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Vielleicht in 200 bis 300 Jahren

„Von einem Druck des Romans kann keine Rede sein, nicht früher als vielleicht in 200 bis 300 Jahren.“ Diese Prognose für das Erscheinen seines Romans bekam der russische Schriftsteller Wassilij Semjonowitsch Grossman 1961 von dem ZK-Sekretär für Kultur Suslow im Jahr 1962 gestellt. Grossman hatte ein monumentales Buch über den Zweiten Weltkrieg geschrieben, in dessen Zentrum die Schlacht um Stalingrad und die Wende im Verlauf des Krieges stehen. Er hat fast zwanzig Jahre daran geschrieben, die gesamte Kriegszeit verbrachte er als Reporter der Armee-Zeitung „Roter Stern“ an den Fronten. Er erlebte die Niederlagen im Westen zu Beginn der Invasion, die Schlachten um Moskau und Kursk, die fünf Monate des Kampfes blieb er in Stalingrad, und auch bei der Rückeroberung Weißrusslands, des Baltikums und beim Einmarsch in Berlin war er dabei.

Der studierte Chemiker, 1905 als Jossif Solomonowitsch im westukrainischen Berditschew geboren, schrieb vor dem Krieg Romane und Erzählungen, ganz entsprechend der vorgegebenen Linie des Sozialistischen Realismus; er zeichnete das Leben der sowjetischen Arbeiter beim Aufbau des Sozialismus nach. Gorki wurde auf ihn aufmerksam und führte den jungen Kollegen ins Literaturleben ein. Damit konnte er seine Arbeit in den Gruben von Donezk verlassen, ging nach Moskau, wurde veröffentlicht und hatte mit mehreren Erzählungs-Bänden und vielen Artikeln großen Erfolg. Den Großen Terror überlebt er angeblich unbeschadet, leiblich. Seine Frau Olga wird verhaftet, sein Sohn stirbt bei vormilitärischen Übungen, seine Mutter kommt im Getto von Berditschew ums Leben, so wie auch die anderen zwanzig- bis dreißigtausend jüdischen Bewohner. 1944 schreibt er als erster Augenzeuge detaillierte Berichte über die Vernichtungslager von Maidanek und Treblinka. Sie werden auch für den Nürnberger Prozess als Unterlagen für die Anklage herangezogen und im Wortlaut vorgelesen.
Aber Grosssman war auch nicht blind gegenüber der anderen Seite des Terrors. Gleich nach der Anklage Chruschtschows gegen Stalin begann er mit der Sammlung der Schicksale der im Großen Terror vernichteten Sowjetbürger. Das umfangreiche „Schwarzbuch“ wurde aber knapp vor seinem Erscheinen eingestampft und erschien nie.

Die Verhaftung eines Romans ist die höchste Auszeichnung, die die Staatsmacht einem künstlerischen Werk verleihen kann. Die Dichtung wird der Wahrheit gleichgestellt, die Erfindungen des Schriftstellers dem Verrat von Staatsgeheimnissen. Die Staatsmacht empfindet Angst vor erdachten Figuren und den Gedanken eines Autors, selbst wenn sich diese nicht in Druckseiten mit Massenauflage verwandelt haben, sondern im Schreibtisch des Schriftstellers oder in denen der Geheimdienstler ruhen bleiben.

Das Schicksal dieses Buches ist einzigartig und lässt sich in jeder einzelnen Etappe nachvollziehen. Grossman übergibt 1962 das Manuskript von eintausend Seiten der regimekonformen Literaturzeitschrift „Znamja“. Chefredakteur Wadim Koschewnikow liest es und reicht es an seine Stellvertreter Ljudmila Skorino und Alexander Kriwizki weiter. Sie erkennen die Explosionskraft des Buches und sind entsetzt. Auch nach dem XX. und XXII. Parteitag und dem Chruschtschow‘schen Tauwetters durfte man nicht so weit gehen wie Grossman: Sein Bild der sowjetischen Gesellschaft war zu schrecklich und vor allem zu wahrheitsgetreu. Gemeinsam beschließen sie die Denunziation und liefern das Buch an den KGB weiter. Dank dieser namentlich bekannten Handlager erscheinen kurz danach bei Grossman zwei Männer in Zivil, die sich als Major und Hauptmann des KGB ausweisen. Sie zeigen den Befehl zur Hausdurchsuchung vor und verlangen von ihm die Herausgabe aller Exemplare.

Sie nehmen nicht nur die maschingeschriebenen Kopien mit, sondern auch die Entwürfe und bei den Stenotypistinnen und Maschinistinnen die Farbbänder und die Blätter des Durchschlagpapiers, von denen man „gegen das Licht etwas hätte entziffern können“. Sein Monumentalwerk schien für immer vernichtet. Der Autor wurde nicht verhaftet, es blieb ihm das Schicksal von Mandelstam, Babel, Bulgakow, Chlebnikow und Antonow erspart, aber er erkrankte kurz danach an Krebs und starb drei Jahre später, nur neunundfünfzigjährig.
Was hatte die Erstleser von „Snamja“ und jene im KGB so erschreckt? Um die Beschlagnahme eines Manuskripts eines bekannten Schriftstellers zu beschließen, musste man es fürchten und hassen wie die Pest.

„Leben und Schicksal“ erforscht die sowjetische Realität am Höhepunkt ihrer Geschichte, im Kampf um Stalingrad. Gleichzeitig ist hier die schwerste Niederlage der Roten Armee, die bis zur Wolga zurückgewichen war, mit dem überragenden Sieg über den Feind dargestellt. Stalingrad als die größte Hoffnung auf den Untergang des Nazismus und die Einsicht, dass es keinen Triumph der Demokratie geben wird. Grossman erlaubt uns, tiefe Einblicke in den Erkenntnisprozess einer großen Anzahl von Personen nachzuvollziehen.

Zwischen Rassen- und Klassen-Fanatismus besteht kein grundsätzlicher Unterschied. Ein erstaunliches Paradox: Gerade in Stalingrad wird offenbar, dass die Regime, die einander bekämpften, endgültig wie Spiegelbilder einander ähnlich waren. Grossmann begeht das schlimmste Verbrechen, er dringt sogar ins Hinterland des Hinterlandes ein und stellt Gulags und Konzentrationslager einander gegenüber. Nach seinen Erfahrungen mit dem Stalinismus kommt Grossman persönlich zu christlich anmutenden Folgerungen, die er wie ein Evangelium in den Mund des inhaftierten Popen Ikonnikow legt:
„Wenn das Gute nicht in der Natur, nicht in den Predigten der Propheten, nicht in den Lehren der großen Soziologen und Volksführer und nicht in der Ethik der Philosophen liegt, wo dann? – Es liegt in den Herzen der einfachen Menschen, in der Nächstenliebe. (…)
Die Geschichte der Menschheit ist nicht die des Kampfes zwischen Gut und Böse, sondern die des Kampfes zwischen dem sogenannten Guten und jenem Körnchen Menschlichkeit. Wenn selbst unter den heutigen Bedingungen das Menschliche im Menschen nicht abgetötet werden kann, dann wird das Böse niemals den Sieg davontragen.“ (Leben und Schicksal, S. 341)

Auch daran wird deutlich, dass sich Grossman niemand Geringeren als Lew Tolstoj zum Vorbild genommen hat. Wie in „Krieg und Frieden“ gruppiert er die Menschen – es sind bei ihm an die zweihundert auf Hunderten Schauplätzen – in mehreren Familien. Im Zentrum steht die weitverzweigte Familie des sowjetischen Atomphysikers Viktor Pawlowitsch Strum und der angeheirateten Schaposchnikows. Strum gelingt der Durchbruch zu den entscheidenden Erkenntnissen und damit der sowjetischen Wissenschaft der Anschluss an die westliche Physik. Gerade als Strum den Stalin-Preis und die Glückwunschtelegramme von Einstein und Fermi erwartet, gerät er in den Strudel des Stalin‘schen Antisemitismus. Er sieht sich umgeben von einer Heerschar von Speichelleckern, Heuchlern, Karrieristen und Antisemiten. Er, der immer nur der sowjetischen Wissenschaft gedient hat, wird ins Gefängnis geworfen mit der Anklage nach dem berüchtigten Artikel 58 / Absätze 10 und 8 wegen antisowjetischer Agitation und terroristischer Tätigkeit. Ein Urteil, das seit dem Großen Terror von 1937 an viele Hunderttausende von Sowjetbürgern in die Lager gebracht hatte. Oder gleich in den Tod in der Lubjanka oder auf den Transporten.

Der Viktor P. Strum im Roman wird noch einmal entlassen, weil man sein Gehirn zur Glorie der sowjetischen Wissenschaft noch brauchen konnte. Aber der jüdisch geborene, sowjetisch sozialisierte Schriftsteller Grossman selbst wird nie wieder loskommen von der Judenvernichtung durch die Nazis und der Verfolgung durch Stalin.
Ein enger Freund schreibt später, er hatte damit seinen Knacks weg. Seine strenge, heilige, lichtbringende, sowjetische Kathedrale Stalin war eingestürzt.

Pasternaks Dr. Schiwago und Solschenizyns Archipel Gulag lösten gewaltige Skandale aus und hatten für die Autoren schwerwiegende Folgen. Pasternak starb nur zwei Jahre später an gebrochenem Herzen, Solschenizyn wurde des Landes verwiesen. Aber die Romane, so wichtig und aufklärerisch sie auch waren, bedeuteten Kinderspiele im Vergleich zu Leben und Schicksal. Sie waren für das Zentralkomitee und die Geheimdienste viel weniger gefährlich als Grossmans Buch. Es greift alle Probleme des Stalinismus offen auf und an, stellt die Verbrechen ungeschönt dar, alle in der Partei, in der Armee und sogar das proletarische Volk selbst, das gar nicht so glorreich ist, sondern auch arbeitsscheu, versoffen, devot und kriecherisch, ein Volk von Tätern und Opfern, nicht klar getrennt, sondern oft beides in einer Person. Bei allen Parallelen, die er sonst zwischen den Diktaturen zieht, ist das der große Unterschied zum anderen Totalitarismus, den Grossman herausstellt.
Das muss ihm bewusst gewesen sein, als er sein Manuskript der „Snamja“ übergab.
Er muss gewusst haben, dass man ihm das nicht durchgehen lassen wird.

Später geschah doch noch ein Wunder, nachdem das Manuskript von „Leben und Schicksal“ zwanzig Jahre lang in Haft gesessen war. Grossman hatte damals zwei Exemplare seines Manuskripts bei Freunden in Moskau verstecken können, die auf geheimen Wegen in den Westen gelangten, übersetzt und veröffentlicht wurden, das russische Original zuerst 1980 in einem Exil-Verlag in Lausanne, deutsch 1987 bei Ullstein.

26.8.17

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 18014

Dorothea Nürnberg, herzwortweben

Wien bei Ibera/ European University Press 2017, 96 S. davon 85 Seiten Gedichte

Eine Rezension von Martin Stankowski
Ersterscheinung: PODIUM, Doppelheft 185/186, November 2017

Das schöne Cover-Foto der Autorin mag zuerst erstaunen: der zentrale Ausschnitt eines Kristalls, welcher – siehe Titel – so gar nichts vom weichen Textilen an sich hat. Und doch ist er wegweisend, beachtet man die Form der Gedichte: Es gibt es keine langen Zeilen, keine Sätze, sondern Worte untereinander und zusätzlich gegeneinander verschoben, ja in der konsequenten Kleinschreibung buchstäblich «verrückt» in einer vielfach gebrochenen Struktur, die in ihren Bestandteilen durchaus in verschiedene Richtungen zu verweisen scheint. Nur scheint: Denn anderseits nimmt Frau Nürnberg das Weben ebenfalls ganz im Wortsinn. Nicht zufällig stehen die Worte, sondern in einem immer wieder «durchschlagenden» Rapport, der in den klug ausgearbeiteten Abständen eigene, gleichsam geschichtete Muster aufbaut. In diesem Sinn stimmt wort schafft welt (28) ganz unmittelbar.

