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Mit klarem Blick und spitzer Feder. Jane Austen (1775-1817) zum 200. Todestag am 18. Juli

Obschon man nur sehr wenig über Jane Austen weiß, meint man sie gut zu kennen.

Es gibt zahlreiche Informationsmöglichkeiten über sie, darunter neuere Bücher, die angestrengt versuchen, alles annähernd sicher Qualifizierbare und nur irgendwie Erhaschbare aufzuführen: Weil streng nachvollziehbare Unterlagen und Abbildungen fast vollständig fehlen, behilft man sich mit ihrer häuslichen Umgebung, den Kenntnissen des Englands im frühen 19. Jahrhundert und namentlich mit dessen Sozialstruktur. Denn diese spielt zweifellos zum Verständnis eine enorme Rolle. Erschwerend kommt hinzu, dass «Englands Lieblingsautorin» (NZZ 1.4.2017) bereits kurz nach ihrem Ableben von der Familie vereinnahmt wurde, beginnend mit den Erinnerungen ihres Bruders Thomas und einer zunehmenden Mystifizierung «der lieben Tante Jane».

Und es gibt jede Menge von Verfilmungen, 1938 beginnend und nicht endend bis in die letzte Zeit, namentlich 14 Mal ihres bekanntesten Romans (Stolz und Vorurteil), gleich in mehreren Varianten: als moderne Version mit der Möglichkeit, dank einer Schiebtür zwischen dem heutigen London und der buchstäblich vergangenen Welt zu wechseln, oder umgekehrt ganz als Eintauchen in die Atmosphäre von 1810 auf dem englischen Land.
Die Bildsprache unterstützt, nimmt man sich die Geschichte anschließend (noch einmal) vor, den Eindruck, Jane Austen schreibe «Historische Romane», die aus viel Angelesenem und Studiertem einen möglichst spannenden, möglichst echt wirkenden Plot generiert. Das ist heute höchst modern, gab es aber ausgerechnet bereits in ihrer Epoche: Zeit seines – und ihres! – Lebens berühmt etwa der Autor Walter Scott, der das neue Genre zu einem einflussreichen literarischen Zweig entwickelte … und der gleichwohl Jane Austens literarische Sicht der Welt sehr bewunderte.

Der Eindruck eines gleichsam heraufgeförderten Inhalts trügt natürlich, noch dazu in allerhöchstem Maß: Jane Austen ist schlichtweg authentisch, nein, mehr als das: absolut echt. Sie springt zwar auf den Zug des außerordentlich populären Sittenromans auf, krempelt ihn jedoch gehörig um. Trotz der nach wie vor beibehaltenen Position der auktorialen Erzählerin identifiziert sie sich mit einer weiblichen Hauptperson. Diese bestimmt damit letztlich die Perspektive, mit ihr tauchen wir als Lesende vollkommen in ihr «Universum» ein. Das heißt ebenso: Jane Austen rekonstruiert nicht, sie erklärt nicht. Sie schildert aus zutiefst eigener Erfahrung und schöpft aus kontinuierlich sprudelnder Quelle.

Praktisch alle Romanhandlungen spielen in der «Gentry», jener sich selbst als eigene soziale Gruppierung verstehende Schicht aus niederem Adel und Landbesitzern, der sie selber angehörte. Gerade deshalb beeindruckt es, dass sie niemals berichtet. Sie erzählt aus dem inneren Zirkel heraus, innerhalb der (selbst in den Übersetzungen nachvollziehbaren) Grenzen eines gesellschaftlichen Habitus. Die Enge sprengt sie mit sprühender Gestaltungskraft, mit einem scharf klärenden Blick hinter die Kulissen des Scheins ebenso wie mit der notwendigen dichterischen Freiheit, nicht zuletzt ebendarum zugleich voller Bezüge und Charakterisierungen. Das beginnt bei der Landschaft Mittelenglands mit ihren weitläufigen Hügeln, Forsten und Buschwerk und freien Flächen mit Ausblicken.
Das geht weiter über die intensive Schilderung der Wohnorte, oft schlossartige Anwesen. Eine gewisse Rolle als Bezugspunkt wird der Stadt Bath verliehen (die damals einen enormen Entwicklungsschub erlebte), aber eben nicht als urbanes Gebilde, sondern rein als gesellschaftlicher Treffpunkt. Das reicht bis zur Formung des Alltags mit steten Wanderungen querfeldein (die den Geist auslüften lassen), mit der beständigen Sorge um eine «gute» Verheiratung (bei Müttern und Töchtern), mit dem nie aufhörenden Schreiben von Handzetteln und natürlich Briefen (auf deren Gebiet Jane Austen eine vielgeübte Meisterin war), mit der steten Suche nach Höhepunkten (namentlich in gesellschaftlichen Anlässen wie Bällen und Reisen).

Auf den ersten Blick mag solche Wiederholung etwas langatmig, vielleicht sogar langweilig wirken. Doch der Schein täuscht: Das Gleiche ist bei Jane Austen niemals dasselbe. Somit ging ihr erstens der Stoff nie aus. In ihrer kurzen, für die Zeitumstände allerdings nicht ungewöhnlich kurzen, Lebenszeit erschienen in dichter Folge fünf groß angelegte Romane. Zu ihnen treten zahlreiche weitere Arbeiten, die allerdings nicht den gleichen nachhaltigen Bekanntheitsgrad gewinnen konnten. Zweitens beschreibt sie in der Qualifizierung und Führung ihrer Figuren das Wirken des Äußeren in den inneren menschlichen Schichten.
Aus dieser höchst subtilen literarischen Leistung resultiert ein farbiges, genauer: farblich changierendes Tableau menschlicher Zustände, eine Psychologie (ante definitionem sozusagen) eines nur scheinbar, weil durch strenge soziale Regeln, in sich geschlossenen Personenkreises.
Und, was die Feministinnen unter den Lesenden freuen wird, jeweils zutiefst aus der Sicht einer sich jedem Tag neu stellenden, stets gründlichen Überlegungen über die eigenen Erfahrungen offenen jungen Frau.

Diese Ausgangslage eröffnet die Chance zum ehrlichen Reflektieren all der großen und der kleinen Dinge des Alltags (Allow me to feel no more than I profess), weckt ein sensibel-einfühlsames Verhalten und gibt Anlass zu ironisch-geistvoller Kommentierung. Dazu zwei Beispiele: In «Stolz und Vorurteil» erreicht nach einigen Wirren die Heldin Elizabeth ausgerechnet durch ihre bis zur Kompromisslosigkeit reichende Verwurzelung im eigenen Selbst eine kaum für möglich erachtete soziale Karriere. In Jane Austens letztem, dreibändigen Werk schildert sie schließlich mit «Emma» (Woodhouse) eine bis zur Verweigerung der Heirat bestrickend selbständige Persönlichkeit und beginnt, zu neuen Ufern aufzubrechen. Sie war sich dessen voll bewusst, wenn sie schrieb: Ich werde eine Heldin schaffen, die keiner außer mir besonders mögen wird. Die andere Seite ist das Zurücktreten hinter ihre Werke; sie publiziert anonym «by a lady», wird jedoch trotzdem zunehmend als Autorin bekannt – und öffnet damit eine Gasse, etwa für die Brontë-Schwestern der nachfolgenden Schriftstellerinnengeneration.

Man meint sie gut zu kennen: Aber man lese! Man lese nicht zwingend die kaum noch überblickbare Sekundärliteratur über sie, sondern vielmehr und unbedingt – mit stets wartenden Neuentdeckungen – ihre eigenen Werke.

Martin Stankowski
www.stankowski.info

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 17130

Rezension – Dorothea Nürnberg, Unter Wasser

Eine Rezension von Martin Stankowski

Dorothea Nürnberg
Unter Wasser, Roman, Wien Ibera 2015, 259 Seiten
ISBN 978-3-85052-346-2

Es war eines der Paradebeispiele für großflächige Umweltzerstörungen mit weltweiten Auswirkungen: der Bau des Staudamms Belo Monte am Rio Xingú im Amazonien Brasiliens[1]. Gegen ihn schreibt – literarisch – Dorothea Nürnberg an. Und auf ihn bezieht sich der Titel, sowie, nicht sogleich evident, auf das Phänomen starken Regens, Sintflut und Regeneration zugleich. Neben der Stadt Altamira als Dreh- und Angelpunkt des Projekts rückt noch Mexiko-Stadt, Hauptort der iberischen Eroberung, in das Geschehen: «Lateinamerika» bedeutet folglich nicht nur Aktualität, sondern überdies das Eintauchen in die niemals ganz verschwundene, nunmehr markant, ja fordernd wiederauftretende indigene Kultur, sei es der Indios im Regenwald, sei es der Azteken (die durch die den Kapiteln vorangestellten Denksprüche große Wirksamkeit erzielen). Aufgrund einiger Protagonisten kommen dann noch Wien und die Steiermark vor, primär als Projektionsfläche für die dort beheimateten Beteiligten.

