Wo der Teufel nicht selbst hinwill, schickt er einen Pfaffen oder ein altes Weib.
Russische Volksweisheit
Es war einer dieser unvergleichlichen Vorfrühlingstage, die nur in Russland so wunderbar sein können, weil Mensch und Natur sich nach acht Monaten des Eises und der Finsternis in das Ende des Winters hineinsehnen.
Eine schwarze Regierungslimousine, ein dem Opel Kapitän nachgebauter Wolga, holte mich am Morgen von meinem Hotel in Jekaterinburg ab. Ich war in der Funktion der österreichischen Kulturrätin an der Botschaft in Moskau Gast der Stadt- und Regionsregierung. Offenbar damit eines Wolga mit Chauffeur würdig. Eigentlich wäre ich viel lieber mit den jungen Musikern aus Vorarlberg im Bus mitgereist. Das gestattete man mir nicht, man empfand das einer Vertreterin der Republik nicht angemessen. Wenn man die Busse in Russland kennt, ist das auch irgendwie zu verstehen. Diese russische imperiale Mentalität – nur nicht zu viel Volksnähe für die Repräsentanten der Staatsmacht.
Das „Young Brass Ensemble“ war zum Endbewerb des „Internationalen Festivals der Kinder - und Jugendorchester“ eingeladen, und so fuhren wir nach Asbest, in eine Kleinstadt neunzig Kilometer hinter dem Ural. In Sibirien nennt man eine solche Distanz einen „Flohsprung“ oder gleich nebenan. Alles unter tausend Kilometer ist gleich nebenan. Nach dem Zerfall des Ostblocks und der Sowjetunion bedeutete „international“ Russland, die GUS-Staaten plus zwei befreundete Nationen, Türkei und Österreich. Die zwölf Gymnasiasten aus Vorarlberg hatten zuvor schon den Stadtwettbewerb in Jekaterinburg gewonnen. Jetzt sollten in Asbest die „Internationalen“ gegen die Regionsorchester antreten. Im Ausbau der Sowjetunion zu einer Wirtschaftsmacht war es beliebt, neue Städte nach ihren Bodenschätzen oder Produkten zu benennen: Nikel ist so eine, Magnitogorsk, Peschtschannij (Sand), Lesnoj (Wald), Izjumowka (Rosinen), Tekstilnik und eben Asbest.
Ich überquerte den Ural nicht zum ersten Mal, vor vielen Jahren schon einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Irkutsk. Damals hatte ich den Nachtschaffner der Transsib bestochen, mich unbedingt aufzuwecken, ich wollte den sagenhaften Ural nicht verpassen, diese magische Linie zwischen Europa und Asien sehen und erleben.
Er weckte mich nicht auf, ich erwachte am Morgen und sah aus dem Zugfenster – es war nichts zu sehen, nur der lange Zug in einer Schneise durch endlose Wälder, links und rechts Birken und Fichten. Keine Spur von Ural-Gebirge, das wie ein Gebirge ausgesehen hätte. Wenn man wie ich aus den Alpen kommt und diese seit der Kindheit besteigt, waren das nicht einmal wahrnehmbare Hügel. Langgezogene Bahndämme höchstens. In dem schlenkernden Eisenbahnwaggon konnte man keine Höhen und Tiefen empfinden, geschweige denn eine Steigung oder einen Abstieg sehen.
Bei der ersten Reise über den Ural hatte ich noch kein Körpergefühl und keine Augenlust entwickelt für die Weiten, in denen sich über tausend Kilometer nichts ändert. Und die Zeiten, die vergehen sollten, bis sich irgendein Unterschied auftat, um sich zu versichern, dass man überhaupt weitergekommen war. Wie in alten Filmen, in denen ein Bild stehenbleibt und alles wieder zurückläuft.
