und so, du weißt schon. Du, was ich dich fragen wollte: Bist du schon mal mit einer Gänsehaut aufgewacht?

Hermann:
Nicht, dass ich mich erinnern könnte. Du kennst mich ja. Ich habe eine Elefantenhaut. Ich lass nichts so leicht an mich ran. Schieß schon los, warum fragst du?

Rainer:
Mir ist das letzte Nacht passiert. Zum ersten Mal. Ich habe geträumt, ich fahre mit einer Frau auf dem Beifahrersitz in einem Auto. Plötzlich weiß ich nicht mehr, wo ich bin. Ich nehme meine Landkarte und lege sie auf das Lenkrad. Zu der Frau sage ich: „Du Kleines, wo wollen wir eigentlich hin?“
Keine Antwort kommt. Ich blicke nach rechts. Der Beifahrersitz ist leer. Auf ihm liegt eine blaue Haarsträhne.
Ich habe Verlust gespürt. Ich habe das Gefühl gehabt, mit dieser Frau hätte sich mein Leben zum Positiven drehen können. Und ohne sie ginge es weiter wie bisher. Ich bin ja andauernd auf einer Reise im Nirgendwoland. Ich will was ändern, Mann! Ich will diese Frau mit den blauen Haaren finden. Wir waren doch gestern unterwegs, sag, habe ich sie etwa da schon gefunden?

Hermann:
Mensch Meier, du bist ja echt am Drehen! Aber in dieser Hinsicht muss ich dich enttäuschen. Wir haben zwar unsere Späße mit jungen und älteren Mädchen gemacht, doch eine mit blauen Haaren war nicht darunter. Ich bin dann aufs Klo, und als ich zurückkam, warst du weg.
Wenn du von mir einen Rat willst, dann diesen: Schau, dass du die Frau so rasch als möglich aus deinem Kopf rauskriegst. Falls es sie überhaupt gibt, was ich bezweifle, ist sie ja doch nur ein Punk. Sie wird dir nicht helfen.

Rainer:
Da spricht der alte Versicherungsvertreter. Du machst einem den Mund wässrig, wenn du deine Polizzen anpreist, aber sonst nimmst du einem den geringsten Hoffnungsschimmer. Trotzdem wünsche ich dir ein erfolgreiches Wirtschaftsjahr. Adieu. Ich werd mich so schnell nicht wieder bei dir melden.

Hermann:
Mann, bist du kompliziert! Sei doch nicht gleich eingeschnap…

Rainer drückt auf den roten Knopf seines Mobiltelefons.

Stille.

Beep-beep.

Rainers Mobiltelefon hat eine Nachricht empfangen.

Rainer liest vor:
„Hallo, ich bin’s. Kannst du dich noch an mich erinnern?“

Erzähler:
Und dabei ein Foto. Blaue Haare und ein Gesicht so wunderschön.

Blaue Haare

Blaue Haare

Johannes Tosin (Text)

Bild:
Dargestellte Person: Johannes Tosin
Fotograf: Michael Tosin

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 21051

 

Du untreuer Geist!

Ich hab auf dich gebaut,
ich hab mit dir geplant.
Wirklich, was du mir angetan hast,
geht auf keine Kuhhaut im Quadrat!

Was sagtest du vor zwei Jahren und 162 Tagen?
„Ich gehe schnell mal Zigaretten holen.“
Ich dachte mir nichts dabei.
Erst am folgenden Morgen überlegte ich: Du bist doch Nichtraucher.

Denkst du wenigstens manchmal an mich,
wenn du dir mit deiner Schlampe die Caipirinhas reinziehst?
Kann sie überhaupt kochen?
Das muss sie gar nicht, das macht die Köchin für ein paar Reais, würdest du sagen.

Ich wünsche dir die Hölle, du untreuer Geist!
Feuer und Eisen bis in alle Ewigkeit.
Es wird nicht schlimmer werden, damit kannst du dich trösten,
aber besser auch nie.