Dadurch ergibt sich ein vielteiliges «Mosaik», allerdings in großen Formaten, wenngleich mit feiner Binnenzeichnung. Geführt werden die Lesenden durch die Vornamen über den 22 Kapiteln. Bei allen Personen geht es, stufenweise, sehr stark um Verantwortung: für die Fakten und die Einstellung zu ihnen, für die Selbstachtung und die zwischenmenschliche Berührung. Diese Schuldigkeit schließt viele Verwicklungen ein: zwischen den Handelnden im unmittelbaren Austausch, als Selbstzweifel oder gar Selbstentfremdung bis zum drohenden Selbstverlust, als Zusammenbruch und Neuanfang, als Besinnung auf die eigenen Wurzeln. Das Spannende, genauer: das Eindringliche liegt in den unterschiedlichen Blickwinkeln zu den gleichen oder vergleichbaren äußeren und inneren Fragestellungen, wobei diese Perspektiven differente Zugehensweisen generieren, «man» in der Antwort also ebenso annehmen wie ablehnen kann.

Die Autorin geht wie bei einem textilen Werk nicht linear vor, indem die verschiedenen Fäden zum einen sich zum Muster verdichten, zum anderen von dort aus zu weiteren Verbindungen ansetzen und mittels «Rückblenden» neue Motive gewinnen. Da ist zunächst Peter Grabner (nomen est omen), Manager eines am Damm beteiligten Unternehmens, der, den Freuden nicht abhold, sich auf einen längeren Seitensprung mit der Umweltaktivistin Chantal einlässt. Die anfangs meint, ihn dabei zu bekehren (was am Buchbeginn zu dessen bald abgebrochener Reise nach Altamira führt), dann aber in einer tiefen Sinnkrise in die wohltuenden Hände einer Heilerin gelangt (und als Chanatl das den Bogen schlagende Schlusswort erhält).

In dieses Geflecht eingelagert sind weitere Figuren: Ehefrau Anna, die, nach Kenntnis der Verfehlungen des Gatten, zu einem selbstbestimmten Leben zurückfindet; Paulo, aus São Paulo stammender Ingenieur im Staudammcamp, der – nach dem Kontakt mit Iracema, die als indigene Vorkämpferin nach wie vor mit dem Urwald in enger innerlicher Verbindung steht – grundlegend am Projekt zu zweifeln beginnt und sogar, als unmittelbare Auswirkung, die große Wassernot in der Heimatstadt miterlebt; sowie Diego, der als Fotograf die Konsequenzen zieht und die dem Untergang geweihte Welt in Bild und Ton aufnimmt.

Mit diesen Hauptträgern des Romans treten weitere Menschen in Kontakt: namentlich Jandir, Vater Iracemas und Schamane der Kayapó, und Maria Jolanta in Mexiko, die ungeachtet bescheidener Verhältnisse die heilkräftige Verbindung zwischen indianischen und christlichen Werten herzustellen vermag. Wie bei einem Teppich bleiben aus (Leser-)Distanz die Beobachtungen nicht einfach in sich «stehen», sondern Dorothea Nürnberg verflicht darin weitere Beziehungen, wodurch etwa auch Parallelentwicklungen entstehen.

Das Ende bleibt offen, weil nicht abgeschlossen. Dennoch: Der Staudamm wird weitergebaut, die Umsiedlung des im Fokus stehenden indigenen Stamms stattfinden, die weitflächige Zerstörung der Natur fortschreiten. Immerhin gelingt (im Buch) eine umfangreiche Dokumentation in Bild und Ton, die Selbstorganisation verfolgt die Indiobevölkerung weiter. Zum anderen legt die Auseinandersetzung mit Sachlage und Vergangenheit in den Personen menschliche Grundlagen offen, deren Entfaltung «absehbar» sind, weil der beschworene Geist weiterwirken wird – und der Titel somit an C.G. Jungs Wasser als Symbol für die Auseinandersetzung mit den Schatten erinnert.

Das Buch bezeichnet sich als Roman. Es ist einer, verfolgt man die Erzählung von den im Handeln und in der Spiegelung der Fakten sich entwickelnden Personen. Der sprachliche Duktus geht meist von einer situativen Beschreibung aus, gewinnt da und dort sogar poetisches Niveau, insbesondere in der «Symphonie» des Waldes (82 ff). Und ist es doch nicht, denn es handelt sich ebenso um einen Bericht: durch vielfache Informationen zur gravierenden Umweltproblematik, durch ethnologische Hinweise, namentlich zum Schamanismus, zu den indigenen Lebensumständen und der Welt der Konquistadoren. In diesen Passagen wechselt die Sprachform, in welcher inhaltliche Aspekte wie in einer Fallstudie statt in Dichte in Breite auftreten, was die Häufigkeit von Hilfsverben erlaubt oder Detailerklärungen.

Schließlich erweist sich das Coverfoto als überzeugend wegweisend: Der große Solitärbaum spiegelt sich im Wasser, wobei die Prägnanz seiner Krone hier, im Schattenbereich, deutlicher zu Tage tritt. Das ausgezeichnete Bild vermittelt darüber hinaus die zweifellos ebenso hohe Befähigung der Autorin zur (Kunst-)Fotografin …

Zum Schluss noch dies: In einem zehn Jahre älteren Roman «Tochter der Sonne» entwickelte die Autorin bereits dieselbe Problematik, hier als Schilderung von Reisen, die in der Auseinandersetzung mit dem Unbekannten neue Perspektiven auch für die abendländische Welt eröffnen.

[1] Er ging 2016 in Betrieb, mit einer geplanten Endbaustufe 2019.

Martin Stankowski
www.stankowski.info

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 17126

Elazar Benyoëtz zum 80. Geburtstag

Erzählen heißt immer auf Biegen, oft auch auf Brechen.
Man kommt sich auf diesem Weg abhanden oder gefährlich nah.

Eigentlich brauchen Dichter keine Denkmäler. Niemand schreibt, um in Stein gemetzt zu erstarren. Ein Wortmetz ist der Dichter von sich aus. In seinen Werken liegt der Widerhall bereit, wenn andere sie lesen. Trotzdem werden Straßen, Bibliotheken, Plätze und Häuser nach Dichtern benannt, die manchmal auch mit Statuen, Halbreliefs und Büsten ausgestattet sind. Das ist unumgänglich und erwidert den Nachruhm. Es werden Reden gehalten und Seminare veranstaltet, Festreden und Würdigungen geschrieben. Das ist nützlich und verstärkt den Nachhall. Bei Elazar Benyoëtz ist es ein Vorhall.
Ich bin Elazar Benyoëtz persönlich nie begegnet und seinen Büchern erst vor vier Jahren. Da kannte ich gerade zweieinhalb Bücher von ihm. Spät, sehr spät, wenn ich bedenke, dass ich schon seit rund 60 Jahren lesen kann und mich immer mit Büchern und Sprachen beschäftigt habe. Der Trost: Solange man lebt, ist es nie zu spät für das Glück neuer Begegnungen.
Einer der ersten Aphorismen von Elazar Benyoëtz, den ich las, war der am Anfang zitierte. Ich wählte ihn als Motto zu meinem Buch „Forellenschlachten“, mein Buch zum Erinnern und Erzählen über die jugoslawischen Zerfallskriege der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts. Wo haben sich da die Wege gekreuzt? Ein israelischer, deutsch schreibender Aphorismen-Dichter und eine österreichische Ex-Journalistin? Die Kreuzung liegt in einer Person, Riccarda Tourou, die lange Jahre als Lektorin mit Benyoëtz gearbeitet hat und dann durch Glück? Zufall? Gottesweisung? meine Lektorin wurde. Wem soll ich heute danken, wenn man an keine der drei Ursachen glaubt?
Ich danke einfach.

Das Vergebliche reicht am Weitesten

Mit dem Glück komme ich noch am besten zurecht. Nicht im Sinne von luck, sondern fortune, dem Geschenk, der Bereicherung. Wo das „Masl“ dazwischen gehört, weiß ich nicht.

In Zweifel gezogen, dehnt sich der Glaube aus
Aber seither geht mir die Frage nicht mehr aus dem Kopf, wie mein Leben ausgesehen hätte, wäre ich früher auf Elazar Benyoëtz gestoßen? Wäre ich ein anderer Mensch geworden?

