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Schneeschippen

Es war sechs Uhr morgens und man schickte uns Schnee schippen. Walther und ich nahmen uns beide eine große Schaufel und traten hinaus. Der eisige Wind schnitt uns unangenehm ins Gesicht. Und es schneite noch immer. Die ganze Nacht über waren dicke Flocken vom Himmel gefallen, die Schneedecke war jetzt beinahe kniehoch. So hatte ich das noch nie erlebt.
„Scheiße“, sagte Walther und zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht. Ich wusste, dass Walther Schnee schippen hasste, erst recht um diese Uhrzeit. Wir teilten auf, wer welchen Bereich übernahm und begannen dann mit der Arbeit. Die Gäste schliefen um diese Zeit alle noch, nur die Angestellten waren wach und bereiteten das Frühstück vor.
„Wenn das so weitergeht, sind wir den ganzen Tag damit beschäftigt“, sagte Walther und steckte seine Schaufel in den Schnee. Der kleine Platz wurde von der Leuchtschrift des Hotels Bergspitze etwas erhellt, die Laternen würden erst in einer halben Stunde damit beginnen, ihr Licht zu spenden. Die Bergspitze war für die Gegend ein verhältnismäßig großes Hotel, das allerdings nur im Winter wirklich Gewinn abwarf. Die Geschäftsführung hatte deshalb beschlossen, den Betrieb im Sommer einzustellen. Die Gäste kamen nur, wenn die Luft kalt und die Berge weiß waren. Ich hob Schnee, er war nass und schwer, auf meine Schaufel und begann, einen Weg freizulegen.
„Ich hasse das“, hörte ich Walther sagen. Walther und ich waren so etwas wie die Hausmeister in der Bergspitze, manchmal etwas mehr, so genau wussten wir das auch nicht. Wir reparierten Kleinigkeiten, putzten ab und zu die Fenster und Flure und in der Nacht übernahmen wir von Zeit zu Zeit die Rezeption.

Nach einer halben Stunde begann ich zu schwitzen. Das Unterhemd klebte an meinem Rücken und mir war heiß unter meiner Mütze. Wir arbeiteten noch eine Weile weiter, dann beschlossen wir, eine Pause zu machen und etwas essen zu gehen. Ich hoffte, dass es bald aufhören würde, zu schneien, stellte meine Schaufel an eine Wand und klopfte mir den Schnee vom Mantel.
Das Brot war noch warm und wir schnitten dicke Scheiben ab. Walther nahm sich viel Butter und während er kaute, fuchtelte er mit der freien Hand in der Luft und sagte, dass man sicher bald mit dem Lawinensprengen beginnen müsse.
„Skifahren will man ja immer“, sagte er, schüttelte den Kopf und nahm sich noch ein Stück Brot. Hier waren schon einige Lawinen heruntergekommen, aber in dieser Saison war es bis jetzt ruhig gewesen. Wir blieben noch einen Moment sitzen und wärmten unsere Hände an der Teetasse auf.
„Komm“, sagte Walther schließlich und stand auf.
„Wir müssen weitermachen.“

Schweigend arbeiteten wir in der Kälte und sahen durchs Fenster, wie die ersten Gäste langsam in den Frühstückssaal kamen und sich für den beginnenden Tag stärkten. Die meisten trugen Pullover mit farbigen Strickmustern. Ich hatte nie verstanden, warum diese Pullover immer so hässlich aussehen mussten. Ab und zu hörten wir ein tiefes Grollen und ich hob den Kopf.
„Siehst du?“, sagte Walther und stützte sich auf seiner Schaufel ab. Sie hatten mit dem Sprengen begonnen. Bald stapften die ersten in ihren schweren Skischuhen aus dem Gebäude und zogen sich ihre Handschuhe über.

Walther und ich arbeiteten ohne Unterbruch bis zum Mittag. Er kramte in seiner Jackentasche nach seinen Zigaretten und bot mir eine an. Dankend nahm ich an und wir setzten uns auf die kleine Bank etwas abseits des Gebäudes.
„Ich überlege zu kündigen“, sagte Walther und sah in den bewölkten Himmel.
„Warum?“
„Wir tun immer nur das Gleiche.“
„Tut man das nicht überall?“
„Keine Ahnung“, sagte er, zog an seiner Zigarette und behielt den Rauch einige Sekunden zurück. Dann blies er ihn aus.
„Keine Ahnung“, wiederholte er. Wir schwiegen, bis ich aufstand und fragte, ob er auch etwas zu Mittag essen wolle. Er nickte und wir gingen.

Das Wetter wurde etwas besser im Verlauf des Tages und einzelne Sonnenstrahlen durchbrachen die dichte Wolkendecke. Wir hatten es tatsächlich geschafft, den Schnee wegzuräumen. Zufrieden saßen wir wieder auf der Bank und blickten auf die verschneiten Berge.
„Weißt du, worauf ich Lust habe?“, fragte Walther und schlug die Beine übereinander. Ich sah ihn an und wartete auf eine Antwort.
„Da wäre ich jetzt gerne. Genau da“, sagte er und zeigte auf eine Stelle im Gebirge, von der nur er wusste, wo genau sie lag.
„Eine schnelle Fahrt auf den Brettern. Ja, darauf hätte ich jetzt Lust.“ Er fuhr mit dem Finger eine Strecke ab, dann nahm er seine Hand herunter und vergrub sie in der Hosentasche.
„Warum nicht?“, fragte ich. Ich hatte das Gefühl, ich müsste ihn darin bestärken, heute noch auf die Piste zu gehen.
„Viel Arbeit fällt nicht mehr an. Das schaffe ich auch alleine.“ Ich machte eine Pause.
„Wenn du willst, kannst du ruhig gehen.“
Walther antwortete nicht. Ich sah, dass er überlegte.
„Also gut!“, sagte er und stand auf. Ich freute mich über das Leuchten in seinen Augen.
Während Walther sich bereit machte, holte ich mir einen Tee und überlegte, was heute noch zu tun war. Im Keller war eine defekte Glühbirne auszuwechseln und im dritten Stock musste ich einen kaputten Schrank reparieren.