Das Ganze bliebe ein bereits großartiges l’art pour l’art (wie es das ja schon gegeben hat), verbände Frau Nürnberg nicht das Formale eng mit dem Inhaltlichen. Die Wort-Gestaltung «gebiert» ihre Sinnzusammenhänge, seien sie assoziativ – fragenmeer / im anker / der stille und dann wann flutet helle? (11), seien sie unmittelbar – geflügelte / worte / über /schwarzen / federn und dann absprung / ins gedicht (16). Die beiden Beispiele illustrieren den Kosmos, aus dem Frau Nürnberg schöpft: Es sind die ursprünglichen Prozesse in der Natur, in der aus der (heute so oft missachteten) Muße geborenen feinen Beobachtung. Zumal das Feine stets in das Feinsinnige übergeht: lautlos öffnen / träume ihr gefieder (46).
So wird das Psychologische ein wesentlicher Bestandteil, ist allerdings beim raschen Lesen kaum zu finden. Es bedarf, wie das die Lyrikerin da und dort eigens tut, des Nach-Sinnens. Eine deutliche «Hilfe» geben zum einen die Kapitel-Titel, zum anderen, im letzten Abschnitt, die Gedicht-Überschriften. Neben dieses Förmliche treten die vielen Bilder, die in diesem Prozess zu Metaphern mutieren und zum Bedenken ermutigen: über den Blick von außen und jenen von innen, über Frage und Antwort, Sein und Entstehen.
Daraus resultiert unter der Maßgabe des heutigen problematischen Welt-Zustands kein Himmelhochjauchzen, sondern eine etwas wehmütige Stimmung, ein verhaltenes Klagen, das manches Mal (gottlob) durchaus in ein leises Lachen umschlagen kann. Und zu der ein hoher Grad an nicht zuletzt klassischer Bildung gehört, die kulturgeschichtlich wie weltumspannend geografisch wie lebensphilosophisch einen weiten Bogen zu schlagen vermag. Diese Verwurzelung – «bloß» besonders ausgeprägt in edelsteingarten (79/80) – drängt auf den Prozess, äußere Umstände und Erlebtes in innere Welten umzutexten … was damit womöglich zur ernst genommenen, weil persönlichen Wandlung (herz!) in der Haltung zu Ökologie und sozialem Habitus beizutragen hilft.

Schließlich bleibt noch eine weitere Lesart, die lediglich auf den ersten Blick anders ist, indem sie von den gleichen Grundzügen getragen wird. Man gibt sich dabei sinnlich dem Rhythmus hin und vor allem dem Farbenreichtum, in Wort und Sprache. Beide müssen Frau Nürnberg ein wichtiges Anliegen sein, denn fast paradigmatisch erfüllt das längste Gedicht – farbrausch (85-89) – kongenial diesen Anspruch. Das wohl Essenzielle zeigt sich auch darin, dass sich diese Ansätze dann ebenfalls in den Romanen der Autorin wiederfinden lassen, nach diesem Buch möchte man sagen, leider etwas versteckt … Und es sind wahrscheinlich gerade diese lyrischen Eigenheiten, die speziell romanische Dichter/innen ansprechen, sogar regelrecht aufhorchen lassen (wie es denn Gedichten gebühren sollte!). Mir erscheint es, so gesehen, kaum erstaunlich, wenn bereits Übertragungen ins Französische und ins Kastilische (d.i. das südamerikanische Spanisch) vorliegen resp. bei renommierten Verlagen vorbereitet werden.

Ein ehrliches Zeugnis, ein persönliches Werk, ein überzeugendes Beispiel lebendiger Poesie.

Martin Stankowski
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www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 17188

Stalins Lieblingsgeschichte von Tschechow. „Duschetschka“, Schätzchen

Alle Biografen erzählen dieselben Geschichten. Manchmal scheint es, als würden sie voneinander abschreiben. Die Geschichte über eine Geschichte, und zwar die Lieblingsgeschichte von Stalin, ist aber in keiner Biografie enthalten, sondern in den Memoiren von Trotzki.
Wer ihm „Schätzchen“ erzählt hat oder wann er es gelesen hat, darüber ist nichts zu erfahren, auch von ihm selbst nicht. Er hat nie darüber gesprochen, auch seine Mutter nie nach Moskau geholt und sie nie in Georgien besucht.

Über Josef Wissarionowitsch Dschugaschwilis Kindheit und Jugend ist kaum etwas bekannt. Stalin mochte sich nicht an diese Zeit im georgischen Gebirgsdorf Gori erinnern. Sie war düster und trostlos. Der ewig schlagende und trinkende Vater, ein Flickschuster, Armut, die hilflose, aber liebevolle Mutter, der die zwei älteren Kinder wegstarben. Nach der Trennung bringt sie den verwachsenen und von den Pocken schwer gezeichneten Siebenjährigen in einem kirchlichen Internat unter, auch kein fröhlicher Ort. Mit siebzehn wird er Straßenräuber zwischen Tiflis und Baku.

Die Biografie Stalins vor der Oktoberrevolution lässt sich zusammenfassen zu sieben Verhaftungen und fünf Fluchten aus den Gefängnissen und Verbannungsorten des Zaren.
Er traf Lenin zum ersten Mal auf der Parteikonferenz von Tammersfors (1905), nahm auch an den Parteitagen in Stockholm (1906) und London (1907) teil. Schon damals fühlte er sich unter den wendigen Intellektuellen vom Schlage Trotzkis, Plechanows, Axelrods, Lenins und Martows nicht wohl. Von dorther soll sein ewiger Hass auf die Intellektuellen und Künstler stammen.
Dazwischen war er für „bewaffnete Expropriationen“ zugunsten der Parteikasse zuständig. In Südrussland und im Kaukasus überfiel er zusammen mit gewöhnlichen Räuberbanden Banken und Geldtransporte. Die Beute war für die Finanzierung der Exilgenossen und ihrer Zeitungen bestimmt. Dschugaschwili galt als gerissen, berechnend, gefühllos und verschlossen. Über allem stand das Charakteristikum der Grobheit. Er hatte sich damals als Parteinamen „Koba“ (türkisch: Der Unbeugsame) zugelegt, eine Anspielung auf einen Helden in dem georgischen Epos „Der Vatermörder“.
Im Jahr 1913 schickte ihn die Partei nach Wien, damit er einen Bericht über die Nationalitätenpolitik der Donaumonarchie verfasste. Warum man den ideologisch unauffälligen, von jeglichen theoretischen Kenntnissen freien Genossen schickte? Gesichert ist es nicht, aber seine Zugehörigkeit zu einer Minderheit wird wohl den Ausschlag gegeben haben. Diese Schrift „Marxismus und nationale Frage“ unterschrieb er erstmals mit „Stalin“, der Stählerne. Der Revolutionär Lew Borissowitsch Rosenfeld begnügte sich mit „Kamenew“, der Steinerne. Maxim Peschkow nannte sich „Der Bittere“, Gorki, und Uljanow „Lenin“, harmlos nach dem sibirischen Fluss Lena. Lenin schätzt den Bericht positiv ein, aber das motivierte Stalin nicht, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen.

Er wohnte während der drei Monate in Wien in der Pension Schönbrunn, ging jeden Tag für seine Studien in die Nationalbibliothek, machte lange Spaziergänge durch die Stadt und selten auch Besuche bei in Wien lebenden Genossen. Einer davon war Lew Bronstein, der schon sechs Jahre mit Frau und Kindern in Wien wohnte.
Befreundet war Stalin mit niemandem. Es gibt keinen Menschen, dem er sich lebenslang nahe gefühlt hätte. Mit einer Ausnahme – seiner Tochter Swetlana, aber auch das nur, so lange sie klein war. Als sie gegen seinen Willen heiratete, verstieß er sie. Sein berechnender Charakter, seine Gefühllosigkeit und seine moralische Taubheit erlaubten es nicht, Freunde zu haben. Er ließ nicht einmal seinen ältesten Sohn, ein Gefangener der Nazis, austauschen, wie es die Deutschen vorschlugen. Wassili starb in den Fängen der Deutschen.

Eine köstliche Vorstellung, dass Josef Dschugaschwili, damals noch Koba, Adolf Schickelgruber-Hitler, Josip Bros-Tito und Lew Bronstein-Trotzki sich in diesem Jahr über den Weg laufen hätten können. Alle vier hielten sich zur selben Zeit in Wien auf und schrieben darüber, dass sie nach Schönbrunn kamen, um vom Straßenspalier aus einen Blick auf den greisen Kaiser bei seiner Ausfahrt zu werfen. Welche Sternenkonstellation.

Wenn wir nicht die direkte Erinnerung von Trotzki hätten, würde niemand diese Episode mit dem „Schätzchen“ kennen. Einmal waren in der ärmlichen Zwei-Zimmer-Wohnung in Hütteldorf-Hacking mehrere russische Emigrantenfamilien zusammengekommen. Stalin hielt sich von den Erwachsenen fern und beschäftigte sich mit den Kindern, schreibt Trotzki in seinen Memoiren.
Er machte allerhand Späße mit ihnen und erzählte wortwörtlich aus dem Gedächtnis die Geschichte vom „Schätzchen“, duschetschka, auch als Herzchen oder Seelchen übersetzt. Eine der grausamsten Kurzgeschichten von Cechow. Sie ist das Gegenteil von einer Geschichte für Kinder, sondern die über ein böses Mädchen, das später nur von ihrem noch böseren Stiefsohn übertroffen wird. Teufelin gebiert einen noch größeren Teufel. Das gefiel Stalin, und er nannte das „Schätzchen“ seine Lieblingsgeschichte. Diese Erzählung wird als besonders abgründig empfunden, weil Cechow sie in unschuldigem und süßlichem Ton erzählt und sie gerade dadurch Horror auslöst. Möglich, dass die feinen Kinder der russischen Intellektuellen ihn gar nicht verstanden. Stalin hatte eine raue, nuschelnde Stimme mit feuchter Zunge und schwerem georgischem Akzent. Grob, so wird seine Sprache später noch oft beschrieben werden.

Lenin nennt in seinem Testament als Hauptargument gegen Stalins Führerfähigkeit seine „Grobheit“. Er hatte offenbar Vergnügen daran, die Kinder zu erschrecken.
Irgendwann wurde jemand von den Erwachsenen aufmerksam, weil ein Kind zu weinen begann. Stalin unterstrich die Erzählung noch durch wilde Gesten und Grimassen. Er führte ein wahres Höllenspektakel auf. Dabei sah er schon ohne dies furchterregend aus mit den Pockennarben im Gesicht, grünen Augen, dichten, langgezogenen Augenbrauen, gerader, niedriger Stirn, dem Schnurrbart und dem überdimensionalen schwarzen Haarschopf. Das große Muttermal auf der linken Ohrmuschel war verdeckt, ebenso die am linken Fuß zusammengewachsenen zweite und dritte Zehe. So teuflisch sah der aus, der sich später die große Sonne nennen ließ, zu der alle kleinen aufsahen.