Aber an diesem April-Tag des Jahres 2004 saß ich in einem Staats-Wolga und schaukelte durch die leere Landschaft Asbest entgegen. Ich sagte mir immer wieder: Ich bin hinter dem Ural, ich bin in Sibirien, in Asien. Die hinteren Seitenfenster hatten noch aus der Zeit vor der Einführung des getönten Glases dunkle Vorhänge, festgehalten an Stäben, sodass sie in Rüschen herabfielen.
Ich machte nach vorne einige Gesprächsversuche, es kam kein ganzes Wort zurück. Dieser Chauffeur hielt es offenbar noch mit der Propaganda von den feindlichen Ausländern, Imperialisten, Kapitalisten, Agenten, Spionen und Verrätern. Oder war das im vierten Putin-Jahr schon die Wende von der Wende? Eine große Tellermütze auf dem klobigen Kopf , darunter ein rötliches Gesicht mit platter Nase, schmalen Lippen und geschlitzten Augen. Meine Einschätzung: eine Mischung aus Lette und Sibijrak.
Immer noch schaukelte ich im Fond des Wolga über die Landstraße. Wie lange sind zweihundertfünfzig Kilometer? Der Chauffeur umfuhr geschickt und weitläufig die tiefsten Löcher. Der Permafrost war nach den Monaten mit Eis und Schnee aufgebrochen. Ich war nicht böse über das Rumpeln, eine kleine Entschädigung für das Fehlen des Gebirges. Ich weiß nicht, wer das erfunden hat, der Opel Kapitän oder der Nachbau des Wolga, auf jeden Fall saß ich im Wagen so tief unten, dass ich vom Chauffeur meistens nur seine Kappe zu sehen bekam. Nach einem kurzen Dösen am Anfang der Reise rappelte ich mich aus dem falschen Leder auf, schaute rechts aus den Fenstern und versuchte mich auf die Landschaft einzulassen, sie zu verstehen, in sie hineinzukriechen, sie einzuatmen, sie in mich aufzunehmen.
Wenn einmal die Wälder zurückwichen, gab es auch nicht viel zu sehen, endlose Wellen, manche noch mit Schneeresten, die Dörfer in die Landschaftsfalten hineingekauert, Katen, Hütten, Stadel, Dächer, Zäune, alles aus grauem Holz, fahl, ausgebleicht und abgeschabt, ohne einen Farbtupfer. Kein höheres Gebäude, selten ein Kirchturm. So konnte es noch siebentausend Kilometer weitergehen durch Sibirien bis nach Nachodka am Japanischen Meer. Ein gängiger russischer Spruch heißt, du musst Russland lieben, einfach weil es deine Heimat ist. Dieser Liebeshunger, auch noch das Hässlichste zu lieben.
Ich liebe mein Volk, ich liebe meine Heimat. Das trägt jeder Russe viel zu leicht auf den Lippen. Ist es denn nicht schwer genug, einen Menschen zu lieben?
Das ist nicht nur ein primitives Gefühlskonstrukt, sondern auch Ideologie. Denn wer kann, darf kritisieren, was man liebt? Wer sein Land nicht liebt, soll es verlassen. Aber wer bestimmt, wie man sein Land zu lieben hat? Mir kommt vor, es handelt sich dabei um so etwas wie Trotz-Patriotismus, Beharrungspatriotismus. In dieser Heimat-Mystik liegt eine Parallele zur Mutterliebe.
Ich weiß, dass ich gegen ein ungeschriebenes Gesetz verstieß, aber ich versuchte trotzdem, ein Gespräch mit dem Fahrer aufzunehmen. Neugierig wie immer, vorlaut, meines Russisch sicher und Volksnähe suchend. Dieser Mann aber war unerbittlich, geschult beim KGB. Er antwortete nie mit einem eindeutigen Wort, keinem ganzen Satz. Hm, ahm mit und ohne Fragezeichen in Variationen von Höhen und Tiefen, von Stöhnen und Grunzen. Nie wandte er sich zu mir mehr zurück als bis ins Halbprofil. Ich bemerkte seine tiefen Falten, die von den Augenwinkeln die Wangen hinunterkrochen. Ein schütterer Schnurrbart in Blond-Grau. Er blickte geradeaus auf die Straße, ein Asphaltband mit einer weißen Mittellinie, eine schnurgerade Schneise durch den Ural.