Zehn Minuten später marschierte Walther in voller Ausrüstung auf mich zu.
„Na dann!“, sagte er, hob seine Skistöcke zum Gruß in die Höhe und schulterte die Bretter. Walther war ein erfahrener Fahrer und kannte sich gut aus. Er würde seinen Spaß haben.
„Na dann!“, gab ich zurück. Ich blieb sitzen und sah ihm nach, bis er hinter den Häuserreihen verschwunden war. Draußen war es kühler geworden und ich zog den Schal etwas enger um den Hals. Dann stand ich auf und entschied mich dazu, als erstes die Glühbirne auszuwechseln. Ich fand noch einige andere Kleinigkeiten, die zu erledigen waren und die Walther übersehen hatte. Ich glaubte nicht daran, dass Walther kündigen würde. Er war nicht der Typ dafür, sich in eine Veränderung zu stürzen. Er mochte die Beständigkeit. Ich sah aus dem Fenster und merkte, dass es wieder angefangen hatte, zu schneien. Vielleicht lag schon wieder etwas Schnee auf dem Weg. Ich holte die Schaufel und schritt auf den Platz hinaus. Viel war es nicht und ich hatte es schnell zur Seite geschippt. Plötzlich hörte ich ein tiefes Grollen. Erst dachte ich, es sei ein Gewitter, doch das Geräusch kam mir seltsam bekannt vor. Es klang so, als hätte man noch einmal eine Lawine gesprengt. Ich ging ins Hotel zurück und wollte Walther anrufen.

Emmanuel Heman

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 14010

 

 

Mein Arbeitstag beginnt – aus dem Leben einer Bibliothekarin

Als ich noch Schülerin war, haben meine Eltern immer zu mir gesagt: „Lerne, sonst wirst du als Melkerin arbeiten und die müssen wegen der Kühe um 3 Uhr 30 aufstehen!“ Ich habe den Rat meiner Eltern befolgt. Ich habe akademische Ausbildung. Ich stehe morgens um 4 Uhr auf.

Morgens – 4 Uhr, mein Wecker schrillt. Ich schreie. Mein Arbeitstag beginnt. Nachdem ich den Wecker ausgeschaltet habe, klettere ich aus dem Bett, denn die Zeit läuft. Gerade weil die Zeit läuft, klettert unser Hund in mein Bett. Er wirft einen frechen Blick auf mich und dreht sich in eine bequeme Lage auf den Rücken. Ich bin verzweifelt. Ein paar Sekunden später schaue ich auf mein Bild in den Spiegel des Badezimmers. Ich bin verzweifelt. Nach 30 Minuten harter Arbeit verlasse ich das Badezimmer mit einem neuen Gesicht. Ich werfe etwas zum Essen in meine Tasche und gehe Richtung Bahnhof. Falls ich mit dem Make-up um 3 Minuten mehr verbracht habe, gehe ich nicht zum Bahnhof, sondern ich laufe.

Während der Zug fährt, höre ich den Gesprächen der Mitreisenden zu, sodass ich eine gute Vorstellung davon habe, wer zu Hause Streit hatte, wessen Chef ein Trottel ist, was für ein Wetter kommt und welche Fussballmannschaft gewonnen hat. Obwohl mich diese Neuigkeiten gar nicht interessieren, wehre ich mich nicht. Ich bin Bibliothekarin, die Informationen sind mein tägliches Brot.

Ich steige aus dem Zug in der Stadt Prostějov aus. Bevor der nächste Zug fährt, der mich nach Olomouc bringt, habe ich etwa 10 Minuten Zeit. Ich stehe in der Bahnhofshalle unweit von der Bäckerei, betrachte das frisch gebackene Gebäck und atme tief ein. Man könnte sagen, ich frühstücke. Endlich kommt der Zug. Falls die Teenager nicht mitfahren, setze ich mich bequem auf den unbequemen Sitzplatz und schlafe ein. Falls die Teenager mitfahren, setze ich mich bequem auf den unbequemen Sitzplatz und bemühe ich mich intensiv einzuschlafen. 3 Meter von mir entfernt sitzt ein Junge, Kopfhörer auf dem Kopf und hört Musik. Ich höre mit. Ich will es zwar nicht, aber ich muss, denn das Radio brüllt. Der Klang, den ich höre, erinnert mich an Hammerschläge. Ein paar Minuten später nähere ich mich dem Wahnsinn. Der Zug fährt los, was mich rettet. Der brüllende Zug überbrüllt die brüllende Musik. Wie eine richtige Atheistin sage ich zu mir: „Gott sei Dank“ und beginne zu relaxen.

Der Schaffner kommt, er kontrolliert die Fahrkarten und wirft nur so hin, dass es sich auf der Strecke eine Stelle befinde, die gerade repariert wird und dass die Reisenden aus diesem Grund einen Teil der Reise mit dem Bus absolvieren müssen. Ich vergesse meinen Atheismus und beginne wild zu beten. Es hilft nicht. Ich kehre zurück zum Atheismus. Auf der Haltestelle in der Mitte unserer Strecke steigen wir aus dem Zug aus. Die Busse, die auf uns schon warten sollten, sind nicht zu finden. Die Gruppe der Werktätigen beginnt zu nörgeln. Wir warten. Es passiert nichts. Wir warten. 10 Minuten später kommen die Busse. Die Laune ist euphorisch. Wir absolvieren die nächsten 5 Kilometer im Bus. An dem nächsten Bahnhof steigen wir aus dem Bus aus. Wir kommen dorthin, wo wir den Zug erwarten. Der Zug ist nicht zu finden. Würde so etwas in Japan passieren, müsste die Regierung abdanken. Passiert es bei uns, werden die Fahrkarten teurer.

Der Zug kommt gleich. Wir werfen die letzten Reste der Würde weg und drängen uns rücksichtlos herein. Die nächsten 10 Minuten genieße ich die Reise wirklich. Am Bahnhof in Olomouc steige ich fast mit Rührung und Tränen in den Augen aus. Ich habe’s geschafft. Ich bin dort, wo ich sein wollte, nämlich in der Stadt, wo ich arbeite.

Ich trete in die Bahnhofshalle ein. Zwei Polizisten beobachten mich mit strengen Blicken. Da ich keine Probleme haben möchte, gehe ich an den schlafenden Obdachlosen auf Zehenspitzen vorbei. Ich bleibe vor meinem Gebäckstand stehen, kaufe mir Frühstück und beeile mich in die Arbeit. Ich habe Verspätung. Na ja, Verkehrssperre. In meinem Büro falle ich völlig erschöpft in den Sessel, aber ich bin glücklich. Das gewöhnliche Morgen-Abenteuer habe ich überlebt, zwar knapp, aber doch. Mit dem Anfang der Arbeitszeit beginnt ein neues Abenteuer – nämlich meine Arbeit. Das wäre aber schon eine andere Geschichte.

