Schlagwort-Archiv: think it over

Erinnerung

Du hast mir damals doch erklärt
Wie dein Leben werden soll:
Vor nichts und niemand dich verbiegen
Dir selbst gehören Zoll um Zoll – das war toll
Beruflich lieben? Du doch nie! Doch dann kam sie
Mich betrügen? Du doch nie! Schuss ins Knie.

Du hast mir damals doch erklärt, dass man niemand schaden soll
Nicht Mensch, nicht Tier, nicht der Natur
Ich war bei dir, doch dann kam nur
Dein erstes tolles Angebot
„Spenden gegen Hungertod!“
„Bekämpft die Wiener Wohnungsnot!“
Überall warst du dabei, ein Shootingstar der Stadtpartei.
Kein Thema war zu blöd, zu bieder
Kein Untergriff war dir zuwider.

Du hast mir damals noch erklärt: Offen kämpfen sei verkehrt.
Erst der Bär, dann das Fell, erst Wolfsgeheul, dann das Gebell.
Ein mieser Hund bist du geworden –
Oder bist es bloß geblieben.
Hast Hunderte ins Aus getrieben
Dafür gab‘s Rang und Amt und Orden
Hast Tausende mit Lust belogen
Wurdest fett und schwammst ganz oben.

Du sagst, ich hätte dich ‚übertrieben schwer verletzt’
Dich, als du mich dringend brauchtest, der Hetz- und Treibjagd ausgesetzt
Doch hast du selbst mir doch erklärt, dass man niemand schaden soll:
Nicht Mensch, Natur, nicht Mann, noch Maus
Ich folgte dir und setzte nur – einen gefährlich schweren Troll
seinesgleichen aus.
Um schlimmeres Übel zu verhindern
Um dich an früher zu erinnern.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 18115

Eines Tages

Viele liebten ihr schönes Gesicht,
bewunderten die sanfte Grazie.

Noch keiner schätzte die ängstliche Abenteurerin,
die sich trotzend,
wilden Geschreis,
mit knirschenden Zähnen
ins Getümmel des Alterns warf.

Und mit rauer Klaue,
ihn an der Hand nahm und
in den Kreis des Unabdingbaren zog.

Nives Farrier
aus: Nach Dir.
(TwentySix Verlag, 2018)

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 18097

 

Stillstand

Lippen sanft wie Sand auf samtweicher Haut
fühlt sich überschwänglich und betrübt zugleich an
Ist irgendwie wie:

Mit nassen Haaren in die Kälte gehen
und Nägel aus Holzbalken ziehen
doch die Löcher sind für immer zu sehen
dann auf eigenen Beinen stehen

Und die eigenen Wege gehen
und über die eigenen Füße fallen
fühlt sich an wie sich auf Schokolade freuen:
Und dann sind Rosinen drin.

Nives Farrier
aus: Nach Dir.
(TwentySix Verlag, 2018)

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 18057

 

Laufen

Sie laufen alle,
überall Stockwerke,
Treppen, die ich nicht gehen kann,
zu langsam,

Das Hochhaus fabriziert,
dunkle Wolken,
Menschen laufen hinein,
Ein brennendes Haus,
Am Dach jubeln sie im Anzug,
Pupillen, die zu Seifenblasen heranwachsen,

Ein großes Gefängnis wurde gebaut,
Alter Glaube,

Freiheit ist die einzige Währung,
Die Wert hat

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 18044

Finden

In einen Garten hat er dich gesetzt
dein Herr
voll Grün und Farben
Sonnenstrahlen wärmen deine Glieder
und räkeln kannst du dich
im wohlig warmen Licht

Warum nur spürst du’s nicht

Kummer hat ein Nest in deinem Herzen sich gebaut
lähmt dir die Glieder und die Sinne
Wie soll das Raunen an dein Ohr gelangen
und die Stimme, die dich trägt, die Hand dir reichen
sanft flüstert sie
Ich halte dich
Ich liebe dich
Ich bleib bei dir
Hier bin ich
Schau, so schau doch, schau

Warum nur hörst du’s nicht

Es gibt das Glück, das ich dir zugedacht
so nimm es doch mit beiden Händen
oh weh, es rinnt dir durch die Finger
und nur ein Schimmer bleibt
der dich erinnert und auch quält

Du bist doch hier
zu kosten aus dem Garten
Du bist mein Kind
das ich so gerne herze
und dem ich meine Liebe schenke
die vom Verschenken lebt

Du siehst sie nicht und fühlst sie nicht
und das ist all dein Leid
Wie kann es sein
dass so viel Wohlergeh’n vergeht
entschwindet
Es ist doch da und doch ist’s nicht
zu greifen
zu spüren nicht
und auch nicht anzuschau’n

wie schmerzt es
deine inn’re Einsamkeit zu spüren
wo sind die Wölfe,
die sich darauf versteh’n
sie zu verjagen

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 18034

Anders

Eigentlich bin ich gar nicht anders. Ich spreche die gleiche Sprache, ich schreibe dasselbe Idiom. (Ein deutscher Lektor etwa wollte mir Stiege in „Treppe“, Matura in „Abitur“, und „Da schau her“ in „Sieh einer an“ verbessern.) Ich esse sogar leidenschaftlich gern die drei landesspezifischen Knödelsorten. Ich blinzele nicht einmal oder ziehe eine Augenbraue hoch, wenn es als Beilage Sauerkraut gibt. (Schließlich gehört dieses, sogar in der Namensgebung, zum Elsässer Nationalgericht, wobei choucroute für Hiesige womöglich feinschmeckerischer tönt.) Selbst als durchaus gerne Weintrinker schmeckt mir der Most ausgezeichnet. Es ist allerdings nicht ganz einfach, eine dem Wein äquivalente Qualität aufzutreiben. Vor allem, wenn man kein Auto hat.