Den Menschen verändern:
ihn glauben machen,
es könnte ihn noch geben

Wäre ich ein besserer, glücklicherer, fröhlicherer, ernsthafterer, liebenderer und verzeihenderer Mensch geworden? Hätte er auf meine Entscheidungen Einfluss genommen?
Kein Wissen, nur Vermutung.
Es ist tröstlich, wenn eine maßgebliche Stimme auf alle meine Fragen eine Antwort hat:Es ist eine humanisierende Kraft, die uns da vermittelt wird: Die Fähigkeit, zuzuhören. Der eigentliche Leser seiner Bücher liest und schreibt anders als zuvor, er blickt auch umsichtiger auf seine eigenen Illusionen, auf seinen Gott, auf seine Fähigkeit zur Wahrheit …“, stellt der Braunschweiger Professor für Neuere deutsche Literatur, Jürgen Stenzel, fest.
In dieser Aufzählung ist beieinander, was das Lesen von Elazar Benyoëtz bewirken kann. Und noch viel mehr, das Höchste, was einem Menschen zu Lebzeiten zuteilwerden kann: Es leuchtet das Licht der Erlösung, nicht ihrer Vollendung, sondern das Versprechen auf eine mögliche Befreiung. Nicht Lösungen, nichts Praktisches für den Alltag, sondern ein Eingeständnis, dass es die Auflösung der Rätsel nicht gibt. Sicher nicht aller meiner Rätsel. Ob Elazar Benyoëtz sie hat, kann ich nicht sagen, denn dazu habe ich seine Werke noch immer zu wenig gelesen und verstanden. Er eröffnet Aussichten, er erfrischt, tröstet und lässt hoffen. Die Erfrischung ist der Sturm im Kopf, den seine Aphorismen auslösen – ein Sturmwind. Da nimmt jemand die deutsche Sprache unter die Lupe, zerbröselt sie in die allerfeinsten Teilchen, spießt sie auf wie ein Schmetterlingssammler und nimmt sie beim Wort.

Humor –
Leichtsinn
der Schwermut

Bei mir kommen Kindheitsbilder auf: Wie die Mutter endlos den Strudelteig geknetet, gewalkt und in die Luft geworfen hat und ihn auf seine Belastbarkeit geprüft hat. Oder: Wie lange können wir noch in einen Luftballon blasen, bis er platzt, oder in den Milchschaum, knapp bevor er übergeht?
Wie weit kann man die Sprache treiben? Dieses Prickeln knapp vor dem Überdehnen, das ist seine Methode und macht seinen Humor aus. Wer diesen Humor und diesen Witz im Sinne von Weisheit einmal entdeckt hat, wird ihn überall finden wollen und danach süchtig werden. Es stellt sich tatsächlich ein Gefühl der Vertrautheit ein, eine Zuneigung geradezu, die allmählich vor und neben die Bewunderung tritt. 

Sich entschließen – sich öffnen
Wer zum ersten Mal eine Aphorismen-Sammlung von Elazar Benyoëtz aufschlägt, dem wird sofort eine Besonderheit auffallen: die Beschränkung auf einzelne, isolierte und – in grammatischer Hinsicht – einfache Sätze, häufig mit semantischer Pointierung und in witzigen, weisen, überraschenden Kombinationen. Seit Jahren enden seine „Einsätze“, wie er seine Aphorismen zu nennen pflegt, ohne Satzzeichen.

Was willst du zwischen den Zeilen finden,
ich stehe doch hinter meinem Wort,
kann man dir endlich folgen

Meine Sprache macht mit mir, was ich will
Der Klang ist des Wortes Körper, der Sinn sein Schatten

Lässt du dich gehen

Kritik der Sprache ist ein Bei-Spiel des Gedichts

 2 Meine deutsche Dichtung platzt aus allen Nöten.

Das Besondere, Einmalige an diesem Dichterleben: ein mit zwei Jahren aus dem Land und der Sprache Verstoßener, der ohne die eigentlich vorgesehene deutsche Muttersprache aufwuchs und dem Hebräisch zur Muttersprache wurde. Ein israelischer, zuerst hebräisch schreibender Dichter, der als 25-Jähriger „zurück in die deutsche Sprache einwanderte“, wie er selbst es nannte.

In seinem Buch Die Eselin Bileams und Kohelets Hund bringt er diese Ambivalenz immer wieder „zur Sprache“.
Andere Dichter wie Thomas Mann oder Bert Brecht brachten ihre Muttersprache ins Exil mit und hielten an ihr fest. Elias Canetti eignete sich die deutsche Sprache erst in Wien an (Die gerettete Zunge), nahm sie ins englische Exil mit und blieb in ihr.
Elazar Benyoëtz hat die deutsche Sprache in dem Land, das ihm nicht Exil war, sondern Heimat wurde, neu erlernt und sich nie wieder von ihr getrennt. Er schreibt in seiner – auch literarischen – Zweitsprache und gehört damit nicht einmal zur Exilliteratur. Seine literarische Sozialisierung fand im Iwrith statt.
Nachdem er seit 1956 fünf Gedichte und zwei Prosabände in Hebräisch herausgebracht hatte, legte er 1959 das Rabbiner-Examen ab. Er übte das Amt nie aus. Dieser Abschluss gab ihm, wie er sagte, in seinem Lebenslauf „Halt, nicht Richtung“.
1962 ging er nach Wien, niemand hatte ihn gerufen, niemand ihn eingeladen. Mit seinem bis dahin rudimentären Deutsch war er zu einem Gespräch kaum fähig. Aber hörte er etwas Besonderes in der Sprache der Österreicher? Tonfälle? Klänge? Man kann es nur vermuten. Soll es etwas mit der seltsamen Musikalität zu tun haben, die in Wien zusammenfließt, mit dem Vielvölkerstaat? Dass Haydn, Mozart, Salieri, Beethoven und Schubert hier waren und nicht in der Schweiz oder Berlin?

Juden lehnen gern an Wortstämmen und sind um die Wortwurzeln bekümmert
Wie tief diese Wurzeln reichen, erfuhr er an sich selbst, als es ihn mit unwiderstehlicher Kraft in die deutsche Sprache zog. Woher diese Kraft und dieser Sog kamen – niemand kann es genau sagen. Elazar Benyoëtz hat viele Worte und Bilder dazu, aber nichts Eindeutiges, eher Umschreibungen.

„Ich kann nicht vergessen, woran ich mich nicht erinnern kann.“ (Michael Turek)
Ich wage es und stelle vermessen eine einfache Rechnung auf.
Als Paul Koppel wurde Elazar Benyoëtz am 24. März 1937 in Wiener Neustadt geboren.
Er hörte eine Schwangerschaft lang die Muttersprache, hörte und sprach acht Jahre Deutsch, bis sein Vater starb und die Mutter ihn und seine Schwester Ruth auf Iwrith umpolte. Es ist damit nicht mehr so rätselhaft, dass ihm die deutsche Sprache zuflog, jenseits von allem Geistigen, Religiösen, Politischen und Gesellschaftlichen.
Der zweite Teil meiner These ist noch gewagter und weit entfernt von jeder Wissenschaft, es sei denn, es gibt eine Wissenschaft vom Herzen.
Elazar Benyoëtz hat neun Jahre Deutsch als Sprache der Liebe erlebt, die Liebe der Eltern und seine Liebe zu den Eltern und zur Schwester, alles fand sieben Jahre auf Deutsch statt. Als er viele Jahre später unter deutsch sprechende Menschen kam, tauchte er in die Sprache der Liebe ein wie in ein warmes Bad. Denn viel mehr als das Land oder eine Stadt ist die Sprache die Heimat, nach der man sich immer sehnen wird, wie verschüttet sie im Magma des Erinnerns auch liegen mag. Hitler konnte ihm den größten Schatz, die Sprache der Liebe, nur vorläufig rauben, Elazar Benyoëtz hat sie wiedergewonnen und sich und dem Tätervolk zum Geschenk gemacht.
„Ich kann nicht vergessen, woran ich mich nicht erinnern kann.“ Diesen Satz las ich Anfang Dezember in einem Zeitungsbericht über den Besuch von Emigranten der zweiten Generation in Wien. Ein gewisser Michael Turek wird mit diesen Worten zitiert. Er ist Sohn einer Wiener Jüdin, die 1939 mit dem letzten Kindertransport nach New York kam. Er ist 1949 in den USA geboren und kam jetzt zum ersten Mal nach Österreich. Diesen Satz hat Michael Turek in bestem österreichischen Deutsch zu Bundeskanzler Kern gesagt, als dieser die Gäste des Jewish Welcome Service empfing.

Nach Berlin wurde Elazar Benyoëtz 1963 eingeladen und bis 1969 aufgenommen. Um nicht zu vergessen, woran man sich nicht erinnern wollte, begann er, seine, ihn immer begleitende Vision zu verwirklichen, die deutschen jüdischen Schriftsteller nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Er nahm zahlreiche Kontakte mit noch lebenden deutschen Schriftstellern auf und erforschte Nachlässe deutscher jüdischer Schriftsteller. Daraus entstand das von Renate Heuer an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt geführte Archiv Bibliographia Judaica, um den jüdischen Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte von 1750 bis zur Gegenwart zu erfassen, das 21 Bände umfasst. Mit seinen zahlreichen Zitaten verschiedenster Schriftsteller in seinen Büchern bleibt er der Erfüllung dieser Vision weiterhin treu.