Stahlwerk im Jahr 2004

Stahlwerk im Jahr 2004

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 21009

Mülltrennung

Ralf steht auf dem Steg am See. Er sieht den Hund von dem Mann, der die Yacht des Clubs pflegt. Der Hund geht auf und ab, macht hier und dort hin, riecht an dem Busch, dem Baum, er hat kein Ziel, ist nie im Stress. So wünscht sich auch Ralf zu sein.
Ralf träumt vom Meer und von dem Boot, das er baut. So lang schon baut er an dem Boot, nur der Mast fehlt noch, dann geht die Fahrt los. Das Boot ist sein Traum, seit er ein Kind war. Nur er weiß von dem Traum, kein Mensch sonst. Kein Mensch weiß von dem Boot, auch Liz nicht, grad Liz nicht. Liz, die Frau, die er liebt, Liz, sie soll nicht mit auf das Boot, weil er ganz für sich sein will auf dem Schiff, das er sich so wünscht und für das er so viel gibt. Doch er weiß nicht, wie er ihr das klar macht. Drum denkt er nach, stets von vorn, doch das führt zu nichts. Wie so oft schon dreht er sich nur im Kreis und weiß den Weg nicht raus.

Er kehrt um und läuft nach Haus. Dort setzt er sich an den Tisch und tut gar nichts, blickt nur vor sich hin. Bald wird sie da sein. Ralf fühlt sich nicht wohl, er will ihr nicht weh tun, doch er weiß, so sehr, wie sie ihn liebt, wird ihr Schmerz groß sein. Doch er ist nicht froh, so wie er mit ihr hier lebt. Er will weg, er fühlt, er ist nicht der Mann, der im Paar sein kann, er will für sich sein. Ralf schwamm stets nur mit dem Strom, war nie ein Mann, der für sich selbst sorgt, meist legt Liz Weg und Ziel fest. Doch jetzt muss Schluss sein, er will nicht mehr faul und sie soll nicht mehr der Boss sein. Er will nicht mehr tun, was sie will, er will der Mann sein, der denkt und lenkt.
Er schluckt und denkt: Sie joggt noch, ich wart nur, bis sie kommt, dann fällt mir schon was ein.

Dann kommt Liz, schwitzt vom Lauf durch den Wald. Sie schnauft, schaut sich um und fragt:  „Was tust du?“ Sagt er: „Na, nix.“ Sie merkt, es stimmt was nicht mit ihm, doch sie lacht und meint: „Das ist nicht viel!“
Ralf gibt ihr Recht und fragt: „Was denkst du, was soll ich denn tun?“ Liz grinst und schlägt vor: „Wie wär’s mit dem Müll?“
Er starrt sie an und mault: „Nein. Ich geh nicht raus und bring den Müll weg, mach es doch selbst.“
Da wird Liz bös und dreht sich zu ihm um. „Nie machst du was, nie hilfst du mit, meist mach ich es selbst. Mal kannst doch du was tun, meinst du nicht auch?“, sagt sie und schaut ihn an mit dem Blick, den er so hasst. Der Blick, den sie hat, wenn sie was von ihm will, das er nicht will. Mal ist es der Müll, kann auch sein, dass sie Schmuck will oder Sex, so oft will sie was von ihm, was er nicht kann oder nicht will. Wenn sie es nicht kriegt, dann weint sie und geht ins Bett, ist still und stumm und bockt. Er hasst das, doch er weiß auch, dass sie ihn liebt, nur nervt sie ihn halt oft.
Da fällt es ihm auf, das kann der Trick sein, jetzt find ich den Weg fort von ihr.

Ralf rennt raus in den Flur, nimmt den Sack mit dem Müll und wirft ihn durch den Raum. Dort, wo Liz steht, platzt der Sack auf. Sie ruft: „Was soll das jetzt, bist du irr?“
„Nimm den Müll, da hast du ihn. Nie mehr bring ich den Müll raus für dich!“ Ralf brüllt jetzt, brüllt sie an voll Zorn, doch nicht auf sie hat er Wut, auf sich hat er Wut, weil er so lang nichts tat, so lang blieb, wo er doch längst schon so gern so weit weg wär.
„Mach es selbst, ich mach es nicht, nie mehr. Ich hab es satt, stets willst du was, ich mag nicht mehr. Von nun an trägst du den Müll selbst raus. Ich geh jetzt und lass dich hier. Ich geh fort von dir. Dann muss ich nichts mehr tun für dich und du hast Ruh’ vor mir und dass ich nie was tu für dich und für uns. Ich lass dich in Ruh’ und du lässt mich in Ruh’, das ist doch gut für uns, für dich und mich. Ich pack gleich ein, viel hab ich nicht, das meins ist, da reicht ein Sack für mein Hab und Gut.“