Trotzki betont bei allem Abscheu vor der Person Stalins sein phänomenales Gedächtnis. In den zehn Jahren, die er in geistlichen Schulen zugebracht hat, lernte er ganze Passagen des Alten und Neuen Testaments, dazu Messen, Litaneien, Choräle und Gebete auswendig. Man kann natürlich vermuten, dass Trotzkis Erinnerungen gefärbt sind von dem Schicksal, das ihm Stalin bereitet hat. Aber diese Episode wird bestätigt in den Memoiren des Ehepaares Sofronitzki, Menschewiken, die damals ebenfalls bei den Trotzkis zu Besuch waren. Sie blieben im Ausland und entgingen damit der Rache Lenins und Stalins.

8.7.17

Veronika Seyr
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Ersterscheinen in der Märzausgabe 2004 von „Literatur und Kritik“

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Alfred Schnittke und die Ziehharmonika

Präludio in memoriam

Als der russisch-deutsche Komponist Alfred Schnittke Anfang August 1998 starb, hatte ich gerade erst meinen Posten in Moskau angetreten. Die österreichische Botschaft entsandte mich in meiner Funktion als Kulturrätin zur offiziellen Trauerzeremonie ins Konservatorium. Für mich sollte das mein erster derartiger Auftritt als Repräsentantin der Republik sein, und ich war leicht nervös, war doch meine Beziehung zu diesem Komponisten mehr als lose.

Am Vorabend nahm ich mir in aller Eile die wenigen CDs in meinem Besitz vor, die ich bis dahin nicht einmal geöffnet hatte, durchflog die Klappentexte mit Kurzbiografien und Werkverzeichnissen.

Eigentlich war ich zu keiner Rede eingeladen, aber man konnte bei den Russen nie sicher sein, ob sie einen offiziellen Vertreter nicht spontan auf die Bühne holen würden. Und ich wusste schon, dass die Russen die besten Rhetoriker waren, die immer die schönsten Worte des Lobes, des Dankes und der Verehrung fanden, sei es bei Geburtstagen mit den unendlichen Toasts, den tosti, bei Preisverleihungen, Hochzeiten, Taufen oder Begräbnissen. Sie verstehen es, die wie auch immer Ausgezeichneten mit edlen Kaskaden zu übergießen, mit gedrechselten, gefühlstriefenden Sätzen, scheinbar immer spontan, immer das Wesen des Menschen treffend, nie aufgesetzt, nie gestottert oder vom Zettel gelesen. Eine bewundernswürdige, aber gefährliche Eigenschaft, weil sie uns untalentierte Westler damit einschüchtern und beschämen, auch wenn die gleiche Lobesflut von uns gar nicht erwartet wird.

Schon auf der Alexander-Herzen-Straße vor dem Konservatorium herrscht an diesem August-Vormittag ein dichtes Gedränge, als sei eine Demonstration im Gange. Viele Menschen sprechen mich an, betteln und flehen, sie wollen eine Eintrittskarte ergattern, sie sind in Trauerkleidern und tragen Blumen mit sich. Im Großen Saal empfinde ich die Menschenansammlung als lebensbedrohlich, obwohl ich sofort zur ersten, für Promis reservierten Reihe geleitet werde.

Der offene Sarg ist vor der Orchesterbühne aufgebaut wie ein Altar, die Blumengebirge ragen jetzt schon zwei Meter hoch darüber auf, in der mit vielfach gerafftem Satin ausgeschlagenen Edelholzkiste ist der Tote bis zur Brust zu sehen, zu Kopf liegen die schuppigen Plastikkränze mit Schleifen, Bändern und Sprüchen der Staatsvertreter. Schnittkes langes Haar ist sorgfältig über Stirn und Wangen gelegt, das Gesicht ist bleich, aber scheint doch nur in tiefem Schlaf versunken.

Die Bühne füllen ein Chor und ein Orchester, von den Seitenwänden schauen Bach und Mozart, Beethoven und Tschaikowski mit strengen Augen aus ihren stuckumflorten Konterfeis auf das halblaute Gewurle herunter. Musikstücke aus Schnittkes reichem Werk werden von Reden abgewechselt: aus seinem „Peer Gynt“, aus der Filmmusik zu „Meister und Margarita“ und aus den „Liedern vom Krieg und Frieden“, dazwischen die Ansprachen von Freunden und Musikerkollegen würdig und persönlich, die von Kulturfunktionären lobhudelnd und endlos scheinend. Nur die engsten Freunde umringen den Sarg in einer Ehrenwache. Viele Besucher in den Sitzreihen werden vom Weinen geschüttelt, als wären sie es, die einen Freund und Verwandten verloren haben.

Der große Moment für die Trauernden kam aber erst, als die vorderen Seitentüren aufgingen und die Menschen in dicht gedrängten Schlagen von links nach rechts an dem Sarg vorbei defilieren durften. Man hatte das Konservatorium offenbar nun auch für die Menschen von der Straße geöffnet, in den seitlichen Wandelgängen, in den Nebensälen, in den Stiegenhäusern, Garderoben, Kassen- und Eingangshallen standen die Menschen in dichten Wolken bis auf den Platz hinaus mit dem Tschaikowski-Denkmal. Menschen jeden Alters, dabei auffällig viele Jugendliche und viele schlecht gekleidete und schlecht ernährte Pensionisten, bei denen es oft nur zu einer einzigen roten Nelke gereicht hatte.

Die öffentliche Trauer, das ungehemmte Weinen, das Ausrufen von Klagelauten, Seufzen, Stöhnen und ekstatische Schluchzen – der Große Saal des Tschaikowskij-Konservatoriums hallte davon wider. Jeder schien einen großen Verlust erlitten zu haben, jeder wollte sich persönlich verabschieden. Beim Sarg angekommen, streichelten sie die Wangen des Leichnams, küssten ihn ungehemmt auf den Mund, warfen sich über den offenen Sarg, verweilten kurz mit dem Gesicht auf seiner Brust, steckten ihm ihre Blumen zwischen die gefalteten Hände und beschmusten das schwarz drapierte Fotoporträt auf den Altarstufen wie eine Ikone, bis die Nachrückenden kräftig weiterdrängten. Aber jedem wurde doch seine kurze Trauerzeit gegönnt, auch wenn die Russen ansonsten, obwohl geübt, miserable Schlangensteher sind.

Vom Balkan und von griechischen Inseldörfern waren mir die Klageweiber nicht unbekannt, aber mitten in der modernen, aufgeklärten Mega-City Moskau gerann mir dabei das Blut in den Adern und die Gedärme rebellierten. Nach dem Glauben der orthodoxen Welt verlässt die Seele nicht sofort den Toten, sondern bleibt noch vierzig Tage zwischen Himmel und Erde, in der Aura zwischen dem Verblichenen und den Hinterbliebenen. Die Seele kann noch empfänglich sein für die über dem Grab ausgeschütteten Liebesbeweise, Tränen und Klagen. Der Tod ist noch nicht endgültig, und in dieser Hoffnung lassen sich die Trauernden zu Exaltationen hinreißen. Wenn zuerst Scheu und Entsetzen über diese für mich typisch sowjetische Eigenschaft der Idolisierung überwogen, war doch der Anblick des Rituals unsagbar bewegend und traurig. Vielleicht auch tröstlicher als die nüchterne, nach innen gewandte Trauerarbeit im Westen.

Rätselhaft blieb mir aber bis heute, warum gerade Alfred Schnittke, nach sowjetisch/russischem Standard in jeder Hinsicht ein Hybrid, zu dieser Ehre kam: als Abkömmling eines Deutschen und einer Wolga-Deutschen, ein (1993 in Lockenhaus) zum Katholizismus übergetretener Orthodoxer mit jüdischen Wurzeln, früh als Komponist einer „musica non grata“ abgestempelt und schließlich auch noch ein Republiksflüchtling, der es nie in den Kanon des sowjetischen Massengeschmacks gebracht hat. Die einfühlsamste und plausibelste Erklärung war, dass Russen nun mal gerne trauerten und dies so gut können. Und auch feiern: Sein Freund und Mentor über dreißig Jahre, Gidon Kremer, verabschiedete sich von ihm „mit einem sich in der totalen Einsamkeit auflösenden Solotango von Astor Piazzolla“ [1], bei dem auch ich meine Tränen im rot-weiß-roten Blumenstrauß verstecken musste.

Wie hätte dieses Klagekonzert rund um seinen Leichnam wohl in Schnittkes Ohren geklungen? Oder hat er dergleichen vielleicht schon gehört und dann sein Oratorium „Dies irae“ geschrieben? Oder in die „12 Bußpsalmen“, die „Agonie“ oder seinen „St. Florian“ für Anton Bruckner eingeflochten?
Wenn ich etwas beizutragen gehabt hätte, wäre es vielleicht eine kleine Wiener Melodie auf einer Ziehharmonika gewesen, das Instrument, das ihn am meisten mit Wien verbindet.

Der 1934 in der Wolga-Kleinstadt Engels geborene Schnittke kam 1946 mit seiner Familie nach Wien. Sein Vater Harry Schnittke, ein aus Frankfurt stammender Kommunist, war als Lokalreporter zur „Österreichischen Zeitung“ berufen worden, einem von der sowjetischen Besatzungsmacht herausgegebenen Organ. Die Familie – Mutter und zwei Geschwister – wohnte von 1946 bis 1948 im 4. Stock der Singerstraße 27, einer arisierten Großbürgerwohnung, die bis vor Kurzem Parteigenosse Puppini bewohnt hatte.

Alfred erinnert sich, dass aus einer Mansarde über ihnen immer Klavierspiel zu hören war und wie ihn die Vorstellung beglückte, dass das Mozart sei, der über seinem Kopf komponierte und übte. Einmal traf er auf der Treppe mit einer etwa 36jährigen Frau zusammen, schlank, dunkle Augen, schwarzes Haar, ein zartes, scheues Wesen, immer allein. Was für eine Enttäuschung, nicht WAM spielte Klavier, sondern das Fräulein Charlotte Ruber, bei der der musikalische Alfred später den ersten Unterricht bekam. 37 Jahre später wird sie noch erleben, wie ihr ehemaliger Schüler in Wien die ersten Triumphe feiert. Auf einem nostalgischen Streifzug durch die Singerstraße kommt er auch an jenem Gasthaus vorbei, in dem er immer für seinen Vater einen Krug Sturm kaufen muss. Er entdeckt mit Freuden vor der Tür ein Schild, das besagt, dass Franz Schubert hier zu den Stammkunden gezählt habe. Den grünen Fayence-Krug hatte Schnittke in seiner Moskauer Wohnung stehen und zeigte ihn gerne seinen Gästen: Daraus habe er seinen Wiener Schubert-Sturm getrunken und den ersten Rausch bekommen.

Wien war für den Zwölfjährigen aus dem Provinznest Engels von der mittleren Wolga mit seinen wenigen Straßenzügen aus primitiven Holzhütten eine neue Welt voller Musik, das Himmelreich auf Erden. Noch dazu war das Leben im Krieg von äußerster Armut geprägt. Die erste Orgel hörte er, als er an einem Sonntagvormittag mit seinem jüngeren Bruder Viktor aus der Singerstraße spazierte und über die Seilerstätte und die Weihburggasse streunte. Als er um die Ecke bog, hörte er die Orgel aus den offenen Türen der Franziskanerkirche, das Brausen einer nie gehörten Musik überwältigte seine Scheu und zog ihn hinein. Ein einsamer Priester vor dem Altar, im Halbdunkel der Kerzen einige Besucher und über dem Eingang vom Chor dieses Dröhnen und Wogen – das war also ein katholisches Gotteshaus. Fremd und berauschend, eine Initiation für den Sowjetjungen, der noch nie in einer Kirche gewesen war.