Marcela Vsetickova
Dieser Text erhielt den Würdigungspreis des Literaturblogs „Der Duft des Doppelpunktes„.

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 13046

Junge Tänzer

Auf der Beerdigung von Hans‘ Vater ging beim Leichenschmaus das Bier aus. Der Wirt hatte vergessen, genug zu bestellen und nicht damit gerechnet, dass Hans‘ Freunde so viel trinken würden. Es war Hans‘ Wunsch gewesen, sich mit ihm bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken.
Nachdem der letzte Tropfen ausgeschenkt und ausgetrunken war, zogen Hans, der keinen Unterschied fühlte zwischen dem dumpfen Nichts der Vortage und den ausgelöschten Empfindungen des Jetzt, und seine Freunden in das nächste Wirtshaus weiter.
Hans‘ Vater war an Alzheimer gestorben.
Am Morgen nach der Beerdigung kaufte sich Hans eine Digitalkamera.

Zwei Jahre später waren seine Freunde erwachsen geworden. Hans nicht. Er führte ein detailgenaues Tagebuch und fotografierte viel. Auf eine kompromisslose Weise suchte er die Nähe zu wesentlich jüngeren Menschen, die einzigen, in deren Gesellschaft er aufblühte.
Einer dieser Menschen war Emmi, ein neunzehnjähriges Mädchen mit wachen Augen und einem Lächeln, durch das sich der Angelächelte für etwas außergewöhnlich Besonderes halten mochte. Sie ahnte die Exklusivität, die er ihr gewährte, er fotografierte sie oft.

„Warum fotografierst du so viel?“, fragte sie, als sie auf einem Maskenball in einem alten Bauernhaus zusammen auf einer Couch saßen.
Er trug einen teuren Designeranzug, verbarg seine Augen hinter einer Sonnenbrille und wirkte in dieser Verkleidung im rustikalen, modrigen Mauergewölbe wie ein ungetarnter Fremdkörper. Emmi war als Pirat maskiert und ihre Wangen durchkreuzten vier schwarze Striche, die eine furchterregende Tätowierung darstellten. Hans lächelte sein oberflächliches Lächeln und legte einen Arm um sie.

„Weißt du, liebste Emmi, das Leben ist zu kurz, um sich mit irgendwelchen anderen Belanglosigkeiten als mit der Gegenwart zu befassen.“
Er nahm die Brille ab und sah sie mit seinen dunklen Augen an, die immer etwas glasig leuchteten.
„Warum wir es trotzdem tun? Weil die Gegenwart vergänglich ist. Vergänglicher noch als die Zukunft.“
Emmi schüttelte den Kopf: „Als Physikstudentin muss ich dir da leider widersprechen. Die Gegenwart währt ewig.“
„So, meinst du?“, fragte er und schaute sie traurig an, als wisse er von einem Geheimnis des Lebens, das sie nicht kannte.
„Vom physikalischen Standpunkt her habe ich recht“, beharrte sie. „Vom philosophischen her vielleicht nicht. Aber was hat das mit deinem Fotografieren zu tun?“
„Alles“, antwortete er und sie entdeckte wieder diese tiefgründige Traurigkeit in seinen Augen, die sie unheimlich und anziehend zugleich fand.
„Ich würde dich gerne so fotografieren, wie du wirklich bist“, sagte er. „Nackt.“
Sie schaute ihn empört an und schlug ihm leicht in die Seite.
„Hans!“
Er lächelte, mit zuckenden Mundwinkeln und reglosen Augen: „Ich meine mit nackt deine Seele.“
Sie las in seinem Blick, dies war in Bezug auf Intimität ein und dasselbe.
„Ich möchte dich gerne so festhalten, wie du jetzt bist.“ Er legte überlegend eine Pause ein und fügte hinzu: „Du hast Recht, das ist nur die halbe Wahrheit. Ich möchte das festhalten, was ich in dir sehe.“

Er schlug die Augen nieder und setzte die Sonnenbrille wieder auf. Sie entgegnete nichts weiter. Die Ahnung, was er in ihr sehen könnte, genügte ihr, es musste nicht in ausgesprochene Worte verwandelt werden. Sie kannte ihn seit einem Jahr, wusste wenig über ihn, obwohl sie mit wenigen Menschen tiefere Gespräche führte. Sie wusste, dass er sie deshalb mochte, weil sie keine Scheu vor seiner andersgearteten Gedankenwelt kannte. Er beherrschte beide Spiele: das oberflächliche Gesellschaftsspiel des Small Talk, der heiteren guten Laune und die schonungslose Offenheit, die man gegenüber denjenigen Menschen zutage trägt, denen man nahe steht, denen man erlauben möchte, mehr zu wissen.

„Du weißt, dass ich dich vermisst habe die letzten Wochen“, sagte er.
Sie nickte. Sie studierte in Heidelberg und kam nur noch selten nach Hause. Sie hatte Semesterferien. Er registrierte ihr Nicken auf seine rhetorische Frage mit einer wissenden Traurigkeit. Wissend, dass er auch mit diesem Satz nichts würde ändern können. Er nahm die Sonnenbrille ab, als legte er seine Maske ab, und teilte seine nachdenklichen Augen mit ihr. Er lächelte, ohne dass seine Augen das Lächeln zu teilen vermochten:
„Man versucht mit Kleinigkeiten, mit wenigen, aber treffenden Worten etwas zu verändern. Vielleicht ein ganzes Leben lang.“
Er hielt inne, als überlegte er, was er eigentlich sagen wollte.
„Diese Worte kann man entweder mit kleinen Samenkörnern oder mit Kreuzen auf dem Lotterietippschein vergleichen: Man erhofft sich, dass aus einer Kleinigkeit etwas Großes, Lebensveränderndes entwächst. Meistens aber passiert gar nichts und die Dinge bleiben so, wie sie sind.“

Er lehnte sich zurück und atmete tief aus, als sei eine gewaltige Spannung aus seinem Körper gewichen. Er schaute in die gelblichen Lichter und sah zu, wie die Maskierten tanzten.
„Ich weiß, dass unsere Wege längst vorbestimmt sind. Schon bevor wir uns kennengelernt haben. Sei mir nicht böse, wenn ich immer wieder mit diesen winzig kleinen Spitzen versuchen werde, dich und mich ein Stück weit von diesem vorgezeichneten Weg abzubringen.“