Er dreht sich um und geht raus durch den Flur in das Bad und schließt die Tür. Sie starrt ihm nach und glaubt nicht, was er sagt. Das kann doch nicht sein, so geht das nicht, das tut man doch nicht, so kalt und knapp geht er doch nicht weg von ihr. Sie klappt den Mund auf und zu, doch fällt ihr nichts ein. Sie weiß, sie sagt nichts, sie sagt nie was, stets hält sie den Mund, klagt nie und macht viel nur mit sich selbst aus. Oft tut sie, was er will, folgt ihm, statt zu tun, was sie selbst will.  Doch hier geht das nicht, sie weiß, sie muss was tun, so dass er bei ihr bleibt, weil sie ihn doch so liebt und er sie doch auch, das weiß sie ganz fest. Nur, sie steht ganz starr, hat Angst, dass er geht, dass er meint, was er sagt. Kein Glied rührt sie vor Schreck, kriegt nur ganz schwer Luft. Dann hebt sie den Arm, greift nach der Tür, hält sie fest, hält sich dran fest, so dass sie nicht fällt vor Schmerz, den sie hat im Bauch, im Kopf und im Herz.

Er kommt aus dem Bad mit dem Sack, in dem er das hat, was sein ist. Er sieht sie an, sagt nichts. Sie will ein Wort nur von ihm, doch sein Blick ist so hart, dass sie sich nicht traut, sie fragt nicht, sie sagt nichts, ruft ihm nicht zu, wie sehr sie ihn liebt, dass sie nur ihn will, stets nur ihn. Und jetzt will er weg von ihr, wie hart und streng er sein kann. Das kennt sie von ihm, das ist nicht neu für sie, so war er oft im Streit. Schon so oft, er ist kalt und schroff, sie bleibt stumm und weint. So auch jetzt.
Sie tritt an die Wand, hält sich an der Tür fest, blickt ihn an und nickt: „Dann geh, ich halt dich nicht, wenn du weg willst von mir. Du weißt, wie lieb ich dich hab. Mein Herz schlägt wie deins, wir sind eins, du und ich.“
Er sieht sie nicht an, als sie spricht. Er weiß, dass er ihr weh tut und er ist ganz platt, wie sehr es auch ihn schmerzt.
Liz sagt: „Wenn du frei sein willst, kann ich nichts tun. Ich lass dich los, ich wünsch dir viel Glück, was du auch tun willst. Ich bleib hier und ich bin stets hier. Wenn du mich willst, dann such mich hier.“
Sie dreht sich um, geht jetzt auch ins Bad, schließt die Tür. Sie hört nicht, wie er geht.

Er geht aus dem Haus, durch den Hof zum Tor, dann den Weg, der zur Stadt führt. Er blickt sich nicht um, sieht nur nach vorn. Doch im Herz, da sieht er nur sie, Liz, wie sie an der Tür steht. Er merkt nicht, dass er weint.

Renate Müller
www.renas-wortwelt.de

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 20091

Große junge Liebe

Gestern fuhr ich mit meinem Auto durch Lendorf. Da lief ein Mädchen vor mir richtig schnell über die Straße. „Ist alles in Ordnung mit ihr?“, fragte ich mich. Ein paar Sekunden später sah ich, wie ein Bursche und sie sich eng umschlungen hielten.

Sie hatte ihn gesehen und lief los, auf ihn zu, bis seine Arme sie auffingen, und ihre Arme ihn umfassten. Wahrscheinlich drehten sie sich dann, weil die kinetische Energie so hoch war. Nachdem das meiste davon abgebaut war, hielten sie einander am Fleck stehend fest.

Das ist große junge Liebe.

Der Baum mit vielen Herzen

Der Baum mit vielen Herzen

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 20085

Zwischen zwei Gefühlen

In den vergangenen Stunden hatte Charlotte den Heizungskeller porentief gereinigt, ihren Hund gebürstet, alle Möbel im Wohnzimmer umgestellt, den Hund gebürstet, ihren Kleiderschrank aus- und wieder eingeräumt, ihren Hund gebürstet, ihre Bücher alphabetisch geordnet, den Hund gebürstet – und 17-mal angefangen, einen Brief an ihren Mann zu schreiben.
Jetzt versteckte sich Dackel Hermann hinter dem Sofa und Charlotte saß verschwitzt und staubig an ihrem Schreibtisch und wusste nicht weiter. Sie las, was sie bisher geschrieben hatte.
„Es gibt einen anderen Mann, den ich traf vor einigen Monaten. Du kennst ihn nicht. Aber ich fühle, ich muss zu ihm. Es tut dir weh und es tut auch mir weh. Ich liebe ihn, obwohl ich dir gehöre.“ Hier hielt sie inne und starrte vor sich.
Wie sollte sie Sebastian klarmachen, was in ihr vorging? Wie sollte er sie verstehen, wo sie sich doch selbst nicht verstand?

