Pauli, Petko

Die Bauarbeiter stiegen vom eingerüsteten Glockenturm und setzten sich auf ein paar Holzkisten. Links über ihnen hing ein riesiges Banner von der Hauswand herab. Is there Beauty after Alleppo?
Wastl packte sein Pausenbrot aus und biss hinein. „Woher bist du, aus Serbien, eh?“ Eine halbe Essiggurke fiel zu Boden.
Jagoš zog an seiner Zigarette. „Kroatien.“

Der Kollege neben ihnen faltete die Bildzeitung auf und vertiefte sich in den Anblick eines halbnackten Fotomodels. Jagoš Blick schweifte durch das gusseiserne Tor. Der riesige Rasenmäher vor der Kirchenruine erinnerte ihn an sein Heimatdorf, er war oft Trecker gefahren und hatte Mutter bei der Ernte geholfen. Jagoš betrachtete die von Büchern überquellenden  Regale hinter den Fenstern des Rückgebäudes. Kurz vor Kriegsausbruch war er zum Studieren nach Zagreb gegangen, er hätte Ingenieur werden sollen, wie Onkel Zlatko. Doch nach ein paar Semestern hatte Jagoš abgebrochen und war nach Deutschland geflohen. Damals wollte er nur noch weg von dem Chaos. Drei Tage davor war sein kleiner Bruder ums Leben gekommen.

„Ma-ma!“ Ein Junge lief über den Platz und heulte.
Wastl schmatzte. „Der Dumme hat sich beim Taubenjagen verlaufen.“ Er schraubte eine Thermoskanne auf und schenkte sich Kaffee ein.
„Komm mal her“, sagte Jagoš. „Suchst du deine Mama?“
Der Junge nickte und ging zögernd auf ihn zu, seine Augen waren vom Weinen rot und an einem Nasenloch hing Rotz.
„Wie heißt du denn?“
„Pauli.“ Er zog die Nase hoch.

Petko war ungefähr in Paulis Alter gewesen, als er nach den Schüssen im Straßengraben gelegen hatte, ganz still, mit seinem Gesichtchen im Dreck. Mutter hatte es ihm weinend am Telefon erzählt, doch ihm war, als hätte er es selbst gesehen, eine unauslöschliche Erinnerung.

Paulis Hose hatte Grasflecken. „Weißt du, wo meine Mama ist?“
„Ich weiß alles“, scherzte Jagoš und raffte sich hoch. „Sollen wir sie suchen gehen?“
Er streckte Pauli die Hand hin. Die Finger des Jungen fühlten sich kalt und klebrig an, als hätte er Eis gegessen. Sie gingen quer über den Parkplatz. Als sie um die Ecke bogen, kam ihnen hastig ein Paar entgegen.
„Da bist du!“, rief der Mann. „Wenn du das noch einmal machst, dann –“
Pauli blieb abrupt stehen; sein kleiner Körper versteifte sich.
„Warum regen Sie sich so auf?“, sagte Jagoš. „Sie haben ihn ja wieder.“

„Warum bist du schon wieder weggelaufen?“, fragte die Frau; der Junge sah ihr auffallend ähnlich. Sie zupfte ein Taschentuch aus einem Päckchen und putze ihm die Nase. Ihre Zähne waren ein klein wenig schief und auf ihrer Wange hatte sie ein winziges Muttermal. Sie lächelte Jagoš an. Wie lange war es her, dass ihn eine Frau so angelächelt hatte. Er wusste es nicht. Nur, dass er mit ihr und dem Jungen bis ans Ende der Welt hätte gehen wollen. Stattdessen machte er sich von der kleinen Hand los, die seine Finger nach wie vor umklammert hielt, und steckte sich noch eine Zigarette an.

„Sag auf Wiedersehen zu dem netten Mann.“
„Tschüss“, sagte Pauli und winkte. Pauli, Petko.
Jagoš nickte ihm zu und wischte sich eine Träne aus dem Auge.

Angela Kreuz

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 18010

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