Manchmal bogen sich die dünnen, kahlen Birkenstämme über die Straße und bildeten einen fast geschlossenen Tunnel. Die Bäume standen tief im Wasser, viele waren umgestürzt oder abgestorben. Tauwasser oder Sumpf, zu dieser Jahreszeit konnte man das nicht sagen.
Wen hatte der schon alles gefahren? Sergej Kirow, den beliebten Parteichef von Swerdlowsk, überlegte ich. Einige Zeit der Konkurrent von Stalin. Das geht sich nicht aus. Den hatte Stalin 1935 in Leningrad umbringen lassen. Aber vielleicht den jungen Kommunisten Boris Jelzin, später Parteichef von Swerdlowsk, bevor er Moskau und ganz Russland eroberte.
Der Kappenkopf wandte sich nie nach rechts oder links, war auch nicht nötig, denn die Straße führte immer geradeaus über sanfte Wellen, dazwischen dürftiges Unterholz aus Sträuchern von Vogelbeeren und Haselnuss. Er musste nur seine Augen bewegen, um alles zu überblicken. Alles? Kein Gegenverkehr. Einige Lastwagen, je mehr wir uns der Stadt Asbest näherten. Einmal blieb der Chauffeur unvermittelt stehen, hieß mich barsch aussteigen und knurrte: Fotografiere! Snimi! Er war also innerlich per Du mit mir.
Am rechten Straßenrand stand in einer kleinen Waldbucht ein Denkmal, unter einem riesigen Schriftzug AC-ECT, das B fehlte gerade, ein unbehauener Felsbrocken, auf dessen Spitze einige aus dem Stein gehauene Figuren kauerten. An ihren demonstrativ hochgehaltenen Werkzeugen waren sie als Bergleute zu erkennen. An der Vorderseite prangte in goldenen Lettern die Inschrift Heldenstadt Asbest 1889 – 1989, wahrscheinlich eines der letzten Denkmäler der alten Sowjetunion. Ich war folgsam und fotografierte. Als wir kurz danach an den Gruben vorbeifuhren und ich die Kamera zückte, gab der Fahrer Gas, sodass ich nur verwackelte Fotos zustandebrachte, im Vordergrund die verwischten Bäume, dahinter einige Bohrtürme, Kranmasten, Schlote, Fabriksgebäude und Baracken.
Aber doch konnte ich sehen, dass der Tagebau riesig war, tiefe Krater wie umgekehrte Kegel in die Erde gegraben, auf deren Grund ich in meiner Lage nicht blicken konnte. Der Globus war über viele Kilometer aufgegraben. In vielen Terrassen konnte ich Schichten von gräulichem und grünlichem Gestein erkennen, ein Blick in die aufgeschnittene Hölle. Die Gruben zogen sich über Kilometer hin, bis wir den Stadtrand erreichten.
Im Bürgermeisteramt wartete man schon auf mich. Neben den Organisatoren des Musik-Festivals war eine Wirtschaftsdelegation aus Japan zu Besuch. Der junge Bürgermeister hielt eine dynamische Lobrede auf das Produkt seiner Stadt, das berühmte russische Asbest. Auf dem langen Tisch waren Broschüren und Bücher über das Mineral aufgelegt, und der Bürgermeister hatte für die Gäste als besonderes Schmankerl Säckchen mit Asbest-Brocken vorbereitet. Wir sollten uns daran bedienen. Die Westeuropäer griffen nur zögerlich zu, wussten sie doch, dass Asbest bei uns schon längere Zeit in Verruf geraten war, ja sogar als Baumaterial verboten war, wie ich mir nicht verkneifen konnte, einzuwenden.