Zwischen meinen Sprachen bin ich selbst die Scheidewand
1969 veröffentlichte er seinen ersten, teilweise noch aus hebräischen Tagebuchnotizen ins Deutsche übersetzten, Aphorismen-Band Sahaduta. Seither schreibt und publiziert er fast ausschließlich in Deutsch hochgradig sprachreflexive Minimalprosa und -lyrik und seit 1990 Collagen aus Aphorismen, Gedichten, Briefen und kontextbildenden Zitaten nach der Benyoëtz-Methode: rhythmisch, musikalisch, grafisch, zitierend und wortschöpferisch.

Meine Not bleibt größer als
die Tugend, die ich aus ihr mache;
sie schlägt zu Buche

Jeder kann sich der deutschen Sprache bedienen,
Juden können sich ihrer erbarmen

Die deutsche Sprache, die Benyoëtz nicht „benützt“, sondern sich ihrer „erbarmt“, ist die Sprache von Moses Mendelssohn, Franz Kafka, Karl Kraus, Nelly Sachs, Rose Ausländer und Else Lasker-Schüler.

Ein Jude, der heute deutsch schreibt, schreibt nicht mehr (auch) für Juden.

An die Deutschen: Sammelt unsere Tränen, nicht unsere Witze

Meine große Liebe war die hebräische Sprache, meine Geliebte ist die deutsche geworden; die Liebe erwies sich als teilbar. […] Die deutsche Sprache passte sich mir an, doch ich habe nicht das Gefühl, ich habe sie judaisiert. […] Mir ist, als würde die eine Hälfte meiner Person für die andere Hälfte schreiben, ein Leben lang, das halbe Leben, das halbe der einen Hälfte eines Halben, halbhälft, hälfthalb.

Egon Schwarz, aus Wien emigrierter US-amerikanischer Literaturwissenschaftler, schreibt über Elazar Benyoëtz und sein Verhältnis zur deutschen Sprache:

„… Mit unheimlicher Verschlagenheit entreißt er der deutschen Sprache ihre Geheimnisse – er, der hebräische Dichter. Der Leser sieht seine müde Alltagssprache in das Bad dieser Aphoristik steigen und gereinigt, erfrischt daraus hervortauchen. Und er sieht eine alte Trauer in neuer Beleuchtung. Dank Elazar Benyoëtz könnte die deutsch-jüdische Literatur, Mark Twain paraphrasierend, sagen: Die Nachricht von meinem Ableben ist übertrieben.“

Die Sprache wird gegen den Strich gebürstet, um sie wieder fremd zu machen, wieder aufzumachen, um so einen neuen Blick auf sie zu gewinnen. Elazar Benyoëtz schaut auf die Wörter, blickt ihnen in die Seele, steigt zu ihnen bis zum Grund hinab, belauscht sie, dreht sie um wie einen Handschuh, stellt sie ins grelle Licht von tausend Sonnen, lässt sie durch Fegefeuer und Hölle gehen, schließlich holt er sie herauf und erlöst sie. Er schaut die Wörter in jeder Richtung an, sie schauen zurück. Die Wörter sind stumm, aber paradoxerweise antworten sie ihm.

Credo: Alle Siege werden davongetragen

Du bist im Recht; nun sieh zu, wie du
da wieder rauskommst

Vertrauen nicht schenken: wie Verdacht-schöpfen

Es kommt nicht
wie gedacht,
es kommt wie gerufen

Wortspiele verscheuchen die Todesangst vor der Sprache

Der Dichter und Theologe Albrecht Goes sagt über Elazar Benyoëtz: Ich bin, wenn ich seine Sätze lese, ganz still vor Bewunderung über diese Gabe, in zehn oder weniger als zehn Worten etwas ganz Gültiges und Grundgescheites oder Grundgutes (oder alle drei!) zu sagen – es ist darin wirklich eine ganz einzigartige Begabung.“

„Benyoëtz nimmt das Wort beim Wort und bringt es zur Besinnung. Seine Sprachschöpfungen sind wie ein Echolot, das er in den altneuen Sinn der Worte hinunterlässt. So nah kann man einer Sprache vielleicht nur in der Ferne sein …“, vermutet Verena Lenzen, Professorin für Judaistik und Theologie/Christlich-Jüdisches Gespräch an der Universität in Luzern.
Die heitere und gleichzeitig strenge, aber nie dogmatische Weisheit macht Elazar Benyoëtz so besonders anziehend, eine Weisheit, die aus dem Judentum kommt, die, so wie er selbst sagt, „gebibelt“ ist.

Mein Weg ins Deutsche –
war er gewagt?
war er verhängt?

Warum musste aus einem hebräischen Lyriker
ein deutscher Aphoristiker werden.
Solang ich noch schreiben kann,
bleibe ich mir die Antwort darauf schuldig
Die großen Fragen
sind nur ohne Antwort groß

Ich lausche
dem Wort
sein Meer ab
ehe es vermuschelt

Frühes und starkes Vorbild für Elazar Benyoëtz ist die Bibel, und zwar in der Gestalt der deutschen Luther-Bibel. Das Buch Kohelet, das in der Luther-Tradition Prediger Salomo heißt, ist das seltsamste Buch des Alten Testaments, ein Reflexionsbuch aus kurzen Urteilssätzen.

Ein Erzjude
dicht am Herzklopfen Luthers,
in der deutschen Sprache,
wie in einer Kirche

Ich habe
meinen Büchern
beigebracht,
klüger zu sein
als ihr Verfasser

Die Spiellust führt oft zu Wortneubildungen in Anlehnung an bestehende Komposita, wofür sich die deutsche Sprache besonders eignet: Identitäuschung, Filigranit, toleranzig, glaubheftig, Scheinhellig, verkleinmünzen, lebensbänglich.
Robert Menasse entwickelt in seiner Laudatio zur Verleihung des Ehrenkreuzes der Republik Österreich an Elazar Benyoëtz ein wunderbares Bild: „… dass Gottvater zur Rechten von Elazar sitzt und ihm, zu unserer Erinnerung, Sätze diktiert wie: „Am Anfang war nicht der Anfang, sondern das Wort.“ Ich selbst habe mich gefragt: Was kommt vor diesem Bild? Der Eingang in das Reich Gottes, der ist das Wort.

Ich lege“, sagt Gott, „meinen schönsten Stern in deine Hand, zerdrücke ihn nicht.“

Zwölf Gründe, Elazar Benyoëtz zu lesen
(Friedemann Spicker)

Weil    er den Aphorismus als Bruch schreibt:
            Es zählt das Wort, aber das Schweigen
            ist der Nenner.
Weil    er dich durch Kürze erlangt; aber
            nicht durch Pointe besticht.
Weil    er Bilder trifft, wo er Gedanken verfolgt.
Weil    man die Welt im Auge behält, wenn man
            den Blick auf seine Inschriften senkt.
Weil    er das Paradoxon zur Logik erhebt
            und erst dadurch im Grunde bleibt.
Weil    er Mittel gegen den Gegenwarts-Schmerz weiß:
            Kleinartigkeit und Schweigenähe.
Weil    bei ihm Sinn anklingt, wenn er sich
            auf Klang besinnt.
Weil    er sich zu Feststellungen erweichen lässt.
Weil    er taghell wortträumt
Weil    er in Beirrungen führt.
Weil    er mit Aphorismen erneut, bildet.
Weil    er im Anspruch auf Weisheit anspricht.“

Ich erinnere mich, viel vergessen zu haben. Es steht in den Sternen, ist hier nicht nachzuschlagen. Das Beständige fällt mit dem Leben zusammen.

Wie in meinem Buch setze ich diesen Aphorismus von Elazar Benyoëtz auch hier als Schlussmotto.  Und ich halte mit ihm fest:

Die Freunde der Dichter machen die Lesbarkeit ihrer Werke aus.

Engel oder Angeln
quietschen in den verrosteten Toren,
niemand wird dir sagen,
wovon sie singen wollten,
wären sie Sängerinnen
gewesen,
nicht verblühte Sterne

Ich wünsche diesem Dichter viele Leser und den Lesern, in ihrem Leben das Glück gehabt zu haben, Elazar Benyoëtz begegnet zu sein.

Veröffentlicht in:
Der literarische Zaunkönig – die Zeitschrift der Erika Mitterer Gesellschaft,
Ausgabe 1/2017

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 17125


Redaktionelle Anmerkung und Ergänzung im November 2019:

Der mit diesem Text von Veronika Seyr Gefeierte hat sich auf unnachahmliche Art bei der Autorin bedankt. Sie können diese besondere Widmung nachlesen.

Wir bedanken uns herzlich beim Literarischen Zaunkönig und der Erika Mitterer Gesellschaft für die Erlaubnis zur Veröffentlichung, über die wir uns sehr freuen.


