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Nimmst mir mein Leben

Die durchdringende Aggressivität deiner Natur,
lauernd schon im ersten Händedruck.
Da hilft weder Gift noch Kur.
Manchmal glaube ich nur,
sogar dein Atem an meiner Wange,
kostet mich mein Leben.

Ich fing mir den Virus ein,
bin ihm so leicht erlegen.
War so anfällig, so schwach.
fieberte dir entgegen.
Ich habe mir schon viele wie dich eingefangen.

Doch keiner war so persistierend.
So heimisch in mir,
So Zell-irritierend,
So hoch ansteckend
wie Du.

Nives Farrier
aus: Nach Dir.
(TwentySix Verlag, 2018)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 18107

 

 

Pauli, Petko

Die Bauarbeiter stiegen vom eingerüsteten Glockenturm und setzten sich auf ein paar Holzkisten. Links über ihnen hing ein riesiges Banner von der Hauswand herab. Is there Beauty after Alleppo?
Wastl packte sein Pausenbrot aus und biss hinein. „Woher bist du, aus Serbien, eh?“ Eine halbe Essiggurke fiel zu Boden.
Jagoš zog an seiner Zigarette. „Kroatien.“

Der Kollege neben ihnen faltete die Bildzeitung auf und vertiefte sich in den Anblick eines halbnackten Fotomodels. Jagoš Blick schweifte durch das gusseiserne Tor. Der riesige Rasenmäher vor der Kirchenruine erinnerte ihn an sein Heimatdorf, er war oft Trecker gefahren und hatte Mutter bei der Ernte geholfen. Jagoš betrachtete die von Büchern überquellenden  Regale hinter den Fenstern des Rückgebäudes. Kurz vor Kriegsausbruch war er zum Studieren nach Zagreb gegangen, er hätte Ingenieur werden sollen, wie Onkel Zlatko. Doch nach ein paar Semestern hatte Jagoš abgebrochen und war nach Deutschland geflohen. Damals wollte er nur noch weg von dem Chaos. Drei Tage davor war sein kleiner Bruder ums Leben gekommen.

„Ma-ma!“ Ein Junge lief über den Platz und heulte.
Wastl schmatzte. „Der Dumme hat sich beim Taubenjagen verlaufen.“ Er schraubte eine Thermoskanne auf und schenkte sich Kaffee ein.
„Komm mal her“, sagte Jagoš. „Suchst du deine Mama?“
Der Junge nickte und ging zögernd auf ihn zu, seine Augen waren vom Weinen rot und an einem Nasenloch hing Rotz.
„Wie heißt du denn?“
„Pauli.“ Er zog die Nase hoch.

Petko war ungefähr in Paulis Alter gewesen, als er nach den Schüssen im Straßengraben gelegen hatte, ganz still, mit seinem Gesichtchen im Dreck. Mutter hatte es ihm weinend am Telefon erzählt, doch ihm war, als hätte er es selbst gesehen, eine unauslöschliche Erinnerung.

Paulis Hose hatte Grasflecken. „Weißt du, wo meine Mama ist?“
„Ich weiß alles“, scherzte Jagoš und raffte sich hoch. „Sollen wir sie suchen gehen?“
Er streckte Pauli die Hand hin. Die Finger des Jungen fühlten sich kalt und klebrig an, als hätte er Eis gegessen. Sie gingen quer über den Parkplatz. Als sie um die Ecke bogen, kam ihnen hastig ein Paar entgegen.
„Da bist du!“, rief der Mann. „Wenn du das noch einmal machst, dann –“
Pauli blieb abrupt stehen; sein kleiner Körper versteifte sich.
„Warum regen Sie sich so auf?“, sagte Jagoš. „Sie haben ihn ja wieder.“

„Warum bist du schon wieder weggelaufen?“, fragte die Frau; der Junge sah ihr auffallend ähnlich. Sie zupfte ein Taschentuch aus einem Päckchen und putze ihm die Nase. Ihre Zähne waren ein klein wenig schief und auf ihrer Wange hatte sie ein winziges Muttermal. Sie lächelte Jagoš an. Wie lange war es her, dass ihn eine Frau so angelächelt hatte. Er wusste es nicht. Nur, dass er mit ihr und dem Jungen bis ans Ende der Welt hätte gehen wollen. Stattdessen machte er sich von der kleinen Hand los, die seine Finger nach wie vor umklammert hielt, und steckte sich noch eine Zigarette an.

„Sag auf Wiedersehen zu dem netten Mann.“
„Tschüss“, sagte Pauli und winkte. Pauli, Petko.
Jagoš nickte ihm zu und wischte sich eine Träne aus dem Auge.

Angela Kreuz

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 18010

Die verkrüppelte rechte Hand des Gesetzes

Sitzt sie da, tief über ihre Unterlagen gebeugt, mit feister, dennoch konzentriert wirkender Miene. Tief in den Schminkkasten getaucht. Mit Tinkturen beschmiert, die nach und nach ihre Tiefenwirkung entfalten sollen. Kaum ahnen könnend, was sich hinter dieser noch vor dem Zerbröckeln geschützten Fassade abspielt, sitzen wir da und schauen.

Nach oben gehievt gibt es nun keine Möglichkeit mehr, die Schuld einzugestehen. Trotz oder gerade wegen des Wissens eines jeden. Von dieser Warte aus ist sie gewissermaßen unangreifbar, was ihr jedoch Hohn und Spott, wenn auch offenen nicht, keineswegs erspart.
Das Gesicht hast du längst verloren.
Warum man dir noch nicht auf offener Straße die Augen ausgekratzt hat, bleibt jedoch unbegreiflich.

Staunen darüber, dass als nebensächlich betrachtet wird, was uns als notwendig erscheint.
Staunen darüber, dass als Schönheitsfehler qualifiziert wird, was sich uns als Brandwunde aufdrängt. Ein Darüberhinweggehen ist es, welches du praktizierst. Als würde von vornherein angenommen werden, dass die Vorfälle in Vergessenheit gerieten.
Sie geraten nicht in Vergessenheit.
Das ist nicht der Fall.
Ein einzelner reicht aus, um unerbittlich und unermüdlich und immerwährend an die Dreistigkeit der legitimierten schwachen Spitze zu gemahnen.

Der Fall wird neu aufgerollt.

Erhebt sie sich, schwerfällig, beherrscht, Haltung einnehmend. Bemüht um Haltung, die mühelos Korrumpierbare. Gewissenlosigkeit zerrt an ihr, zieht sie hartnäckig in die Tiefe. Das deformierte Rückgrat kaum verbergen könnend im fraglich gemusterten Einteiler, wankt sie mehr schlecht als recht durch die Dienstgänge der eigenen Verantwortungslosigkeit.

Solange der Rubel rollt, rollt auch sie sich weiter durch ihre täglichen Pflichten.
Vergessen und rechtfertigen. Rechtfertigen und Vergessen. Standhaft rechtfertigen, die skandalöse fettäugige Giermonströsität, die angefressen immerwährend Tribut fordert.

Kreuzen sich schließlich und immer die Wege mit dem angelachten und angelernten ökonomischen Emporkömmling, dessen Statur und ansprechendes Äußeres noch nicht die hohlen, versifften Innenräume verrät.
Noch wird alles zusammengehalten.
Irgendwie.
Mit gutem Glauben und Hoffnung. Mit Hoffnung und gutem Glauben.
Im seriösen Dreiteilerzwirn schlängelt er sich katzengleich durch die wogende Masse der Immergleichen, um sich ihr an die Brust zu werfen, der Ziehmutter, der geistigen. Sie bereits aus der Ferne mit Luftküssen begrüßend, bewegt er sich auf sie zu, zielstrebig, ein sonniges, weltzugewandtes und ach so unschuldiges Lächeln auf den hübschen, anzüglichen Lippen. Dient er sich an ihr hoch, der hohle Günstling. Arbeitet er sich an ihr ab, der welken Fassade. Lässt sie ihm höhere Weihen zuteilwerden.
Zieht er an ihr vorüber, blickt sie ihm nach wie ein Mädchen, hoffnungsfroh, verzweifelnd, ungerührt.

Man weiß um eure verdorbenen Spielchen hinter verschlossenen Türen.
Man weiß um eure verwerflichen Vereinbarungen, die euer Fortkommen sichern sollen.
Man weiß um die verruchten zwielichtigen Ecken, wo ihr euch gegenseitig gern den Garaus macht.
Die Gerüchteküche kocht.
Die Gerüchteküche schmeichelt unseren Gäumchen und versorgt uns mit immer neuen entsetzlichen Kreationen, deren lustfördernde Wirkung nicht zu unterschätzen ist.
Als wäre es nicht schon genug gewesen.
Es war schon genug.
Kocht er dich ein, langsam, gründlich, bis nichts mehr übrigbleibt außer deinem versiegenden Röcheln und den vielfarbigen Nichtigkeiten, nichtssagend aufgehend und vergehend im kalten Meeresschaum.

Die Geburt ist angesetzt.

Es macht schon lange keinen Sinn mehr und hat trotzdem noch nicht aufgehört zu funktionieren. Mühelos und routiniert werden die täglichen Rituale aufrechterhalten. Gekürzt, gestrafft, verschlankt und beschnitten, gekürzt, gestrafft, verschlankt und beschnitten soll sie werden, die Essenz, die Basis eurer Rechtfertigung, während du bereits aus allen Nähten platzt und auf zeitiges Erbarmen hoffst.

Erbarmungslos brennt es auf dich hernieder, das Licht der späten Aufklärung. Brandlöcher mannigfaltig im Kunststoffüberzug deiner geschmacklosen Kostümierung. Lässt du die Asche achtlos auf den Boden fallen, schwer wie Zementsäcke. Glüht im Halbdunkeln noch der obligate Glimmstängel, den du dir notgedrungen als effektive Beruhigungsmaßnahme regelmäßig zwischen die aufgedunsenen Lippen schiebst.
Wo war ich nochmal?
Nur nicht hier.
Weiter weiter.
Walz. Walz. Walz.

Traudi, magst du mir mal zur Hand gehen? Erschallt die greinende süßliche Stimme der blonden Beleidigung. Da ereignet sich gerade eine mittlere Katastrophe. Lacht er mit gespieltem Entsetzen und fröhlich intoniertem Wellengang. Ich komme schon. Und walzt an unter kaum zu unterdrückendem Dampfen und Stöhnen.
Dampfplauderer. Dampfplauderer. Dampfplauderer.

Walzt durchs All und um die Ecke, wo sie ihn antrifft, den sklavisch Untergebenen, der mit nichts bekleidet als einem neckischen Kropfband, den Kopf entschuldigend zur Seite geneigt, ein niedliches Lächeln auf den Lippen, nach oben deutet. Folgt sie seinen Fingern im Zeitlupentempo, vorsichtig, zweifelnd, ahnungsvoll.
Den Kopf weit in den Nacken legend. Und noch weiter.
Bricht das Rückgrat. Ein, zwei, drei Mal. Bricht es endlich richtig.
Dann kann sie es auch sehen.

Schwarz angelaufen ist er, der Plafond. Mühsam reckt sich ein verkrusteter Krater aus der Decke hervor, Gift und Galle speiend. Bröckelt es. Bröckelt es hernieder auf den illegitimen Grund und Boden.
Da ist was aus den Fugen geraten, meine Liebe, verzärtelt das Blondtier seinen Auswurf.
Wirft sich in zierliche Posen für unbekannte Beobachter, während sich am Himmel immerwährend dicke, schmierige Brandblasen aufwerfen und senken. Aufwerfen und senken.

Wo ist der Kitt, der alles zusammenhält?

Du sollst hier drinnen nicht rauchen. Das weißt du doch. Was sollen die Kinder denken?
Vorwurfsvoll blickt er sie an, aus großen, schönen, blauen, traurigen Augen.

Ungerührt weiterposierend, einem abwesenden Herrn huldigend, trollt sich der körperbetonte Königsanwärter, um aus dem benachbarten Zimmer gekränkt verlauten zu lassen: Und hier erst, Traudi. Schau dir mal dieses Schlamassel an. Da werden wir ja unseres Lebtags nicht mehr froh.
Dumpf tönen ihre schweren Schritte in der spätsommerlich beschienenen Kammer, als sie sich aufmacht zu neuen Ufern.
Kaum die Schwelle überschritten, steht er schon da, verrucht, verklärt, verirrt, verliebt.
Angelehnt und abgestützt. Abgewinkelt und angespitzt. Aufgebauscht und abgelöst.
Ächzt es, das Wandregal, voll überbordend schöner Wälzer.
Ächzt es unter der Last des besseren Wissens.
Kein Rahmen hält das mehr aus.
Dieser Rahmen hält das nicht mehr aus.
Gespielt empört richtet er sich auf, der entblößte halbgare Luftikus mit eindringlichen Worten.
Ein Mahnmal, ein Denkmal, ein Monument, überschlägt sich seine kleine Stimme.
Mein Land, mein Gesetz, mein Recht, setzt er noch eins drauf.
Stampf. Stampf. Stampf.
Das ist doch nicht dein Ernst.

Reich mir deine helfende Hand, Traudi! Reich sie mir im Bund der festgeschriebenen Ehe. Ehern und unverbrüchlich soll es sein, das Bündnis unserer fortschreitenden Verbrechen. Gemeinsam schaffen wir das!, frohlockt er und beginnt sogleich, sich an dem Gestell zu schaffen zu machen, die unheilvoll gebleckten Zähne nie von ihr abwendend.

Du stehst nur da, unfähig, unbewegt, unberührt zuschauend, verfolgend, frontal, während er seine kümmerlichen Muskeln spielen lässt, während er seine vergeblichen Urteile vollstreckt.
Wirst du wohl. Wirst du wohl. Wirst du wohl.
Es ist zu spät.

An allen Ecken und Enden fehlt es. An allen Ecken und Enden.
Und dann ist es endgültig zu spät.

Mit vor unmenschlicher Anstrengung verzerrter Miene versucht er es aufrechtzuerhalten, das Gerüst der eigenen Verantwortungslosigkeit. Doch der Druck ist zu groß. Der Körper zu schmächtig. Nach und nach knallen sie ihm alle auf den nachgiebigen Schädel, begraben ihn, der sich vergeblich windend, krümmend aus den Bergen zu retten versucht, unter sich, bis zuletzt der Rahmen selbst bricht und ihm die Pfähle in den Leib rammt. Auf platzt die Bauchdecke, entlassend ins unbekannte Freie die verschlungenen Gedärme der eigenen unauflösbaren Widersprüche.

Wie vom Donner gerührt steht sie da, die rechte Hand des Vorstandes.
Viel zu spät war es.

Während er sich langsam in seine Bestandteile auflöst, bückt sie sich zur Erde, um einen der berüchtigten Wälzer aufzuheben. Kaum schlägt sie ihn auf, schon erschlägt sie der fette Großdruck, der maximalen Raum einnimmt. Seitenweise Buchstaben um Buchstaben um Buchstaben.

Unrettbar. Unrettbar verliebt war ich in dich. Sagt sie sich.
Aber es macht alles keinen Sinn. Sagt sie sich.
Diese Worte machen keinen Sinn. Sie ergeben keinen Sinn.

Verleg dich aufs Beten! Schnell!!

Du krachst mit deinen Knien auf die Erde. Du raufst dir die Haare, unrettbar.
Du schlägst verzweifelt die Hände vor der Brust und über dem Kopf zusammen.
Du krampfst akut, während dir die Tränen heiß hinter die Fassade steigen.