Um die Macht der Musik über die Menschen zu illustrieren, erzählte Alfred gerne die Geschichte von Stalin und Mozarts Klavierkonzert für b-Moll, K 466. [2]
Eines Tages wünschte Stalin, dieses Konzert zu hören. Er kannte weder den Namen noch die Nummer, aber Gott weiß wie fanden seine Untergebenen heraus, worum es sich handelte. Da stellte sich heraus, dass es in der Sowjetunion keine Einspielung dieses Konzertes gab. Die Antwort des Untergebenen lautete natürlich: „Wird gemacht, Genosse Vorsitzender!“

Die Befehlsempfänger vom NCHWD eilten davon, um den Wunsch des „Väterchens aller Völker“ zu erfüllen, aber es gab nirgends eine Platte. Sie erfuhren, dass die berühmte Pianistin Marija Judina dieses Konzert spielte. Sie trommelten ein Orchester zusammen, und die Judina durfte sich sogar einen Dirigenten aussuchen. Alle wurden in einem Studio zusammengebracht und eine nächtliche Plattenaufnahme organisiert. In den frühen Morgenstunden war die Platte in einem einzigen Exemplar produziert. Stalin konnte sich nun, sooft er wollte, der unsterblichen Musik Mozarts hingeben. Er ließ der Pianistin einige tausend Rubel auszahlen. Er bekam von ihr einen Brief, in dem Judina ihm für die erwiesene Ehre dankte, das Geld aber lehnte sie ab und bat darum, es für den Wiederaufbau von Kirchen auszugeben, die im Wahn der atheistischen Hysterie zerstört worden waren. Sie werde für Iossif Wissarionowitsch beten, damit ihm seine Sünden vergeben werden.

Marija Judina war nicht nur eine ausgezeichnete Pianistin und Professorin der klassischen Moskauer Schule, sondern auch eine sehr mutige Frau. Die vom Judaismus zur Orthodoxie übergetretene Judina war ein praktizierendes und bekennendes Mitglied der Russisch-orthodoxen Kirche. Sie wagte es, dem Diktator die Stirn zu bieten. Der Geheimdienstmann, der Stalin diesen Brief überbrachte, hatte schon den Befehl bei sich, Marija Judina zu liquidieren. Das war etwas voreilig, denn Stalin liebte es, auf das Zynischste mit seinen Opfern zu spielen. Nach der zweiten Verhaftung von Josif Mandelstamm – er starb kurz danach auf einem Transport in den Gulag – rief Stalin persönlich bei Boris Pasternak an und beschwerte sich darüber, dass dieser sich zu wenig für seinen Freund Mandelstamm eingesetzt habe. Aber er ließ Pasternak, Bulgakow und Schostakowitsch am Leben. Nur fanden sie zu seinen Lebzeiten nie wieder Ruhe und lebten in ständiger Panik. Ihn amüsierte der Brief von Judina, sie kam mit dem Leben davon, öffentliche Auftritte wurden ihr aber verboten. Ab da galt sie als Stalins Lieblingspianistin. Als Stalin am 5. März 1953 starb, fand man in seinem Arbeitszimmer ebenjene Schallplatte, die 1935 in der Nacht als Sonderbestellung aufgenommen worden war.

Eines Tages brachte der Vater Harry eine Ziehharmonika nach Hause, eine kleine, einfache Hohner mit nur 24 Bässen. Alfred brachte sich das Spiel selbst bei, es gab nichts, was er nicht nachspielte: russische Lieder, die Schnulzen der frühen Nachkriegszeit, Wiener Walzer und englische Hits. Er spielte alles, was er hörte und alles flog ihm zu:
„Mariandl, -andl, -andl, du hast mein Herz am Bandl, Bandl, und lasst es net los“, oder „Bella, bella Donna, Marie, bleib mir treu“, oder „What a beautiful girl“, die Straßenmusikanten vom Graben an der Pestsäule, gleich daneben im OP-Kino die ersten amerikanischen Filme und Wochenschauen und der Zirkus Rebernigg auf den unbebauten Scala-Gründen in Favoriten.

Und da waren noch viel mehr Lieder, die der junge Schnittke im sowjetischen Offiziersclub in der Hofburg oder in der sowjetischen Schule auf der Prinz-Eugen-Straße hörte: „Mein russisch Mutterland, so hold, so wunderschön, des Herzens Freud, mein trautes Heim“. Auch von blühenden Gärten und wogenden Feldern wurde gesungen, von der großen Freiheit Russlands und vom ewigen Sieg. Er liebte damals Josef Wissarion Stalin – Onkel Pepi, wie man ihn in den Wiener KP-Kreisen zu nennen pflegte – genau so wie den Wolferl, den er sich in die Mansarde über seinem Kopf hineinträumte.
So wurde Schnittke sehr früh mit zwei widersprüchlichen Welten konfrontiert und blieb beiden treu.
Als im Jahre 1948 die sowjetische Schule schloss, übersiedelten die Schnittkes wieder nach Moskau, wo Alfred seine klassische Musikausbildung aufnahm.

Der Vater Harry hat nie etwas mit Musik im Sinne gehabt, das Akkordeon hatte er als Prämie von der Redaktion der „ÖZ“ im Globus-Verlag geschenkt bekommen. Wem von seinen Vorgesetzten oder Kollegen war es wohl eingefallen, ihn auf diese Weise auszuzeichnen? Und wer wagt schon zu behaupten, dass ohne diese kleine Hohner Alfred Schnittke kein Komponist geworden wäre?

[1] Gidon Kremer: „Zwischen Welten“, Piper Verlag, S. 328
[2] Die Zitate basieren auf den Erinnerungen des Bruders Viktor Schnittke, mir mündlich erzählt.

4.4.2008

Veronika Seyr
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Ersterscheinen in der Märzausgabe 2004 von „Literatur und Kritik“

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Ordnung im Chaos. Luigi Pirandello (1867-1936) zum 150. Geburtstag am 28. Juni

Ein durchgeistigter Kopf mit hoher Stirn, großen, dunklen, wachen, zugleich gedankenvollen Augen, gerader Nase im schmalen Gesicht, verlängert durch Kinn- und Spitzbart, so präsentiert er sich auf dem am häufigsten reproduzierten Porträtbild aus der Alterszeit. Ein Mann mit Durchblick und doch ein Mann der Nachdenklichkeit, sehr aufmerksam und doch sinnend, vornehm und doch «allem» zugetan. Nein, diese Eigenschaften legt nicht nur das Foto nahe, sie vermitteln ebenfalls seine Biographie und ziehen sich zutiefst durch sein ganzes Werk.

Bekannt ist der Mann, wenn noch überhaupt in unseren Breiten, vor allem als Dramatiker. Sein Ruf kommt nicht von ungefähr; nicht zuletzt entwickelte er sich mehr und mehr zum Praktiker, der sogar 1924 eine eigene Theatertruppe gründete, mit der er für mehrere Jahre auf Welttourneen ging. Und der bereits früh, 1892, in seiner Bonner (!) Dissertation Laute und Lautentwicklung der heimischen Mundart untersuchte. Das Stück «Sechs Personen suchen einen Autor» (1921) steht allerdings als fast einziges pars pro toto für ein umfangreiches, bereits zehn Jahre zuvor beginnendes dramatisches Schaffen. Das sogar bald Max Reinhardt als Regisseur nördlich der Alpen fand. Drama, das nimmt Pirandello sehr wörtlich: Jedes Scheinbild, jedes Geschöpf der Kunst muss sein Drama haben, um zu existieren, schreibt er in einer langen Vorrede, das heißt ein Drama, dessen handelnde Person es ist und durch das es zur handelnden Person wird. Wenn jetzt nur in der Phantasie entstandene Figuren auf die Bühne kommen, entwickeln sie ein Eigenleben, eine «unmögliche» Situation. Deshalb kann es keine logische Entwicklung, […] keinen Zusammenhang der Geschehnisse geben. Die Folge ist ein organische(s) und natürliche(s) Chaos, das aber alles andere als konfus dargestellt wird, sondern im Gegenteil sehr verständlich, einfach und geordnet. (Dazu sei eine Anmerkung erlaubt: Ein Augenzwinkern des Schicksals ließ Pirandello in einem Ortsteil des sizilianischen Agrigent namens Càvuso, Chaos, das Licht der Welt erblicken.) Eine andere Version legte Pirandello zeitgleich mit Heinrich IV. (1922) vor, im Erkennen vergangener Wirklichkeiten, die wie ein […] Traum zurückgeblieben sind, ein buchstäbliches Spiel mit gleichzeitiger heutiger Identität und mittelalterlicher Konkordanz – auf derselben Bühnenebene, fast zwangsweise eine Tragikomödie[1].

Der Ruhm allein als Dramatiker ist schade, denn sein erzählerisches Werk ist nicht nur sehr umfangreich sondern ebenso bedeutend. Pirandello wollte eigentlich für jeden Tag im Jahr (also 365 Mal) eine Novelle vorlegen; ganz hat es nicht gereicht … Es gibt (auch im Taschenbuchformat) einige gute Zusammenstellungen in deutscher Übersetzung, die die Breite seines Schaffens und damit seiner spezifischen Annäherungsweise an komplexe humane Stoffe darlegen.

Schon sein erstes Werk (1904), ein Fortsetzungsroman, lässt im Titel aufhorchen: Il fù bzw. Der gewesene Mattia Pascal[2]. Ein auf einer, heute würde man sagen: virtuellen, Ebene, Gestorbener berichtet über sein aktuelles Dasein: Sein und Schein verwirren sich (auch ohne Bühne). Bis zum Schluss seines Schaffens gelingt es Pirandello meisterlich, das jeweilige Geschehen der Erzählungen ganz konkret «auf der Kippe» zu lassen. Es kann sozusagen alles anders kommen, ohne dass sich wirklich etwas (äußerlich) ändert. Oder umgekehrt, es ändert sich (äußerlich) nichts und zugleich hat sich die Grundlage des Lebens verschoben. Solche Entwicklungsgänge erscheinen kaum einmal als schwer oder gar als schrecklich, denn es sind die «nur» kleinen Verschiebungen, die eine hohe Wirkung entfalten. Niemand ist gefeit vor derartigem Schicksal. Nein, zuerst: Ein eigentliches Schicksal ist es nicht, denn niemand greift da ein, gar autoritär oder mit Macht. Ausgerechnet in dem zunächst als unverrückbar Gekennzeichneten ist die folgende abweichende Wende bereits angelegt. Eben darum kann es jeden treffen, den armen Schlucker wie den bedächtigen Anwalt, die ehrbare Witwe wie den braven Angestellten, den würdigen Professor wie den glücklichen Besitzenden. Wenn die kleinen, die einfachen Leute dasselbe Recht auf die ihnen eigene Existenz haben wie die Studierten und die Betuchten, gewinnt die vom Verfasser stets sorgsam erarbeitete Haltung (der Habitus) der Personen als ihr Erscheinungsbild zeichenhaft die Kenntnis innerer Zustände. Auf, in dieser allen gleichen Ebene wird viel sicher Geglaubtes fragwürdig, vom täglichen Kleinkram über das Heldentum bis zu «der» Wahrheit.