Rezension – Veronika Seyr Forellenschlachten

Eine Rezension von Martin Stankowski
Ersterscheinung: Literarisches Österreich 2016/2

Veronika Seyr
FORELLENSCHLACHTEN. 33 Briefe aus dem vergessenen Krieg
Wien, Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2014, 416 Seiten
ISBN 978-3-901602-54-2

Die Briefe erfassen chronologisch den erbarmungslosen Bürgerkrieg im zerfallenden Jugoslawien von 1991 bis 1997 auf den über den Balkan verteilten Schauplätzen. Inhaltlich bedeuten sie nur teilweise ein Nacheinander, da Frau Seyr trotz konsequenten Verfolgens der Kontinuität des Geschehens fast in jedem dieser an eine Wiener Freundin gerichteten Schreiben thematische Schwerpunkte setzt. Auf diese Weise gelingt ihr bei klarer Orientierung zugleich die Kunst der lebendig-lebensnah geordneten Fülle.

Manchmal hat man nach spätestens drei Briefen genug. Genug von der Unmenge an detailliert aber nicht minutiös geschilderten Brutalitäten, dem Schrecken des blutigen (Massen-)Mordens und der zügellosen ethnischen Säuberungen, der überbordenden Hybris der Mächtigen, des anhaltend schonungslosen Raubs durch Kriegsgewinnler, der hundertfach grimmigen zivilen Wunden in Alltag und Gesinnung. Aber Frau Seyr versteht es, ohne Brüche im Berichten doch immer wieder zu gleichsam weniger aufrüttelnden „Erholungszonen“ durchzustoßen. Und man bleibt gefesselt, will wissen, wie es weitergeht (vielleicht vom größten Lob für eine schriftstellerische Arbeit) im Drama von shakespearischer Dichte und Gewalt, lässt sich bereitwillig durch das zunehmende äußere Chaos steuern, wird anerkennend ihrer bei aller Berichterstattung eindeutigen Stellungnahmen gewahr. Dieses sichere Führen gelingt Frau Seyr durch die niemals aufgegebene, naturgemäß den Blickwinkel bestimmende Perspektive des ORF-Büros in Belgrad wie des persönlichen familiären Lebens mit oft schwierigen Korrelationen: eine duplizierte Filterung, die zwar keine umfassende, schon gar nicht eine historische Bewertung entwickelt, indes anhaltende Authentizität und Tiefenwirkung sicherstellt.

Ja, es gibt absolut Schreckliches, ob als faktische Angaben, ob als beschriebene Taten. Noch darüber hinaus bedrückt das Konglomerat der vielgestaltigen gezielten Streiche in der Kriegs-Kontamination, in ihren Auswirkungen hautnah in den diversen Einschüben der Alltagssplitter zu fassen. Zu ihnen treten, nur partiell mildernd, die parallelen Unwägbarkeiten, verursacht durch die im Großen wie im Kleinen Handelnden. Denn es bleibt der Mensch bei Frau Seyr, in einem von Gerechtigkeit getragenen und dadurch in einem sich selbst im äußerst Schwierigen um Verständnis bemühenden Blick, der alle Richtungsbahnen „vereinnahmende“ Bezugspunkt. Diese nie aufgegebene Grundierung spürt man desgleichen in den zahlreichen Hinweisen auf die uns Lesern allzu oft un- oder gar falsch bekannte Geschichte – die eben nicht eine (auf dem Balkan) postulierte Gesetzlichkeit enthält, sondern oft als gewolltes Geschichtsbild geschmiedet ist –, in den Ausflügen in das kulturelle Erbe und in die nur scheinbar für sich selbst stehende Landschaft. Diese Grundierung gilt zugleich für die analytischen, sich mit den kriegerischen Strukturen befassenden Partien des Buchs, namentlich in den dargelegten Methoden, Hass zu säen, beispielhaft-überzeugend in der Untersuchung, und damit zwingend hierhergehörend, der Sprache (etwa 119-121, 171, 272, 348-349) – über das Ortsgebundene hinaus ein Lehrbuch für zahlreiche vorangegangene und folgende Katastrophen. Anders gesagt: Dass dieses „Gemachte“ auf keiner Seite verlorengeht, gerade darin liegt einer der besonderen Vorzüge dieses Werks.
Beendet wird das Buch mit einer Reihe weiterführender Anmerkungen und einer zur Vertiefung geeigneten Literatur, welche beide den hohen allgemeinen Bildungsgrad der Autorin belegen.

Durch ihre Existenz als Reporterin und als Briefschreiberin schafft Frau Seyr eine Art von doppelter Distanz. Inhaltlich und literarisch erlaubt diese Methode, Schilderungen und Darstellungen, niemals unangemessen breit ausgelotet, in der Schwebe einer steten Spannung des sich Fortbewegens wie des Festhaltens zu belassen. Es ist eben nicht das Erlebte allein, sondern immer auch der ausleuchtende visuelle Eindruck (wohinter wohl das Handwerk der Fernsehjournalistin steckt), was über die Sichtung im Persönlichen die geradezu greifbaren Bilder entstehen lässt.

Eine in diesem Sinn hohe Erzählkunst erweist sich insbesondere und nachhaltig in den beeindruckenden Charakterisierungen der Personen: Seien es die sich groß dünkenden Protagonisten (deren Namen uns, leider, noch vielfach geläufig sind), seien es die einfachen „Leute“ vom Bauernehepaar über den Möchtegern-Heros und die gegen den Medien-Terror ankämpfenden „kleinen“ Radiomacher (im inmitten des Lands gleichsam exilierten Widerstand den Verlagsintentionen nahekommend) bis zu der im embargobedingten Chaos des Niedergangs die Fahne des Normalen aufrecht haltenden Alltagsheldin. Ebensolches gilt für die Landschaftsporträts, etwa als gefühlte Momentaufnahme des dämmrigen Kriegsherbst-Auwalds an der Save oder als farbiges Tableau des Skutarisees. Wobei, im interpretativ nachholenden Notieren, die strukturierte Beschreibung auf der Basis der Eindrücke und Stimmungen zum eigentlichen Ausdrucksträger wird. In den meisterlich charakterisierenden Beschreibungen lassen sich diese Passagen – auch – aus den Geschehnissen lösen und gesellen sich zum Besten der kommentierenden Reiseliteratur.

Die Aufmachung des Buchs mag bereits der inhaltlichen harten Kost entsprechen, im Format, im faktischen Gewicht, im blassweißen Cover, vorne massiv halbiert durch ein „totes“ Graffito, rückseitig überzogen von sich massierenden Schriftzügen (die nur einem minimalisierten Foto der Autorin Platz gönnen). Mit Blick auf die inhaltliche Konsistenz und auf die hohen sprachlichen, ja literarischen Qualitäten hätte das Erscheinungsbild ruhig (in meiner Schweiz ohne pejorativen Beigeschmack) „anmachender“ sein können. Denn der Rezensent wünscht dem Buch unbedingt eine Vielzahl das Werk weiterempfehlender Leserinnen und Leser.

Martin Stankowski
www.stankowski.info

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 17092

Von Mäusen und Menschen – und Geschwistern

Vor Kurzem fiel mir auf einem Bücherflohmarkt eine alte Ausgabe des Klassikers Of mice and men von John Steinbeck in die Hände. Vorsichtig blätterte ich in den vergilbten Seiten, die einst eine ungeliebte Englischhausaufgabe dargestellt hatten.

Als Sechzehnjährige lehnte ich solche Pflichtaufgaben natürlich schon im Vorhinein ab, so wie alles andere, das von Nichtgleichaltrigen an mich herangetragen wurde.
Aufgrund dieser inneren Sperre fand ich nur schleppend den Zugang zu dieser Novelle, die mein Lebensverständnis für immer auf den Kopf stellen sollte.
Zögernd begann ich zu lesen …

Die einsame, bildgewaltige Landschaft des amerikanischen Southwestern im Hochsommer erschien nach den ersten Zeilen vor meinem geistigen Auge. Träge und schläfrig kämpfte ich mich durch die Seiten, so wie die Protagonisten durch das staubige, heiße Kalifornien der 30er Jahre.
Plötzlich wurde ich jedoch von einem unsichtbaren Sog in das Buch hineingezogen, und die Erkenntnis einer emotionalen und geistigen Parallele zu meiner Realität traf mich unvorbereitet und mit der vollen Brandbreite von Gefühlen: Verwirrung, Verzweiflung, Hilflosigkeit, Verständnis und Sehnsucht.

Ich hatte noch nie so mit einem Charakter mitgelebt, mitgeliebt und mitgelitten wie damals, als ich als europäischer Teenager Einblicke in das raue Leben eines amerikanischen, vom Leben gezeichneten Wanderarbeiters in den 1930ern bekommen hatte.
Ich fühlte mich verstanden. Endlich.
Beschämt und gleichzeitig erleichtert nahm ich wahr, dass auch andere mit der Verantwortung, die ihnen das Leben aufgetragen hatte, nicht zurechtkamen, ja, sich sogar dagegen wehrten, und trotzdem alles taten, um dieser Verantwortung letzten Endes gerecht zu werden.