Vergib mir oh Vater im Himmel für meine zahlreichen Sünden, die ich hier als dein unbescholtener Diener begangen habe! Vergib mir oh Sohn am Kreuz, dem falschen Götzen des Mammons gehuldigt zu haben, während ringsum die Türme in Schutt und Asche gelegt wurden! Vergib mir, oh Geist in der Leere, dass ich dich verunreinigt habe, mit meinen Gedanken, Worten und Werken.
Vergib mir schon! Vergib mir endlich, du zweifelhaftes Produkt meines unstillbaren Größenwahns!!

Es ist noch nicht vorbei.

Rings um dich hat sich ein purpurner See gebildet, der noch das letzte Licht von draußen zu reflektieren vermag. Und dich. Und auch du spiegelst dich wider im dickflüssigen Saft deiner letzten Mahlzeit. Dreh dich, wende dich, verwerte dich nach allen Seiten. So haben wir es gern. So soll es sein.
Schön sollst du sein im Abgang.

Langsam erhebst du dich aus der Sickergrube. Dein Ende ist ein anderes. Unbekümmert tröpfelt es dir aus den Stofffalten, den Fingerspitzen, dem gespannten Nylon an den feisten Waden. Ohne ein Gefühl für die Zeit watest du schließlich durch die Räume zurück in den einstmaligen Dienstgang, der nun sehr entblößt vor uns liegt.

Dunkel ist es allmählich geworden. Dunkler ist es geworden. Orientierung fällt schwer. Du tastest dich entlang an den Wänden, Ritzen und offenen Fragen, den unmöglichen Antworten, den unidentifizierbaren Gesichtern. Die immer nur das Profil preisgeben. Die sich immer entziehen. Das Antlitz gottesgleich immer millimeternah am frischen Putz. Erlösung suchend. Die Lippen immer Millimeter entfernt vom chemischen Einerlei. Der Geschmack von grotesker Freiheit.

Und bald ist er da, der verheißungsvolle Ausweg, die noch verschlossene Tür zum tödlichen Finale.
Und tödlich muss es sein. So viel ist gewiss.
Im Finsteren gibt man sich leichter den Illusionen hin, den kleinen Irrlichtern, die einen betören und verführen. Die einem den roten Teppich ausrollen ohne Frühjahrsputz. Samtig wogend über Leichenberge lässt er sich überraschend leicht beschreiten, der Pfad der Gewissenlosen. Der Pfad der Könige. In der Erbfolge stehst du an vorderster Stelle. Ein Spitzenplatz ist dir gewiss.
Dem allen ist nun der Garaus gemacht.
Niemand weiß das besser als du.

Hier gibt es nichts mehr für dich.

Doch schau einmal da.
Was hat es damit auf sich?
Wohin wandern die dubiosen Gesellen, wenn nicht hierhin?

Ungläubig, ermattet fällt dein Blick auf die Schwelle.

Vergessen, leugnen und rechtfertigen. Vergessen, leugnen und rechtfertigen.
Hattest du fast vergessen, dass es sich vermehrt hatte, das Unwesen, der Untrieb.
In ein oder zwei oder drei oder vier Schäferstündchen.
Hattest du es tatsächlich vergessen?
Es war ja nicht umsonst gewesen. In deinen Augen.
Wie hübsch er da gelegen hatte, der vom Rahmenwerk Zerteilte. Wie hübsch er sich verausgabt hatte, der Blut Lassende. Wie brav er sein Erbe in dir hinterlassen hatte. Auf der Schwelle hinterlassen hatte.

Ob es gut oder schlecht oder nichts ist, kann nun heute keiner mehr so genau sagen. Es ist auch einerlei. Verzecht wurde alles. In der ewigen Nacht, die sich nun langsam dem Ende zuneigt.
Und du neigst dich hinab zu dem unbestimmten Nachfolger, der noch nicht die unübersehbaren Male der Versehrtheit aufweist. Der noch nicht gezeichnet ist von eurem Versagen. Aber bald ein Zeichen setzen könnte. Für und wider. Für oder wider.

Es ist einerlei. Bald hast du ausgedient.

Es ist der letzte Weg, der beschritten werden muss.

Verbeugst dich in einem vollendeten Diener vor deinem in Vergessenheit geratenen Kind.

Es streckt dir die Arme entgegen und du streckst es nieder. Mit einem Mal. Mit einem Biss. Einem Schluck. Ist es vollbracht, das meisterhafte Verbrechen der Verantwortungslosen. Es ist dahin, sie ist dahin, die glücklose Zukunft, der noch niemand die Pforten geöffnet hat. Es ist vorbei und vollendet.

Von Übelkeit übermannt und schwer zu benennender Befriedigung erfüllt, lässt du dich hinuntergleiten am Rahmen deines Vollzugs.

Das muss erst einmal verdaut werden.

Bevor der Sterbeprozess einsetzen kann.

Angelika Holl

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 17197

Wie im Film

Ich fühle mich auf meinem Balkon gerade wie in einer Theaterloge. Ich habe direkte Sicht auf das Geschehen, das in meiner Straße gleich stattfinden wird. Die beiden Menschenmassen sind nur mehr hundert Meter voneinander entfernt.
Zwei rauchende, brüllende Organismen, die sich die Häuserschlucht entlangwälzen, um wohl genau unter meinem Balkon aufeinanderzutreffen. Loyalisten auf Oppositionelle, Rechte auf Linke – eigentlich es ist mir egal, wie sich diese Leute nennen, ich will mit keinem von ihnen etwas zu tun haben.

Die spärliche Polizeitruppe, die die Leute auseinanderhalten sollte, hat sich in Sicherheit gebracht. Es sieht nicht so aus, als ob bald Verstärkung kommen würde, niemand hat diese Massen an Menschen erwartet. Die Schlachtrufe werden lauter und aggressiver. Die vordersten Reihen beider Seiten haben sich verhärtet, es gibt kein Zurück mehr.
Ich stehe da, jeder einzelne meiner Muskeln ist angespannt, die dritte Flasche Bier zittert halbvoll in meiner Hand. Um mich herum stehen die Leute ebenfalls auf ihren Balkonen und verfolgen gebannt das Geschehen auf der Straße. Manche haben ihr Handy auf das Spektakel gerichtet. Ich versuche mir auszumalen, was passieren wird, wenn die beiden Gruppen aufeinandertreffen. Baseballschläger, Stahlrohre und Schlagstöcke ragen auf beiden Seiten aus der Menge. Der Hass, der in der Luft liegt, scheint diese dickflüssig zu machen. Aber es liegt wohl eher an den Schwefeldämpfen der Signalfackeln, die auf beiden Seiten brennen. Ich frage mich, wie viele Tote es geben wird.

Da sehe ich die beiden auf der rechten Seite. Ein Vater mit seinem kleinen Sohn wird in der ersten Reihe zwischen Sturmhauben und Motorradhelmen vor den anderen hergeschoben. Verzweifelt versucht er, sich und das Kind weiter nach hinten zu bringen, doch die anderen sind zu dicht aneinandergedrängt.
Niemand scheint sie zu beachten. Ich werde wütend. Was will dieser Idiot mit seinem Kind hier? Jeder wusste, dass es so enden würde.
Fünfzig Meter. Die besonders Kräftigen können mit ihren Steinen schon fast die andere Fraktion erreichen.

Der Vater hat es geschafft, sich in die zweite Reihe zu drängen, wird einfach mitgerissen. Man sieht, dass er in dem Gedränge Angst um seinen Sohn bekommt und sich wieder nach vorne kämpft. Das Kind taucht zwischen gepolsterten Knien und Cargohosen wieder an der Hand seines Vaters auf.
Der Junge wird zerfetzt, wenn er zwischen die Fronten gerät. Noch immer scheint niemand die beiden zu bemerken. Vielleicht ist es auch einfach allen egal. Es gibt keine Seitenstraßen mehr, keine frei zugänglichen Innenhöfe, in die die beiden flüchten könnten, nur noch Fassaden auf beiden Seiten mit versperrten Türen. Die zwei sind verloren.
Bier spritzt aus der Flasche, als ich sie auf den Boden wuchte, sie wankt, als ich durch die Balkontür in meine Wohnung springe. Ich reiße meine Wohnungstür auf und renne die Stiege vom zweiten Stock hinunter, nehme drei, vier Stufen auf einmal.

Die rechte Fraktion ist noch zehn Meter von meiner Haustür entfernt, als diese auffliegt. Ich winke dem Vater zu, brülle nach seiner Aufmerksamkeit, bin selbst erstaunt über die Lautstärke, die ich zustande bringe. Unsere Blicke treffen sich. Ich deute ihm, zu mir zu kommen. Er hat Glück, schon so weit auf meine Seite gedrängt worden zu sein. Er läuft auf mich zu, sein Sohn stolpert an seiner Hand hinterher.
Nicht einmal jetzt werden sie bemerkt. Sie fallen in die Haustür und ich schlage diese zu, als ein Pflasterstein daneben an der Hauswand abprallt.
Keuchend steht der Mann im dunklen Hausflur, er hat die Hand seines Kindes nicht losgelassen.
Dankbarkeit ist in seinem Gesicht zu lesen, und ich hoffe, dass die Entrüstung darüber, ein Kind dieser Gefahr auszusetzen, in meinem Gesicht zu lesen ist.
Schweigend stehen wir uns gegenüber. Der Lärm von draußen dringt durch die Haustür, wir sehen durch das Milchglas Schatten und Lichter herumspringen. Die beiden Gruppen haben sich erreicht, wir können es hören. Diese Geräuschkulisse kenne ich aus Filmen, jetzt in der Realität wirkt sie fast unreal.

Krachend fliegt etwas durch das Glas der Haustür an meinem Knie vorbei. Wir haben genug Zeit unten im Flur verbracht. Ich deute den beiden, mir zu folgen, und gehe die Stiege hinauf.
Unsicher folgen mir die zwei, noch immer Hand in Hand.
Im ersten Stock höre ich den Mann das erste Mal sprechen.
„Danke“, kommt es atemlos von hinten. Ich gehe weiter, drehe mich nicht um.
„Schon okay.“
Meine Wut über seine Verantwortungslosigkeit ist schon wieder fast verflogen.
Als wir in meiner Wohnung ankommen, verriegle ich die Tür.
In dem Lärm, der von draußen durch die offene Balkontür dringt, höre ich den Mann zu seinem Sohn sprechen.
Ich verstehe nicht, was er sagt. Ist mir auch egal. Mir sind auch ihre Namen egal. Mir haben sie zu verdanken, dass sie jetzt nicht zertrampelt unten auf der Straße liegen, das muss reichen.

Ich will die Balkontür schließen, doch muss ich einen Blick nach unten riskieren. Dieser Anblick hat etwas Fesselndes.
Schon stehe ich wieder am Balkon und starre in die Gewalt, die sich unter mir ausbreitet.
Zu der Geräuschkulisse kommt nun der Anblick, den ich nur aus Filmen kenne. Jeden Moment wird jemand „Cut!“ schreien, denke ich, die Statisten würden aufhören zu kämpfen, sich gegenseitig den Dreck von der Kleidung klopfen, sich anlächeln und die leblosen Körper würden wieder zum Leben erwachen.
Aber es passiert nicht. Die Statisten verausgaben sich. Besser hätte ein Regisseur es sich nicht vorstellen können.
Meine Hände sind an die Balkonbrüstung geklammert, und ich kann meinen Blick einfach nicht abwenden.
Es sieht nicht so aus, als ob die Reihen an Kämpfern bald erschöpft wären. Passiert das gerade im ganzen Land? Ich muss an meine Eltern denken, hoffentlich sind sie in Sicherheit. Es gibt nichts, das ich jetzt für sie tun kann.

Ich bemerke den Vater, der hinter mir am Balkon aufgetaucht ist. Er nimmt ebenfalls einen Platz in der Loge ein. Schweigend stehen wir nebeneinander und betrachten das Geschehen. Er umklammert ebenfalls die Brüstung, und ich kann sein Zittern spüren. Ich drehe mich zu ihm. Tränen schießen ihm in die Augen, die Angst in seinem Gesicht ist verflogen und hat der Wut Platz gemacht. Sein Sohn ist drinnen und sitzt still auf meinem Sofa.
Er nimmt seine Hände von der Brüstung und dreht sich um, kann wohl den Anblick nicht ertragen. Ich will ihm gerade zurück in meine Wohnung folgen, da dreht er sich wieder um. Er hat eine meiner leeren Bierflaschen in der Hand und wirft sie mit einem Schrei nach unten. Meine Augen folgen der Flugbahn.
Ein Mann sinkt am Kopf getroffen zu Boden. Glückstreffer.

Ich starre ihn entgeistert an. So bedankt er sich also für seine Rettung. Er beachtet mich gar nicht und hebt eine zweite Flasche auf. Er setzt zum Wurf an, aber das kann ich nicht zulassen. Ich habe nicht vor, mich an diesem Krieg zu beteiligen. Und von meinem Balkon aus wird sich auch nicht daran beteiligt. Ich packe seinen Wurfarm, er dreht sich überrascht nach mir um. Die Entschlossenheit in seinen Augen macht mir Angst. Er versucht sich loszureißen, doch ich lasse mich nicht abschütteln.
Seinen Arm und seinen Rumpf umklammert, werde ich am Balkon herumgeworfen. Er schreit mich an, ich kann ihn nicht verstehen. Sein Sohn ruft ängstlich von drinnen nach seinem Vater. Ich schaffe es, seinen Arm nach unten zu beugen, greife nach der Flasche, Speichel spritzt durch meine Zähne auf seine Jacke. Da habe ich die Bierflasche in der Hand und stoße ihn von mir weg.
Zu fest. Er stolpert nach hinten, rudert mit den Armen und fällt über die Brüstung vom Balkon. Seine Füße sind das Letzte, was ich von ihm sehe. Schon als ich eingezogen bin, habe ich mir gedacht, dass die Brüstung gefährlich niedrig ist.

Unfähig zu atmen stehe ich an die Wand gepresst am Balkon und starre das Kind an, das nach seinem Vater schreiend nach draußen gelaufen kommt und seine kleinen Hände durch das Gitter streckt.
„Fuck.“
Das ist das Einzige, was mir durch den Kopf geht.
Der Kleine schluchzt und springt hilflos auf und ab, seine Hände noch immer durch die Gitterstäbe gestreckt.
Der erste Schock klingt ab, ich kann mich wieder bewegen, springe nach vor und packe ihn, erhasche dabei einen kurzen Blick auf seinen Vater, der zehn Meter weiter unten auf dem Kopfsteinpflaster liegt.
Blut rinnt aus einer Öffnung in seinem Kopf und bildet eine Pfütze.

Ich hebe den strampelnden Jungen auf, mache drei große, hastige Schritte nach drinnen, setze ihn unsanft auf das Sofa, schließe die Balkontür und ziehe die roten Vorhänge zu. Der Junge ist schon wieder aufgestanden und trommelt an die Glastür, ich versuche ihn mit tiefer, ruhiger Stimme zu besänftigen.
Er schlägt nach mir, ich muss ihn umklammern und seine Arme unter Kontrolle bringen.
So liegen wir auf meinem Teppichboden, der Kleine schreit und windet sich in meinen Armen und ich habe keinen Schimmer, was ich tun soll. Dumpf dringt der Lärm von der Straße nach innen.
Die ersten Schüsse fallen, das Geschrei draußen wird lauter.
Ich frage mich, ob das die Polizei, das Militär oder bewaffnete Zivilisten sind. Doch dann fällt mir wieder ein, dass es mir eigentlich egal ist. Ich hoffe nur, dass von den Leuten da draußen keiner auf die Idee kommt, das Haus durch die kaputte Eingangstür zu betreten.