Sie sah ihn verwirrt an.
„Du verstehst kein Wort von dem was ich sage, nicht wahr?“
Sie lachte. „Den letzten Satz habe ich jetzt wieder verstanden.“
Hans griff sich an die Stirn. Ihm war schwindelig:
„Sorry du, aber ab halb drei weiß ich selber nicht mehr, was ich rede.“
Er sah sie noch einmal an: „Das ist auch so eine Sache. Man verpackt seine Botschaften in umständliche Worte, die ohnehin den Empfänger nie so erreichen, wie sie sollten. Ich wollt dir nur sagen, dass du mir gefehlt hast.“
Sie seufzte wortlos, umarmte ihn und presste ihr weiches Gesicht an seine linke Wange, bis sich die schwarzen Streifen auch auf seiner Wange abzeichneten.
„Warte“, sagte er und holte seine Kamera aus seiner Tasche.
Er hielt sie vor sich. Es machte „Klick“. Als der Blitz aufleuchtete, sagte er leise zu sich: „Und in diesem Moment war Hans H. ein erstes Mal in diesem Jahr glücklich.“
„Wie bitte?“, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf und lächelte: „Nichts von Bedeutung.“
Dann fügte er hinzu: „Hast du gewusst, dass es niemals Erlösung geben wird?“
„Wie meinst du das?“
„Du wirst immer kurze Momente der Erfüllung, des Glücklichseins erleben. Aber du wirst nie endgültig erlöst sein. Das Leben ist kein Rosamunde Pilcher Film.“
Sie sah ihn ratlos an: „Hat das jetzt eigentlich was mit deinem Fotografieren zu tun?“
Er lächelte: „Du hast mich schon fast durchschaut.“

Es wurde trotz der späten Stunde noch immer getanzt. Emmi sprang auf die Tanzfläche. Sie streckte ihm einladend die Arme aus, aber er schüttelte den Kopf, nahm stattdessen seinen Fotoapparat zur Hand und fotografierte sie.
Er sah den jungen Leuten zu, wie sie ihre leidenschaftlichen Tänze aufführten und beobachtete Emmi, die wie ein Magnet Tanzpartner anzog, von ihnen wegtanzte, den nächsten heran tanzen ließ. Sie sah anmutig dabei aus. Im bunten Licht blieb die Zeit stehen und er fand, es gab wahrhaftig nichts Schöneres. Er schaltete die Kamera auf den Modus „Film“ und schaute ihr durch das Display zu, wie sie die Hände in die Luft warf und sich im Kreis drehte.

Ein Mädchen setzte sich auf den frei gewordenen Platz auf der Couch. Sie blickte unverblümt auf den kleinen Bildschirm.
„Du magst sie sehr“, sagte das Mädchen und, als sei er in einem intimen Moment ertappt worden, schaltete Hans ungeschickt die Kamera wieder aus.
Er drehte sich zu dem Mädchen um. Sie trug ein kariertes Hemd, bunte Leggins und einen schwarzen Pagenkopf. Ihr sommersprossiges Gesicht kam ihm bekannt vor.
„Du erkennst mich nicht“, sagte sie lachend.
Hans nickte.
„Wir haben letzte Woche erst gesprochen.“
„Letzte Woche?“, fragte er. „Wann letzte Woche?“
„Am Freitag. An der Bar.“ Er schaltete seine Kamera auf „Wiedergabe“ und blätterte die Fotos der letzten Woche durch. Er fand den besagten Abend und zeigte ihr ein Bild, auf dem er mit einem blondgelockten Mädchen zu sehen war.
„Bist du das?“, fragte er.
Sie lachte. „Na klar, du erkennst mich wirklich nicht?“
„Sorry, Sandra, aber mir scheint, als kennst du mich nicht“, sagte er und sein Lächeln ließ die Worte weniger ernst klingen als ihre Bedeutung.
„Ich spreche nicht oft darüber, aber ich versuch es dir zu erklären.“
Sandra sah ihn erschrocken an und das fröhliche Lächeln gefror ihr im Gesicht.
Ernst fuhr er fort: „Dir ist sicherlich bekannt, dass viele Europäer die Gesichter von Asiaten, Schwarzen oder anderen ethnischen Gruppen nur schwer auseinander halten können.“ Er sprach mit einer warmen Stimme und Sandra rang sich ein aufmunterndes Lächeln ab. Sie hörte ihm interessiert zu.

„Seit einiger Zeit habe ich bemerkt, dass es mir immer schwerer fällt, Gesichter zu unterscheiden. So wie du dich schwer tun würdest, drei Chinesen auseinander zu halten, tu ich mir schwer, zwischen drei Blondinen zu unterscheiden. Das geht so weit, dass ich mir selbst nicht mehr trauen kann. Ich habe schon so oft auf der Straße Fremde angesprochen, die ich für Bekannte hielt, dass es mir bald peinlich wurde. Irgendwann hörst du einfach auf damit.“
Er merkte, dass sie bedrückt zu Boden schaute und fügte hinzu: „Dich hätte ich natürlich ohne Perücke sofort erkannt. Dein Style ist einfach zu einzigartig. Obwohl du mir auch mit schwarzen Haaren außerordentlich gut gefällst.“
Sie errötete leicht. „Vielen Dank“, sagte sie, harrte noch eine Weile irritiert aus, stand schließlich erleichtert auf und verschwand wieder.

Hans‘ Aufmerksamkeit richtete sich abermals auf die Tanzenden. Seine Gedanken verloren an Schärfe und die Erkenntnisse wichen mehr und mehr Empfindungen, während er Emmi beim Tanzen betrachtete.
Nur kurz entwichen seine Gedanken in die Parallelwelt des Träumens, er erwachte in der Realität, als sich Emmis Bruder Joe neben ihn setzte.