Die Novelle fußt auf dem Thema des great american dream und der Hilflosigkeit der Charaktere, ihn aufgrund äußerer Umstände zu erfüllen. Sie erzählt von der großen Depression der 30er Jahre, von Rassismus und Standeszugehörigkeit, von der Einsamkeit der Landschaft und der Seele, und vom Unverständnis der anderen Menschen.
Für mich allerdings symbolisiert sie vor allem die Beziehung zwischen meinem Bruder und mir: gezeichnet von Hilflosigkeit, Überforderung und von Ablehnung – und doch hauptsächlich getragen von bedingungsloser Zuneigung.

Er war wie einer der Protagonisten – Lenny: groß, unendlich stark und geistig zurückgeblieben. Ich, nur ein Jahr jünger, war wie George, der für Lenny die Verantwortung übernommen hatte, weil er sich dazu verpflichtet gefühlt hatte.  So wie er fühlte ich den Drang, mich für meinen Bruder zu rechtfertigen, ihn zu verteidigen, ihn zu beschützen und vor allem Bösen zu verstecken.

God a’mighty, if I was alone I could live so easy – Gott allmächtiger, wenn ich allein wäre, wäre das Leben so viel leichter …
George traute sich, das zu sagen, was ich nie auszusprechen gewagt habe. Was ich so viele Male meiner Familie ins Gesicht schmettern wollte und nie, niemals getan habe oder tun werde.
Diesen einen Satz immer wieder und wieder zu lesen, ließ mich begreifen, dass auch ich das Recht hatte, wütend und frustriert über meine selbstauferlegte Verantwortung  zu sein. Es war, als ob eine jahrelange Last endlich von mir fiel, und mit ihr flossen die Tränen der Erleichterung in Sturzbächen hinunter.

Auch fand ich die Antwort, warum ich mir stets auf die Zunge gebissen, mich immer zurückgehalten habe, wenn die Frustration über meine eigene Hilflosigkeit überzukochen drohte, und ich alles und jeden um mich herum in ein schwarzes, tiefes Loch ziehen wollte:
Try to understand each other, if you understand each other you will be kind to each other Versucht euch zu verstehen, denn sobald ihr euch gegenseitig versteht, werdet ihr liebevoll miteinander umgehen.

Ich las das dünne Drama an einem Abend durch, und es ließ mich völlig aufgerieben zurück.
Steinbeck war vor gut achtzig Jahren ein Werk gelungen, das meine Welt als Teenager völlig aus den Angeln gehoben hat und bis heute eines meiner liebsten Bücher ist.

Nene Stark

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 17087

Sieben Meere

Gedanken über Karl Lubomirskis Gedichtband: Sieben Meere, edition pen, Bd. 22, 155 S., Löcker, Wien 2015

Wer immer ein Buch von Karl Lubomirski aufschlägt, begegnet zuerst einer Zweierbeziehung, eine zwischen dem Dichter und der Welt, ihren Menschen, Dingen, Orten und Zuständen.

Der Person Lubomirski hätte man in Hall/Tirol, wo er 1939 geboren wurde, begegnen können, später in Innsbruck, wo er aufwuchs und studierte, seitdem lebend und als Manager arbeitend in Mailand und Rom, von wo er immer wieder auf Reisen geht. Im Land selbst, nach Griechenland, in den Nahen Osten, nach Russland, Zentralasien und Indien. Immer wieder Europa, wobei Polen einen Mittelpunkt bildet. Ich habe nie nach dem Grund gefragt, aber er könnte aus der Familiengeschichte herrühren, war doch die Fürstenfamile Lubomirski eng mit der europäischen Geschichte verflochten, von der Rettung Wiens unter Sobieski bis Mailand. Hauptsächlich von dort aus war er unterwegs auf Reisen. Er dringt mit seiner wachen Dichterseele in die Kulturen ein und verarbeitet seine Eindrücke in wissende und warmherzige Reiseessays. Keine Wegbeschreibungen von da nach dort. Er nimmt sich die Länder, ihre Menschen und Kulturen „zur Brust“, beklopft, befragt sie und schreibt auf, was er ihnen abgelauscht hat.

Als ich vor zwölf Jahren die Gelegenheit hatte, ihn bei einem Russlandbesuch durch die Klosterstadt Sergiev Posad zu begleiten, fielen ihm die Zeitgleichheit und die Parallelen in den Lebensgeschichten des russischen Sergius, des italienischen Franz von Assisi und des französischen Bernhard auf. Welche Konstellation! Was hatte das für die Welt zu bedeuten?
Darüber müsste er nachdenken. Er zog ein kleines Buch aus seiner Manteltasche und machte Notizen. Dabei stand er im steifen Märzschneewind auf dem Hof zwischen der Sergius-Kathedrale und dem Grab des Boris Godunow. Viele Reisen hätte ich gerne mit ihm gemacht.

Aber doch kehrt er in den sechs Jahrzehnten des Schreibens und Reisens immer wieder zur Lyrik zurück, 14 Bände bisher, einige davon zweisprachig: deutsch-polnisch, deutsch-italienisch, deutsch-französisch, deutsch-bulgarisch. Ein weltliches Oratorium und Prosabände.

„Sieben Meere“ ist sein jüngster Lyrikband.

Er schaut, beobachtet und lauscht. Er betrachtet die Dinge, und sie schauen auf ihn zurück. Er spricht die Dinge an, und sie sprechen zurück. Er horcht in sie hinein. Daher verraten sie ihm etwas, haben Botschaften, weil da jemand ist, der ihnen zuhört. Sehr genau, mit feinstem Ohr, tiefster Spurensuche dreht er sie um sie und sich herum, entlässt sie, fängt sie wieder ein, lässt sie ins Gegenteil kippen und macht sie so zu Instrumenten, um aus Dingen Leben zu machen. Er klopft die Worte ab, er klopft an die Worte wie an Geheimtüren und dringt in sie vor wie ein in sein Metier verliebter Höhlenforscher. Ein Leben wie ein Kaleidoskop auf einem Karussell, nach dem Regen unter dem Regenbogen im Sonnenuntergang, aus den Gruften in die Morgensonne. Alle Worte sind frisch und tragen doch Moosbärte. Die Sinnesorgane noch völlig verklebt vom eigenen Untergang, jubilieren wir wie die Schwalben über dem Dom von Krakau, den Gräbern der Via Appia und den sardinischen Eichenwäldern. Der Reichtum der Erde und ihrer Freuden kennt keine Grenzen. Hallo Leute, wacht auf, läutet er aus eingewanderten Kirchtürmen in Sardinien, oder er spendet Trost mit dem Haiku:

HERBST / dich liebe ich / Frühling des Winters.

Jahreszeiten atmen, Bäume reichen dir die Hände, Steine sind nicht tot, sie verflüssigen sich unter den lebendigen Flechten, Türme sind eingefallen wie Wanderfalken und fliegen wieder weg, im Feuer zwei Körper, sie verbrennen nicht.

Lubomirski kreist in großen und kleinen, einfachen und verschlungenen Liebesumarmungen um die Welt, die mich, alle und alles einschließt. Ich fühle mich genannt und einbezogen in den Kosmos seiner Wortgalaxien. Dabei ein leiser, vollkommen unpathetischer Dichter.
Es trifft auf alles zu, was Lubomirski zum Erscheinen seines Sammelbandes „Propyläen der Nacht – Gedichte 1960 – 2000“ schrieb: „Das vorliegende Buch ist nicht zum Auslesen geschrieben. Es besitzt weder Einheit noch Wissenswertes. Es ist unnütz im weitesten Sinn. So wie Tropfsteinhöhlen und Perlenketten unnütz sind. (…) Vielleicht ist es nur ein Gespräch von Gedichten untereinander, und ich war der Zuhörer.“

Die Dinge sprechen, weil ihr Betrachter sie liebt, bedingungslos, sie so sein lässt wie sie sind, weil es für Liebe ja nie Bedingungen geben kann. Indem er sie in Liebe betrachtet und ihnen das Innerste ablauscht, kommen sie als Worte auf die Welt, werden sie zu Welt und Wirklichkeit. Jedes Gedicht eine Geburt. Wirklicheres kann einem Leser kaum zustoßen.

Ich habe Lubomirskis Werk vor 15 Jahren kennengelernt, und im Laufe der Zeit wuchs ein betörender Gedanke in mir, dass sein Schreiben, sicher immer zuerst ein Selbstversuch der Selbst- und Welterfassung, im Resultat aber eine Form des Liebens ist. Wenn Liebe auf Worte trifft, ist das Poesie. Liebende haben immer eine besondere Hörfähigkeit.