Samuel Deisenberger

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 17186

Ein Hundeleben in Luhansk

  1. CHANEL

Ich liebe den Duft meines Frauchens, ... am stärksten ist er im Schlafzimmer, in der verbotenen Zone. Sie nennen den Geruch CHANEL und halten ihn in kleinen Fläschchen. Herrchen ist ganz meiner Meinung, auch er schnuppert häufig am Nacken von Frauchen. Schade, wenn Frauchen abends nachhause kommt, ist der Duft weg. Dann riecht sie müde. Nur an den Abenden, wo ich allein in der Wohnung bleiben muss – ich mag das nicht – bleibt für mich auch ein wenig Duft im Badezimmer zurück. Ich bin nicht gerne allein, ich bin gerne mit den Menschen und höre Ihnen immer gut zu.

Wer bin ich … ja also, ich bin ein schöner Hund, ich bin ein braver Hund, ich bin ein kluger Hund, ich bin ein süßer Hund, ein edler Hund!!!

Nur die schwitzende Alte – Frauchen ruft sie „Schwiegermutter“ – mit den dick angeschwollenen Beinen, sie nennt mich auch: „Dummer Hund, lästiger Hund … verwöhnter Hund.“

  1. TULPEN

Schon bei der Wohnungstür hat mir Frauchen die rote Leine zum Tragen gegeben und wir gehen die Treppe hinunter bis zum Ausgang des großen Hauses. Da kommt uns Herrchen nachgelaufen und ruft: „Liebling, heute gehe ich mit dem Hund hinaus ... du weißt ja, der Park liegt vor dem besetzten Verwaltungsgebäude. Dort sind gestern Kerle mit Maschinengewehren umhergelaufen … Das gefällt mir nicht!“ Frauchen lacht: „Ach, lass nur! Ich kann auf mich selbst aufpassen.“ Ich lache auch, da fällt mir die rote Leine aus dem Maul.

Wie immer laufe ich wenige Meter vor Frauchen. Am Weg entlang kenne ich jede Markierung. Ja, ich kenne sie alle. Heute duftet der Park nicht mehr nach feuchter Erde, er duftet nach Tulpen, ... große bunte Tulpen.

Plötzlich ruft mich Frauchen zurück: „Tut mir leid, heute gehen wir nicht bis zu deinem Lieblingsplätzchen. Siehst du die Männer mit Gewehren dort hinten bei den Büschen? ... Komm, wir kehren um!“

Ja, ich sehe eine Gruppe von Menschen. Sie stehen ruhig da in dicken Jacken und machen keinen Lärm, wie die wohl riechen?? ... Aber ich gehorche meinem Frauchen.

  1. KUCHENKRÜMEL

Ich verstehe nicht, und ich will auch nicht brav sein. Frauchen und ihr Mann sind nicht freundlich heute, sie haben es eilig und laufen von einem Zimmer ins andere.

Frauchen spricht heute sehr laut in ihr kleines Telefon: „Wir werden jedenfalls nicht warten, bis hier in Luhansk das große Chaos ausbricht! ... Im Büro geht bereits jetzt alles drunter und drüber, die meisten Verwaltungsgebäude sind besetzt, an funktionierende Arbeit ist nicht mehr zu denken ... ich muss rasch in die Zentrale nach Kharkiv!“

Keiner von beiden hat heute einen Leckerbissen für mich, keiner will mit mir hinausgehen, spielen ... Berge von Kleidern, große Bündel Papier, ... ein dunkler Koffer, noch ein großer Koffer, und noch eine Tasche.

Da steht plötzlich Frauchen vor mir und ihr Mann ruft aus dem anderen Zimmer: „... Für den Hund ist jetzt kein Platz mehr im Auto!!“... Ich blicke die beiden aus traurigen Augen an. Ja, ich bin traurig, sie sollen es sehen. Ich liebe Autofahren, sie nehmen mich nicht mit und haben mir keinen Leckerbissen gegeben. Ich lecke traurig die Kuchenkrümel vom Küchenboden auf.

  1. SCHWERTLILIEN

Mein Frauchen ist weggefahren mit ihrem Mann und hat mich mit der schwitzenden Alten allein gelassen. Die Alte hat einen sauren Geruch und spielt nie mit mir. Die Wohnung stinkt. ... Endlich, endlich gehen wir hinaus. Ich will in den Park und habe es sehr eilig, ich ziehe an der Leine. Ich will schneller in den Park. Die Alte zetert und ächzt.

Auf dem Gehsteig merke ich, etwas ist anders. Wo sind die Menschen, die immer so eilig laufen? ... Ich sehe nur wenige heute.

Die Sonne strahlt warm und ich schnüffle an den Markierungen meiner Freunde und Nicht-Freunde. Die Schwertlilien im Park duften schwer und süß. Die Alte will mich an der Leine fortziehen. Plötzlich schreit ein Mensch neben mir laut auf „In Deckung, ... ein Angriff!“ Ich schrecke zusammen und ducke mich ..., ein Pfeifen, dann Krachen und Staub.

Noch ein Pfeifen über mir, der Krach fährt wie eine Flamme durch den Kopf, ich sehe nichts mehr, die Alte zerrt mich in ein Haus, die Leine würgt mich. Ich will weg, an die Luft, mehr Luft! ... Ich reiße mich los und rase durch die Staubwolke, weg von dem Krachen.

  1. FLEISCH

Wo ist mein Frauchen und ihr Mann, wo ist die schwitzende Alte? ... Ich finde die dunkle Wohnung mit dem Sauerkrautgeruch nicht, ich finde nicht mehr zurück. Die Stadt ist groß, mit geraden Straßen ohne Markierungen.

Ich bin hungrig, sehr hungrig ... sitze vor einem Kiosk am großen Markt. Dort riecht es wunderbar, der Duft ist himmlisch, so wie mein Lieblingsfutter oder Chanel. Ich trotte zu zwei jungen Menschen, die eilig aus einem Papier fressen und sehe ihnen in die Augen: „Ich bin ein braver Hund, gebt mir etwas! … Gebt mir doch etwas!

... Der eine junge Mensch vor dem Kiosk, es ist das Mädchen, lacht und wirft mir ein Stückchen zu, aber es ist nur Brot, kein Fleisch, leider kein Fleisch ... „Komm her mein schöner Hund, ich nehm dir deine rote Leine ab, ... die stört dich nur beim Laufen.“

Ich mag diese beiden jungen Menschen, sie sind fröhlich, sie lachen ... sie haben einen guten Geruch und sie haben keine Angst. Angst habe ich heute in vielen Straßen gerochen. Die Menschen in der Stadt laufen sehr rasch und mit eingezogenem Kopf den Gehsteig entlang.

Plötzlich ein Pfeifen, das kenne ich!!!!!! ... Dann das Krachen, wieder das Schreien der Menschen. Der Kiosk bricht auseinander, dunkle Teile fliegen durch die Luft, es riecht verbrannt, ... Rauch und Schreie aus dem großen Gebäude hinter dem Kiosk. Das Mädchen liegt mit starren Augen unter dem Tisch, zwei Menschen knien vor ihr. Ich springe an den beiden vorbei und schnappe alle Fleischstücke auf dem Boden, eine große Menge.

Das Fleisch ist herrlich warm und saftig ... das tut so gut, ich bin glücklich, ... ich fresse, kaue, würge und fresse. Da plötzlich spüre ich den Schmerz, ein scharfer, bohrender Schmerz an der Seite.

  1. TABAK

Die lange Straße ist dunkel, sehr dunkel, alles ist ruhig. ... Keine Menschen. Ich habe Schmerz, so großen Schmerz ... ich kann nicht mehr laufen, ich bleibe steh‘n und lecke meine blutige Flanke. Ich will zurück in meine Wohnung! ... Ich will meine rote Leine wieder! … Ich will zu meinem Frauchen!

Dort hinten sind zwei Lichter auf der Straße, mitten im grellen Licht steht ein Mensch und markiert sein Territorium an einem Baum.

Ich kann nicht mehr weiter, ich setze mich hin, gebe brav Pfote und sage leise „… Nimm mich mit, bitte bitte, … nimm mich mit!“

„Verdammt noch mal! ... Du kommst da einfach daher und gibst Pfote, na lass dich mal anschau‘n ... Ein Straßenköter bist du sicher nicht, eher ein Reinrassiger.“

„Ja, ja ... ich bin ein schöner Hund, ein braver Hund“, winsle ich.

Der große Mensch sieht mich lange an, hebt mich hoch und legt mich im großen Wagen auf den Beifahrersitz. „Du bist genau das Richtige für die Burschen draußen bei der Brücken-Stellung, die sollen dich verpflegen ... dann kommen sie auf keine schiefen Gedanken, wenn’s mal länger ruhig ist und nicht kracht.“

Der große Mensch riecht stark nach Tabak, seine Hände, sein Atem, seine Jacke. Aber er hat gute Laune. Er lenkt den brummenden Kastenwagen, bläst Rauch in die Luft und spricht mit mir.

„Na, dich vornehmen Köter hat´s wohl erwischt beim Raketen-Angriff auf die Stadt? Tja, Krieg ist nicht jedermanns Sache ..., aber für mich passt es gut, was da so draußen abläuft. ... Endlich Aufräumen, endlich Dreinhau‘n ... die feinen Schnösel mit ihren Aktenkoffern haben jetzt ausgespielt ... sind abgehau‘n oder hocken mit vollgepissten Hosen in ihren Kellern.

Ich sag dir, mein Hündchen ... Krieg ist eine feine Sache! ... Da hört es sich auf mit dämlichen Verwaltungsstrafen oder Alimenten für irgendeinen Balg, den du nicht mal besuchen darfst. Da draußen ist seit Tagen die Hölle los, und genau jetzt brauchen sie schlaue Typen wie mich ...!“

Der Tabak-Mensch bläst fröhlich den Rauch gegen die Wagenscheibe und nickt: “Jawohl, jetzt brauchen sie die Typen wie mich, ... und zwar auf beiden Seiten.“

Ich habe großen Schmerz, aber ich bemühe mich den rauchenden, freundlichen Menschen dankbar anzuwinseln. Bei ihm rieche ich keine Angst.

  1. WURST

Einer der Menschen mit dem glänzenden Gewehr gibt mir zu fressen. Jeden Morgen, wenn der Nebel noch am Flussufer hängt. Er lebt mit einigen anderen in einem Erdloch neben der Brücke, aber er hat gutes Fressen und umwickelt jeden Tag meine Wunde mit grässlich stinkenden Fetzen. Er spricht mit mir sanft und freundlich und erklärt mir, dass ich bald Hundebabys haben werde.

„Heute ist ein besonderer Tag, es ist mein Geburtstag ...“, sagt er zu mir „deshalb kriegst du die Hälfte von meiner Wurst“. Mit dem großen Messer schneidet er eine Scheibe ab, noch eine Scheibe, noch eine Scheibe ... bitte, bitte noch eine Scheibe!

Plötzlich sieht er mich nicht mehr an, er lächelt nicht mehr ... Seine Augen werden dunkel, er schaut auf das glänzende Gewehr neben sich ... „Was zum Teufel tu ich da eigentlich? ... Ich füttere Hunde, aber ich schieße auf Menschen“. Sein Geruch ist plötzlich anders, kein guter Geruch.

Ich will, dass er lächelt und will mehr Wurst. Mein Bauch ist schwer, ich bin hungrig, Ich belle ihn an ... du bist ein guter Soldat, ein süßer Soldat, ein kluger Soldat, ein braver Soldat!!!“ ... Aber es kommt keine Wurst, kein Lächeln mehr. Er starrt auf sein Messer in der Hand.

  1. MILCH

Ich lecke meine Jungen ab. Meine Kleinen ... sie müssen sauber bleiben und gut riechen. Sie schlafen oder sie saufen. Meine Zitzen geben viel Milch, denn das Fressen ist gut hier bei den Soldaten in den Erdlöchern.

Die Erdloch-Männer sind freundliche Menschen, denn sie streicheln meine Jungen. Aber wenn die Kleinen an den glänzenden Gewehren kratzen, werden die Soldaten ärgerlich und schieben sie weg. Die Bäume haben begonnen, die Blätter zu verlieren, nachts muss ich die Jungen mit meinem Körper gut wärmen.

Der Soldat mit der sanften Stimme und der Wurst hat mir einen Halsschmuck gemacht. Wenn ich unten am Flussufer saufe, glänzt das helle Metall mit dem Lederband im dunklen Wasser. Ich bin zufrieden hier, ich lecke meine Jungen ab und manchmal meine vernarbte Wunde. Ich beginne mit dem Schwanz zu wedeln, ..., ich bin sehr, sehr zufrieden.

  1. ERDE

Krachen, Schüsse ... der Baum neben dem Erdloch stürzt um, alles um mich bebt, Sand und Erde beginnt zu rieseln. Die Soldaten im Erdloch schreien durcheinander, einer stürzt über mich und bleibt liegen, seine Beine zucken. Ich rieche warmes, frisches Blut, ... Ich presse mich mit den Kleinen in den dunkelsten Winkel des Erdloches. Erde fällt auf mich, schwere weiche Erde, ich kann mich nicht mehr bewegen ... meine Jungen, die Kleinen, wo sind sie alle? Mehr Luft, ich brauche Luft! … Ein Junges winselt neben mir, ich schnappe es und grabe mir den Weg frei zum Licht. Ein Gewehr liegt vor mir, daneben ein Arm, der Arm von einem der Erdloch-Soldaten.

Wieder Krachen, ein Ast stürzt auf mich nieder ... ich muss hier weg! Schnell weg ... der Fluss, das Wasser, ich springe hinein ... spüre das eisige Wasser, aber ich paddle, paddle, paddle ... und halte mein Junges zwischen den Zähnen.

  1. UFER

Ich ziehe mich am Ufer hoch. Ich habe den Fluss durchschwommen und das Kleine nicht losgelassen. Mein Fell tropft, ich friere, es ist kalt. Ich lasse mein Junges ins welke Laub fallen. Ich höre es winseln. Es lebt, mein Junges lebt ... wir zittern vor Kälte.

Hinter den Büschen sehe ich Rauch gerade in den Himmel steigen und eine Hütte. Ich krieche mit dem Kleinen im Maul die Böschung hinauf und kratze an der Hüttentür. Ich winsle und zittere. Ich kann nicht mehr.

Zwei Menschen mit Gewehren treten aus der Hütte. Einer legt das Gewehr zur Seite und kniet sich zu mir nieder: „Na Hundemutter, du warst unten im Donets schwimmen, war wohl ein wenig kalt für euch beide!“ Er nimmt das Junge hoch und umwickelt es mit seiner Jacke.