„Ich sag’s dir, in der WG geht’s ab“, sagte Joe.
Hans sah ihn aus glasigen Augen an.
„Ach?“, sagte er. „Erzähl mir was Neues oder verschone meine sensiblen Ohren. Entschuldige mich, Joe, aber ich bin heute nicht mehr so aufnahmefähig wie ich es in deiner Gesellschaft sein sollte.“
„Du rauchst zu viel“, sagte Joe und klopfte ihm auf die Schultern. „Aber was da drinnen abgeht, das ist so der Über – Wahnsinn, so high kannst du gar nicht sein, dass es dich nicht interessiert.“
„Na los, dann erzähl schon. Ich spitze meine Hörorgane nur für dich.“
„Ich wollt nur rauf zum Phil, um mir ein Paper zu holen. Hätt wohl erst anklopfen sollen, aber wenn die nicht zusperren, sind sie selber schuld.“
Hans nutzte das Stichwort, um sich von Joe eine Zigarette zu erbitten. Er zündete sie an und Joe fuhr fort:
„Ich komm also ins Zimmer und höre ein Stöhnen. Denen war es scheinbar egal, dass jemand hereingekommen ist und das Gestöhne kam von der einen Seite und gleichzeitig von der anderen Ecke des Zimmers. Ich leuchte mit meinem Handylicht hin und Phils Kopf schaut aus der Bettdecke raus. Er grinst mich frech an und am unteren Ende des Bettes lugen drei Beine aus der Bettdecke hervor.“
Hans zog an seiner Zigarette und nickte: „Na, das ist dann in der Tat sensationell. Phil steht ja eigentlich gar nicht auf dreibeinige Mädchen.“
Joe sah ihn verständnislos an: „Du machst mir meine ganze Story kaputt, Mann. Da droben herrscht eine wilde Orgie und dich interessiert das gar nicht?“
Hans betrachtete weiter Emmi, wie sie mit geschlossenen Augen tanzte.
„Du hättest dich ja dazulegen können“, sagte Hans.
„Spinnst du?“
„Das Leben macht dir manchmal Angebote, die kannst du annehmen, oder auch abschlagen. Aber lamentier dann bitteschön in der Sekunde deines Todes nicht rum, dass du dein Leben nicht erfüllend ausleben konntest. Ich denke jeden Tag darüber nach, was wäre wenn, wenn es – bam – morgen vorbei wäre.“
„Das ist aber auch schon krankhaft“, erwiderte Joe und holte eine zylinderförmig geformte, selbstgedrehte Zigarette hervor. Er zündete sie an, nahm einen tiefen Zug, verzog die Augen und sagte mit gepresster Stimme: „Warum sagst du‘s ihr dann nicht endlich?“
Hans‘ Gesichtszüge verloren jede Spannung und mit leicht geöffnetem Mund sah er Joe an, der in stiller Siegesgewissheit grinste.
„Wie bitte?“
Joe inhalierte tief und reichte ihm den Joint weiter.
„Mach mir nichts vor, Hansi. Ich bin weder blind noch begriffsstutzig. Ich habe deine Fotos von ihr im Internet gesehen. Du fotografierst niemanden so wie sie. Warum sagst du‘s ihr nicht einfach?“

Hans rollte die Zigarette zwischen seinen Fingern.
„Zunächst mal, nenn mich bitte nicht Hansi. Es gibt keinen Hansi. Schon seit zehn Jahren nicht mehr. Und um deine sicher nett gemeinte Frage zu beantworten: Du hast sehr wohl richtig bemerkt, dass deine Schwester mir lieber, viel lieber als der Rest der Welt ist. Aber da dein teuerstes Schwesterherz genau so wenig blind und begriffsstutzig ist wie ihr Bruder, brauchen in unserer Welt manche Dinge einfach nicht ausgesprochen werden. Denn selbst wenn heute der letzte Tag meines Lebens angebrochen sein sollte, würde mir wohl kaum das Glück zuteil, dass ausgerechnet heute das Wunder geschieht und diese seltsamste meiner Neigungen auf Gegenliebe stoßen sollte. Zudem sehe ja ich meinerseits, dass sie glücklich liiert ist und Freundschaft ist doch auch was Wunderbares.“
Er führte die Tüte zum Mund und sog sich die Wirkstoffe tief in die Lunge, bis sie in die Blutbahn Richtung Kopf gelangten.
„Ein Scheißspruch“, sagte Joe. „Außerdem kann ich ihren Lover nicht ab. Ich denke eher, dass dein Problem ist, dass du dich mit deinem Dasein arrangiert hast. Lieber stillhalten und davon träumen, dass alles doch ganz anders sein könnte, wenn nicht die Umstände wären, als sich den Korb der endgültigen Gewissheit abholen.“
Hans seufzte. „Wenn du wüsstest“, sagte er.
„Aber eines möchte ich dir noch sagen:“, fügte Joe hinzu, „Jedesmal, wenn ich mit Emmi telefoniere, fragt sie zum Ende des Telefonats nach dir.“
„Tatsächlich?“, fragte Hans und lächelte. „Warum meldet sie sich dann nie bei mir?“
Joe legte die Stirn in Falten: „Das musst du sie wohl selbst fragen“, sagte er und stand auf.
„Warte noch.“ Hans hielt ihn zurück und holte die Kamera hervor. Er schaute auf das Display, wartete einen Moment, dann drückte er ab. Zufrieden lächelnd betrachtete er die Fotografie. Es zeigte Joe, der ihm gerade zuzwinkerte. Im Hintergrund war die mit geschlossenen Augen tanzende Emmi zu sehen.

Hans fühlte sich müde und spürte, wie die Wirkung des Joints in ihm aufging. Das Licht war nun viel heller und das Gelb war verschwunden. Weißes Licht schien auf Emmi, die unermüdlich die Hüften bewegte und die Hände in die Luft reckte.
Die Bilder verschwammen ineinander, das weiße Licht wurde stärker und Hans sank auf die Couch zurück, als würde er von ihr aufgefressen und sah als weit, weit entfernter Zuschauer den tanzenden jungen Leuten zu. Die Realität flimmerte und einen Augenblick lang glaubte er, Gorillas und Zebras auf zwei Beinen miteinander tanzen zu sehen. Er kniff die Augen zusammen und begriff, dass sein Gehirn nicht mehr zwischen Masken und Wirklichkeit unterscheiden konnte. Er ließ die Illusionen in seinem Kopf zergehen und starrte mit halb geschlossenen Augen auf die bizarr tanzenden Seeräuber und Indianer. Mit letzter Willensanstrengung griff er nach der Kamera und fotografierte den Piraten.