Er schreibt in der Gewissheit, dass die Zugänglichkeit der Dinge die Zulänglichkeit der Worte sichert. Aufschreiben heißt immer Mitteilen, Lesbarmachen, Bedeutung Geben. Bei Lubomirski noch intensiver: Beseelen, die anima Einhauchen.
Ich erinnere mich dabei an zwei spätmittelalterliche Darstellungen von Marias Empfängnis: die eine, in der eine Taube an ihr Ohr heranfliegt und sie auf diese Weise mit dem zukünftigen Erlöser befruchtet; in einer anderen, späteren, die ich besonders liebe, flattert die Taube vor Marias Mund, nicht ohne dass der Maler gestrichelte Linien zwischen dem knienden Engel, der Taube und Marias Mund zieht – ein überdeutliches Comic, fast eine Sprechblase, aha, da kommt alles her! Empfangen durch Ohr oder Mund? Dazwischen liegt, meine ich Lubomirski zu verstehen, der feine Bruch zwischen Alt- und Neuzeit. Das Ohr, das immer offene, empfangsbereite, aber passive Organ, der Mund, der aktive, der sich schließen oder öffnen läßt. Das Ohr hört, der Mund kann etwas sagen.
Und dann ein Gedicht.

Dazu kommt jetzt die Dreierbeziehung. Was machen diese Gedichte mit mir, mit ihren in Zeichen, in Buchstaben gedruckten Worten? Die in ihren vom Dichter genau gesetzten Formen weitere Bedeutungsebenen erschließen, je nachdem, wie man sie liest, vor allem, wenn man sie immer und immer wieder liest. Sie vervielfachen sich, aber nicht in Wiederholungen, auch nicht in Serien oder in Variationen wie in einer Fuge, sondern am ehesten wie vielstufige Kaskaden eines Wasserfalles, über dem Regenbögen aufsteigen und in vielfältige Farben zerspringen.
Ich kann nichts interpretieren, sondern nur feststellen, dass die Bilder, die sich auftun, etwas anstellen, etwas bewirken, etwas tief in einem ergreifen und zum Klingen bringen. Lubomirskis Gedichte haben einen Hallraum, der den eigenen, vielleicht verschütteten, aufschließt wie einen vergessenen Goldaderstollen, eine Diamantenmine. Diese Gedichte tun einem gut, wie eine über den Kopf streichelnde Hand oder eine zärtlich ins Ohr geflüsterte Tröstung. Liebevolle Erschütterungen.

Man kann sagen: Wir kennen uns nicht persönlich, aber auf der Via Appia oder in Sardinien war ich auch schon. An vielen anderen Orten seiner Gedichte auch, aber an den meisten noch nie. Ob in den kaiserlichen Gärten von Kyoto oder in den Steppen Tibets, er macht einen zu Hause dort. Irgendein Gegenüber muss ihm vor Augen gestanden sein, ein Du, oft aber Selbstansprache, und im Wir und Ihr soll, kann jeder gemeint sein, der die Einladung annimmt. Verdammt hinter all den längst schon besiedelten und beseelten ästhetischen Kulturorten, die schon lange vor uns bewohnt waren. Diese Tiefe der Zeit, das Vorleben der Dinge, die Prähistorie der Beziehungen bis hin zum betroffenen Leser des heutigen Tages – das zieht einen in eine Karl Lubomirskis eigene Ewigkeit und einen Raum der Unendlichkeit. Was ist ein Magier? Ein Überwinder von Raum und Zeit, an dessen Tätigkeit ich teilnehmen darf.

Wenn man zu den Formen kommt, zu den angeblich klassischen und deren Definitionen, stehe ich bei Lubomirski vollkommen an. Aber ich bin ja keine philologische Leserin, sondern habe mit jeder Lektüre ein Privatissimum mit Poesie. So viel verstehe ich: Er beugt sich keiner einzigen Form oder besser, er beugt sie alle, sogar das minimalistische Haiku bricht er noch einmal herunter.

Soviel zu Gestalt und Inhalt. Es lohnt sich, einen Blick auf die gängigste Denkfigur zu werfen, für die L. eine besondere Vorliebe hat. (Gewagt, denn ich weiß nicht, ob man das „Technik“ nennen darf und ob er sie bewusst anwendet). Sie besteht in der Technik, dem Leser in einer scheinbar hoffnungslosen Situation doch noch dadurch eine positive Aussicht zu eröffnen, dass ihm durch einen plötzlichen Gedankensprung oder eine abrupte Volte die Möglichkeit geboten wird, die Situation aus einer anderen Perspektive zu überschauen oder sogar zu seinen Gunsten zu wenden.

DER HIMMEL / wird dich töten. / Der Himmel, / aber er stellt keine Fallen.
L. denkt aber auch in die umgekehrte Richtung. SCHULAUSFLUG / Beneide sie nicht, / diese Jungen und Mädchen, / die die Gruben nicht kennen / und nicht die Löwen,/ und nicht / die Schrift / an der Wand.
Für ihn gilt Novalis‘ ästhetischer Merksatz: Beim Kunstwerk soll das Chaos durch den Flor der Ordnung durchschimmern.

In dem Buchtitel gebenden Gedicht „Sieben Meere“ heißt es: Keine Zeit mehr / für Weiß, Schwarz, Sichel, Hammer / Grün und Rot, Streifen, Sterne / Kreuze, Moscheen, Tempel / keine Zeit mehr / … / Hinter der Zukunft / Sieben Meere der Hoffnung.
Wie düster auch immer die Welt aussehen mag, an ihrem Ende und am Ende des Verstandes steht immer eine Hoffnung, wenn man offen und bereit genug ist, diese wahrzunehmen. Dazu ruft er auf. Das ist die Botschaft, sollte es eine geben. Das ist die Verführungskunst des Dichters. So lasse ich mich gerne verführen.

Lubomirski ist ein Nomade zwischen Himmel und Erde, ein Nomade zwischen Zeiten, Menschen und Ländern. Sein lebenslanges Reisen findet seinen Niederschlag in Gedichten über seine Wahlheimat Italien, im Näheren Milano, aber sie führen einen in einem ganzen Zyklus nach Sardinien, nach Norwegen, China, Tibet, Japan, Krakau, Cernowitz, auf die Malediven und immer wieder nach Griechenland. ES TÖNT DIE LUFT / vom Blühen der Linden; / aber / in der Tiefe des Baumes / schläft ein Boot / über den Styx.

Obwohl oder gerade weil L. fast sein ganzes Leben mit und in der Sprache verbracht hat – es ist sein 14. Gedichtband – weiß er um ihre Grenzen und die Gefahren des Sprachgebrauchs. L. glaubt nicht an große Welterklärungen, sondern steht immer voller Staunen vor Rätseln, die oft eine schöne Gestalt haben, aber nicht zu lösen sind. DEZEMBERTAG / Ich weiß nicht, / was mir die Sonne / erzählen wollte. / Aber ich ahne, / dass es etwas sehr / Schönes war.

Oft nimmt L. einen scheinbar kleinen Gegenstand ins Auge – eine Blume, einen Baum, Stein, Vogelflug, Ort, Traum und lässt daraus einen ganzen Kosmos entstehen.

ALB / Mir träumte / ich war eine Maus / Und du / eine lautlose Eule. / Und als ich erwachte, / staken im Herzen / geschliffene Krallen.
GEDICHTE / Die Eisblumen / der Erwartung.
KEIN VULKAN / speit / fremde Lava.
EWIG LEBEN? / Wem?

Man erlebt die Wucht der Schlichtheit, das kleinstmögliche Chaos gebändigt in Form eines blitzenden Aperçus.

Welche Welten und philosophische Gedankenräume können aus nur fünf, drei Worten sich auftun, wenn sie so aufgestellt sind, wie Karl Lubomirski es tut.
Ich stehe in Staunen und Dankbarkeit vor Wundern und muss immer wieder innehalten: Er kennt mich. Er meint mich. Er hat mich durchschaut, erkannt und will mir nichts Böses. Von wem lässt sich so etwas schon sagen. Er hat mich in unserer gemeinsamen, wie lange vergessenen Ursprache angesprochen. Von der Lyra eines Orpheus im Lorbeerhain angeschlagen, die Klangschale im Wind.

Lubomirski lesen heißt, eine Reise machen durch die Herzen der Menschen, seines ist das erste, das er auftut. Von diesem liebenden Dichter lasse ich mir freiwillig und freudig ins Herz greifen.

Veröffentlicht unter dem Titel: Eine Reise durch die Herzen der Menschen. Gedanken zu Karl Lubomirskis Gedichten. In: Der literarische Zaunkönig – die Zeitschrift der Erika Mitterer Gesellschaft, Ausgabe 3/2016

Pfingsten 2016

Veronika Seyr
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Andrej Krementschouk

Freistadt im Mühlkreis / Österreich  Festival – Der Neue Heimatfilm – 28. August 2016

Andrej Krementschouk
Jahrgang 1973
Geburtsort Gorky, Russland
(Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, im Atlas nachzusehen, wo Gorky genau liegt.)

Den russischen Fotografen Andrej Krementschouk kennengelernt. Er steht fest auf dem Boden, in Sandalen und knielanger Hose, aufrecht, kräftig. Da, wo ich herkomme, nennt man so einen ein g‘standnes Mannsbild. Ich habe gelesen, er hat in seiner Jugend geboxt. Sein Blick ist gerade, unverstellt, zugewandt. Er schaut direkt in den Raum, auf die Menschen, in die Gesichter, und er sieht. Fassaden durchschaut er, sein Blick geht tiefer, und er ist auf dem Weg zu erkennen, aber beiläufig, intuitiv, ohne Absicht, und das ist entscheidend.