Der andere beugt sich herunter und sieht meinen Halsschmuck an. Er beginnt die glänzenden Metallzeichen laut zu lesen. Dann springt er auf, … sein kahler Kopf ist plötzlich rot geworden, er beginnt zu schreien: „Dieses Hundevieh war bei den Kosaken am anderen Ufer! ... Diese Schweine von drüben haben drei unserer Leute am Fluss unten abgeschossen!“

Der andereMensch bewegt sich nicht, er hält mein Junges im Arm und fragt leise: „… Und Andreii, so sag mir bitte, was kann dieser Hund dafür?“

Der rote Kahlkopf schreit dem anderen Menschen ins Gesicht: „… Du fragst mich, was kann der Hund dafür?!!!“

Er beginnt noch lauter zu brüllen, in meinen Ohren pfeift es, ich muss mich hinlegen: „… Ja, dann frag bitte auch, was können denn WIR dafür?! … Und was können DIE am anderen Ufer dafür?! ... So kapier es doch endlich, Krieg hat nun mal seine eigenen Regeln!!!“

„Dieses Viech gehört abgeknallt, auf der Stelle!“ ... Er hebt sein Gewehr hoch. Stechender Schmerz durchfährt mich, einmal, noch einmal. Ich bekomme keine Luft mehr, ich will zu meinem Jungen, aber ich komme nicht hoch.

Der andere Mensch nimmt das Junge aus seiner Jacke und legt es vor mir nieder, er sieht mir in die Augen und flüstert: „Ich kümmere mich um dein Kleines, ich bringe es morgen nach TROKHIZBENKA, zu meiner Tante ins Dorf.“

Mit meiner letzten Kraft lecke ich es sauber. Es winselt zufrieden und gewärmt. … Ja, die Menschen sind gut, … sie werden sich um mein Junges kümmern.

Doris Vogl

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 17163

Paschkas Aktentasche

Was ging mit mir vor an diesem 24. Dezember 1971, als ich beschloss, den Weihnachtsgottesdienst in der amerikanischen Botschaft zu besuchen. Ich kenne kein Heimweh, bildete ich mir ein. Es war keine Idee, nicht im Bereich eines klar gefassten Gedankens oder Beschlusses, sondern eine vage Sehnsucht, ein Ziehen in der Herzgegend. Nebulöses Erinnern an Nadelduft, die typische Mischung aus Adventkranz, Punsch, Keksen, Kerzen und Weihrauch. Dazu Weihnachtslieder, Flöten und Orgelspiel im Kreis der Familie.
Heiße Bilder schwappten über mich, gemildert von der Moskauer Dunkelheit, dem Frost und dem Schnee.

Dabei war ich damals schon lange nicht mehr Kirchenmitglied und hatte mich auch innerlich weit von der Familienreligion mit ihren Traditionen entfernt. Dachte ich. Der Zauber des 24. Dezembers, des Heiligen Abends, ist einem offenbar tiefer in die Seele eingesenkt worden, als man zugeben möchte. Nicht zum Loswerden. Überfälle hinterrücks. Ein Tiefenlot hängt noch immer ins Unermessliche. Sentimentalität nennt man das, unbezwingbar wie eine DNA.
Dazu kam noch: Wenn man in einem Land lebte, dem der 24. Dezember, der Heilige Abend, nichts bedeutet, den es gar nicht gibt und nirgendwo sichtbare Anzeichen dafür zu sehen sind, an dem das Leben wie gewöhnlich weiterfließt, grau, ordinär und banal. Als Kind hatte ich immer das Gefühl, dass am 24. Dezember die Welt stillsteht und den Atem anhält – eine Heilige Nacht eben.

Mit dem schwachen, lächerlichen Ersatz der sowjetischen Figuren von Väterchen Frost und Snegurotschka, dem Schneeflöckchen, zu Silvester habe ich mich nie anfreunden können, schon nicht zu Weihnacht 1954 im Stadtsaal von Tulln, als die sowjetischen Besatzungstruppen ihr Neujahrsfest für die befreite Bevölkerung abzogen. Was sich in der Stadtpfarrkirche St. Stephans abspielte, war so viel schöner.

Aber was, um Himmels Willen, hat mich dazu gebracht, mich von meinem Freund Paschka zur Botschaft begleiten zu lassen? Weil wir, so gut es ging, alles gemeinsam machten, uns nicht trennen konnten, wollten? Nach dem Kreml gab es wahrscheinlich in ganz Moskau keinen Ort, der schwerer bewacht war als die amerikanische Botschaft am Gartenring. Vielleicht sogar noch mehr, denn innen hatten die Amerikaner ihre Regimenter, draußen der KGB. Als Mitarbeiterin der österreichischen Botschaft mit Diplomatenpass wurde ich zwar doppelt kontrolliert, durfte aber passieren und an der Weihnachtsfeier teilnehmen. Katholiken aus aller Herren Länder des Westens sollten die Gelegenheit haben, sich ihre nostalgischen Weihnachtsehnsüchte zu erfüllen.

Ich erinnere mich sogar an meine Enttäuschung, weil die Amerikaner in ihrer kleinen Kapelle den Heiligen Abend natürlich nicht so feierten, wie ich es von zu Hause in Erinnerung hatte. Eine stattliche, aber kitschig geschmückte Fichte mit flackernden elektrischen Girlanden, jede Menge Santa Clauses, rot-weiße Strickstrümpfe und lächerliche Mützchen, anstatt Tannenzweigen die hässlichen Stechpalmen, anstatt einer feierlichen Orgel ein elektrisches Harmonium, verstimmt quietschend. Dazu ertönten natürlich auch nicht unsere schönen Weihnachtlieder - Vom Himmel hoch, In dulci jubiloo, Es wird scho glei dumpa, Leise rieselt der Schnee, Maria durch ein Dornwald ging, Ihr Kinderlein kommet - sondern die Ohrwürmer aus den amerikanischen Kaufhauslautsprechern: Jingle Bells, Merry Christmas, grüner Tannenbaum auf Englisch, Silent night. Bei Rudolph, the rednosed reindeer reichte es mir, und ich verließ die Veranstaltung, verzichtete auf Weihnachtsumarmungen, cookies und Punsch.

Draußen auf dem Gartenring war es vollkommen dunkel und menschenleer. Die vermummten Milizionäre in ihren dicken Mänteln waren die einzigen Gestalten weit und breit. Sie sahen nicht wie Menschen aus, sondern wie aufrecht taumelnde Bären. Keine Spur von Paschka. Ich wollte eigentlich beim Ausgang auf ihn warten, wurde aber von den Vertretern der Sowjetmacht grob weggescheucht. Also fuhr ich allein nach Hause und wartete auf meinen Freund. Natürlich hatte ich in meiner Wohnung ein echtes Weihnachtsfest vorbereitet, mit allen Ingredienzien, soweit sie in diesem Land, das Weihnachten nicht feiert, überhaupt zu bekommen waren.
Am letzten Adventsonntag waren Paschka und ich abends mit der Metro weit hinaus nach Kolomenkoje gefahren und hatten in einem Wäldchen eine kleine Fichte geklaut. Das Umsägen war ein Kinderspiel, der Transport gestaltete sich aber schwierig. Niemand konnte in diesen Tagen unbemerkt einen Christbaum in der Metro transportieren. Es gab ja keine zu kaufen, und die aus Plastik für den Neujahrs-Baum, die Jolka, gab es erst wenige Tage vor dem Fest. Also mussten wir zuerst weit durch die dunklen Vorstädte marschieren - Paschka die mickrige Fichte unter dem Mantel - bis wir weiter gegen das Zentrum zu einen Moskwitsch aufhielten, ein schwarzes Taxi, und mit Glück vorbei an dem Milizionär ins Haus schlüpfen konnten.

Paschkas Mantel ist eine eigene Erzählung wert. Damit wir überhaupt gemeinsam auftreten konnten, hatte ich ihn von Anfang an mit westlicher Kleidung ausgestattet. Mein Bruder Bernhard, der mit Paschka schon Jahre befreundet war, hatte im Kaufhaus Frank in Tulln einen Großeinkauf getätigt, Herrenbekleidung für alle Jahreszeiten und Lebenslagen. Das Riesenpaket konnte ich über die Diplomatenpost empfangen.
Ohne seine Verkleidung als Westler hätten wir gemeinsam keinen Schritt unbehelligt auf der Straße machen können.
Allerdings habe auch ich mich manchmal umgekehrt verkleidet. Auf einer heimlichen Reise in die für Ausländer gesperrte Westukraine, nach Lemberg und Tschernowitz, trug ich Kleider und Kopftuch seiner Mutter, um als russische Bäuerin durchzugehen, er blieb diesmal bei seinem original sowjetischen Stil.

Auch Kekse, Kerzen und Christbaumschmuck hatte ich mir von zu Hause schicken lassen und einige Köstlichkeiten im Devisenladen Berjoska eingekauft: finnischen Rentierschinken, französischen Käse, deutsche Würstchen und Hähnchen, Riesling aus Österreich, russischen Beluga-Kaviar, und suchoje krimskoje schampankoje.
Ich hatte gebackenen Karpfen mit Majonnaise-Erdäpfelsalat zubereitet. Alles zusammen mit Kerzen und Keksen duftete wirklich weihnachtlich. Nur die Fichte machte noch zuletzt Probleme. Ich hatte vergessen, zu Hause einen Ständer zu ordern, und im sandgefüllten Kübel wollte sie nicht aufrecht stehen. Auf einem schrägen Baum kann man keine Kerzen anzünden. Es war halt doch kein echter Christbaum, noch dazu geklaut. Ich machte ihn mit Mühe mit Spagatschnüren an den Möbeln fest und er sah damit  noch jämmerlicher aus.

Dabei sollte es nach Möglichkeit ein echter Heiliger Abend werden, fast wie zu Hause.
Wahrscheinlich sah ich dem Bäumchen nicht unähnlich aus. Ich saß fünf Stunden allein da und spielte unter Tränen die Weihnachtspassion, Dies irae und Deutsches Requiem am Plattenteller auf und ab. Heute Nacht wollte ich nichts Russisches hören. Eigentlich horchten meine Ohren aber mehr ins Stiegenhaus hinaus, ob der Lift bei mir im 7. Stock hielt. Er ratterte, quietschte und pfauchte wie immer, fuhr aber vorbei. Wie sehr ich sonst dieses Produkt der sowjetischen Ingenieurskunst hasste, heute sehnte ich jetzt den lauten Krach und das Erdbeben herbei, mit dem er sonst stoppte.

Im letzten, dem 9. Stock ratterte er wie ein Maschinengewehr von W.W. Kalaschnikow, und unten im Erdgeschoss konnte ich ihn noch hören, wie er zornig aufstampfte, dass er nicht in den Keller fahren durfte. Diese Geräusche musste auch Schostakowitsch in den Ohren gehabt haben, als er seine 7., die „Leningrader“, komponierte, also klangen auch in St. Petersburg, Petrograd und Leninburg, wie er seine Stadt nannte, die Lifte ähnlich, dazu noch einige Fis-Töne von den Fabriksirenen und das Stampfen der Lokomotiven am Finnländischen Bahnhof, wo er als Zehnjähriger Lenin gesehen haben will, als der aus dem gepanzerten Zug der Deutschen stieg, um auf einem Heuhaufen - wo kam der eigentlich her, Pferdefutter? - seine April-Thesen vorzutragen.

Paschka kam erst spät in der Nacht zurück, rollte gleich an der Tür wild mit den Augen und hielt den Finger vor den Mund. Nicht sprechen! Ich legte sofort einen Leonard Cohen auf. Wir brauchten noch eine Platte mit Chopins Nocturnes und Impromptues, die Vier Jahreszeiten und zweimal den Sergeant Pepper, bis Paschka die Geschichte seiner letzten fünf Stunden erzählt hatte.
Anfangs konnte er gar nicht sprechen und zitterte so sehr, dass er seine Kasbek nicht anzünden konnte und den Krimsekt verschüttete. Kognak war jetzt besser. Sein Magen war für meine vorbereiteten Köstlichkeiten nicht bereit, ganz im Gegenteil, immer wieder suchte er die Toilette auf. Angst geht immer zuerst in die Hose. Vor Stalins Kabinett standen neben den KGB-lern immer auch zwei kräftige Sanitäter, die die beim Diktator Vorgeladenen und wieder Entlassenen schnell in einen Nebenraum zogen, sie abspritzten und mit einer sauberen Hose neu einkleideten. Das ist Fakt, weil einige Überlebende dies nach dem Tod des Diktators freiwillig erzählten.

Was war passiert? Als ich in der Botschaft verschwunden war, wurde er sofort von den Milizionären festgehalten und auf eine Wache gebracht. Aber nicht auf die nächste der Miliz, sondern in einem Auto zu einer Stelle des KGB. Wo, konnte er nicht sagen, üblicherweise in die Ljublanka, weil der Niva verdunkelte und vergitterte Fenster hatte und er draußen nichts sehen konnte. Sie haben ihn so lange verhört, bis beide Seiten nicht mehr konnten. Die KGB-ler rauchten ihre Schachteln Belomor, Paschka hatte seine Kasbek. Sie fanden nichts Verdächtiges an ihm, außer dass es einem Sowjetbürger nicht erlaubt war, sich so nahe an der amerikanischen Botschaft aufzuhalten. Aber das war nur eine Übertretung. Dafür, dass er mit der Vertreterin des kapitalistischen, imperialistischen Westens befreundet war, bekam er eine Rüge. Alle sind Spione, und er sollte sich nicht in Versuchung bringen, ein Vaterlandsverräter zu werden. Als ehemaliger Rekrut war er aber immer noch in der Armeereserve und sollte solche Kontakte besser unterlassen.

Paschka hatten sie aber doch so sehr verängstigt, dass er mir erst lange später das eigentlich Dramatische dieses Abends gestand. Als wir zur Botschaft gingen, hatte er seine Aktentasche, die portfelj, bei sich. Er kam von der Uni, also nichts Ungewöhnliches, wahrscheinlich waren Bücher und Mappen, Hefte und Bleistifte drin. Im Auto der Miliz war es ihm gelungen, diese Aktentasche unter den Vordersitz zu schieben, sodass er beim Verhör ganz ohne Gepäck war. Es befanden sich auch in der Aktentasche keine Uni-Utensilien, sondern sie war vollgestopft mit der frisch gedruckten letzten Samizdat-Ausgabe. Wir hatten sie vor einiger Zeit in der Wohnung von Freunden abgezogen: Texte von Daniil Charms, Michail Bulgakow und Sergej Dowlatow, einige Filmkritiken von westlichen und verbotenen sowjetischen Filmen, Personennachrichten von in Psychiatrien inhaftierten Intellektuellen und Künstlern, Texte und Gedichte von ihnen, Informationen aus dem feindlichen Ausland und von Bürgerrechtlern aus den Bruderländern.

Sprengstoff, brennheiße Ware, wenn sie sie gefunden hätten. Unter Breshnew kam man 1971 dafür nicht mehr in den Gulag, aber Relegierung von der Uni und Verbannung aus der Hauptstadt mit Sicherheit, nie mehr einen akademischen Beruf, Folgen für die Familie bis ins letzte Glied, in die Psychiatrie oder ins Arbeitslager mit großer Wahrscheinlichkeit.
Vorerst war nichts Schlimmeres passiert, als dass ihm die KGB-ler Wintermantel und Sakko abgenommen hatten. Wenn die gewusst hätten, dass darin vor Kurzem etwas so Gefährliches wie eine jolotschka, ein Christbaum, transportiert worden war!

Was mir Paschka erst bei einem Wiedersehen Jahre später beichtete, war, dass er lange vom KGB verfolgt wurde, immer wieder vorgeladen und befragt, immer wieder konfrontiert mit einem Papier, das ihn zur Zusammenarbeit einlud. Er hatte ja gute Kontakte in die Uni und in die Diplomatie.
Aber sie hatten ihm nie nachweisen können, dass die Aktentasche ihm gehörte.