Für den Bürgermeister der Anlass, das russische Asbest in den höchsten Tönen zu loben und den Gegensatz zu dem giftigen aus dem Westen herauszuarbeiten. Er schäumte über vor Asbest. An seiner Seite ein Chemiker und ein Geologe als Vertreter des „Trest Uralasbest“, die die Vorzüge und Harmlosigkeit mit vielen Formeln und Tabellen wissenschaftlich nachzuweisen versuchten. Asbestos kannten schon die alten Griechen und bedeutet unvergänglich, obwohl der Bürgermeister es lieber vom englischen as best abgeleitet gesehen hätte.
Das russische Asbest ist ein Chrysotil und gehört zur Serpentingruppe, faserförmige, kristallisierte Silikat-Minerale. So wie es jetzt in den Plastiksäckchen am Tisch liegt, könnte man meinen, es sei vergilbter Minzetee oder grünstichige Schafwollbällchen. Es habe eine andere chemische Zusammensetzung, die keinen Krebs, keinen heimtückischen, unheilbaren Bauch- und Brustfelltumor, keine Asbestose - das Eindringen von Asbeststaub und -fasern in die Lunge - verursache. Der Stadtobere kam geradezu ins Schwärmen über die hohe Qualität, Reinheit, Dichte, Effizienz.
Nicht einmal die schöne grün-weiße Färbung vergaß er hervorzuheben. Lange verbreitete er sich über die günstigen Investitionsbedingungen im größten Asbestlager der Welt. Sicher weniger an mich und die Kinderkulturaktivisten, denn an die Japaner gerichtet. Das war in etwa so komisch, wie damals, als uns Anhänger der sozialistischen Atomkraft überzeugen wollten, dass die Neutronen im Ostblock in einer anderen, unschädlichen Richtung marschieren oder Mascherl haben, auf denen steht: Keine Angst, wir sind die Guten. Die Japaner nickten zu allem höflich, verzogen keine Miene, stellten keine Fragen, behielten ihre Handschuhe an und die Masken vor den Gesichtern.
In Europa und den USA hat es Jahrzehnte gebraucht, bis die heimtückische Asbestose er- und anerkannt wurde. Aber viele Menschen leiden noch immer unter den Spätfolgen und kämpfen bis heute um eine Entschädigung. Das in Baumaterialien verarbeitete Asbest findet sich als Eternit aber noch immer in vielen Häusern, Mauern, Dächern und Schalungen, deren Beseitigung gefährlich ist und Unsummen verschlingt. Aber bevor man die Schädlichkeit von Asbest erkannte, verwendete man es auch in feuersicheren Textilien, in Estrichen, Dämmungen, im Schiffsbau und sogar in Zahnpasten.
Endlich entließ uns der Bürgermeister, nicht ohne dass er uns reich beschenkt hätte mit Literatur über Asbest, die Stadt und das Mineral, und wer wollte, mit einem Plastiksäckchen, durch das die fasrigen Brocken grünlich durchschimmerten. Mir gelang es, aus den Händen einer Bürgermeister-Assistentin ein solches Päckchen anzunehmen und ohne es zu berühren, mit Hilfe einer Broschüre in meine Tasche zu bugsieren.
Bis zum Konzert blieb noch etwas Zeit, die ich für einen Spaziergang durch die Stadt benützte. Im Zentrum zwei breite Straßen mit gemauerten Häusern, den Lenin- und den Sowjetski-Prospekt, an deren Kreuzungspunkt eine große Lenin-Statue stand. Sakralarchitektur als öffentliches Machtsymbol.
