Rezension - Dorothea Nürnberg, Unter Wasser

Eine Rezension von Martin Stankowski

Dorothea Nürnberg
Unter Wasser, Roman, Wien Ibera 2015, 259 Seiten
ISBN 978-3-85052-346-2

Es war eines der Paradebeispiele für großflächige Umweltzerstörungen mit weltweiten Auswirkungen: der Bau des Staudamms Belo Monte am Rio Xingú im Amazonien Brasiliens[1]. Gegen ihn schreibt – literarisch – Dorothea Nürnberg an. Und auf ihn bezieht sich der Titel, sowie, nicht sogleich evident, auf das Phänomen starken Regens, Sintflut und Regeneration zugleich. Neben der Stadt Altamira als Dreh- und Angelpunkt des Projekts rückt noch Mexiko-Stadt, Hauptort der iberischen Eroberung, in das Geschehen: «Lateinamerika» bedeutet folglich nicht nur Aktualität, sondern überdies das Eintauchen in die niemals ganz verschwundene, nunmehr markant, ja fordernd wiederauftretende indigene Kultur, sei es der Indios im Regenwald, sei es der Azteken (die durch die den Kapiteln vorangestellten Denksprüche große Wirksamkeit erzielen). Aufgrund einiger Protagonisten kommen dann noch Wien und die Steiermark vor, primär als Projektionsfläche für die dort beheimateten Beteiligten.

Dadurch ergibt sich ein vielteiliges «Mosaik», allerdings in großen Formaten, wenngleich mit feiner Binnenzeichnung. Geführt werden die Lesenden durch die Vornamen über den 22 Kapiteln. Bei allen Personen geht es, stufenweise, sehr stark um Verantwortung: für die Fakten und die Einstellung zu ihnen, für die Selbstachtung und die zwischenmenschliche Berührung. Diese Schuldigkeit schließt viele Verwicklungen ein: zwischen den Handelnden im unmittelbaren Austausch, als Selbstzweifel oder gar Selbstentfremdung bis zum drohenden Selbstverlust, als Zusammenbruch und Neuanfang, als Besinnung auf die eigenen Wurzeln. Das Spannende, genauer: das Eindringliche liegt in den unterschiedlichen Blickwinkeln zu den gleichen oder vergleichbaren äußeren und inneren Fragestellungen, wobei diese Perspektiven differente Zugehensweisen generieren, «man» in der Antwort also ebenso annehmen wie ablehnen kann.

Die Autorin geht wie bei einem textilen Werk nicht linear vor, indem die verschiedenen Fäden zum einen sich zum Muster verdichten, zum anderen von dort aus zu weiteren Verbindungen ansetzen und mittels «Rückblenden» neue Motive gewinnen. Da ist zunächst Peter Grabner (nomen est omen), Manager eines am Damm beteiligten Unternehmens, der, den Freuden nicht abhold, sich auf einen längeren Seitensprung mit der Umweltaktivistin Chantal einlässt. Die anfangs meint, ihn dabei zu bekehren (was am Buchbeginn zu dessen bald abgebrochener Reise nach Altamira führt), dann aber in einer tiefen Sinnkrise in die wohltuenden Hände einer Heilerin gelangt (und als Chanatl das den Bogen schlagende Schlusswort erhält).

In dieses Geflecht eingelagert sind weitere Figuren: Ehefrau Anna, die, nach Kenntnis der Verfehlungen des Gatten, zu einem selbstbestimmten Leben zurückfindet; Paulo, aus São Paulo stammender Ingenieur im Staudammcamp, der – nach dem Kontakt mit Iracema, die als indigene Vorkämpferin nach wie vor mit dem Urwald in enger innerlicher Verbindung steht – grundlegend am Projekt zu zweifeln beginnt und sogar, als unmittelbare Auswirkung, die große Wassernot in der Heimatstadt miterlebt; sowie Diego, der als Fotograf die Konsequenzen zieht und die dem Untergang geweihte Welt in Bild und Ton aufnimmt.

Mit diesen Hauptträgern des Romans treten weitere Menschen in Kontakt: namentlich Jandir, Vater Iracemas und Schamane der Kayapó, und Maria Jolanta in Mexiko, die ungeachtet bescheidener Verhältnisse die heilkräftige Verbindung zwischen indianischen und christlichen Werten herzustellen vermag. Wie bei einem Teppich bleiben aus (Leser-)Distanz die Beobachtungen nicht einfach in sich «stehen», sondern Dorothea Nürnberg verflicht darin weitere Beziehungen, wodurch etwa auch Parallelentwicklungen entstehen.

Das Ende bleibt offen, weil nicht abgeschlossen. Dennoch: Der Staudamm wird weitergebaut, die Umsiedlung des im Fokus stehenden indigenen Stamms stattfinden, die weitflächige Zerstörung der Natur fortschreiten. Immerhin gelingt (im Buch) eine umfangreiche Dokumentation in Bild und Ton, die Selbstorganisation verfolgt die Indiobevölkerung weiter. Zum anderen legt die Auseinandersetzung mit Sachlage und Vergangenheit in den Personen menschliche Grundlagen offen, deren Entfaltung «absehbar» sind, weil der beschworene Geist weiterwirken wird – und der Titel somit an C.G. Jungs Wasser als Symbol für die Auseinandersetzung mit den Schatten erinnert.

Das Buch bezeichnet sich als Roman. Es ist einer, verfolgt man die Erzählung von den im Handeln und in der Spiegelung der Fakten sich entwickelnden Personen. Der sprachliche Duktus geht meist von einer situativen Beschreibung aus, gewinnt da und dort sogar poetisches Niveau, insbesondere in der «Symphonie» des Waldes (82 ff). Und ist es doch nicht, denn es handelt sich ebenso um einen Bericht: durch vielfache Informationen zur gravierenden Umweltproblematik, durch ethnologische Hinweise, namentlich zum Schamanismus, zu den indigenen Lebensumständen und der Welt der Konquistadoren. In diesen Passagen wechselt die Sprachform, in welcher inhaltliche Aspekte wie in einer Fallstudie statt in Dichte in Breite auftreten, was die Häufigkeit von Hilfsverben erlaubt oder Detailerklärungen.

Schließlich erweist sich das Coverfoto als überzeugend wegweisend: Der große Solitärbaum spiegelt sich im Wasser, wobei die Prägnanz seiner Krone hier, im Schattenbereich, deutlicher zu Tage tritt. Das ausgezeichnete Bild vermittelt darüber hinaus die zweifellos ebenso hohe Befähigung der Autorin zur (Kunst-)Fotografin …

Zum Schluss noch dies: In einem zehn Jahre älteren Roman «Tochter der Sonne» entwickelte die Autorin bereits dieselbe Problematik, hier als Schilderung von Reisen, die in der Auseinandersetzung mit dem Unbekannten neue Perspektiven auch für die abendländische Welt eröffnen.

[1] Er ging 2016 in Betrieb, mit einer geplanten Endbaustufe 2019.

Martin Stankowski
www.stankowski.info

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 17126

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