Gerade in dieser, eben nicht nur atmosphärischen, sondern wegweisenden vielschichtig lebensphilosophischen (Schreib-)Weise überwindet Pirandello – der, nach Journalistentätigkeit seit 1892, als Professor für italienische Literaturgeschichte in Rom 1897-1922 die Szene bestens kannte – auch im Erzählerischen den in Italien nach wie vor tonangebenden und betont bodenständig argumentierenden Verismo (den Realismus, am bekanntesten wohl jener von Giovanni Verga). Jetzt erhalten wir Lesenden von ihm subtile psychologisch-inhaltliche Charakterisierungen, doch gerade so knapp, um noch folgen zu können, gerade so sprunghaft, um gebannt die Lücken selbst zu füllen, gerade so kurz angebunden, um mehr erfahren zu wollen, gerade so facettiert, um effektiv betroffen zu sein. Namen sind da kein Zufall, sie führen weiter in die Tiefe, ebenso – und nicht selten – die Titel, etwa und insbesondere «Angst vor dem Glück», «Wenn man das Spiel verstanden hat» oder «Die Pein dieses Lebens».

Wer wie eine Art Kernaussage eine außerordentlich konzentrierte und doch zutiefst literarische (!) Version kennenlernen möchte, der/dem sei die relativ späte Kurzgeschichte «Antwort» empfohlen (Risposta, aus Sciale Nero, 1922[3]). Hier wird das für Pirandello entscheidende Tableau der menschlichen Fragestellungen – Was bin ich wirklich? Was ist demnach richtig? – fast tabellarisch (die Fakten) geordnet und zugleich höchst kunstvoll in der Verschränkung des Verhältnisses von vier Personen abgehandelt in der Argumentationskette eines Ich-Erzählers, in dem unschwer der Autor als Interpret erkennbar wird. Glaub mir, mein Freund, dein Fall (das Versetztwerden durch die vermeintliche Geliebte mit zwei anderen Männern) ist uralt. Neu und originell ist daran nichts als meine Methode und die Erklärung, die ich dir liefern werde. Der vertrackte Ausgangspunkt: Eine andere ist Signorina Anita gewiss. Nicht nur das; sie ist noch viele und viele andere […]; obwohl ein jeder von uns die Illusion hat, die wahre Signorina Anita sei lediglich diejenige, die er kennt; und obwohl auch sie selbst, ja, vor allem sie selbst, die Illusion hat, nur eine und immer dieselbe für alle zu sein. Und was ist, in der Zusammenfassung, das überraschend wichtigste Indiz: Siehst du, mein Freund, es hat schon einen Grund, dass du mir nie von dem Stupsnäschen der Signorina Anita erzählt hast! Dieses Näschen gehört nicht dir. Dieses Näschen gehörte nicht deiner Anita. Dir gehörten die Nachtaugen, ihr leidenschaftliches Herz, ihre ausgesuchte Intelligenz. Aber nicht das verwegene Näschen mit den fleischigen Flügeln […]. Dies Näschen wollte sich rächen […].

Pirandello hätte durchaus von eigenen vielschichtig verflochtenen Lebenssituationen berichten können, namentlich über sein (widersprüchliches) Verhältnis zur italienischen Politik, nicht zuletzt zum regierenden Faschismus, oder über die psychische Krankheit seiner Frau, die 1919 eine Hospitalisierung notwendig machte, oder über die Auswirkungen seines Literatur-Nobelpreises 1934. Voraussichtlich galt bei ihm, nein, für ihn dieselbe achtbare Basis wie für seine Erzählungen: Kein persönliches Geschick ist sehr schwer zu ertragen oder gar bejammernswert, sondern in allen chaotischen Zuständen regiert letztlich immer eine ihnen immanente Ordnung. Welche ihrerseits in dem eleganten, eingängigen und feinen Schreibstil des Autors ihre sozusagen definitive Fassung erhält. Und so prägt – Ach, niemand von uns kann das, was er aus innerem Antrieb tut, richtig übersehen[4] –  gerade eine grundlegende Ambivalenz in unnachahmlicher Weise ein großes, bedeutendes literarisches Schaffen.

[1] Beide Zitate aus L.P., Sechs Personen suchen einen Autor / Heinrich IV, Fischer TB 592, Frankfurt/Main 1964.
[2] Auf «spiegel-projekt gutenberg» im Internet zu lesen.
[3]  Zitiert nach L.P., Novellen für ein Jahr, Fischer TB 1336, Frankfurt/Main 1973, S. 7-16; etwa gleichzeitig wird von L.P. dieselbe Meinung im Stück «6 Personen», in «Heinrich IV.» und auch in zahlreichen Geschichten ausgedrückt.
[4] Heinrich IV. im 1. Akt.

Martin Stankowski
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Ernests Credo

Michael hat, was das Konto seiner Sünden, die er bei seiner Tätigkeit begangen hat, ganz gewiss ein erkleckliches Guthaben, doch echte Todsünden sind keine darunter. Eine solche wäre beispielsweise, dem wichtigsten Credo des größten Idols nicht zu folgen. Er ist ein siebenunddreißigjähriger Schriftsteller, und nachdem er schon seit langer Zeit schreibt, hat er naturgemäß etliche literarische Verbrechen begangen. Er hat höchst zotige Balladen verfasst, wie auch Gedichte und sogar Liedtexte in englischer Sprache, jedoch ohne der Aufgabe der Dichtkunst auch nur im Geringsten gewachsen zu sein.

Abgesehen von derart dilettantischen Versuchen, in die Sphären von Goethe oder Davis einzudringen, hat er sich selbstverständlich auch anderer Zuwiderhandlungen gegen das übliche Verhalten der Kollegen seiner Zunft schuldig gemacht. Und gerade eben wieder. Der Anstand hätte geboten, auch von Kolleginnen zu schreiben, doch hatte der Autor schlicht keine allzu große Lust, sich politisch korrekt zu verhalten. Auch lehnt er es ab, den Leser, wie von Franzen gefordert, als Freund anzusehen.

Er mutet seinen Lesern Texte zu, die als schlicht gefährlich zu bezeichnen sind. Er weiß nämlich, und diese Fähigkeit wurde ihm mehrfach von Verlagslektoren bescheinigt, dass er mit Worten Bilder vor dem geistigen Auge der Leserschaft erzeugen kann. Das Problem hierbei ist, dass er üblicherweise Geschichten schreibt, welche man als psychologisch wertvoll bezeichnen könnte, hätte man eine Inklination zum Euphemismus.
Und dann steht das von ihm erzeugte Bild vor dem Leser und dieser weiß nicht so recht, wie er damit umgehen soll, er ist dem Ungemach, das ihm schriftlich vermittelt wurde, ausgeliefert.

Und dieser Schreiber ist sogar dabei, seine Methoden zu verfeinern. Mittlerweile kann es vorkommen, dass dem arglosen Leser erst nach der Lektüre des letzten Satzes bewusst wird, was er da eigentlich gelesen hat, so gemein kann dieser Künstler sein. Und sogar noch gemeiner. Ab und an überkommt es ihn, und dann ist er satirisch tätig und sorgt dafür, dass ebenso unschuldige wie nichtsahnende Politiker ihr Fett abbekommen.

Auch teilt er sich gerne in ellenlangen Schachtelsätzen mit, wie es auch ein paar seiner literarischen Idole gemacht haben, womit er seinen Lesern enden wollenden Spaß bereitet. Somit folgt er, was die Länge von Sätzen anlangt, keineswegs seinem größten Vorbild, denn er lehnt es schlichtweg ab, an einem Pult stehend zu schreiben, um möglichst kurze Sätze zu produzieren.
In einer Sache jedoch, und dies sei hiermit hoch und heilig versprochen, wird Michael Ernest Hemingway stets folgen, alles andere wäre fürwahr eine Todsünde. Dieser große Schriftsteller hat nämlich gesagt, dass bloß ein trinkender Schreiber ein guter Schreiber ist. Prost!

Michael Timoschek
Erstveröffentlichung in der Schweizer Zeitschrift „Bierglaslyrik“, Ausgabe 26, November 2014

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Auf der Suche nach dem Hotel Savoy

Kurz nachdem ich Paschka Lwowitsch, einen Freund meines älteren Bruders, kennengelernt hatte, überredete ich ihn, mit mir nach Lemberg zu fahren. Eine Unmöglichkeit, zumindest ein Husarenstück.
Die Westgrenze der Sowjetunion war zur Gänze militärisches Sperrgebiet, nicht nur die beiden größeren Städte Lemberg und Tschernowitz. Nicht einmal Russen konnten sich frei rein und raus bewegen, geschweige denn Ausländer, geschweige denn feindliche aus dem imperialistischen Westen. Man brauchte für jede Reise eine Genehmigung des Militärs. Und wer dort nicht lebte und arbeitete, bekam sie nie. Nie im Jahre 1971, unter Breschnew und mitten im Kalten Krieg. Welche und wie viele Waffen, welche und wie viele Truppen – man weiß es nicht, bis heute nicht.

Aber Paschka konnte mir nichts abschlagen, und ich war so naiv wie beharrlich. Es waren ja auch nicht in erster Linie touristische Interessen, die mich so heiß auf Lemberg und Tschernowitz machten, obwohl ich natürlich um ihre Schönheit und Geschichte wusste.
Ich schrieb an einer Hausarbeit über Joseph Roth, der gerade erst wieder aus dem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf geweckt wurde. Es existierte noch nicht einmal eine normative Biographie, und auch seine Werke lagen noch in keiner Gesamtausgabe vor. Vieles von ihm kannte ich nur aus alten Büchern in der Bibliothek meiner Eltern. So auch den Roman „Hotel Savoy“.
Woher ich die Idee hatte, das Vorbild stehe in Lemberg, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich, dass mir der immer in großen historischen Zusammenhängen denkende Dr. Wendelin Schmidt-Dengler, damals jüngster Assistent an der Wiener Germanistik, den Floh ins Ohr gesetzt hatte. Also wollte ich es mit dem Buch in der Hand selbst suchen, bei einer Reise nach Lwow, L‘viv.

Wir lachten darüber, dass sein Name „Sohn von Lwow“ bedeutet.
Wir schmiedeten noch in unseren Uni-Ferien entsprechende Pläne. Von Kiew aus mit Lokalzügen oder Autobussen möglichst unauffällig nach Lemberg fahren. Paschka war noch niemals dort gewesen. Lange ging alles glatt. Auf der letzten Strecke von Iwano-Frankiwsk zog ich mich um und legte die Kleider von Paschkas Mutter an, auf den Kopf ein geblümtes Tuch, das ich in Kiew gekauft hatte. Eine nette kleine Bäuerin. Paschka instruierte mich, möglichst nicht zu sprechen, damit mein Akzent mich nicht verriet. Eine stumme, kleine Bäuerin, nichts Ungewöhnliches. Vielleicht ist es der einzige Vorteil eines Frauendaseins, dass man sich immer dümmer stellen kann, als man ist.
Wir gelangten tatsächlich nach Lemberg, und ich nahm ein Zimmer im schönsten Hotel am Platz gleich neben der katholischen Kathedrale. Er hieß natürlich nicht mehr Marienplatz, sondern Großer Oktober. Wie es gelang, ein Zimmer ohne Reisegenehmigung zu bekommen, ist nicht in meinem Gedächtnis hängen geblieben, aber es gelang. Schließlich wohnte ich dort, kann mich an die heruntergekommen Halle erinnern, das bescheidene Zimmer, und an die alten Frauen, die deschurnije, die in jedem Stockwerk saßen und die Bewohner überwachten. Sie trugen in einem großen, linierten Buch jedes Kommen und Gehen ein. Besucher und Begleiter in die Stockwerke waren in sowjetischen Hotels grundsätzlich nicht erlaubt. Das „Savoy“ war ein großer, achtstöckiger Kasten mit mehr als 800 Zimmern, gebaut im Stil der Gründerzeit, wie sie in jeder Provinzstadt der K.-u.-k.-Monarchie standen. So viel stimmte schon überein. Ich durchstreifte das Hotel immer wieder von unten nach oben und wieder zurück, immer mit dem Roman in der Hand, um Ähnlichkeiten mit Roths Hotel zu finden.