Als Hans die Augen aufriss, war es hell. Er erblickte ein beschlagenes Fenster. Vor dem Fenstersims lag Schnee. Er blickte sich um. Er war nicht zu Hause. Und er war nicht allein. Er hörte rhythmisches Schnarchen. Er lag auf einer Matratze, einer von vielen Matratzen. Aus einem Bett lugte Phils Lockenschopf hervor. Es war sein Zimmer. Auf den Matratzen lagen in Schlafsäcken Paarkonstellationen. Er konnte sich nicht erinnern, wie er hierher gekommen war. Er lag unbekleidet in einem Schlafsack. Panik befiel ihn. Er suchte nach seinem Fotoapparat. Links und rechts lagen Hosen, T-Shirts, ein Gorillakopf, ein Cowboyhut, mehrere BHs, sein Anzug. Er griff nach dem Sakko, ertastete die Kamera. Seine Hand zitterte, hastig holte er die Kamera hervor. Er schaltete sie auf Wiedergabe und suchte den Ordner Foto für Foto ab. Schließlich gelangte er zu dem Bild, das ihn mit Emmi zeigte. Er erinnerte sich. Die Uhr zeigte 2:31 Uhr. Es folgte eine Filmaufnahme, auf dem nächsten Bild war ein zwinkernder Joe zu sehen, danach er selbst, leichenblass mit glasigen, halb geschlossenen Augen. Die Uhrzeit zeigte 3:57 Uhr an. Sein Herz pochte ungesund, als er ein Bild weiter schaltete. Der Bildschirm blieb schwarz. Nur einige weiße Lichtpunkte ließen die Scheinwerfer erahnen. Der Blitz war nicht ausgelöst worden. Die Uhrzeit zeigte 4:17 Uhr. Er schaltete auf das nächste Foto. Ein schwarzes Bild nach dem anderen erschien. 4:18, 4:18, 4:19 Uhr. Hans versuchte, sich zu erinnern. Der schwarze Fleck in seinem Gedächtnis machte ihn panisch.

„Ist es jetzt soweit?“, fragte er sich und ihm wurde schwarz vor Augen. Er konnte sich an nichts erinnern. Er starrte auf seine Kamera: 4:20 Uhr. Es war das letzte Bild auf der Speicherkarte. Das Bild zeigte ihn lächelnd und überrascht blinzelnd, als hätte er nicht mit dem Blitz gerechnet. Ein Arm trat aus dem einen Ende des Bildes hervor, schmiegte sich um seinen Hals und endete in seiner Hand von der sie gehalten wurde. Er konnte sich an nichts erinnern und das Grauen dieser Erkenntnis schnürte ihm die Kehle zu. Er bemerkte ein kleines Detail. Er vergrößerte das Bild. Er sah glücklich, fast selig auf der Fotografie aus.  Auf seiner Wange war der verschmierte Abdruck von schwarzen Streifen zu sehen. Die Angst fiel von ihm ab und als erinnerte sich nun sein Unterbewusstsein, schaltete sein Herz von ängstlichem auf glückliches Pochen um. Er sprang mehrere Fotos zurück, dann wieder auf das letzte Bild. Er lächelte und sein Herz pumpte eine wohlige Wärme durch seine Adern. Auf dem letzten Foto trug er die Streifen auf der Wange nicht rechts, wie zuvor, sondern links. Und auf dem Arm, der ihn umschlang, erkannte er ein Muttermal, das er sehr gerne mochte. Er schnupperte an seiner Hand. Es roch nach La Femme. Sein ganzer Schlafsack roch nach La Femme. Er zog sich eine Hose über und sprang aus dem Schlafsack, rannte ans Fenster und schaute zum Parkplatz hinunter. Er sah gerade noch Emmis gelben Fiat, der mit hohem Tempo davon fuhr.

Bernhard Strasser

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 13035

 

Alles offen – an Tagen wie diesem

Es gibt Tage, da ist man gezwungen, grundsätzliche Entscheidungen zu treffen, durch die man sich selbst ein bisschen besser kennen lernt. Was ist mir wichtig, wofür stehe ich, wer bin ich, das alles klärt sich mit und aufgrund dieser Entscheidung.

Und genau so ein Tag war dieser, auch wenn es zu Beginn gar nicht danach aussah.
Der Plan war simpel und in der Form auch nicht neu: mich in eine U-Bahn setzen, danach in einen Bus und kurz vor Ladenschluss bei einem Trödlerladen namens Fundgrube vorbeischauen. Ich brauchte eine Lampe, und als Studentin der Philologie hatte es mir dort nicht nur die wirklich humane Preisgestaltung angetan, sondern auch die Belesenheit der beiden älteren Damen, die den Laden mit viel Charme betreuten. Meine häufigen Besuche dort waren gerne gesehen, wenn ich auch nicht immer etwas kaufte.
So freute ich mich auf  gute Gespräche über Literatur, nachdem die anderen Kunden gegangen waren, und vielleicht sogar ein brauchbares Schnäppchen. Nicht zu vergessen, Diego, den Enkelsohn einer der Besitzerinnen, der mich glühend verehrte und mir schon so manches Mal heiße Blicke zugeworfen hatte, fesch war er ja, ein Schnuckel und gar nicht dumm, vielleicht würde ich ihn diesmal erhören, irgendwie war ich heute zu allem aufgelegt.

Der Weg ins Paradies ist oft steinig …
In der U-Bahn wurde ich angerempelt, sodass ich beinahe zu Boden ging, meine Tasche tat es tatsächlich. Das hat man davon, wenn man stehen bleibt, damit ältere Passagiere sich gleich hinsetzen können. Der Vorfall veranlasste mich, von dieser guten Absicht Abstand und selbst Platz zu nehmen. Das bereute ich sofort.
Beim jungen Mann neben mir läutete das Smartphone, und schon war es vorbei mit der Ruhe. Was am anderen Ende der Leitung gesprochen wurde, verstand ich natürlich nicht, der Stimmlage nach war es eine aufgeregte Frau. Aufgrund der Antworten des Jünglings wurde ich auch schnell nervös, hier  nur ein leicht verkürzter Auszug aus dem Gespräch zur Erklärung, ich will Sie nicht langweilen:
„Hi Rita! Wie geht’s? … Ah, das ist aber blöd. Was brauchst du? … Ein bestimmtes? … Also irgendeins, was gegen Läuse hilft, aber nichts ganz Arges, für die Kinder, ok. … Passt, ich steige dann bei einer Apotheke aus. … Jaja, das passt schon, das Geld gibst du mir nachher, wenn ich bei dir bin. … Ich versteh dich grad schlecht: Wieso soll ich nicht hineingehen? … Nein, das auch noch. Ja, da hast du recht, Masern sind kein Spaß, besonders nicht für Erwachsene.“

Mittlerweile juckte es mich nicht nur am Kopf, sondern am ganzen Körper. Beim Hinausgehen hörte ich noch, wie er etwas leiser zu Rita sagte: „Du, die neben mir hat sich auch schon so gekratzt. Hoffentlich hole ich mir nichts von der.“
Die darauffolgende Busfahrt verlief glücklicherweise ereignislos, sodass ich mich ganz der Wiederherstellung meiner psychischen Gesundheit widmen konnte, sprich: Ich konnte endlich das Phantom-Jucken als solches erkennen und mit dem Kratzen aufhören.