Weiter verliefen sie sich in einem Gewirr von vierstöckigen Plattenbauten, typischen Chruschtschowkas, schnell und billig aufgezogenen Wohnblöcken. Im Sommer könnten sie vielleicht ganz hübsch aussehen mit den Baumgruppen und Grünflächen dazwischen, nun im April wirkten sie räudig wie ein getretener Hund. Der gerade auftauende Ural-Frost hat in die Straßenbeläge tiefe, erodierende Löcher gerissen, in die ich in der Dunkelheit nicht stolpern möchte. Manche so groß wie kleine Kraterseen ohne Grund. Ob darunter nicht gleich der Reichtum der Stadt lag, das Asbest, schoss es mir durch den Kopf. Es ist früher Nachmittag des sonnigen Apriltages. In den zwei Hauptstraßen mit ein paar Geschäften sind Menschen unterwegs. Meistens Frauen, junge, alte, Kinderrudel aus den Schulen, aber keine Männer. Das fällt mir auf. Eine Stadt ohne Männer. Sie sind in der Arbeit.
Aber Alte wird’s doch ein paar geben. Die sitzen doch so gerne vor den Häusern und wärmen sich die alten Knochen. Die Stadt uferte aus in vielen ländlichen Sträßchen, die Holzhäuschen, manche mit geschnitzten und bunt bemalten Verzierungen, windschief standen sie in den endlosen Weiten von Chagalls weißrussischen Landschaften bis hinter den Ural. Von Gärtchen umgeben, zehn Quadratmeter, war die stalinsche Norm für Privatbesitz, es reichte für Petersil, Zwiebel, ein paar Erdäpfel, Gurken, Kraut. Lattenzäune darum so lückrig wie ein durchschnittliches russisches Gebiss. In einer kahlen Hollerstaude tschirpen Spatzen, irgendwo auf einer Zaunzacke sitzt eine schwarze Katze, in einer trockenen Kuhle räkeln sich herrenlose Hunde in den ersten Sonnenstrahlen. Ein leicht eingefärbter Stich von Sibirien aus dem 19. Jahrhundert. Das unveränderliche, ewige Russland, ewig arm und elend, denke ich.
Als ich einmal von einer solchen Straße aufsah, erschrak ich zutiefst. Wo war ich hingeraten, hatte ich mich verirrt? Eine Fata Morgana im Ural, am Westrand von Sibirien? Ich kann beschwören, dass ich beim Bürgermeister keinen Tropfen Wodka angerührt habe, sowenig wie das Asbest! Ich befand mich plötzlich ohne Vorwarnung, Andeutung oder Übergang auf einem anderen Planeten. Vor mir öffnete sich ein Platz so weit, dass er der Hauptstadt würdig gewesen wäre. Aus dem Nichts der absoluten Leere erstand ein griechischer Tempel, nicht in Marmor, ganz in Kalkweiß über russischen Ziegeln, eine breite Treppe, ein doppelreihiger Portikus mit dorischen Säulen, umgeben von korinthischen Girlanden, gekrönt von einer gigantischen Kuppel wie die der Isaaks-Kathedrale auf dem Newski-Prospekt. Ich fühlte mich in einem einzigen Augenblick zur Größe von einer Ameise geschrumpft. Mit vorsichtigen Schritten durchwatete ich die Kraterseen auf dem Platz und näherte mich andächtig über breite Stufen dem „Kulturhaus der Stadt Asbest“. Vor der Giganten-Statue Maxim Gorkis machte ich natürlich meinen Kotau.
Im Dreiecksgiebel über dem Portikus kündeten die goldenen Lettern „Dem siegreichen sowjetischen Volk“ von der Entstehungszeit des Kulturtempels. Väterchen Stalin. Da ich allein hier war, konnte ich mit niemandem die Säulen ausmessen, meine zwei eigenen Arme plus mein Mittelkörper reichten vielleicht für ein Viertel des Umfangs. Weil der Giebel aus unerfindlichen Gründen nach hinten versetzt war, machte das leere Flachdach des Portikus den ernüchternden Eindruck einer Garage.