Vielleicht waren es die Engelschöre der Weihnachtspassion oder Rudolph, das Rentier, die es ihm zehn Jahre später möglich machten, eine andere Österreicherin in Moskau zu heiraten und mit ihr in ihre Heimat auszuwandern. Ich war ja nach dieser unheiligen Nacht ungeplant schnell nach Österreich zurückgegangen, das heißt geflüchtet. Weniger vor dem KGB, der tat mir ja nichts, mehr vor Paschkas Dringlichkeit.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lebt er noch heute mit vier Kindern, zwei Enkelkindern und seiner Frau in der Idylle des oberösterreichischen Städtchens Freistadt.

12. Juli 17

Veronika Seyr
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Alla Gerber war in Abramcewo

Alla S. Gerber lernte ich in ihrem dritten Leben kennen, wie sie ihre Zeit mit Jelzin nannte. Sie saß als Abgeordnete in der ersten Duma, und Ende der 90-er Jahre machte er sie zur ersten Direktorin des eben gegründeten Moskowskij Zentr Golokost (MZG). An dieser Institution arbeiteten auch die österreichischen Gedenkdiener, die von der Botschaft, also von mir, betreut wurden.
Alla war eine schöne, elegante Dame von siebzig plus, geistig und körperlich agil, wortreich und voller Energie. Wir konnten von Anfang an gut miteinander und setzten viele Pläne um. Da schienen sich zwei Gleichgestimmte getroffen zu haben. Gesegnet mit einer großen Portion Humor, mit dem sie auf ihre drei Leben blickte.
Und hallo, jetzt kommt das vierte mit dir!

Als öffentliche Figur wahrgenommen habe ich Alla S. Gerber schon früher, als absolute Ausnahmeerscheinung im russischen TV, in den Endlosübertragungen aus der eben entstehenden Duma, die sich gerade damit mühte, sich vom Obersten Sowjet zu einem richtigen Parlament zu entwickeln. In dieser historischen Zeit hielt ich mich manchentags bis zu 16 Stunden im Kreml auf. Es gab noch keine Handys.

Aller S. Gerber war dabei eine wichtige Stimme. Sie war elegant und gestylt, redegewandt, emotional, doch ohne nationalistisches Pathos und immer mit einem Schalk im Auge. Ich mochte sie schon aus der Ferne. In diesen Jahren lernte ich nur noch zwei andere Frauen kennen, die mich so beeindruckten. Die eine war Galina Strarowoitowa, die mutige Petersburger Abgeordnete der neuen Demokraten, ermordet von der Mafia im zweiten Wahlkampf. Mit ihr hatte ich aber nur ein schnelles Gespräch während einer krawallischen Demonstration. Und in Tatarstan die islamische Präsidentin Ibragima Selimwowitschna Karaulowa der autonomen Republik Tatarstan Schön, aufrecht, in traditioneller Prachtkleidung, ohne Kopftuch mit einem dicken schwarzen Haarzopf über der linken Schulter. Absolut souverän und überzeugend, unterstrichen von ihren fast zwei Metern. Die Entwicklung eines aufgeklärten russischen Islam, das war ihr Projekt, heraus aus der Verbannung.
Ich traf sie nur einmal in ihrem Palast in der Hauptstadt Samara zu einem Interview. Im Duma-Fernsehen war sie oft beeindruckend anwesend. Aber Alla Gerber habe ich kennengelernt, wirklich und leibhaftig. Und mich mit ihr befreundet, wie ich meinte. Was für ein Irrtum!

In meinem persönlichen Ranking stand Alla Gerber an der Spitze.
In der ersten Amtszeit des russischen Präsidenten war sie Abgeordnete für den Wahlkreis Birobitschan, früher eine autonome Region, die Stalin für die Sammlung der sowjetischen Juden ausgedacht hatte. Eine sowjetische Phantasie wie Madagaskar oder Uganda auf der anderen Seite, alle Juden in einem Gebiet zu versammeln. Birobitschan ist ein Landstrich in Ostsibirien von der dreifachen Größe Deutschlands, ein Binnengebiet ohne jegliche Aussicht auf Prosperität, mit einer menschenfeindlicher Natur in der unfruchtbaren Tundra und fast menschenleer. Sie bekamen nie genügend Männer zusammen für einen einzigen Kaddish. Die Urvölker wie die nomadischen Ewenken, Nanken oder Tschuktschen hatte man schon im ersten Fünfjahresplan vertrieben, umgebracht oder in Kolchosen kollektiviert. Eine alte Regel, aber noch schlimmer als in der zaristischen Kolonisierung Sibiriens.
Zumindest das Nomadentum hatten ihnen die Zaren nicht austreiben wollen.
Die freiwilligen Ansiedlungskampagnen von Juden hatten nie Erfolg, zwangsmäßige gab es bis auf kleine Ausnahmen keine. Sie setzten Ende der 30-er Jahre ein, wurden aber mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion eingestellt. Aber darüber weiß man noch sehr wenig, gibt auch Alla zu. Sie würde das gerne erforschen, wenn man sie lässt und ihr Gelegenheit gibt. In die Thematik des deutschen Golokost Zentr passt es allerdings nicht. Denn der sowjetische „Golokost“ mit den vorgelagerten Fragen zum sowjetischen Antisemitismus ist noch immer kein Thema.

Das würde sie gerne noch erleben, sagt sie. Sie schildert ihre Erschütterung über den neuen Antisemitismus in Erinnerung an die jüngsten Ereignisse in Belarus. Sie hatte unlängst als Präsidentin des MZG bei Minsk und Mogiljew Gedenkstätten für die Opfer des Holocaust eröffnet, am nächsten Tag waren sie verwüstet, bis zur letzten kleinen Tafel zerschmettert und in den Boden getreten. Das gleiche Bild im westrussischen Smolensk und Kaluga. So wie Alla ist, erzählt sie ungeschützt, dass sie selbst das Wort Golokost nicht kannte, am Anfang nicht aussprechen konnte und üben musste, ein Zungenbrecher, im Russischen vollkommen ohne Bedeutung. Genauso wie Shoah, nur kürzer.
Eine Gedenkkultur über die Vernichtung der europäischen Juden durch das Nazi-Regime gibt es in Russland nicht. In der Sowjetunion war es verboten, ein Volk oder eine Nationalität auszuzeichnen für den jeweiligen Beitrag zum Sieg über den faschistischen Feind. Es gab nur das EINE siegreiche sowjetische Volk. Keine Zahlen, kein Gedenken, keine Denkmäler.

Jahrelang ging ich durch den pompösen Eingang des Schriftstellerklubs in Moskau, bis ich einmal innehielt und die Gedenktafel für die im Großen Vaterländischen Krieg geopferten Mitglieder, eingemeißelt in Goldbuchstaben in zwei langen Marmortafeln, las. Meiner Zählung nach war es etwa ein Drittel mit mir jüdisch erscheinenden Namen. Kein Garant, denn bei der Stalin‘schen Verfolgung der „jüdischen Verschwörung“ um 1948 ließen viele russische Juden ihren Namen in einen unverfängliche Iwan Simonow oder Sergej Iwanow umändern.

Jelzin meinte mit der bekannten Menschenrechtlerin Alla Gerber – ob er wusste, dass sie Jüdin, war, weiß sie selbst nicht – die ideale Kandidatin für diesen fernen Landstrich gefunden zu haben. Ein historischer Witz der besonderen Art, meinte sie, ohne Groll. Sie hatte weder etwas mit Birobidschan noch mit dem Judentum am Hut. Ihre Familie, kommunistisch assimilierte Intellektuelle, Universitätsprofessoren, Anwälte, Kaufleute und Journalisten, stammte aus Kiew und wurde von den Nazis vollständig ausgerottet.
Als kleines Mädchen von menschenfreundlichen Nachbarn zuerst versteckt und dann nach Moskau gebracht. Nur der Überfall auf die Sowjetunion und der Holocaust hatten sie indirekt zu einer Jüdin gemacht.
Als sich die Nachricht vom Heranrücken der Wehrmacht auf Kiew verbreitete, setzte sich ihr ältester Bruder in Kiew auf eine Parkbank, in seiner besten Kleidung, mit Gehstöckchen, Hut und einer Ausgabe der Times unter dem Arm. Er wartete auf die Befreiung von Kommunismus und der Unfreiheit durch das Kulturvolk der Deutschen. Er war Journalist mit Hang zum Dandytum und glühender ukrainischer Anti-Kommunist. Niemand konnte ihn überzeugen, dass er fliehen müsse, solange er noch konnte. Er wollte das nicht glauben.
Alles verdammte kommunistische Propaganda. Ein Volk, das einen Kant, Beethoven und Nietzsche hervorgebracht hat, unvorstellbar …, das sind unsere Befreier, die konnten doch nicht ..., nein, unmöglich!

Jakov S. Gerber war wahrscheinlich einer der ersten von den 30 000 Kiewer Juden, der für den Todesmarsch nach Baby Jar eingesammelt wurde, von der Bank im Stadtpark aufgelesen.
In ihrem zweiten Leben war Alla Gerber Journalistin und wissenschaftliche Übersetzerin für Englisch und Französisch. Eine relativ ruhige Bucht ohne Ideologie. Sie war die geborene Dissidentin, meint sie, mit dieser Familiengeschichte nicht anders möglich. So gehörte sie zu den 14 Demonstranten, die 1968 in Moskau gegen den Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei demonstriert haben. Später, im Helsinki-Prozess, setzte sie sich für die zwangshalber in die Psychiatrie eingelieferten Intellektuellen und Künstler ein, eine professionelle Dissidentin. Mehrmals festgenommen, verhört, aber nie verurteilt, nie im Gefängnis oder Lager.

Seit Gorbatschows Glasnost und Perestroika war sie Dauerdemonstrantin in allen Teilen der Sowjetunion, sie unterstützte den Bergarbeiterstreik in der Ukraine, die Unabhängigkeitsbestrebungen der baltischen und kaukasischen Republiken, reiste unermüdlich durchs Land und stellte Dokumentationen für Zeitungen und das Fernsehen zusammen. Dazu übersetzte sie unermüdlich bis dahin in der Sowjetunion verbotene Bücher und gab viele russische Autoren heraus. Eine wunderbare Zeit, die schönste, erinnert sie sich, weil die Menschen voller Hoffnung waren, Morgenluft von Freiheit witterten. Am Horizont dämmerten die ersten Strahlen einer russischen Demokratie. Alles schien möglich. Russland würde sich selbst befreien können und in den Strom der allgemeinen Menschheitsgeschichte zurückkehren. Ich pflichtete ihr bei, hatte ich doch diese Jahre als Journalistin genauso erlebt. Ich vermute, das gefiel ihr an mir und verband uns. Endlich eine Ausländerin, der man nicht alles vom kleinen Einmaleins an über Russland beibringen musste.
Ich arbeitete in vielen Projekten mit ihrem MGZ zusammen. Ich wage zu behaupten, dass ich es zusammen mit der engagierten Arbeit der Gedenkdiener zu einer gewissen Blüte und Bekanntheit bringen konnte. Von der Wiener Zentrale hatte ich volle Unterstützung, es waren die Jahre nach Vranitzkis Gedenk-Rede.

Langsam wurden wir so gut miteinander bekannt, dass ich es wagte, sie auf meine Datscha in Abramcewo einzuladen. Dieser Ort war mein privates Sanktissimum, das öffnete ich nicht jedem.
Ein wunderbarer August-Samstag, ich holte Alla an ihrer Wohnung beim Gagarin-Platz ab, und wir schaukelten in meinem Jeep Nissan Patrol über die Jaroslawskoje Schossee aus Moskau raus nach Nord-Westen in Richtung Sergijew Posad. Im Fond meine jugoslawische Hündin Laika und mehrere Katzen, alle vom Dorf.

Ein Bilderbuch-Sommertag, fast kitschig, fast schon zu oft beschrieben in der russischen Literatur. Ein spätes Mittagessen im Garten, ein kleiner Spaziergang zur heiligen Quelle des Sergius von Radonesch, Kaffee-Jause, Gespräche, Alla im Liegestuhl ruht und döst, die Brille sinkt auf die Zeitung. Der Hund und die Katzen tollen im Gras. Einige Vogelstimmen, ansonsten Stille. Eine wahre Idylle, kann man das nennen, Frieden pur. Als sie unter den niedrigen Strahlen der westlichen Sonne die Augen aufschlägt, fällt ihr der Kirschgarten ein, obwohl es außer einer verkrüppelten Weichsel bei mir keine Ähnlichkeit zu den Cechow‘schen Gärten gibt. Alles umstanden von hohen Nadelbäumen. Wissen Sie was, es ist noch schöner bei Ihnen, weil hier keine Menschen ständig allerhand unnützes Zeug reden. Sie hatte wieder die Cechow-Bilder vor sich oder auch zeitgenössisches Datschen-Leben.

Beim Abendessen wieder meine tausend Fragen zu Allas Leben. Sie leistet keinen Widerstand. Offenbar kann ich sie zum Erzählen anregen. Mein Journalisten-Blut ruht nicht, alles wissen und verstehen zu wollen, und Alla ist eine faszinierende Erzählerin. Sie kann in ihrer Lebensgeschichte auf- und abgehen wie in einem breiten Stiegenhaus. Es ist Weltgeschichte im Brennglas eines einzigen individuellen Lebens. Die berühmte Fliege eingeschmolzen in einen Tropfen Harz, 44 Millionen Jahre im Bernstein. Das alles garniert mit einer Fülle von Selbstironie und Souveränität. Als politische Aktivistin, Wahlwerberin und Deputierte zur Duma hat sie auch viel Dramatik angesammelt, viele Einblicke, viele Anekdoten. Wir lachen gemeinsam, und ich kann gar nicht genug davon kriegen.
So kommt auch die Geschichte ihres ältesten Bruders ans Tageslicht, ihre Kindheit im Kiew der Vorkriegszeit, das Wenige aber deutlich, ihre Eltern, die noch auf den Ansiedlungsrayon beschränkt waren, sich von der bolschewistischen Revolution befreit fühlten und die Chance bekamen, sich zur Elite hochzuarbeiten. Für mich Zeitgeschichte eins zu eins. Sie wundert sich selbst, sie erzählt das alles zum ersten Mal jemandem Fremden.
Obwohl, wenn sie es so bedenkt, hat sie ihr Leben immer auch für den Dandy-Bruder gelebt. Es geht ihr erstaunlich leicht von den Lippen. Wie es im Herzen aussieht, kann ich natürlich nicht sehen. Trotzdem kommt es zum ersten Du-Angebot. Einfach Alla-Veronika, sie will keinen Vaternamen, nicht wegen des Solomonowitsch an sich, sondern wegen der Länge. Wir waren ausgelassen und entspannt. Auch sie war an meinem Leben interessiert. Eine neue Freundin in Moskau, dachte ich.

Für Alla ist das Gästezimmer vorbereitet, sie möchte sich zurückziehen, vermisst aber zuletzt ihre Lesebrille. Wir suchen sie in ihrem Gepäck, mit Taschenlampen im Garten, im Haus, in Küche Badezimmer und Garderobe. Vergeblich. Macht nichts, sie ist ohnedies zu müde zum Lesen. Ein langer Tag. Alla legt sich schlafen.
Wenig später entdecke ich beim Aufräumen des Tisches die Brille unter einer Schüssel. Ganz sicher bin ich, dass ich im Bewusstsein meiner neuen Vertrautheit mir vorgenommen habe, sie auf ein neues Modell einzuladen. Dieses alte sowjetische Gestell passte einfach nicht zu ihr, sonst in allem so elegant. Schnell mache ich noch einen Tee, stelle Kanne und Tasse auf ein Tablett, lege dazu die Brille, stolz. Ich klopfe leise an ihrer Tür, lausche, höre keine Antwort und trete trotzdem ein.