Aha, da ist es jetzt womöglich: Ich bin mangels eigenem Wagen anders. Ich wohne fünfzehn Kilometer vor der Stadt und bin allein auf den öffentlichen Verkehr angewiesen. Werkstags in Schulzeiten mag, dank leicht erhöhter Fahrplanfrequenzen, eine solche Reduktion der Mobilität akzeptabel sein. Lange Wartepausen infolge fataler Anschlusszeiten lassen sich immerhin am Bahnhof mit einem Buch aus der Tasche überbrücken. Die Teilnahme an abendlicher Bildung gleich welcher Art entwickelte sich indessen unweigerlich zu einer Vielstunden-Expedition. Ich nehme also nirgends teil, ob an Aufführung in Oper respektive Theater oder an Seminar mit Wissensangebot oder Lesung mit Diskussionsrunde. Ich lerne niemanden in der Szene kennen, und mich kennt man auch nicht, sehe ich von meiner freilich klugen Frau und ein paar Freunden ab. Dadurch bin ich wohl unbeachtet, aber kaum absonderlich, oder? Ich könnte ein Taxi nehmen, das leider käme zu teuer. Ob ich mit einem beschränkten Portemonnaie-Inhalt anders bin als viele andere, wage ich zu bezweifeln.

Somit behaupte ich, ich bin keine Anomalie. Ich sehe ganz gewöhnlich aus, selbst für mein Alter, falle also nicht auf. Vielleicht merkt jemand auf, wenn ich spreche. Da meint der (!) eine oder andere, mich als Piefke beschimpfen zu müssen. Nun, erstens weiß er wohl nicht, woher der Ausdruck kommt (ich bin kein Militärmusiker), und zweitens stimmt diese Bezeichnung noch nicht einmal für meine Person. Es gibt in Europa ja weitere, andere Regionen, in denen man so etwas wie „Deutsch“ spricht. Und eben daher … Nun ja, ein paar romanische Elemente schwingen aufgrund meiner Herkunft in meinen Sätzen häufiger mit. Ein sprachliches Phänomen. Es trifft aber (seit dem berühmten renversement des alliances von Maria Theresia und Graf Kaunitz) nicht zuletzt für den Osten des Lands mit einigen Wendungen wie dem Trottoir oder dem Plafond ebenfalls zu. Sie, diese fremdsprachlichen Einsprengsel, sind folglich kaum anormal, sondern allenfalls ein wenig befremdend.
Item, als Fremden kann man mich wirklich nicht bezeichnen, höchstens als den Benutzer der dementsprechend benannten Zimmer in den Ferienorten.

Ansonsten habe ich immerhin eine nur mir eigene Biografie. Einerseits hat diese Biografie jede, jeder und ist demzufolge (und gottlob) keine quantité négligeable, ist jedoch damit noch lange nicht anders. Sie oder Er kann inklusive der oder, soll umgekehrt argumentiert werden, ungeachtet der Biografie als ein Mensch wie alle anderen bezeichnet werden. Zudem bin ich für die Ärzte keineswegs ein spezieller Fall, für den Psychologen oder Soziologen höchstens unverwechselbar, indem ich spezifische Eigenarten besitze. Was hingegen keineswegs von vornherein gleichbedeutend ist mit einzigartig. Somit darf ich behaupten, ich sei (indirekte Rede oder Konjunktiv?) eine Individualität, indessen bin ich damit allenfalls graduell anders als andere. Obwohl „man“ Kleider von der Stange trägt, obwohl „man“ die Musikwahl keineswegs als ausgefallen empfindet (von Bach bis Keith Jarrett), obwohl „man“ im Internet zugänglich ist, obwohl „man“ das Auto von Typ und Farbe modisch wählte. Doch halt, das Auto fehlt bei mir ja jetzt.

Zugegeben, es gibt in dem Mehrfamilienhaus, in dem ich wohne, keinen Lift, ich muss also zu Fuß in die dritte Etage. Dieses Hinaufsteigen empfinden zahlreiche Zeitgenossen, wie ich immer wieder von Neuem vernehme, nicht als normal. Gleichwohl weisen, sogar die hiesigen, Architekten darauf hin, Treppensteigen ist gesund für vieles, geradezu allzu vieles. Bin ich demnach, weil ich trotz meines fortgeschrittenen Alters einigermaßen gesund bin, bereits anders? Das mag insofern gelten, weil ich kein modisches Anti-Aging betreibe, sondern schlicht das bin, was ich vermag.

Meine Geltung im sozialen Raum beruht für manchen bedauerlicherweise auf meinem Namen, der nicht germanisch ist. Durch ihn bin ich, gerade in Österreich, jedoch nicht effektiv anders als eine Vielzahl der Landeskinder. Wer weiß: Vielleicht färbt der Name doch irgendwie ab? Weil er nicht farbig klingt, passt er unter Umständen in ein Schwarz-Weiß-Schema. Aber wenn ich mit jemandem rede, müsste doch eigentlich nicht unbedingt der Name am Beginn stehen. Ja das Sprechen …

Womit ich mit einem Déja-vu wieder beim Anfang meiner Überlegungen bin …

Martin Stankowski
www.stankowski.info

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 17159