Daniel kehrt nach vier Jahren Krieg für den Kaiser und vier Jahren in russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause zurück, wo nichts mehr ist, wie es früher war. Im Hotel Savoy bekommt er durch seinen Onkel im vorletzten Stockwerk ein billiges Zimmer und sucht Arbeit. Die Gesellschaft teilt sich in die reich gewordenen Kriegsgewinnler – sie bewohnen die Restaurants, Bars und unteren Stockwerke – und die armen Kriegsheimkehrer und Vertriebenen im 7. und im 8. Stock. Sie leben von fast nichts und werden zwischen rechten und linken Strömungen hin- und hergerissen. Die Hierarchie des Hotels als Symbol für die Gesellschaft. Es ist nach dem „Spinnennetz“ der zweite Roman, in dem Roth sehr früh und hellsichtig die schreckliche Zukunft voraussieht.

Ich werde immer sicherer, dass ich das Hotel Savoy des Joseph Roth gefunden habe.
Roth nennt nirgendwo den Namen der Stadt, sondern gibt nur Andeutungen. Eine alte Stadt, Grenzstadt von zwei verfallenen Reichen, multinational, viele Juden, viele Kriegsgewinnler und verzweifelte Proletarier. Alles schien mir auf Lemberg zuzutreffen.
Paschka und ich verbringen schöne Spätsommertage, streunen durch die Stadt, sehen uns alle Sehenswürdigkeiten an, soweit sie geöffnet sind. Vieles wie die Kirchen ist zweckentfremdet wie etwa die armenische Kirche und die Synagoge, wo Kohlen beziehungsweise Baumaterialien gelagert werden. Paschka ist fasziniert, denn er hat noch nie eine vollständig erhaltene europäische Stadt gesehen.

Er darf als Russe kein Zimmer im Hotel nehmen, daher wohnt er in einem Studentenheim, und wir können uns nur untertags sehen. Das ist natürlich sehr störend, wenn man jung ist und frisch verliebt.
So entsteht der Plan, dass er sich einschleichen soll, wenn die deschurnaja einmal aufs Klo geht oder Wachwechsel ist. Es gelingt tatsächlich, und er kann in das Zimmer Nummer 703 schlüpfen. Aber unser Glück währt nicht lang. Wir wissen nicht, wie wir aufflogen, wer uns gesehen, wer uns verraten hat. Kann aber leicht sein, dass die Wände Augen und Ohren haben. Noch vor Mitternacht ein grobes Schlagen mit Fäusten an die Tür und Geschrei: Aufmachen Genossen, und alle raus!

Wunderbar, das nennt man sowjetische Gastfreundschaft und Hotelkultur. Wir ziehen uns schnell an. Vor der Tür steht die Deschurnaja, stemmt ihre Arme in die fetten Hüften und lächelt uns höhnisch triumphierend an. Na, mich kriegt ihr nicht dran, ihr dummes Junggemüse! Wir werden unter Begleitung von zwei Milizionären in die Direktion gebracht. Paschka wird des Hotels verwiesen, weil er Russe ist, ich, weil ich als Ausländerin gar nicht hier sein dürfte. Aber wir haben Glück. Wir werden nur angewiesen, am Morgen sofort nach Moskau zurückzufahren, personae non gratae. Die Strafe fällt auch milde aus; die vier weiteren Tage, die ich gebucht hatte, verfallen. Das ist zu verschmerzen. Im Gespräch mit dem Direktor gibt es dann noch eine große Überraschung. Es stellt sich heraus, dass ich mit dem angeblichen Hotel Savoy in Lemberg einem kapitalen Irrtum aufgesessen war. Das echte stand und steht im polnischen Lodz und heißt auch noch immer so. Diese westpolnische Stadt hatte sich gegen das Ende des 19. Jahrhunderts mit ihrer Textilindustrie zu einem „polnischen Manchester“ entwickelt. Für die internationalen Gäste brauchte es ein großes und luxuriöses Hotel, eben dieses Savoy. Es hat den Ersten und Zweiten Weltkrieg, die Gestapo und den Sozialismus überlebt und strahlt frisch renoviert in alter Pracht.

Nach Czernowitz weiterzureisen, trauten wir uns aber doch nicht, das Glück sollte man nicht zu sehr reizen.
Im Jahr darauf erschien die bis heute klassische, noch immer nicht übertroffene Biografie Josefs Roths von David Bronnen mit einem großen Kapitel über Lodz und sein Hotel Savoy. Ich konnte gerade noch rechtzeitig meine Hausarbeit korrigieren. Aber mit einer Sensation hatte sie nicht mehr aufzuwarten.

14.7.17

Veronika Seyr
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Erstveröffentlichung in Literatur und Kritik, Heft September 2017, Nr. 517/518

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Der Ruf aus dem Gestern. Pearl S. Buck (1892-1973) zum 125. Geburtstag am 26. Juni

Beginnt man über Pearl Sydenstricker Buck zu schreiben, fühlt man sich fast auf verlorenem Posten. Es stellt sich die Frage, ob man sich nicht mit einer doppelten vergangenen Welt beschäftigt: mit dem China, in dem die Autorin über Jahrzehnte lebte, und welches sie Zeit ihres Lebens in zahlreichen Schriften behandelte, ein Land, das, wie bekannt, seither mehrfach gewaltigste Umbrüche erlebte. Sowie mit der amerikanischen Gegenwart der 1950er/1960er Jahre, in der die Autorin massgebend stilbildend zu wirken versuchte, eine Welt, die im 21. Jh. ebenfalls bereits fast allzu weit zurückzuliegen scheint. Wenn ich trotzdem eine positive Antwort gebe – es lohnt sich unbedingt, an Frau Buck zu erinnern –, dann aufgrund ihrer literarischen Bedeutung für ihre Zeit und aufgrund ihrer Thematiken, die heute, in einer Zeit der fast überbordenden Sinnfragen, wieder Konjunktur bekommen.

Es ist, obgleich fast von Beginn ihrer Schreibtätigkeit an vielfach und namentlich von Männern geäußert, wohl doch eine sehr einseitige Sicht, Pearl S. Bucks Stil als eine biedere (amerikanische) Hausfrauenschreibe abzuqualifizieren. Natürlich können bei einer hohen Produktion von achtzig Titeln, darunter knapp dreißig Romane, nicht zwingend stets äußerst differenzierte Äußerungen erwartet werden. Gewiss kennzeichnet ihren Stil eine Disziplin ohne alle Schnörkel und eine wenig komplexe Ausdrucksweise. Man darf dabei nicht vergessen, in welch starkem Maß die Schriftstellerin zum einen von evangelisch-presbyterianischem Missionselternhaus und erster Ehe in China geprägt wurde, zum anderen vom nachfolgenden gesellschaftlich ausgerichteten Wirken in den USA. So mag die an Bucks Qualitäten zweifelnde Haltung – die im Übrigen bereits parallel zur Verleihung des Nobelpreises 1938 (»für ihre reichen und epischen Schilderungen […]») geäußert wurde – sich als eine Art self fulfilling prophecy erweisen.
Der die Autorin insofern selbst Stoff gab, indem sie sich niemals als novelist, als Romancier, bezeichnete, sondern (lediglich) als Erzählerin. Und auf wen dieser Stil misslich schlicht wirkt, muss sich klarmachen, wann ihre ersten Bücher erschienen. Mit dem Drang nach unkomplizierter Sprache, mit der Suche nach unmissverständlichen Aussagen, mit einer Linearität des «Fort-Schreibens» ist sie in der Zwischenkriegszeit und den folgenden Jahren bei Weitem nicht allein. Ihr lassen sich viele andere Mitautoren anschließen, die, weil zeitgebunden, gleichfalls nicht einfach «bescheiden» zu bezeichnen sind: aus unseren Regionen etwa Gertrud Fussenegger, Karl Heinz Waggerl oder Stefan Andres. Bei Pearl S. Buck scheint der Stil überdies unserem Empfinden für die Äußerungsart Ostasiens zu entsprechen – oder hat gerade sie mit ihrer Produktion womöglich dieses Empfinden erst in diese eine Richtung kanalisiert?

Dies, weiter gedacht, führt zur Frage, wie ihr Stil zum Inhalt steht. Im Wesentlichen handelt insbesondere das geläufige Gros ihrer Geschichten im China der 1920er und 1930er Jahre, jener Zeitspanne, in der das alte Kaiserreich mit seinen jahrhundertelang bindenden Traditionen in Gesellschaft und Kultur zusammenbrach. Die Autorin stellt sich dabei nicht dezidiert gegen die Neuerungen, setzt ihnen indessen eine gehörige Dosis Traditionalismus entgegen – dies nicht zuletzt, weil sie die besonderen Werte dieser vergehenden Zeit nicht allein aus der interpretierenden Distanz der «Abendländer» kannte, sondern insbesondere aus der inneren Welt ihrer einheimischen Freundinnen. In der Mischung aus Teilnahme und Abstand und in ihrem Wunsch, gegensätzliche Vorstellungen auszugleichen, ist sie nicht nur ehrlich; sie wird zu einer authentischen Zeugin: Bei aller dichterischen Freiheit der Romanstoffe hat sie gelebt, was sie schreibt. Diesen Hinter-, besser: Untergrund schildert sie eindringlich bereits im Prolog von «Die Gute Erde» – 1931 (dt. 1933) und nach wie vor wohl ihr bekanntestes Werk –, eingedenk des gewählten Untertitels: «Die Geschichte des chinesischen Menschen» (!).

Die Empathie liegt bei Pearl S. Buck nicht «obenauf». Empfindung ist eher zwischen den Zeilen, genauer: zwischen den Worten zu finden. Denn sie breitet, beschreibend, äußere gesellschaftliche Situationen aus, deren Ablauf eben durch den inneren Habitus innerhalb der handelnden Familienverbände ganz wesentlich bestimmt wird. Nicht das Gefühl trägt also das (Auf-)Schreiben, sondern das Einfühlungsvermögen. Dies impliziert allerdings, auch, das Vorhaben eines «auktorialen» Erklärens. Doch gilt hier wiederum eine Einschränkung: Die Autorin fällt nicht in die (ansonsten leider häufige) Unsitte, nacherzählend gleichsam Bericht zu erstatten. Sie hält konsequent den Blick auf das jeweilige Geschehen gerichtet … und ihre Ausdrucksform, den ihr eigenen Stil, durch. Aus einem anderen Blickwinkel erweist sie sich dabei – vermutlich durch das Angloamerikanische erleichtert – durchaus versiert in der Kunst des Weglassens und versteht gerade dadurch, «in den Bann zu schlagen».