Dieser kleine Schritt sollte einer meiner größten Fehler sein. Im Licht der kleinen Nachttischlampe sehe ich, wie sich ihr Oberkörper aufbäumt wie unter dem Schlag eines Defribrillators. Dazu schmeißt sie in heftigster Abwehr die Hände nach vorne und schreit in höchster Stimmlage: Won, won, won - weg, weg, weg, immer wieder, es steigert sich, ich geh nicht mit, weg, weg von hier. Dabei sind die Augen aufgerissen, größer, runder und hohler als im Schrei-Gemälde. Wahrscheinlich verstärkt durch das Fehlen der Zahnprothesen. Bin nicht sicher, wage nicht richtig hinzusehen und zittere immer noch vor diesem Anblick.
Ich war zu der geworden, die sie abholen sollte, wie ihren Bruder und die ganze Familie.
Mir gelang es gerade noch, mich mit dem schwankenden Tablett zurückzuziehen. Drei Zimmer weiter in meinem Bett sitze ich die ganze Nacht aufrecht und zitterte. Ich hatte in die Hölle geblickt.

Wir frühstückten am nächsten Morgen wenig und stumm. Welche Worte hätte es geben sollen? Draußen wieder ein traumhaft schöner Tag. Alla packte ihre Sachen und bedeutete mir, dass sie sofort nach Moskau zurückfahren wollte. Won-weg. Auch die Fahrt zurück wortlos, kein Blick, keine Verabschiedung. Nicht einmal ihr Gepäck darf ich hinauftragen. Nur weg von mir und diesem Erlebnis. Mehrmals habe ich angerufen, ohne Antwort, mehrmals an ihrer Wohnungstür am Gagarin-Platz gekratzt, habe gejault wie ein verstoßener Hund und die Türschwelle abgeleckt, die Taschen voll mit Geschenken und Leckerbissen, die sie mochte. Zum Beispiel, alle Sorten von Danone-Joghurts, damals neu in Moskau und bisher nur in meinem Supermarkt zu haben. Ich ließ sie da stehen. Die Berge von Joghurt vor ihrer Türe waren das Letzte. Eine banale Scheiße. Trauer, Hohn und viel Wut. Das ist alles, was du mir lässt?

Eine Entschuldigung vielleicht, Vergebung, aber wofür? Verbrechen und Strafe. Was hatte ich getan, ihr angetan? Ging es ihr besser so? Ich lebte einige Zeit in einer Zwischenwelt von Schuld und Sühne und hoffte nur noch, dass der Schock erst bei ihr, und dann bei mir nachlassen würde.
Alla mitsamt ihrem S zwischen dem Gerber wollte mich nicht sehen. Und tatsächlich habe ich sie auch nie wieder gesehen.

8.7.17

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 17150

Der Tunnel

Die Wochen, erfüllt von Düsternis, näherten sich ihrem Ende, das Licht, dunkel, aber doch nicht gänzlich, einen leichten Anflug von Grau beinhaltend, sollte die Dunkelheit erhellen. Eine andere Farbe sollte das Licht haben, doch offenbar war Grau die einzig zugestandene. Inwiefern der Begriff Grauen mit dem Farbton Grau zusammenhängt, bleibt ungewiss, doch Grauen ist nicht gleichzusetzen mit Dunkelheit, befindet sich doch immerhin ein helles Element darin, wenn auch ein kaum wahrnehmbares. Die Tage der Wochen erfüllt von diesem diesigen Licht, das empfunden werden kann in einem Flugzeug, welches durch dunkle Wolken voll von Regen und Gewitter fliegt, um schließlich das Blau des Himmels vor sich zu haben, nachdem die Dunkelheit zurückgelassen worden war.
Die scheinende Sonne mit ihrem gleißenden Licht sandte schwärzliche Strahlen, alles verdunkelnd, verwandelte die Individuen auf den Straßen in schemenhafte Gestalten, kaum wahrnehmbar, tünchte die Straßen in graue Farbe und zerschnitt das Leben auf belebten Arealen.

Die schwarze Sonne legte ihr Licht über die gesamte Welt, ließ das Leben auf dem Planeten dunkel erscheinen, ließ die Menschen und alle Lebewesen, wie auch die Objekte, untergehen in ihren Strahlen, die Luft zum Atmen machte sie schwer und das Wasser zum Trinken bleiern und die Nahrungsmittel verdorben schmeckend. Die Musik machte sie düster, die Texte der Musikstücke schwermütig und die instrumentale Leistung der Spieler unhörbar. Den Alkohol machte das Licht wohlschmeckend und nicht ausreichend in seiner Menge, das Schreiben machte es schwer, das Denken, Fühlen, Lieben, Handeln und Wollen löschte es aus.

Der Eingang des Tunnels, unsichtbar, ein plötzlich auftretendes Gefühl der Gefangenschaft, in der Mitte des Tunnels ein glänzend schwarzer Streifen, in die Ferne führend. Der Tunnel selbst zweigeteilt, auf der einen Seite schwarzer Samt, eine dunkle Wärme, ihre Existenz kaum fühlbar, dunkles Licht erleuchtet den Samt, hinter diesem schemenhaft wahrnehmbare Gestalten, Menschen, nicht fühlbar, nicht hörbar, nur durch Bewegungen zu erkennen. Vom Samt eine Flüssigkeit laufend, untrinkbar und dennoch wohlschmeckend, schwarz und die Konsistenz von Blut aufweisend. Auf der anderen Seite der Linie in der Mitte des Tunnels schwarzer Beton, kalt, hart und undurchdringlich. In den Beton eingearbeitet eine Unzahl an Klingen und Stacheldraht, viel zu scharf, um sich an sie zu schmiegen.
Von der Decke eine klare Flüssigkeit tropfend, scharf im Geschmack, trügerische Erhellung in sich tragend, die, wenn sie verschwunden, sich in Unheil verwandelt. Kälte, die durch nichts in Wärme verwandelt werden kann, die das kurzzeitige Gefühl der Wärme der samtenen Seite aussaugt, von der Decke hängen Leuchten, ein grellschwarzes Licht verbreitend, zu dunkel, um nach vorne zu sehen, hell genug jedoch, um die eigenen Unzulänglichkeiten nicht übersehen zu können.

Der Wechsel von der einen, samtenen Seite zur stahlbewehrten Betonseite, fließend, einem Ball gleich, immer wieder von der einen zur anderen Hälfte geworfen, in der Mitte, auf dem Boden, zwischen den Seiten, ein stets nach vorne führender schwarzer Pfad. Der Weg zurück, verschlossen, die samtene Seite einen samtenen Vorhang bildend, hinter diesem an ihren Bewegungen erkennbare Menschen, die Betonseite eine bedrohliche Mauer bildend aus scharfem Stahl und eisiger Grabeskälte. Die Schritte nach vorne, erleuchtet und begleitet von schwarzem Licht, nicht auszuhalten, ein ständiger Begleiter.
Am Ende des Tunnels, in weiter Ferne und zugleich nah, ein schwaches Licht. Es ist schwarz.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens |Inventarnummer: 17143

Die Angst vor dem Erfolg

Am zwölften September im Jahr der Venlafaxinunverträglichkeit kommt Robert nach einem langen Tag, den er alleine, er arbeitet in einem kleinen Büro, in welchem er vor dem Bildschirm eines Computers zu sitzen hat, denn er ist kollegenlos bei seiner Tätigkeit, die das Beantworten und das Abwickeln von Anfragen beinhaltet, präzise gesagt ist die Beantwortung respektive die Abwicklung von Anfragen der einzige Inhalt von Roberts Tätigkeit, die telefonisch, also die Anfragen, per Telefax oder via E-Mail an ihn gestellt werden, also an Robert, zugebracht hat, denn sein Kollege, Marcel Fleischbon, war ihm entzogen worden aufgrund von Sparmaßnahmen, welche die Etage der Chefs, die über allen und allem stehen, angeordnet hat, um an Mammon, also am Geld zu sparen, heim in sein Haus, welches am Rand der Stadt, in der Robert wohnt und wirkt, also werkt, präzise gesagt arbeitet, gelegen ist und welches außer ihm noch drei weiteren Menschen, also Roberts Ehefrau, sie heißt Marion und ist Cellistin in einem großen Orchester in der Stadt, in der sie beide leben, sowie seinen beiden Kindern, die er mit Marion gezeugt hat, denn Robert ist der Ansicht, dass Kinder das Beste sind, was ein Mensch der Welt schenken kann, sofern sie, die Kinder, zu guten Menschen erzogen werden, ihnen, also den Kindern, das Gute, was ihren Eltern innewohnt, vermittelt wird, Obdach gibt, ihnen also ein Dach über ihren Köpfen bietet, außerdem Wärme und Sicherheit, präzise gesagt Geborgenheit, und findet sein Abendmahl, gegrillten Fisch mit einer Beilage aus selbstgezogenem Spinat, auf dem Esstisch vor, der umringt wird von seiner Familie, also an dem Marion, Roberts Ehefrau, die er über alles liebt, sowie Anna und Ronja sitzen, die Kinder, präzise gesagt die Töchter, von Robert und Marion, die beide über alles lieben, und vice versa, noch warm, denn Robert kommt acht Minuten nach dem mit Marion vereinbarten Zeitpunkt nach Hause, und berichtet, während er den Fisch und die Beilage aus Spinat aus dem eigenen Garten hinter dem Haus zu sich nimmt, von den Vorkommnissen, die er in seiner Firma, präzise gesagt in der Firma, die ihn beschäftigt hält und ihn bezahlt, am heutigen Tag, und welche durchaus positiver, also förderlicher Natur waren und immer noch sind, denn Robert wird in der Hierarchie der Firma, die ihn beschäftigt hält und bezahlt, aufsteigen, er wird zum Leiter der Abteilung für das Design der neu zu entwickelnden Inkontinenz-Unterwäsche befördert werden, ein neuartiges Produkt, das die Firma, die ihn beschäftigt hält und ihn bezahlt, in ihren Katalog, also in ihr Angebot, das sie für ihre Kunden bereitstellt und bereithält, aufnehmen wird, denn diese Firma verdient sehr viel Geld, indem sie Gegenstände, um präzise zu sein Kleidungsstücke, herstellt, der letzte Verkaufsschlager dieser Firma waren atmungsaktive, dennoch geruchsundurchlässige und flüssigkeitsundurchlässige Schweißfußsocken, hergestellt nach einem von der, mittlerweile verstorbenen, Großtante des Besitzers der Firma entwickelten streng geheimen Verfahren, die den Schweiß der Schweißfüße der Verwender dieser Socken in olfaktorischer Hinsicht verschwinden, also, so kann man es sagen, verduften lassen, durch ihre, also die der Socken, Undurchlässigkeit bleibt der Schweiß in den Socken und durchdringt deren Gewebe nicht, was es den Menschen, die mit dem Problem des Schweißfußes ihr Leben führen müssen, erlaubt, ihre Schuhe abzustreifen, ohne befürchten zu müssen, den Mitmenschen in ihrer unmittelbaren, im Fall der schlimmsten Ausformung des Schweißfußes, des sogenannten Großen Zehenkäslers, in weitem Umkreis dieselbe unangenehme olfaktorische Erfahrung, in Verbindung mit verschämtem Halten der Nase in die dem Stinker entgegengesetzte Richtung, zu bereiten, die offen im Kühlschrank stehen gelassener Klosterkäse der Nase bereitet, in Ländern, in welchen Menschen sich mehrmals täglich ihrer Schuhe entledigen müssen, beispielsweise um den in diesen Ländern eingemahnten religiösen Verhaltensweisen, präzise gesagt um zu beten, zu entsprechen, erweist sich diese Art Socke immer noch als regelrechter Bestseller, und er, also Robert, soll die Gestaltung dieses neuartigen Produkts übernehmen, er geht davon aus, dass ihm diese Aufgabe übertragen wird, weil er ein überaus feinfühliger Mensch ist, der die heikle Aufgabe der Schöpfung dieses Kleidungsstücks, der Inkontinenz-Unterwäsche, mit der erforderlichen Sensibilität erfüllen wird, schließlich ist es essenziell wichtig bei Inkontinenz-Unterwäsche, auf die Dichtheit, sodass idealiter kein Tropfen Flüssigkeit aus ihr treten kann, darüber hinaus muss sie sich olfaktorisch gänzlich neutral verhalten, Augenmerk zu legen, und nachdem Männer in verschiedenen Ländern dieser Erde unterschiedlich lange Glieder vor sich her tragen, bei Frauen sieht die Sache weniger kompliziert aus, muss Robert unterschiedliche Modelle des neu zu entwickelnden Produkts entwerfen, um inkontinente Männer in allen Ländern dieser Erde, zumindest augenscheinlich, trocken zu halten und der Firma einen weiteren Verkaufsschlager zu bescheren und es soll sein Schaden nicht sein, hat sein Chef ihm versichert, denn wenn Robert die ihm gestellte Aufgabe mit der für diese heikle Sache, unterschiedliche Längenangaben von Gliedern von Männern aus verschiedenen Ländern zu erhalten, sein Chef ließ offen, ob Robert selbst wird Maß nehmen müssen oder ob guter Glaube ausreichen wird, Robert ist aufgrund seiner Sensibilität in der Lage zu erkennen, ob ein Mann ihn belügt, wenn die Sprache auf das Thema Gliedlänge kommt, erforderlichen Feinfühligkeit erledigt, wird Robert eine gewisse Beteiligung am Umsatz, den die Inkontinenz-Unterwäsche der Firma bescheren wird, erhalten, was Marion, Roberts Ehefrau, sehr freut, denn sie drängt seit geraumer Zeit auf den Ankauf eines Sportwagens, eines Cabriolets eines niedereuropäischen Herstellers, denn sie möchte ihre Freundinnen beeindrucken durch die Vorfahrt in einem solchen Cabriolet, noch dazu jetzt, wo Robert, ihr geliebter Ehemann, erfahren hat, dass er zur Prüfung antreten darf, dies ist die zweite Neuigkeit, die Robert seiner hocherfreuten Familie am Esstisch zur Kenntnis bringt, also dem zweiten, dem mündlichen Teil seiner, lange Jahre hinausgezögerten, Dissertation in der Studienrichtung Transzendentale Sensibilität, deren erster Teil, also der erste Teil der Prüfung, also die schriftliche Arbeit, Roberts Dissertationswerk, von einem Professor der Transzendentalen Sensibilität an Roberts Universität mit der Benotung Sehr Befriedigend versehen wurde und er, also Robert, auf dem besten Weg ist, die Doktorwürde zu erlangen, also ein Transzendentaler Sensibilist erster Kapazitätsklasse zu werden, und mit einem solchen Mann als Ehemann, findet Marion, und spricht dies auch aus, steht ihr ein Cabriolet zu, und als Robert einwilligt, freuen sich sämtliche Mitglieder der Familie, also Robert, Marion und ihre beiden gemeinsamen Töchter am Esstisch, an welchem Robert den Text seiner Dissertationsarbeit verfasst hat, doch im selben Augenblick beginnen Sorgen in Robert zu wachsen, es sind nicht Sorgen von der Art, beispielsweise finanzieller Natur, die ein Mensch empfindet, der von einem Augenblick auf den nächsten seine Arbeitsstelle verliert und nicht weiß, ob er im nächsten Monat in der Lage sein wird, anfallende Kosten zu decken, also Rechnungen zu begleichen und Nahrungsmittel zu erwerben, um selbst genug zu essen zu haben oder, in diesem Fall werden die Sorgen für gewöhnlich größer, seine Familie satt machen zu können, oder von der Natur, die ein Mensch empfindet, dem eine Diagnose zu Ohren gebracht oder vor Augen gehalten wird, die ihm bewusst macht, dass er an einer schweren Krankheit, die eine lange und risikoreiche Operation erforderlich macht, oder die überhaupt als unheilbar gilt und in kurzer Zeit, verbunden mit starken Schmerzen, unweigerlich zum Tod des erkrankten Menschen führen wird, eine Art Sorge, die sich steigert zur Angst vor dem, was passieren wird, Robert empfindet das stumpfe, das diffuse Gefühl der Unsicherheit, das des Nicht-Wissens, Nicht-greifen-Könnens der Dinge, die vor ihm liegen, die eintreten werden, geschuldet ist dies der Unsicherheit, welche die beiden positiven, seine eigene Zukunft und die seiner Familie in eine gute Richtung lenkenden Neuigkeiten des Tages in Robert keimen lassen, er ist erfreut über das Gute in den beiden Neuigkeiten, doch fühlt er im selben Augenblick, dass diese beiden Umstände, die Beförderung in der Firma, die ihn beschäftigt hält und bezahlt, sowie die Aussicht auf die baldige Erlangung der Doktorwürde, sein Leben, das Dasein, das er bis jetzt, bis zu diesem zwölften September im Jahr der Venlafaxinunverträglichkeit geführt hat, verändern, doch verbirgt Robert seine Sorgen vor seiner Familie, er möchte seine geliebte Ehefrau nicht mit seinen Sorgen belasten, ebenso-wenig die beiden geliebten gemeinsamen Töchter, mit Marion, seiner Ehefrau, pflegt er die Praxis des Miteinander-Redens nicht, er hat das, also das Reden mit Marion, trotz der Liebe, die zwischen ihm und ihr existiert, die so groß ist, dass ihr zwei Kinder entsprungen sind, nie gemacht, und er will in diesem Moment nicht damit beginnen, denn er fürchtet, von seiner Ehefrau nicht verstanden zu werden, er fürchtet sich davor, dass sie ihn nicht anhören wird und seine Sorgen, just an diesem Tag des Triumphs, dem Tag der beiden guten Neuigkeiten, als unbegründet abtun wird, und so schweigt Robert, trinkt eine Flasche Wein mit seiner Ehefrau, liebt sie dort, wo sie es am liebsten hat, auf dem Sofa im Wohnzimmer, ihre Töchter sind in ihren Betten und schlafen den unschuldigen Schlaf von Kindern, um sich nach dem Akt im Wohnzimmer gemeinsam mit Marion in das Ehebett zu legen, doch er findet, im Gegensatz zu Marion, die tief neben ihm schläft, keinen Schlaf, seine Sorgen wachsen und werden immer größer, das Nicht-Wissen, wie die neue Situation werden wird, wie sie sich anfühlen wird, wird Robert so unerträglich, dass er keine Sekunde länger im Bett an der Seite seiner geliebten Ehefrau zubringen kann, so steht er auf, gibt seiner Ehefrau einen Kuss auf die Stirn, präzise gesagt handelt es sich um den Hauch eines Kusses, er möchte sie nicht wecken, er haucht seinen beiden geliebten Töchtern zwei flüchtige Küsse zu, steigt, wie er gewandet ist, also in seinem Schlafanzug, in sein Auto und fährt, einer plötzlichen Eingebung folgend, zu einem Bahnhof außerhalb der Stadt, in der er mit seiner Familie lebt, und er macht sich nicht die Mühe, die Tür seine Autos zu schließen, auch dessen Scheinwerfer lässt er an, sie erleuchten gespenstisch die Umgebung, sie erleuchten die diffus im Nebel liegenden Geleise der Bahn, und Robert stellt sich auf sie, also auf die Geleise, wartet auf das Eintreffen des, gemäß dem Fahrplan der Bahn, nächsten Güterzugs, er sieht die Scheinwerfer der Lokomotive des Zugs auf sich zurasen, sie werden immer größer und heller und Robert steht auf den Geleisen und wartet.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens |Inventarnummer: 17141