Ich war viel zu früh dran für das Konzert, stand oben unter dem sibirischen Portikus und sah mich im Rund um: Menschen strömten aus allen Richtungen auf das Kulturhaus zu, viele Kinder, Frauen, Mütter, Großmütter, Tanten, aber keine Männer. Naja, die arbeiten wohl alle, normal, dachte ich.
Der falsche Tempel in Sibirien. Ein leerer Platz mit Schneematsch, Pfützen und Gatsch. Rundherum grindige Holzkaten und schiefe Lattenzäune. Ich ertappte mich beim Gedanken an den französischen Marquis de Custine mit seinen Blicken auf St. Petersburg im Jahr 1839. „Dreckige, verlauste Bauern lagern in Lumpen auf Stroh und Dreck unter falschen griechischen Tempeln.“ So fasst er polemisch seine Eindrücke vom Newski-Prospekt zusammen. Astolphe de Custine, ein reaktionärer französischer Adeliger, hatte in Paris in polnischen Exilantenkreisen verkehrt und bereiste drei Monate Russland ohne Russisch-Kenntnisse und Kontakt zum Volk. Mit seinem bahnbrechenden Werk „ La Russie en 1839“ prägt er noch immer das westliche Bild vom barbarischen Russland. Er beschreibt den zaristischen Absolutismus als „expansionistische und despotische Gefahr für die freiheitliche Kultur und die ganze nicht-orthodoxe Christenheit“. Es erlebte in Frankreich gleich sechs Auflagen und erschien in ganz Europa. In Russland und der Sowjetunion blieb es immer verboten und wurde erst 1985(!) unter Gorbatschows Glasnost auszugsweise als „Russische Schatten“ veröffentlicht.
Einmal war es mir schon ähnlich ergangen, als ich die zentralrussische Stadt Arsamas besuchte.
Dort hatte man nach dem Sieg über Napoleon 1812 die Auferstehungs-Kathedrale erbaut, in der der Petersdom leicht zweimal Platz hätte. Auch er auf einem leeren Platz von enormen Ausmaßen, wie ein Meteor von einem Planeten heruntergefallen. Aber der Unterschied zu Asbest ist wichtig: Arsamas ist ein hübsches, altes Landstädtchen, eingebettet in eine liebliche Landschaft, idyllisch wie in eine Turgenjew-Erzählung oder die Tschechow‘sche Kirschgartenlandschaft vor der Zerstörung. Vielleicht spielt es auch eine Rolle, dass ich an einem herrlichen Sommertag nach Arsamas kam. Die Straßen sind gesäumt von den Köstlichkeiten aus Gärten und Wäldern, Kübel und Körbe voll mit Obst, Gemüse, Beeren und Pilzen. Ich erinnere mich mit Wonne daran, einen 10-Liter-Kübel mit den schönsten Herrenpilzen um 40 Rubel gekauft zu haben. Es sieht aus wie das biblische Land, in dem Milch und Honig fließen.
Arsamas liegt auf einem Hügel am Steilufer der Tjoscha, einem Nebenfluss der Oka. Ein Balkon, von aus dem man meinte, in die Ebenen Sibiriens bis nach Wladiwostok sehen zu können. Kein Hindernis dazwischen. Arsamas besitzt die größte Ansammlung von Holzhäusern, damals schon viele stilvoll restauriert, die ich bis dahin gesehen hatte. Ein Gefühl, durch eine Gemäldegalerie zu spazieren. Die Anmut dieses Ortes und seiner Umgebung hatten auch schon einige Peredwischniki entdeckt. Die russischen Wandermaler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wandten sich gegen den steifen Akademismus, einige von ihnen haben sich hier niedergelassen. Bis heute ist ihnen ein kleines, aber liebevoll zusammengestelltes Museum gewidmet.