Diese Rücksicht auf den Anteil des Lesers und bei dieser Autorin ausdrücklich der Leserin mag seinerseits zur Auseinandersetzung durch Filmschaffende gereizt haben; im Kino waren bald nach dem Erscheinen der Bücher etwa «Die Gute Erde» (natürlich) oder «Drachensaat» zu sehen, 2000 wurde dann noch «Die Frauen des Hauses Wu» herausgebracht. Eine gute Grundlage für diese Weiterführung liegt sicherlich in P.S. Bucks gekonnter Handwerklichkeit, wobei bei der Vielschreiberin fast naturgemäss die Professionalität– und darin die Absicht, spezielle Haltungen zu erzeugen – zunimmt. War sie niemals frei davon, die missionarische Stimme mitsprechen zu lassen, so erweist sich der Wille zur unmissverständlichen Deutung deutlich im Spätwerk, etwa in «Lebendiger Bambus» (1963, dt. 1964), das ausnahmsweise in Korea spielt und vor dem Hintergrund des unlängst zu Ende gegangenen Kriegs (1950-53) letztlich fast etwas aufdringlich den amerikanischen Einfluss thematisiert.

Zu diesem Zeitpunkt war die Buck bereits seit drei Jahrzehnten definitiv aus China in ihre Heimat, die sie vollständig als solche empfand, zurückgekehrt, hatte in zweiter Ehe ihren Verleger geheiratet und sich umfassend dortigen sozialen Themen zugewandt. Namentlich engagierte sie sich in der Organisation für Kinder in schwierigen Lagen, sicherlich mitbeeinflusst durch die Behinderung ihrer ersten, in China geborenen Tochter und ihrer zahlreichen Adoptivkinder. Dies «amerikanische» Engagement wirkte sich naturgemäss auf ihre literarische Tätigkeit aus, die sich unter anderem nunmehr der Rassenfrage widmete. Neuartig war dieser Stoff für sie nicht, ging es ihr doch vom presbyterianisch-christlichen Schreib-Beginn an um Toleranz und Völkerverständigung. Wohl nicht von ungefähr also beginnt sie einerseits spät unter dem Pseudonym John Sedges zu publizieren und schreibt andererseits in kurzem Abstand zwei Autobiographien (1954, 1962).
Diese fallen in eine Zeitspanne, in der Pearl S. Buck sich intensiv mit anderen kreativen Fähigkeiten befasst wie Bildhauerei oder Filmregie … und mit der Landwirtschaft, die sie zum Kauf einer Farm in Vermont führte, wo sie auch ihre letzte Ruhestätte fand. Wobei sie neuerlich einen Bogen zu ihren «chinesischen» Erstlingswerken schlägt, die bewusstmachen wollten, dass sich auf explizit diesem Gebiet die beiden von ihr er-, nein: gelebten Welten gar nicht gewaltig unterscheiden.
Unterschieden haben, sollte man wohl hinzufügen – in einer nach der Lektüre ihrer Bücher kenntnisreicheren Spannung von Gestern und Heute, die sich auf das Wirken von Pearl Sydenstricker Buck gründet.

Martin Stankowski
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Das Lebensbuch

(das wahrscheinlich wichtigste Buch meines Lebens)

Wie das Buch hieß und woher es zu mir kam, weiß ich nicht mehr. Ob von der älteren Schwester geerbt oder ob ich es selbst entdeckt habe, in der Buchhandlung Sigmund am Tullner Hauptplatz oder in der Stadtbücherei ausgeborgt, das ist wahrscheinlich für immer in der Vergangenheit versunken. Eher hatte ich es zu Weihnachten oder zum Geburtstag bekommen, unsere Eltern waren sehr aufmerksam um unsere Lektüren.

Ich war dreizehn oder vierzehn Jahre alt, ein Schwellenalter. Das, wovon das Buch handelte, konnte mich weder früher noch später so fasziniert haben, dass ich das Buch bis heute geradezu spüren und schmecken kann. Es riecht noch immer nach diesem Sommer in meiner Erinnerung.
Milde Sonne und Lavendel zum Greifen. Bis zum heutigen Tag bin ich ergriffen von diesem Glücksgefühl, das dieses Buch auslöste. Gerne und oft kehre ich in diese Glocke zurück, in diese Versprechungen.

Mehrere französische Familien machen Ferien auf einem Landgut nicht weit von Paris. Vage Bilder, eine konkrete Handlung ist nicht hängengeblieben. Es gibt eine Schar junger Leute, alle etwas älter als ich, reicher, schöner, fröhlicher und freier. Sie sind unsagbar begehrenswert und feiern jeden Tag das Fest des Lebens. Keine Sorgen, Ferien eben. Sie leben in wunderschönen Häusern, machen Ausflüge in die lieblichsten Landschaften, sie fahren Rad durch duftende Wiesen und an Hecken mit blühenden Wildrosen entlang, die ich bis heute in der Nase habe. Sie baden in einem Fluss und lassen sich in der Sonne trocknen. Pan spielt mit dem Sommerwind, darüber trillern Lerchen, jeder ist in jede verliebt, oder sie spielen damit mit einer beneidenswerten Leichtigkeit. Ja, diese von nichts beschwerte Leichtigkeit des Umgangs miteinander, glaube ich, faszinierte mich am meisten. Es war wie der Unterschied zwischen einem Baguette zu unserem Bauernbrot. Wie der Tanz von Schmetterlingen zum Krähenflug.

Eigentlich waren diese französischen Jugendlichen ein fremder Stamm, den ich mit ethnologischem Interesse untersuchte und von dem ich das Universelle zu übernehmen versuchte. Ich studierte ihre Sprache, Blicke, Codes – die Sprache unterhalb der Oberfläche. Das war es, was sie in meinen Augen so frei machte. Heimlich übte ich vor dem Spiegel Rede und Gegenrede, Mienen und Gesten, Grimassen und Haltungen.

Es klingt kitschig und romantisch, war es aber nicht. Diese französische Autorin war supermodern. Nichts von der armen Enge der Hochreiter-Kinder von Marlen Haushofer, der Stifter‘schen Bunten Steine oder der Waggerl-Welt, wie ich sie bis dahin kannte. Dem Winnetou- Kult, den meine älteren Geschwister um die Wette betrieben, konnte ich nichts abgewinnen. Von Karl May habe ich nur Die Weber, Im Land der Skipetaren und Der Schut gelesen, wahrscheinlich weil sie gerade ungelesen herumlagen. An die 80 anderen Bände kam ich zu meiner Zeit nicht heran, weil sie ständig unter den Älteren kreisten. Ich hab schon 40, pah, ich schon 56, so ging das damals.

Meine französischen Teenager waren in meinen Augen alle ein bisschen exzentrisch und taten verrückte Dinge, wofür ich sie heftig beneidete. Aber ich hätte das bei mir nirgendwo ausprobieren können. Sie hatten jeder einen bestimmten Stil und drückten ihre Persönlichkeit ungehindert aus. Sie schienen schon alles über das Leben und die Welt zu wissen, wobei mich natürlich das Mysterium zwischen Männern und Frauen am meisten interessierte. Die Sexualität könnte die Brücke zur Überwindung der Fremdheit sein. Aber bei uns wurde sie aus religiösen Gründen unterdrückt. Die jungen Franzosen schienen davon vollkommen unberührt zu sein, sie wurden nicht belästigt und bedroht von den Erwachsenen, sie konnten sich so frei entwickeln wie ihre Heckenrosen und Blumenwiesen. Wir dagegen wurden aufgezogen wie Spalierobst und beschnitten wie Buchsbäume. Reih und Glied.
Es war vor allem das Lebensgefühl des Aufbruchs, dass alles möglich war und nur Schönes vor einem lag, das dieses Buch vermittelte. Die Zukunft stand weit offen und winkte mit goldenen Aussichten.

Ein unvergessliches Buch, von dem ich nicht einmal den Namen die Autorin mehr weiß? Warum bin ich mir so sicher, dass es überhaupt eine Autorin war? Sie war eine Frau, weil ich mich von ihr vollkommen verstanden fühlte, auf gruselige Art durchschaut, aber nicht verraten, sondern aufgehoben. Auch an die Handlung kann ich mich kaum erinnern, kein einziges Detail, alles nur vage, alles Stimmung und Schwingung. Keine Probleme und Verwicklungen, die es ja auch gegeben haben muss, denn ansonsten hätte das Buch nicht von lebendigen Menschen gehandelt. Die eventuell störenden Erwachsenen sind ausgeblendet. Es war die Atmosphäre, die Lebensluft, die mir wie der Gegenentwurf zu meiner eigenen Welt vorkam. Ein Entwurf in meine eigene erträumte Zukunft.

Bei uns zu Hause war es üblich, dass alle über ihre Lektüren sprachen, dass darüber am Esstisch diskutiert wurde, auch gestritten, und die Eltern, die alles wussten, oft als Schiedsrichter auftraten. Obwohl ich meinen französischen Traum hütete wie den Augapfel, kam meine zwei Jahre jüngere Schwester hinter mein Geheimnis. Sie wollte natürlich das Buch auch sofort lesen, was ich in jeder Hinsicht für unangemessen hielt. Sie war ja viel zu jung für so eine Geschichte, ein Baby! Ich wollte meinen Altersvorsprung als Autorität ausspielen. Aber vor allem wollte ich meine neue Traumwelt mit niemandem teilen. Ich hütete sie eifersüchtig und egoistisch, sie war mein Privatkosmos, mein eigenes kleines Paradies, das ich bis ins Letzte verbissen verteidigte.
Ich las nur noch heimlich und versteckte das Buch unter der Bettmatratze. Es war ein Skandal, weil ich behauptete, es sei verschwunden. Nach einer peniblen Zimmerkontrolle durch die Mutter musste ich es herausrücken und nach dem Auslesen der kleinen Schwester ausliefern. Ich glaube, ich habe noch nie jemanden so gehasst wie die beiden, ich weiß nicht, wen mehr. Es war ein Überfall, ein Raub, ein Einbruch, eine Entweihung, ein Hineintrampeln in meine Welt. Das dort waren meine Menschen, meine Freunde, meine Lieben. Ich lebte mit ihnen, sie lebten mit mir.
Ich spüre noch immer Zorn aufsteigen, dass sie mir mutwillig den ersten großen Kummer meines Lebens zugefügt haben. Und die Scham darüber, dass ich dieses Buch, das Intimste, das Privateste, das Schönste, was ich hatte, nicht hatte schützen können vor fremden Blicken und Gefühlen.

Trotz aller persönlicher Tragik waren in der Folge drei Dinge tröstlich, ja sogar beglückend. Es kamen noch zwei Fortsetzungsromane, die ich geheimhalten konnte, weil ich sie nicht mehr zu Hause las, sondern in einem sicheren Depot bei einer Freundin.
Und schließlich ist dieses Erlebnis ein Beweis dafür, dass es ein gutes Buch gewesen sein muss. Denn ohne diese Qualitäten, die ich so sehr schätzte, dass sie unvergesslich sind, wäre ich vielleicht erst später oder gar nicht drauf gekommen, was ein gutes Buch ausmacht: die Erschaffung einer neuen Welt, in der man besser leben kann als in der eigenen, mit Menschen, Ereignissen, Gefühlen und Erkenntnissen, Landschaften und Gerüchen, die das erste Leben anreichern und ins Endlose ausweiten. Die dritte Entdeckung war, dass Lesen eine wunderbare, nie endende Art von Selbstfindung ist. Zumindest verstand ich seit damals, dass wir nie das Fremde suchen, sondern immer auf der Suche nach dem Eigenen sind. Es wird immer belohnt. Meine Liebe zu den Autoren, die so etwas zu bewirken vermögen, ist ungebrochen. So haben sie mich zu einer maßlosen Bücher-Fresserin und Welten-Entdeckerin gemacht.