Reise nach Asbest

Wo der Teufel nicht selbst hinwill, schickt er einen Pfaffen oder ein altes Weib.
Russische Volksweisheit

Es war einer dieser unvergleichlichen Vorfrühlingstage, die nur in Russland so wunderbar sein können, weil Mensch und Natur sich nach acht Monaten des Eises und der Finsternis in das Ende des Winters hineinsehnen.

Eine schwarze Regierungslimousine, ein dem Opel Kapitän nachgebauter Wolga, holte mich am Morgen von meinem Hotel in Jekaterinburg ab. Ich war in der Funktion der österreichischen Kulturrätin an der Botschaft in Moskau Gast der Stadt- und Regionsregierung. Offenbar damit eines Wolga mit Chauffeur würdig. Eigentlich wäre ich viel lieber mit den jungen Musikern aus Vorarlberg im Bus mitgereist. Das gestattete man mir nicht, man empfand das einer Vertreterin der Republik nicht angemessen. Wenn man die Busse in Russland kennt, ist das auch irgendwie zu verstehen. Diese russische imperiale Mentalität – nur nicht zu viel Volksnähe für die Repräsentanten der Staatsmacht.

Das „Young Brass Ensemble“ war zum Endbewerb des „Internationalen Festivals der Kinder - und Jugendorchester“ eingeladen, und so fuhren wir nach Asbest, in eine Kleinstadt neunzig Kilometer hinter dem Ural. In Sibirien nennt man eine solche Distanz einen „Flohsprung“ oder gleich nebenan. Alles unter tausend Kilometer ist gleich nebenan. Nach dem Zerfall des Ostblocks und der Sowjetunion bedeutete „international“ Russland, die GUS-Staaten plus zwei befreundete Nationen, Türkei und Österreich. Die zwölf Gymnasiasten aus Vorarlberg hatten zuvor schon den Stadtwettbewerb in Jekaterinburg gewonnen. Jetzt sollten in Asbest die „Internationalen“ gegen die Regionsorchester antreten. Im Ausbau der Sowjetunion zu einer Wirtschaftsmacht war es beliebt, neue Städte nach ihren Bodenschätzen oder Produkten zu benennen: Nikel ist so eine, Magnitogorsk, Peschtschannij (Sand), Lesnoj (Wald), Izjumowka (Rosinen), Tekstilnik und eben Asbest.

Ich überquerte den Ural nicht zum ersten Mal, vor vielen Jahren schon einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Irkutsk. Damals hatte ich den Nachtschaffner der Transsib bestochen, mich unbedingt aufzuwecken, ich wollte den sagenhaften Ural nicht verpassen, diese magische Linie zwischen Europa und Asien sehen und erleben.
Er weckte mich nicht auf, ich erwachte am Morgen und sah aus dem Zugfenster – es war nichts zu sehen, nur der lange Zug in einer Schneise durch endlose Wälder, links und rechts Birken und Fichten. Keine Spur von Ural-Gebirge, das wie ein Gebirge ausgesehen hätte. Wenn man wie ich aus den Alpen kommt und diese seit der Kindheit besteigt, waren das nicht einmal wahrnehmbare Hügel. Langgezogene Bahndämme höchstens. In dem schlenkernden Eisenbahnwaggon konnte man keine Höhen und Tiefen empfinden, geschweige denn eine Steigung oder einen Abstieg sehen.
Bei der ersten Reise über den Ural hatte ich noch kein Körpergefühl und keine Augenlust entwickelt für die Weiten, in denen sich über tausend Kilometer nichts ändert. Und die Zeiten, die vergehen sollten, bis sich irgendein Unterschied auftat, um sich zu versichern, dass man überhaupt weitergekommen war. Wie in alten Filmen, in denen ein Bild stehenbleibt und alles wieder zurückläuft.

Aber an diesem April-Tag des Jahres 2004 saß ich in einem Staats-Wolga und schaukelte durch die leere Landschaft Asbest entgegen. Ich sagte mir immer wieder: Ich bin hinter dem Ural, ich bin in Sibirien, in Asien. Die hinteren Seitenfenster hatten noch aus der Zeit vor der Einführung des getönten Glases dunkle Vorhänge, festgehalten an Stäben, sodass sie in Rüschen herabfielen.
Ich machte nach vorne einige Gesprächsversuche, es kam kein ganzes Wort zurück. Dieser Chauffeur hielt es offenbar noch mit der Propaganda von den feindlichen Ausländern, Imperialisten, Kapitalisten, Agenten, Spionen und Verrätern. Oder war das im vierten Putin-Jahr schon die Wende von der Wende? Eine große Tellermütze auf dem klobigen Kopf , darunter ein rötliches Gesicht mit platter Nase, schmalen Lippen und geschlitzten Augen. Meine Einschätzung: eine Mischung aus Lette und Sibijrak.

Immer noch schaukelte ich im Fond des Wolga über die Landstraße. Wie lange sind zweihundertfünfzig Kilometer? Der Chauffeur umfuhr geschickt und weitläufig die tiefsten Löcher. Der Permafrost war nach den Monaten mit Eis und Schnee aufgebrochen. Ich war nicht böse über das Rumpeln, eine kleine Entschädigung für das Fehlen des Gebirges. Ich weiß nicht, wer das erfunden hat, der Opel Kapitän oder der Nachbau des Wolga, auf jeden Fall saß ich im Wagen so tief unten, dass ich vom Chauffeur meistens nur seine Kappe zu sehen bekam. Nach einem kurzen Dösen am Anfang der Reise rappelte ich mich aus dem falschen Leder auf, schaute rechts aus den Fenstern und versuchte mich auf die Landschaft einzulassen, sie zu verstehen, in sie hineinzukriechen, sie einzuatmen, sie in mich aufzunehmen.

Wenn einmal die Wälder zurückwichen, gab es auch nicht viel zu sehen, endlose Wellen, manche noch mit Schneeresten, die Dörfer in die Landschaftsfalten hineingekauert, Katen, Hütten, Stadel, Dächer, Zäune, alles aus grauem Holz, fahl, ausgebleicht und abgeschabt, ohne einen Farbtupfer. Kein höheres Gebäude, selten ein Kirchturm. So konnte es noch siebentausend Kilometer weitergehen durch Sibirien bis nach Nachodka am Japanischen Meer. Ein gängiger russischer Spruch heißt, du musst Russland lieben, einfach weil es deine Heimat ist. Dieser Liebeshunger, auch noch das Hässlichste zu lieben.
Ich liebe mein Volk, ich liebe meine Heimat. Das trägt jeder Russe viel zu leicht auf den Lippen. Ist es denn nicht schwer genug, einen Menschen zu lieben?
Das ist nicht nur ein primitives Gefühlskonstrukt, sondern auch Ideologie. Denn wer kann, darf kritisieren, was man liebt? Wer sein Land nicht liebt, soll es verlassen. Aber wer bestimmt, wie man sein Land zu lieben hat? Mir kommt vor, es handelt sich dabei um so etwas wie Trotz-Patriotismus, Beharrungspatriotismus. In dieser Heimat-Mystik liegt eine Parallele zur Mutterliebe.

Ich weiß, dass ich gegen ein ungeschriebenes Gesetz verstieß, aber ich versuchte trotzdem, ein Gespräch mit dem Fahrer aufzunehmen. Neugierig wie immer, vorlaut, meines Russisch sicher und Volksnähe suchend. Dieser Mann aber war unerbittlich, geschult beim KGB. Er antwortete nie mit einem eindeutigen Wort, keinem ganzen Satz. Hm, ahm mit und ohne Fragezeichen in Variationen von Höhen und Tiefen, von Stöhnen und Grunzen. Nie wandte er sich zu mir mehr zurück als bis ins Halbprofil. Ich bemerkte seine tiefen Falten, die von den Augenwinkeln die Wangen hinunterkrochen. Ein schütterer Schnurrbart in Blond-Grau. Er blickte geradeaus auf die Straße, ein Asphaltband mit einer weißen Mittellinie, eine schnurgerade Schneise durch den Ural.

Manchmal bogen sich die dünnen, kahlen Birkenstämme über die Straße und bildeten einen fast geschlossenen Tunnel. Die Bäume standen tief im Wasser, viele waren umgestürzt oder abgestorben. Tauwasser oder Sumpf, zu dieser Jahreszeit konnte man das nicht sagen.
Wen hatte der schon alles gefahren? Sergej Kirow, den beliebten Parteichef von Swerdlowsk, überlegte ich. Einige Zeit der Konkurrent von Stalin. Das geht sich nicht aus. Den hatte Stalin 1935 in Leningrad umbringen lassen. Aber vielleicht den jungen Kommunisten Boris Jelzin, später Parteichef von Swerdlowsk, bevor er Moskau und ganz Russland eroberte.
Der Kappenkopf wandte sich nie nach rechts oder links, war auch nicht nötig, denn die Straße führte immer geradeaus über sanfte Wellen, dazwischen dürftiges Unterholz aus Sträuchern von Vogelbeeren und Haselnuss. Er musste nur seine Augen bewegen, um alles zu überblicken. Alles? Kein Gegenverkehr. Einige Lastwagen, je mehr wir uns der Stadt Asbest näherten. Einmal blieb der Chauffeur unvermittelt stehen, hieß mich barsch aussteigen und knurrte: Fotografiere! Snimi! Er war also innerlich per Du mit mir.

Am rechten Straßenrand stand in einer kleinen Waldbucht ein Denkmal, unter einem riesigen Schriftzug AC-ECT, das B fehlte gerade, ein unbehauener Felsbrocken, auf dessen Spitze einige aus dem Stein gehauene Figuren kauerten. An ihren demonstrativ hochgehaltenen Werkzeugen waren sie als Bergleute zu erkennen. An der Vorderseite prangte in goldenen Lettern die Inschrift Heldenstadt Asbest 1889 – 1989, wahrscheinlich eines der letzten Denkmäler der alten Sowjetunion. Ich war folgsam und fotografierte. Als wir kurz danach an den Gruben vorbeifuhren und ich die Kamera zückte, gab der Fahrer Gas, sodass ich nur verwackelte Fotos zustandebrachte, im Vordergrund die verwischten Bäume, dahinter einige Bohrtürme, Kranmasten, Schlote, Fabriksgebäude und Baracken.

Aber doch konnte ich sehen, dass der Tagebau riesig war, tiefe Krater wie umgekehrte Kegel in die Erde gegraben, auf deren Grund ich in meiner Lage nicht blicken konnte. Der Globus war über viele Kilometer aufgegraben. In vielen Terrassen konnte ich Schichten von gräulichem und grünlichem Gestein erkennen, ein Blick in die aufgeschnittene Hölle. Die Gruben zogen sich über Kilometer hin, bis wir den Stadtrand erreichten.