Noch zwei Besonderheiten hat Arsamas aufzuweisen. Beim Bau der Eisenbahnstrecke Moskau- Nishnij Nowgorod hat man auf Arsamas vergessen und an ihm vorbeigebaut. Arsamas, das einen aufblühenden Handel und eine Textilindustrie hatte, fiel in Dornröschenschlaf, bis etwa hundert Jahre später die Atomindustrie es aufweckte und gleichzeitig wieder versteckte. Eine der größten Forschungs- und Produktionsstätten legte man in die Nähe des Städtchens, eine geheime, geschlossene Stadt, von der man erst erfuhr, nachdem Andrej Sacharow nach Nischnij Nowgorod verbannt worden war. Arsamas 16 war einst sein Arbeitsplatz gewesen, wo er die sowjetischen Atombomben entwickelte.
Bis zu mir, heute vor dem Kulturtempel in Asbest, dringen die Bilder des Marquis de Custine ein.
Weil er ein verdammt genaues Auge hatte und eine genaue Sprache für diese Unterschiede, diese Diskrepanzen. Er hat das Falsche, das nur Nachgeahmte an der russischen Kultur erkannt, ohne jede Kenntnis von ihr zu haben. Das Nachgemachte, das Angenommene, das aus Europa Übernommene und oft falsch Verstandene. Der größte Irrtum war wohl der Marxismus.
Das Innere des Kulturhauses überraschte wiederum mit seiner Nüchternheit: Halle, Garderoben, Treppenhäuser und Korridore – alles war in der sowjetunionweiten Nutzbauweise aus Beton gehalten. Aber dafür hatte es der zentrale Konzertsaal in sich. Ich stand wie geblendet da und brachte meinen Mund nicht mehr zu. Ein in einem Halbrund amphitheaterartig aufsteigender Raum, bestuhlt mit rot-goldenen Reihen in Samt, eine Bühne und ein Orchestergraben vorne. Die Decke bildete eine Kuppel, die zur Gänze ausgemalt war. In den Segmenten konnte man Stalin in verschiedenen lebensnahen Situationen sehen: von Kindern umringt, die ihm Blumen in Körben und Girlanden überreichen, wofür er sie wie der gute Hirte mit ausgebreiteten Armen segnet, von diversem Arbeitsvolk umgeben, das ihm Produkte aus Wald, Feld, Fabriken und Bergwerken überreicht.
Wo in den Barockgemälden die Putti sind, schwebten hier Blumen, einzeln, in Körben oder in Gebinden durch die blauen Hintergründe. Die Stuckrippen prangten in Gold. Vom höchsten Punkt in der Kuppel hing ein riesiger Luster aus Kristallglas, würdig einer Staatsoper. Eindeutig, die Maler kannten sich gut aus in der Kunstgeschichte, praktisch von allen Epochen war etwas in Asbests Theaterhimmel versammelt. Ich bemerkte beim Staunen über dieses in der Provinz vergessene Überbleibsel des grenzenlosen Stalin-Kults, dass ich nach kürzester Zeit in die hier angebrachte Körperhaltung verfiel, in eine Nackenstarre. Um all diese gemalte Pracht und Herrlichkeit zumindest mit Blicken zu erfassen, musste ich den Kopf extrem nach hinten beugen. Mit dem Geist ist es für einen Westler nicht so einfach. Vielleicht ist in Asbest Stalin noch gar nicht tot, so wie manche Zeitgenossen glauben, dass Elvis lebt. Vielleicht ist in Asbest auch der 2. Weltkrieg noch nicht zu Ende?
Unser Schüler-Ensemble gewann wieder unter den ausländischen Formationen. Das Balalaika-Orchester aus Asbest trug natürlich den Gesamtsieg davon. Beim nachfolgenden Bankett kam ich neben einer Journalistin aus Jekaterinburg zu sitzen. Sie klärte mich über das Geheimnis des eklatanten Männermangels auf: In Asbest werden die Männer nicht älter als fünfzig, bis fünfzig graben sie den Schatz aus der Erde.
19., 20.6. 17
Fortsetzung Jekaterinburg - An den Stätten des Zarenmordes
Veronika Seyr
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