Dann, das Eintauchen in die geliebte Altwaren-Welt, was für ein Vergnügen, das alte Glöckchen bimmeln zu hören, wenn ich die Türe öffnete.
Eine der beiden Besitzerinnen stürmte auf mich zu und begrüßte mich überschwänglich. Die andere war damit beschäftigt, einer Runde von drei älteren Damen und einem Herrn im Anzug Schnaps zu kredenzen. Ich hatte sie alle schon hier getroffen, es schienen Freunde oder Stammkunden zu sein.
Die Runde saß einträchtig an einem großen (natürlich sehr alten) runden Tisch und blickte abwechselnd in ihre halbgefüllten Gläser und auf eine geheimnisvolle Schachtel in der Mitte. Die Fundgrube hatte an diesem Tag eine besondere Lieferung bekommen, verriet mir die noch stehende Dame, verschiedenste Schnäpse und Liköre, weit über fünfzig Jahre alt, etwas ganz Besonderes.
Warum sie die kleinen Behältnisse der Reihe nach austranken, statt sie für eventuelle Käufer aufzuheben, erklärte sie damit, dass die leeren Fläschchen weit wertvoller für Sammler seien als volle. Nun denn, weg damit, schien die Devise zu sein. Mich verwunderte in der Fundgrube fast gar nichts, es war eben eine eigene Welt.

Und da war auch schon Diego, hinter einer alten Kommode lauernd, hocherfreut, als ihn die Dame, die sich gerne dazusetzen und an der Geselligkeit teilhaben wollte, bat, er möge sich doch um meine Wünsche kümmern …
Er führte mich in einen Nebenraum, um mir eine Lampe zu zeigen, zu dumm nur, dass da keine war. Wir waren gerade am Weg in das nächste Hinterzimmer, als uns der dringlich scheinende Ruf seiner Oma erreichte, und er, der brave Enkel, zwinkerte mir zu und meinte, er sei gleich wieder da.
Die Wartezeit vertrieb ich mir mit Herumgestöbere, was sich als sehr lohnend herausstellen sollte. Eine Schatulle hatte es mir angetan, ich öffnete den Deckel, sah mir alles sehr genau an. Und entdeckte das Unfassbare, wie aus einem Roman: einen doppelten Boden. Hastig hob ich die dünne Abdeckung an, darunter lagen – tatatata! – zwanzigtausend Schilling. Mein Herz klopfte, ich versuchte, schnell durch 13 Komma irgendwas zu dividieren, es misslang. Die Rendite war auf jeden Fall sensationell, angeschrieben war die Schatulle mit € 13,-.

Ich rang mit mir. Diego würde gleich zurückkommen. Es war viel Geld für mich, die ich jeden Cent umdrehen musste. Ich gab die Abdeckung wieder auf den Boden, stellte die Schatulle zurück, atmete tief durch, ging in den Hauptraum zurück, das musste ich mir jetzt gut überlegen.
Diego war nirgendwo zu sehen, er hatte für seine Oma etwas holen müssen, würde aber gleich wieder da sein, wurde mir gesagt. In der Zwischenzeit hatte sich die Runde um zwei Personen reduziert und ich wurde eingeladen, mich dazuzusetzen und ein oder zwei Gläschen mitzutrinken. Eine Frau wankte leicht beim Aufstehen, verabschiedete sich herzlich und entfernte sich ebenfalls Richtung Türe.
Ich hatte mich schließlich hingesetzt, völlig überfordert mit der Entscheidung: Geld oder Moral? Sollte ich die Schatulle um € 13,- kaufen, ohne etwas zu sagen? Keiner hätte einen Schaden davon … Oder den Damen Bescheid geben? Vielleicht doch zuvor noch Diego meine Wünsche erfüllen und die Schatulle warten lassen? So sah ich in mein frisch gefülltes Glas und war leicht überfordert.
Eine Besitzerin ging Richtung Ladentüre, um sie abzuschließen, und kam freudestrahlend zurück: „Schaut mal, die Elfi ist noch gekommen, die Elfi! So eine Freude aber auch, wir haben uns schon ewig nicht mehr gesehen! Gut schaust du aus, sehr gut! Komm, setz dich zu uns, sei unser Gast.“
Damit war die Zeit der Entscheidung gekommen. Ich setzte meine Prioritäten, ließ Schatulle Schatulle sein und den mittlerweile zurückgekehrten Diego Diego.

So kam es, dass ich einen langen Abend in der Fundgrube verbrachte.
An einem Gründerzeit-Tisch Schnaps aus Jugendstilgläsern trinkend, gemeinsam mit Elfriede Jelinek. Schluck.

 Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 13002

Roman

Die kalte Jahreszeit herrschte nun mit eisernem Griff. Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt ließen Romans Schritte schneller und schneller werden. Es war mittlerweile dunkel geworden in der Mozartstadt und man sah kaum noch Menschen auf den verschneiten Gehsteigen. Endlich, Roman war an der Pforte seines Wohnhauses angekommen. Hastig kramte der Blondschopf in den Taschen seiner dicken Daunenjacke. „Gott sei Dank“, kam es dem 23-Jährigen über die Lippen, als er das metallische Scheppern seines Schlüsselbundes vernahm. Roman dachte schon, er hätte seinen Schlüssel bei Julia vergessen. Oben im zweiten Stock seiner geräumigen Wohnung angekommen, hatte der schmächtige junge Mann nur einen Gedanken, „ein warmes Bad“. Während das behagliche Plätschern des einlaufenden, warmen Wassers die modernen Räumlichkeiten vom Badezimmer aus beschallte, bereitete sich Roman in der Küche einen köstlichen Waldbeerentee zu. Langsam tauchte der überzeugte Single einen Fuß nach dem anderen in das Badewasser und setzte sich schließlich laut ausatmend in die keramische Schale. Romans Körper schien jetzt Stück für Stück aufzutauen, er lehnte sich entspannt zurück und schloss seine blauen Augen.

Klick. Der Feind war schon sehr nahe und es war nur noch eine Frage von Minuten, bis die Schlacht ihren unausweichlichen Anfang finden würde. Man konnte bereits vereinzeltes Kampfgeschrei aus der Ferne vernehmen. Die Anspannung war den Kriegern in die rauen Gesichter geschrieben, als plötzlich die brüllenden Gegner auf das gut organisierte Bataillon zustürmten. „Angriff“, ertönte der Befehl des Kommandeurs und die Soldaten rannten mit gezückten Schwertern einer erbarmungslosen Schar von Eindringlingen entgegen.