Im Bürgermeisteramt wartete man schon auf mich. Neben den Organisatoren des Musik-Festivals war eine Wirtschaftsdelegation aus Japan zu Besuch. Der junge Bürgermeister hielt eine dynamische Lobrede auf das Produkt seiner Stadt, das berühmte russische Asbest. Auf dem langen Tisch waren Broschüren und Bücher über das Mineral aufgelegt, und der Bürgermeister hatte für die Gäste als besonderes Schmankerl Säckchen mit Asbest-Brocken vorbereitet. Wir sollten uns daran bedienen. Die Westeuropäer griffen nur zögerlich zu, wussten sie doch, dass Asbest bei uns schon längere Zeit in Verruf geraten war, ja sogar als Baumaterial verboten war, wie ich mir nicht verkneifen konnte, einzuwenden.
Für den Bürgermeister der Anlass, das russische Asbest in den höchsten Tönen zu loben und den Gegensatz zu dem giftigen aus dem Westen herauszuarbeiten. Er schäumte über vor Asbest. An seiner Seite ein Chemiker und ein Geologe als Vertreter des „Trest Uralasbest“, die die Vorzüge und Harmlosigkeit mit vielen Formeln und Tabellen wissenschaftlich nachzuweisen versuchten. Asbestos kannten schon die alten Griechen und bedeutet unvergänglich, obwohl der Bürgermeister es lieber vom englischen as best abgeleitet gesehen hätte.

Das russische Asbest ist ein Chrysotil und gehört zur Serpentingruppe, faserförmige, kristallisierte Silikat-Minerale. So wie es jetzt in den Plastiksäckchen am Tisch liegt, könnte man meinen, es sei vergilbter Minzetee oder grünstichige Schafwollbällchen. Es habe eine andere chemische Zusammensetzung, die keinen Krebs, keinen heimtückischen, unheilbaren Bauch- und Brustfelltumor, keine Asbestose - das Eindringen von Asbeststaub und -fasern in die Lunge - verursache. Der Stadtobere kam geradezu ins Schwärmen über die hohe Qualität, Reinheit, Dichte, Effizienz.
Nicht einmal die schöne grün-weiße Färbung vergaß er hervorzuheben. Lange verbreitete er sich über die günstigen Investitionsbedingungen im größten Asbestlager der Welt. Sicher weniger an mich und die Kinderkulturaktivisten, denn an die Japaner gerichtet. Das war in etwa so komisch, wie damals, als uns Anhänger der sozialistischen Atomkraft überzeugen wollten, dass die Neutronen im Ostblock in einer anderen, unschädlichen Richtung marschieren oder Mascherl haben, auf denen steht: Keine Angst, wir sind die Guten. Die Japaner nickten zu allem höflich, verzogen keine Miene, stellten keine Fragen, behielten ihre Handschuhe an und die Masken vor den Gesichtern.

In Europa und den USA hat es Jahrzehnte gebraucht, bis die heimtückische Asbestose er- und anerkannt wurde. Aber viele Menschen leiden noch immer unter den Spätfolgen und kämpfen bis heute um eine Entschädigung. Das in Baumaterialien verarbeitete Asbest findet sich als Eternit aber noch immer in vielen Häusern, Mauern, Dächern und Schalungen, deren Beseitigung gefährlich ist und Unsummen verschlingt. Aber bevor man die Schädlichkeit von Asbest erkannte, verwendete man es auch in feuersicheren Textilien, in Estrichen, Dämmungen, im Schiffsbau und sogar in Zahnpasten.

Endlich entließ uns der Bürgermeister, nicht ohne dass er uns reich beschenkt hätte mit Literatur über Asbest, die Stadt und das Mineral, und wer wollte, mit einem Plastiksäckchen, durch das die fasrigen Brocken grünlich durchschimmerten. Mir gelang es, aus den Händen einer Bürgermeister-Assistentin ein solches Päckchen anzunehmen und ohne es zu berühren, mit Hilfe einer Broschüre in meine Tasche zu bugsieren.

Bis zum Konzert blieb noch etwas Zeit, die ich für einen Spaziergang durch die Stadt benützte. Im Zentrum zwei breite Straßen mit gemauerten Häusern, den Lenin- und den Sowjetski-Prospekt, an deren Kreuzungspunkt eine große Lenin-Statue stand. Sakralarchitektur als öffentliches Machtsymbol.
Weiter verliefen sie sich in einem Gewirr von vierstöckigen Plattenbauten, typischen Chruschtschowkas, schnell und billig aufgezogenen Wohnblöcken. Im Sommer könnten sie vielleicht ganz hübsch aussehen mit den Baumgruppen und Grünflächen dazwischen, nun im April wirkten sie räudig wie ein getretener Hund. Der gerade auftauende Ural-Frost hat in die Straßenbeläge tiefe, erodierende Löcher gerissen, in die ich in der Dunkelheit nicht stolpern möchte. Manche so groß wie kleine Kraterseen ohne Grund. Ob darunter nicht gleich der Reichtum der Stadt lag, das Asbest, schoss es mir durch den Kopf. Es ist früher Nachmittag des sonnigen Apriltages. In den zwei Hauptstraßen mit ein paar Geschäften sind Menschen unterwegs. Meistens Frauen, junge, alte, Kinderrudel aus den Schulen, aber keine Männer. Das fällt mir auf. Eine Stadt ohne Männer. Sie sind in der Arbeit.
Aber Alte wird’s doch ein paar geben. Die sitzen doch so gerne vor den Häusern und wärmen sich die alten Knochen. Die Stadt uferte aus in vielen ländlichen Sträßchen, die Holzhäuschen, manche mit geschnitzten und bunt bemalten Verzierungen, windschief standen sie in den endlosen Weiten von Chagalls weißrussischen Landschaften bis hinter den Ural. Von Gärtchen umgeben, zehn Quadratmeter, war die stalinsche Norm für Privatbesitz, es reichte für Petersil, Zwiebel, ein paar Erdäpfel, Gurken, Kraut. Lattenzäune darum so lückrig wie ein durchschnittliches russisches Gebiss. In einer kahlen Hollerstaude tschirpen Spatzen, irgendwo auf einer Zaunzacke sitzt eine schwarze Katze, in einer trockenen Kuhle räkeln sich herrenlose Hunde in den ersten Sonnenstrahlen. Ein leicht eingefärbter Stich von Sibirien aus dem 19. Jahrhundert. Das unveränderliche, ewige Russland, ewig arm und elend, denke ich.

Als ich einmal von einer solchen Straße aufsah, erschrak ich zutiefst. Wo war ich hingeraten, hatte ich mich verirrt? Eine Fata Morgana im Ural, am Westrand von Sibirien? Ich kann beschwören, dass ich beim Bürgermeister keinen Tropfen Wodka angerührt habe, sowenig wie das Asbest! Ich befand mich plötzlich ohne Vorwarnung, Andeutung oder Übergang auf einem anderen Planeten. Vor mir öffnete sich ein Platz so weit, dass er der Hauptstadt würdig gewesen wäre. Aus dem Nichts der absoluten Leere erstand ein griechischer Tempel, nicht in Marmor, ganz in Kalkweiß über russischen Ziegeln, eine breite Treppe, ein doppelreihiger Portikus mit dorischen Säulen, umgeben von korinthischen Girlanden, gekrönt von einer gigantischen Kuppel wie die der Isaaks-Kathedrale auf dem Newski-Prospekt. Ich fühlte mich in einem einzigen Augenblick zur Größe von einer Ameise geschrumpft. Mit vorsichtigen Schritten durchwatete ich die Kraterseen auf dem Platz und näherte mich andächtig über breite Stufen dem „Kulturhaus der Stadt Asbest“. Vor der Giganten-Statue Maxim Gorkis machte ich natürlich meinen Kotau.

Im Dreiecksgiebel über dem Portikus kündeten die goldenen Lettern „Dem siegreichen sowjetischen Volk“ von der Entstehungszeit des Kulturtempels. Väterchen Stalin. Da ich allein hier war, konnte ich mit niemandem die Säulen ausmessen, meine zwei eigenen Arme plus mein Mittelkörper reichten vielleicht für ein Viertel des Umfangs. Weil der Giebel aus unerfindlichen Gründen nach hinten versetzt war, machte das leere Flachdach des Portikus den ernüchternden Eindruck einer Garage.
Ich war viel zu früh dran für das Konzert, stand oben unter dem sibirischen Portikus und sah mich im Rund um: Menschen strömten aus allen Richtungen auf das Kulturhaus zu, viele Kinder, Frauen, Mütter, Großmütter, Tanten, aber keine Männer. Naja, die arbeiten wohl alle, normal, dachte ich.

Der falsche Tempel in Sibirien. Ein leerer Platz mit Schneematsch, Pfützen und Gatsch. Rundherum grindige Holzkaten und schiefe Lattenzäune. Ich ertappte mich beim Gedanken an den französischen Marquis de Custine mit seinen Blicken auf St. Petersburg im Jahr 1839. „Dreckige, verlauste Bauern lagern in Lumpen auf Stroh und Dreck unter falschen griechischen Tempeln.“ So fasst er polemisch seine Eindrücke vom Newski-Prospekt zusammen. Astolphe de Custine, ein reaktionärer französischer Adeliger, hatte in Paris in polnischen Exilantenkreisen verkehrt und bereiste drei Monate Russland ohne Russisch-Kenntnisse und Kontakt zum Volk. Mit seinem bahnbrechenden Werk „ La Russie en 1839“ prägt er noch immer das westliche Bild vom barbarischen Russland. Er beschreibt den zaristischen Absolutismus als „expansionistische und despotische Gefahr für die freiheitliche Kultur und die ganze nicht-orthodoxe Christenheit“. Es erlebte in Frankreich gleich sechs Auflagen und erschien in ganz Europa. In Russland und der Sowjetunion blieb es immer verboten und wurde erst 1985(!) unter Gorbatschows Glasnost auszugsweise als „Russische Schatten“ veröffentlicht.

Einmal war es mir schon ähnlich ergangen, als ich die zentralrussische Stadt Arsamas besuchte.
Dort hatte man nach dem Sieg über Napoleon 1812 die Auferstehungs-Kathedrale erbaut, in der der Petersdom leicht zweimal Platz hätte. Auch er auf einem leeren Platz von enormen Ausmaßen, wie ein Meteor von einem Planeten heruntergefallen. Aber der Unterschied zu Asbest ist wichtig: Arsamas ist ein hübsches, altes Landstädtchen, eingebettet in eine liebliche Landschaft, idyllisch wie in eine Turgenjew-Erzählung oder die Tschechow‘sche Kirschgartenlandschaft vor der Zerstörung. Vielleicht spielt es auch eine Rolle, dass ich an einem herrlichen Sommertag nach Arsamas kam. Die Straßen sind gesäumt von den Köstlichkeiten aus Gärten und Wäldern, Kübel und Körbe voll mit Obst, Gemüse, Beeren und Pilzen. Ich erinnere mich mit Wonne daran, einen 10-Liter-Kübel mit den schönsten Herrenpilzen um 40 Rubel gekauft zu haben. Es sieht aus wie das biblische Land, in dem Milch und Honig fließen.

Arsamas liegt auf einem Hügel am Steilufer der Tjoscha, einem Nebenfluss der Oka. Ein Balkon, von aus dem man meinte, in die Ebenen Sibiriens bis nach Wladiwostok sehen zu können. Kein Hindernis dazwischen. Arsamas besitzt die größte Ansammlung von Holzhäusern, damals schon viele stilvoll restauriert, die ich bis dahin gesehen hatte. Ein Gefühl, durch eine Gemäldegalerie zu spazieren. Die Anmut dieses Ortes und seiner Umgebung hatten auch schon einige Peredwischniki entdeckt. Die russischen Wandermaler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wandten sich gegen den steifen Akademismus, einige von ihnen haben sich hier niedergelassen. Bis heute ist ihnen ein kleines, aber liebevoll zusammengestelltes Museum gewidmet.

Noch zwei Besonderheiten hat Arsamas aufzuweisen. Beim Bau der Eisenbahnstrecke Moskau- Nishnij Nowgorod hat man auf Arsamas vergessen und an ihm vorbeigebaut. Arsamas, das einen aufblühenden Handel und eine Textilindustrie hatte, fiel in Dornröschenschlaf, bis etwa hundert Jahre später die Atomindustrie es aufweckte und gleichzeitig wieder versteckte. Eine der größten Forschungs- und Produktionsstätten legte man in die Nähe des Städtchens, eine geheime, geschlossene Stadt, von der man erst erfuhr, nachdem Andrej Sacharow nach Nischnij Nowgorod verbannt worden war. Arsamas 16 war einst sein Arbeitsplatz gewesen, wo er die sowjetischen Atombomben entwickelte.
Bis zu mir, heute vor dem Kulturtempel in Asbest, dringen die Bilder des Marquis de Custine ein.
Weil er ein verdammt genaues Auge hatte und eine genaue Sprache für diese Unterschiede, diese Diskrepanzen. Er hat das Falsche, das nur Nachgeahmte an der russischen Kultur erkannt, ohne jede Kenntnis von ihr zu haben. Das Nachgemachte, das Angenommene, das aus Europa Übernommene und oft falsch Verstandene. Der größte Irrtum war wohl der Marxismus.

Das Innere des Kulturhauses überraschte wiederum mit seiner Nüchternheit: Halle, Garderoben, Treppenhäuser und Korridore – alles war in der sowjetunionweiten Nutzbauweise aus Beton gehalten. Aber dafür hatte es der zentrale Konzertsaal in sich. Ich stand wie geblendet da und brachte meinen Mund nicht mehr zu. Ein in einem Halbrund amphitheaterartig aufsteigender Raum, bestuhlt mit rot-goldenen Reihen in Samt, eine Bühne und ein Orchestergraben vorne. Die Decke bildete eine Kuppel, die zur Gänze ausgemalt war. In den Segmenten konnte man Stalin in verschiedenen lebensnahen Situationen sehen: von Kindern umringt, die ihm Blumen in Körben und Girlanden überreichen, wofür er sie wie der gute Hirte mit ausgebreiteten Armen segnet, von diversem Arbeitsvolk umgeben, das ihm Produkte aus Wald, Feld, Fabriken und Bergwerken überreicht.
Wo in den Barockgemälden die Putti sind, schwebten hier Blumen, einzeln, in Körben oder in Gebinden durch die blauen Hintergründe. Die Stuckrippen prangten in Gold. Vom höchsten Punkt in der Kuppel hing ein riesiger Luster aus Kristallglas, würdig einer Staatsoper. Eindeutig, die Maler kannten sich gut aus in der Kunstgeschichte, praktisch von allen Epochen war etwas in Asbests Theaterhimmel versammelt. Ich bemerkte beim Staunen über dieses in der Provinz vergessene Überbleibsel des grenzenlosen Stalin-Kults, dass ich nach kürzester Zeit in die hier angebrachte Körperhaltung verfiel, in eine Nackenstarre. Um all diese gemalte Pracht und Herrlichkeit zumindest mit Blicken zu erfassen, musste ich den Kopf extrem nach hinten beugen. Mit dem Geist ist es für einen Westler nicht so einfach. Vielleicht ist in Asbest Stalin noch gar nicht tot, so wie manche Zeitgenossen glauben, dass Elvis lebt. Vielleicht ist in Asbest auch der 2. Weltkrieg noch nicht zu Ende?

Unser Schüler-Ensemble gewann wieder unter den ausländischen Formationen. Das Balalaika-Orchester aus Asbest trug natürlich den Gesamtsieg davon. Beim nachfolgenden Bankett kam ich neben einer Journalistin aus Jekaterinburg zu sitzen. Sie klärte mich über das Geheimnis des eklatanten Männermangels auf: In Asbest werden die Männer nicht älter als fünfzig, bis fünfzig graben sie den Schatz aus der Erde.

19., 20.6. 17
Fortsetzung Jekaterinburg - An den Stätten des Zarenmordes

Veronika Seyr
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