Aufrichtig schaut er, ohne zu werten. Er hat schon viel gesehen, vielleicht schon alles, wer kann es wissen, und er hat gelernt, die Menschen, das Leben, die Welt, die Sehnsüchte wie die Süchte, die Katastrophen, die Waffen, die Maschinen, die Katzen, die Hunde, die Ratten und den Goldfisch so zu nehmen, wie sie eben sind. Dinge passieren, weil sie passieren. Wichtig ist das Beobachten, und Krementschouk kann beobachten. Ihm gelingt es sogar, den entscheidenden Augenblick mit der Kamera festzuhalten und auf Zelluloid zu bannen. Sagt man das heute überhaupt noch so? Krementschouks Fotos zeigen einen Ausschnitt aus dem Leben, aus dem wahren, dem unverstellten, dem bloßen, das bar aller westlicher Illusion ist, in der wir uns ach wie bequem eingerichtet haben: mit unserer Arbeit, unseren Berufen, unserem Wohlstand, unseren schönen Wohnungen und Autos, unserem Fortschritt, unserer Wirtschaft und Industrie, die alle Lebensbereiche steuert – die Nahrungsproduktion und das Sterben – , alles muss sich rentieren.

In Krementschouks Fotografien sehe ich das Leben, einfach so, ungeschönt und unmittelbar, nackt. Und da fängt es an, mich wieder zu interessieren. Es sind Bilder, in die man eintauchen kann, die mich in den Bann ziehen, wo es so viele Details zu entdecken gibt, die Erinnerungen wecken, Assoziationen schaffen, schmunzeln und sogar lachen lassen, Hoffnungen wecken, aber auch vor der Unausweichlichkeit des Abgrunds nicht Halt machen. Die Neugier des Fotografen ist überall zu erkennen. Es ist seine eigene Neugier, die ihn aufbrechen lässt, an Orte zu gehen, die anders sind. Seine Heimat Russland, die ich nicht kenne, in der Menschen leben, die ohne Fürsorge und Vorsorge ihr Auskommen suchen und mitunter nicht finden. In ihren Gesichtern ist so viel zu lesen. Sie machen neugierig auf das Leben, das augenfällig schwer ist, aber dennoch so verlockend und unbedingt wert, daran festzuhalten.

Der Fotograf schaut, bevor er durch die Ausstellung führt, beiläufig in die Runde. Ich habe das Gefühl, dass er die aufgesetzten Gesichter durchschaut, derer es viele gibt, er blickt auf das, was jeder gern verbergen möchte, und das ist es, was den Menschen ausmacht.

Die Fotografien zeigen weder Kulissen noch Inszenierungen, in denen Menschen posieren. Es sind scheinbar beliebige Momentaufnahmen, in denen so viel Menschliches zu sehen ist. Ich glaube sogar, dass darin alles enthalten ist, was es gibt. Ich wüsste nicht zu sagen, was fehlt. Es ist das, was man in der Religion seit alters als Seele bezeichnet, und ich kenne kein anderes Wort, das es besser trifft, was ich meine. Krementschouks Bilder sind beseelt. Jeder Winkel, jedes Detail, jede Flasche und jeder Stofffetzen erzählt eine Geschichte. Genauso verhält es sich mit der Haltung des Körpers, der Neigung des Kopfs, der Kleidung, ganz zu schweigen von den Gesichtern, dem Mund, den Augen. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes beredt. Der Fotograf zaubert die Seele hervor, die immer und in allem da ist, aber eben erkannt sein will. Im richtigen Augenblick, ich habe mal gelernt, dass man den Kairos nennt, aber wen interessiert so ein Begriff?, im rechten Augenblick drückt der Fotograf ab, löst er aus, erwischt die Seele, wie sie gerade unbeobachtet spazieren geht und macht etwas sichtbar, das mich ungemein anspricht.

Krementschouk wählt seine Motive nicht geschäftstüchtig, wenigstens möchte ich das gerne glauben. Er überrascht mit einem Schnappschuss, und das Objekt weiß gar nicht, dass es vom Objektiv ausgewählt und festgehalten ist. Welches Glück! Etwas kann nur gelingen, wenn keine Absicht dahinter steckt, wenn es umsonst geschieht, einfach so.

Da ist das Bild mit dem nackten Mädchen. Der Unterleib steht im beengten Raum eines kleinen Zimmers. Vor dem Oberkörper hält es das bekannte Bild mit den drei reitenden Tataren, sicher eine billige Reproduktion. Der Kopf des Mädchens ist abgeschnitten, so nennt man es doch in der Sprache der Fotografen, wenn etwas nicht im Bild ist. Der Kopf des Mädchens ist abgeschnitten. Links daneben sitzt die weiße Katze auf einem Podest neben dem Fenster, vornehm, adelig, weise, schicksalverheißend, schön und lieb, kuschelig, mit aufmerksamem Blick in die Linse. Das Futterschälchen steht vor den nackten Beinen des Mädchens. Auf der rechten Seite Bügelbrett und Bügeleisen. Alles muss seine Ordnung haben. – Vor dem Fenster ein Vorhang wie beim Theater, golden, zur Seite gezogen. Aber die Szene spielt sich hinter der Bühne ab, mit Blick ins Zimmer. Das Draußen, die Straße, die Welt ist ausgesperrt.

Und dennoch ist in diesem Ausschnitt alles, die ganze Welt: die bloße Scham des Mädchens und die wohlfeile Wohnung, bereit für den Mann, der nicht eintritt. Schwer, anstrengend, mühsam ist es, sich hartnäckig bereitzuhalten für den Mann, der nicht kommt, der nicht zu finden ist an diesem Ort, in dieser Stadt, deren Namen ich vergessen habe. Der Fotograf erwähnt erklärend, dass die Stadt am Meer liegt, aber an keinem Meer, wo man Urlaub macht, sich beim Schwimmen erfrischt und dem Rauschen lauscht. Es ist ein Meer mit einer U-Bootwerft, in der die Männer hart arbeiten und ihre Kräfte verbrauchen. Sie vergeuden ihre Kräfte für billiges Geld. Sie unterdrücken ihre Sehnsucht für hart verdienten und geringen Lohn. Was bleibt ihnen anderes übrig, als madigen Wodka zu trinken und darin Stück für Stück das Leben zu ersäufen. Wo ist der Mann zu finden, auf den das Mädchen mit der Katze Jahr um Jahr sehnsüchtig wartet?

Andere Fotografien erzählen andere Geschichten. Auf ihnen sind Gesichter eingefangen, Gesichter, die noch nicht zur Ikone geworden sind. Gesichter, in denen noch die Sehnsucht funkelt. Die bereit sind, das Glück mit beiden Händen zu ergreifen und für immer festzuhalten, wenn es sich denn einmal dazu herabließe, sich blicken zu lassen. Menschen, die aufbrechen wollen, und da es keinen rechten Grund und kein wahres Ziel für diesen Aufbruch gibt, nützen sie die Gelegenheit zu einer Wallfahrt, die tagelang durch die ländliche Natur und durch Dörfer führt. Dem Popen ist es nicht wert mitzupilgern, das Ziel vermag ihn nicht mehr zu locken. Wer kann es ihm verübeln?

Militärparaden geben vor, Boten einer besseren Zukunft zu sein. Es ist aufregend, ihnen beizuwohnen. Krementschouk fotografiert die Zuschauer, die auf Absperrungen klettern, auf martialische Denkmäler, um einen guten Blick zu haben. Eine Frau im Vordergrund trägt einen grünen Sommermantel mit Rüschen am Kragen, tadellos gebügelt. Daneben ein Mädchen mit dem gleichen Modell bekleidet. Die Gesichter der Zaungäste sind freudig, erfrischt, zuversichtlich, vielleicht euphorisch, wenn sie es nicht bereits besser wüssten.

Menschen sind in Bewegung, eilen und hetzen durch die Stadt, jetzt ist es Moskau, sie haben es wichtig, müssen etwas erledigen, ganz dringend. Vielleicht ist es auch eine Sonderzuteilung begehrenswerter Güter, die es unbedingt zu ergattern gilt, um es leichter, bequemer, genussvoller zu haben. Sie eilen sich, sie hetzen. Und mir wird immer klarer, dass alle danach trachten, das Leben zu spüren, so viel wie irgend möglich. Sie wollen das Leben zu Gesicht bekommen, es einatmen, es trinken, essen, schmecken, hören, spüren, irgendwie und möglichst viel davon. Und wenn das Leben nicht zu dir kommt, musst du dich selbst auf den Weg machen, und wenn zufällig einer wie Krementschouk beim Umherschweifen seiner weichen Adleraugen auf dich aufmerksam wird, ist das ein Glück. Er kann den Augenblick einfangen, in dem du dem Leben auf der Spur bist, rastlos, nimmermüde.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 16160