Sie las weiter, was sie geschrieben hatte: „Er gibt mir etwas, von dem ich nicht wusste, dass ich es suche. Ich habe bei dir in all den Jahren nie etwas vermisst und doch spüre ich, dass etwas fehlte. Du bist das Wichtigste in meinem Leben und alles, was zwischen uns gewesen ist, bleibt wahr und richtig. Er weiß, dass ich nicht frei bin und dass ich es nicht sein möchte. Und doch zieht es mich zu ihm.“
Das klang so schwülstig, so kitschig. Wie sollte sie die richtigen Worte finden, ihre Gefühle beschreiben, ohne ihm furchtbar weh zu tun?
Charlotte stand wieder auf, ging zum Fenster und starrte blicklos hinaus. Sie kaute an der Nagelhaut ihres Zeigefingers, zog und zupfte mit den Zähnen, bis es blutete.
Durch das Fenster drang das Tirilieren eines Vogels, es klang wie: „Entscheide dich, entscheide dich …“

Lukas würde sie mit einem roten Teppich empfangen, er wartete auf sie. Sie fühlte die Wärme seiner Hände auf ihrer Haut, das Kitzeln seiner Finger, die über ihre Wirbelsäule strichen. Sie roch den Duft nach Tieren und Desinfektionsmitteln, der sie umwehte, wenn er ihr seine Jacke umhängte, sobald er glaubte, ihr wäre kalt. Seine Stimme war wie ein Kaschmirpullover und seine Umarmung schien ihr wie ein magischer Mantel, der alles Böse von ihr abwendete.
Charlotte spürte einen Kloß im Hals und schluckte. Sebastian verlassen? Sie liebte ihn doch, sich ein Leben ohne Sebastian vorzustellen, gelang ihr nicht. Es war ihr unendlich schwergefallen, ihn in den letzten Wochen anzulügen. Nicht nur deshalb hatte sie sich vorgenommen, eine Entscheidung zu treffen, jetzt, solange er auf Klassenfahrt war. Sie hatte geplant, ihm danach den Brief zu geben, aber heute Abend würde Sebastian nach Hause kommen und der Brief war nicht fertig und sie zu keinem Entschluss gekommen.

Charlotte ging zum Schreibtisch und blickte auf den angefangenen Brief. Was sie hier aufgeschrieben hatte, würde Sebastians Welt zerstören.
Sebastian, der nie etwas forderte, sie nie bedrängte. Er war da, wenn sie Halt brauchte und ließ ihr Luft, wenn sie nach Freiraum verlangte. Sebastian, der ihr, sollte sie je einen Mord begehen, unaufgefordert ein Alibi geben würde, überzeugt, dass sie stichhaltige Gründe für ihre Tat gehabt hätte.
Charlotte blinzelte. Lukas dagegen, dachte sie, würde bedingungslos den Mord für sie begehen.
Charlotte schluckte und drehte das Blatt in den Händen. Sie liebte beide Männer und doch musste sie sich für einen entscheiden.

„Verdammt“, Dackel Hermann zuckte vor Schreck und stieß sich die Schnauze an der Sofaecke. „Verdammt“, noch einmal fluchte Charlotte und mit einer heftigen Bewegung wischte sie alles vom Schreibtisch. „Komm, Hermann“, rief sie, schnappte sich Handy und Schlüsselbund und verließ das Haus durch die Tür zur Garage. Dort setzte sie Hermann in den Korb am Lenker, schob ihr Fahrrad nach draußen, stieg auf und fuhr los.
Immer schneller, immer fester trat sie in die Pedale. Der Wind zerrte an ihren Haaren. Hermanns Ohren flatterten. Ihre Finger umklammerten den Lenker.
Sie wollte sich zwingen, das rational zu entscheiden, obwohl sie eher der der Typ für spontane Bauchentscheidungen war.

Charlotte wusste, in der Agentur war sie bei den Kollegen gefürchtet für ihre plötzlichen Ideen, mit denen sie die anderen in den Strategiesitzungen oft überrollte – vorsichtiges, taktisches Abwägen war nicht ihr Stil.
Doch jetzt fühlte sie sich eher wie eine Maus, die sich nicht entscheiden konnte, welche Käseecke sie fressen sollte, als wie der Tsunami, mit dem Sebastian sie so oft verglich.
Mittlerweile hatte sie die Mühle im Wald erreicht. Charlotte hob Hermann aus dem Fahrradkorb und ließ ihn laufen, während sie ihr Fahrrad vor dem geschlossenen Café ankettete. Sie ging zum Mühlenbach und setzte sich mit dem Rücken zum Weg auf die Felsbrocken, die quer im Wasser lagen.
Auf der anderen Seite des Baches hatte sich ein Luftballon mit der Schnur im Gestrüpp verfangen und torkelte im Wind.