Klick. Romans Radiowecker ging pünktlich um sechs Uhr los. Aus den englischsprachigen Nachrichten erfuhr der Zahntechniker von weiteren Korruptionsfällen in der modrigen, heimischen Politik und eine Korrespondentin in Syrien berichtete von Verletzungen der Waffenruhe. Die Wettervorhersage ließ erneut einen kalten Tag erwarten. Roman hätte schon längst aufstehen müssen, doch er fühlte sich träger als sonst, zudem spürte der junge Mann ein Kratzen im Hals. „Oh nein“, dachte Roman und tastete mit der flachen Hand an seine Stirn. „Oh nein“, der Single fühlte, dass seine Körpertemperatur nicht im normalen Bereich lag. Eine Stunde später hatte der erkältete Salzburger alle wichtigen Telefonate erledigt, also den wenig erfreuten Chef von seinem krankheitsbedingten Fernbleiben informiert und einen Termin beim Hausarzt vereinbart. Bis zum Arzttermin um halb elf blieb Roman noch etwas Zeit, um seinem angeschlagenen Körper nochmals ein Nickerchen zu gönnen.

Klick. Auf dem Schlachtfeld war das Ringen um Leben und Tod in vollem Gange. Der Feind war leider stärker als vom Truppenführer angenommen und so blieb ihm nichts anderes übrig, als das Kommando zum Rückzug zu geben. Es dauerte eine Weile, bis im heillosen Durcheinander des Gemetzels, jeder im Bataillon den Befehl realisiert hatte. Fürs Erste war der Kampf vorbei, doch die Krieger hatten wichtigen Boden aufgeben müssen. Im Lager der Soldaten erlag die Stimmung ebenso der bitteren Niederlage, wie viele Kameraden ihren Verletzungen. Der Kommandeur hatte bereits nach Verstärkung schicken lassen, um das Blatt mit vereinten Kräften zu wenden.

Klick. Romans Arzt diagnostizierte einen grippalen Infekt und empfahl ihm Bettruhe und heißen Tee, um die Krankheit herauszuschwitzen. Dieser Doktor versuchte Erkältungen in erster Linie mit Hausmittel zu therapieren, nur wenn die Beschwerden nicht besser oder gar schlechter wurden, nutzte er die Errungenschaften der Pharmaindustrie zur Heilung. Also tat der Patient wie ihm gesagt wurde und richtete sich am kuscheligen Sofa im Wohnzimmer seine Genesungsstätte ein. Hier hatte Roman nämlich auch die Möglichkeit fernzusehen oder eines der vielen Bücher seiner Bibliothek zu studieren. Am späten Nachmittag wollte Romans beste Freundin Julia, die via SMS von seinem gesundheitlichen Zustand erfahren hatte, nach dem Patienten sehen. Die beiden verband seit Jahren eine innige Freundschaft, aus der jedoch nie das Gefühl der Liebe gewachsen war. „Man kann Amors Pfeil nicht lenken“, hatte Roman Julias Mutter einmal als Antwort gegeben, als die ältere Dame sich erkundigte, warum die beiden kein Paar seien. Als es gegen 18 Uhr an der Tür klingelte, wusste der 23-Jährige daher sofort, wer hier um Einlass bat. Julia hatte Topfen zum Auflegen auf den Hals, Orangen und Kiwis für die Vitaminversorgung, und ein Wissenschaftsmagazin im Hochglanzformat mitgebracht. Das 21-Jährige, hübsche Mädchen kümmerte sich etwa eine Stunde einfühlsam um ihren Freund, danach verließ sie mit Genesungswünschen Romans schmuckes Domizil. Bald darauf, nach einer weiteren Tasse heißem Tee, übermannte die Müdigkeit den Erkälteten, und das war auch gut so, denn Schlaf bringt Erholung.

Klick. Der Kommandeur schritt erhobenen Hauptes durch die in Formation aufgestellten Reihen seiner Soldaten. Die Stimmung hatte sich gebessert, nun da die Verstärkung unterstützend zur Seite stand, sann man nach Rache. „Der Tod der Kameraden soll nicht vergebens gewesen sein“, ermutigte der Befehlshaber seine Truppen, „Es wird ein langer und erbitterter Kampf, doch am Ende werden wir die Sieger sein, so wahr uns Gott helfe!“ Die Strategie des Befehlshabers war es, die Eindringlinge in einen Hinterhalt zu locken, von wo aus man die Feinde einkesseln konnte. Schon nach kurzer Zeit tappten die Kontrahenten in die Falle und ringsum stürmten die Krieger auf die ziemlich verdutzten Feinde ein. Der Überraschungseffekt tat vollends seine Wirkung, die Unholde wurden vernichtend geschlagen. Schließlich zogen die Gewinner erschöpft, aber prächtig gelaunt vom Schlachtfeld. Später wurde noch lange gefeiert, wobei man jedoch auch der tapferen Gefallenen gedachte und die grandiose Strategie des Kommandeurs in höchsten Tönen lobte. „Dieser grausame Feind wird uns keinen Ärger mehr machen, jeder von euch kann stolz auf sich sein. Doch wir können uns leider nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen, schon morgen kann ein neuer Feind vor der Tür stehen. Das ist nun mal unsere Berufung, wir bekämpfen jeden der diesem Territorium Schaden zufügen will“, so sprach der erfolgreiche Kommandeur.

Klick. Am nächsten Morgen wachte Roman klatschnass auf. Er fühlte sich zwar noch nicht gesund, doch die unangenehmen Halsschmerzen waren weg und seine Stirn war wieder kühler. Natürlich rann jetzt die Nase, aber mit einem harmlosen Schnupfen konnte sich der junge Mann ein paar Tage arrangieren. Roman schlenderte ins Badezimmer, um den verschwitzten Jogginganzug abzulegen und zu duschen. Danach fühlte er sich fast wie neu geboren. Roman wusste, dass die Talsohle der Krankheit durchschritten war und es von nun an wieder bergauf ging. Am Abend kam erneut Julia zu Besuch und wunderte sich über die schnelle Besserung von Romans Gesundheitszustand. „Mein Immunsystem hat sich heute Nacht wacker geschlagen, im Kampf gegen die Viren“, erklärte der Salzburger mit einem Lächeln. „Da kann man nur zum Sieg gratulieren“, scherzte Julia und blickte liebevoll in Romans Augen.

Stefan Ebelsberger

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 13004