Tja, wäre sie eine Französin, dann wäre das natürlich etwas anderes. Dann würde sie ihre Louis-Vuitton-Handtasche schlenkernd auf hohen Prada-Absätzen über die Champs-Elysée stöckeln, auf dem Weg zu ihrem aufregenden Liebhaber, nachdem sie gerade mit ihrem Ehemann eine heiße Liebesnacht verbracht hätte. Eine Französin würde nicht zwischen den beiden Männern wählen, sie würde eine solche Ménage à trois wahrscheinlich vollauf genießen – und ihren Freundinnen gegenüber damit prahlen.
Charlotte meinte, Sebastian lachen zu hören, als sie dies dachte. Sie liebte sein Lachen, in das sie eintauchen konnte wie in einen glitzernden Sonnenstrahl, sein Lachen, das nie völlig aus seinen Augen verschwand.

Charlotte knabberte an ihrem Fingernagel und beobachtete den Ballon, der an seiner Schnur auf und ab hüpfte.
Ihre Mutter hatte Knöpfe abgezählt, wenn sie sich nicht entscheiden konnte.
Als Teenager hatte Charlotte mit ihren Freundinnen Blütenblätter abgezupft: „Er liebt mich, er liebt mich nicht …“ Ein Orakel.
Ein Orakel? Ein Orakel!
Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie laut gesprochen hatte. Hermann kam angerannt und legte sich hechelnd neben sie.
Ihr Handy pfiff. Als sie es aus der Tasche zog und sah, dass eine SMS eingegangen war, fiel es ihr ein. Sie hatte eine Verabredung vergessen, eine Verabredung mit Lukas. Das war ihr noch nie passiert. Mit keiner Windung ihres Hirns hatte sie daran gedacht, dass sie ihm versprochen hatte, ihn heute Nachmittag in der Galerie zu treffen. „Wo bist du“, schrieb er, „ich warte auf dich. Ist dir etwas passiert?“ Sie stellte sich vor, wie er durch die Ausstellung wanderte auf der Suche nach ihr, wie immer um sie besorgt, nie verärgert. Charlotte schaltete ihr Telefon stumm und steckte es zurück in die Hosentasche, ohne zu antworten.

Ein Windstoß zerrte an dem Ballon und blies ihn flach über das Wasser, ohne ihn vom Busch zu befreien.
Ein Orakel. Sollte sie eine Margeritenblüte abzupfen: ein Blütenblatt für Sebastian, ein Blatt für Lukas, das nächste für Sebastian …? Sie könnte auch eine Münze werfen, Kopf für Lukas, Zahl für Sebastian. Oder Hermann das Orakel sein lassen: Hebt er beim Pinkeln das rechte Bein, bleibt sie bei Sebastian, hebt er das linke …
Alles nicht das Richtige, Charlotte stöhnte, Hermann blickte sie an, seufzte tröstend und … pinkelte. Dabei senkte er sein Hinterteil und alle Pfoten blieben fest auf der Erde. Charlotte prustete und zupfte Hermann am Ohr.

Da hörte sie, wie sich auf dem Weg hinter ihr Schritte näherten. Hermann legte den Kopf schief und lauschte ihr interessiert, als sie ihm zuflüsterte:
„Jetzt oder nie, Hermann. Wenn das ein Mann ist, der da kommt, bleib ich bei Sebastian, ist es eine Frau, gehe ich zu Lukas.“ Hermann sah ihr in die Augen und schien zu fragen: „Und wenn es ein Paar ist?“ Dann lerne ich Französisch, dachte sie.
Hermann lugte um sie herum. Charlotte starrte ihn an, holte tief Luft, hielt den Atem an.
Und da wusste sie es, in diesem Moment wusste sie, was sie tun würde.
Charlotte stieß den Atem aus, stand auf, nahm Hermann auf den Arm und ging, ohne sich umzusehen, den Weg zurück, den sie gekommen war.
Auf der anderen Seite des Baches löste sich der Ballon und flog über dem Wasser davon.

Renate Müller
www.renas-wortwelt.de

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 20080