Mutter und Schwester habe ich natürlich längst verziehen.
Wir sind schließlich alle aus demselben Holz geschnitzt.

30.6.17

Veronika Seyr
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Das Geheimnis in der Bassena

Solange du nicht zu steigen aufhörst, hören die Stufen nicht auf, unter deinen steigenden Füßen wachsen sie aufwärts.
Franz Kafka. Fürsprecher.

Sie sperrt die Tür auf, durchquert den Gedenkraum und legt zuerst die Blumen auf das Kaminsims. Im Winter sind es Rosen, später, im März und April Tulpen oder Narzissen, im Mai Flieder oder Pfingstrosen. Wasser in die Bassena gießen, frisches einlassen und die neuen Blumen drapieren; die Stängel sollen nicht am Boden anstoßen, hat er auf einen der Gesprächszettel geschrieben. Links davon stehen die siebzehn Bände des Gesamtwerkes, daneben eine dicke, abgebrannte Kerze. Ein bisschen Altar.
Sitzen und Warten. Ins Stiegenhaus horchen. Auf die Glocke unten, die Schritte zwei Stockwerke hoch. Nichts, niemand. Wieder einmal kein einziger Besucher. Die Einsamkeit passt zu ihm. Die Stunden schleichen zäh dahin, sie meint, die Zeit am Stand ticken zu hören, stillgestanden seit dem 3. Juni 1924.

Es ist aber nur das banale Knistern der Heizung, wenn sie an- und abspringt. Dann von oben ein dumpfes Poltern, Schieben, Kratzen und Rollen über dem Plafond.
Die Geister sind immer und überall. Sie lassen sie niemals in Ruhe und dringen überall ein. Wahrscheinlich verrückt der Hausherr aber nur wieder einmal die Blumenkübel auf seiner Terrasse, als wollte er mit seinen Oleandern und Lebensbäumen das Orakel von Stonehenge nachbauen. Dieser Herr Odradek ist ein pain in the neck and in the ass. Pia denkt oft auf Englisch. Häufige Reisen nach London, eintauchen ins Theaterleben, nichts geht über Shakespeare, aber für das Leben dort reicht ihr Gehalt nicht.
Auf der Hauptstraße, vor den Fenstern, rauscht der Verkehr, unterbrochen von jähem Abbremsen, nervösem Hupen und reifenquietschendem Abbiegen zum A-H-Supermarkt. Ein Getöse, bösartig im Ton, aber gestaltlos und ohne Bedeutung. Sie sollten mit Kotflügeln aufeinander schlagen wie mit rauchenden Colts. Dazwischen das banale Klirren von Einkaufswägen und hysterisches Kindergeschrei.

Die Bibliotheksarbeit ist schnell erledigt, es gibt ja nicht allzu viele Neuzugänge, die Mitgliederkartei auf den neuesten Stand gebracht, die Liste der neuen E-Mail-Einträge ist kopiert, seit Jahresbeginn ganze sieben. Sie sitzt einige Zeit am Schreibtisch und studiert wie schon so oft die rohe Ziegelwand, da kann sie sich verlieren, ihre eigene Meditation. Einmal sieht sie sich im Raum um, zu den Bücherregalen. Französische, koreanische, russische, chinesische, arabische Übersetzungen, alle interessieren sich für K. Außer den fremdsprachigen Übersetzungen hat sie alle Bücher gelesen, manche schon mehrmals. Auf die reichen Bildbände über Leben, Orte und Werke hat sie gerade keine Lust. Zu oft gesehen, gelesen, studiert, und nie zu Ende gekommen, zu einem Ende, einem eindeutigen. Gerade heute braucht sie keine fremden Rätsel.
Von ihrem Stuhl aus sieht sie auf die großen Porträt-Fotos von Dora Diamant und Robert Klopstock, die beiden Begleiter auf seinem letzten Weg. Dora war schon im Sanatorium Wienerwald und im Allgemeinen Krankenhaus an seiner Seite, Robert kam Anfang Mai nach Kierling geeilt. Er übernahm einen Großteil der medizinischen Betreuung und die Korrespondenz, Dora bekochte und fütterte ihn und versuchte, ihm einige Schlucke von Flüssigkeit einzuflößen. Sprechen konnten sie nicht mehr miteinander, sie schrieben einander auf Zettel ihre Mitteilungen.
Pia schüttelt sich in ihrem ganzen runden Körper und wedelt mit den Armen, wie um einen Insektenschwarm abzuwehren. Der soll nu mal ne Ruh geben, endlich. Dabei ist sie doch nur wegen ihm da.

Auf den Boden kommen. Jetzt einmal einen Kaffee und eine Zigarette auf dem Balkon mit langen Blicken ins Maital. Auch so vergeht die Zeit. Auf der Tanne sitzen die jungen Zapfen dicht wie Haifischzähne, um den Wipfel herum vergnügen sich Blaumeisen, darüber quengeln Dohlen und Krähen. Unten im Rasen wachsen einige Fliederbüsche mit weißen und dunkellila Blüten, die Pfingstrosen noch nicht aufgeblüht. Sie sind alt und schon knorrig. Ob sie schon zu Kafkas Zeit hier standen? Dora und Robert haben aus Wien immer frische Sträuße mitgebracht. Franz, riech mal, wie schön. Um diese Zeit, die letzten Maitage, stellen sie eine Schale mit Erdbeeren und Kirschen auf den Tisch, die liebte er, Dora hielt sie ihm unter die Nase, zuletzt konnte er nur noch ihren Geruch genießen.

Zurück im Zimmer, es ist dämmrig geworden, der April bringt wieder einmal ein Gewitter ins Tal. Der braune Parkettboden dunkelt in zwei oder drei Schattierungen, und die Wände ziehen sich in weite Ferne zurück. In den Ecken hängen Erinnerungen wie Spinnengewebe. Der hat hier seine Gespenster ausgehaucht und zurückgelassen. Heute ist sie diejenige, die das hütet. Die Pflege von Spinnweben und Todeshauch. Ein schöner Job, aber sie hat ihn sich ausgesucht, und er ist ja ehrenamtlich. Ohne Amt, nur Ehre.

Pia gähnt und streckt sich in ihrem Sessel, die Arme zurück und die Beine unter dem Tisch. Sie legt den Kopf auf die Seite und lauscht der schwachen, zittrigen Musik aus dem Radio. Sie runzelt die Stirn und weiß nicht, warum ihr der Händel heute lästig ist. Weil ihr heute alles auf die Nerven geht, sogar ihr vielgeliebter Landsmann aus Halle/Saale? Ihr Gott, der größte Mensch, der je gelebt hat, alle anderen, sogar Mozart und Beethoven sind nur seine Propheten. Händel ist meine Religion, pflegt sie vor Freunden zu sagen, die einzige, und das hat nichts mit Halle zu tun.
Goodman wäre jetzt besser. Ein heißes, scharfes Geschmetter, die nervös zerrissenen Sequenzen einer Jam-Session, New Orleans und nicht Kierling. Aber auf Ö1 läuft gerade kein Goodman. Sie dreht das Radio etwas lauter. Vielleicht wären sogar Walzer jetzt besser. Aber seit Wien gestorben ist, sind alle Walzer Schatten. Wien, das große absterbende Riesendorf, hat er einmal festgestellt. Aussichtslos. Vielleicht doch noch das Album mit den Fotografien hernehmen. Die Kinderbilder, mit und ohne Schwestern, als Maturant, der neue Doktor juris, mit der Lieblingsschwester, mit dem Freund und allein auf dem Altstädter Platz. Das alte Katzenkopfpflaster unter den eleganten Schuhen. Hochgewachsen, schmal trotz mehrfacher Schicht von dreiteiligem Anzug, auf dem Kopf einen hohen Hut. Nicht unfreundlich im Ausdruck und leicht zugeneigt, aber nicht wirklich lächelnd. Prag, das einen nicht loslässt, das Mütterchen mit Krallen, schreibt er in sein Tagebuch. Prag prägt. Die Stadt ist eine Heimsuchung.

Sie streicht sich mit beiden Händen über das straff zurückgekämmte Haar und steckt die Klammer über eine ungehorsame Strähne am Hinterkopf fester. Sie spielt mit der langen, silbernen Uhrkette vor der Brust, die Zeiger im ovalen Ziffernblatt bewegen sich nicht. Sie streicht ihre lange Bluse aus gerippter Seide über den pfirsichfarbenen Knien glatt und betrachtet lange die mit violetten Lotosknospen bestickten Leggings. Die Farbe ihrer Augen, ihr „ absolutes Alleinstellungsmerkmal“, sagt der Therapeut immer, dazu groß, tief liegend und glänzend. Ja der, und sie ballt ihre Fäuste in der Uhrkette. Der ist ja magersüchtig, und ich bin dickdickdick.
Aber sie hat sich in ihn verliebt. Das geht nun schon fünf Jahre, dass sie von ihm träumt.

Soll sie vielleicht etwas essen? Ihren Quinoa-Salat mit Avocados und Cherry-Tomaten. Sie sieht ihn geradezu vor sich, die Plastikbox steckt in ihrer Tasche, heute früh mit frischen Kräutern zubereitet für ihren Samstags-Dienst im Gedenkraum. Nein, es ist noch zu früh, sagt der strenge Kopf, obwohl der lässigere Magen schon etwas aufnehmen könnte. Der Appetit geht immer von Bildern aus, es ist Kopfhunger, nicht Magenhunger. Sie weiß das schon lange, versucht in Therapien und Tanz-Workshops die Bilder zu ändern und kommt doch nicht von ihren überzähligen Kilos los. Und überhaupt, in dem Zimmer, wo er verhungert ist, ans Essen zu denken. Ihre Kollegin Sybille hielt das für unmoralisch.
Sie schaut auf den Parkett-Boden und sieht plötzlich, dass hier ein blauer Teppich liegen sollte. Ein Wahrnehmungsanfall- oder -ausfall? Sehen violette Augen andere Farben als braune, blaue oder graue?
Einen Augenblick zuvor war sie entspannt zurückgelehnt im Sessel dagesessen, und im nächsten stand sie auf den Füßen, absolut ruhig und im Gleichgewicht.
Putzen! Das ist es! Ordnung machen, auch wenn alles in Ordnung ist. Wenn etwas sauber ist, dann ist immer auch alles andere in Ordnung. Das kann nicht falsch sein, nicht in der DDR und auch anderswo nicht. Dreck lässt sich immer noch irgendwo finden. Das gibt Sicherheit.

Warte, he, pass auf, die Bandscheiben, das ist eine schwere Arbeit. Die paar Krümel von ihrem Quinoa-Salat mit Knäckebrot hat sie schnell weggewischt, ansonsten war alles sauber wie Brokat. Alle ehrenamtlichen Raumwächter waren darauf bedacht, keine Spuren zu hinterlassen, weder eigene noch fremde. Aber Pia ist geradezu von einem Putzfimmel besessen, noch das letzte Krümel- oder Stäubchen entdeckt sie mit Adleraugen und entfernt sie mit Besen und Wischmopp. Feucht aufwischen ist heute nicht notwendig, das Parkett glänzt ohnedies; wenn sie sich vorbeugt, kann sie sich darin spiegeln. Ein verrutschtes Spiegelbild, genauso wie seine Traumspiegelwelt. Vielleicht hat er zu oft auf seinen Parkettboden geschaut, geht ihr zum ersten Mal durch den Kopf. Oh Gott, bin ich banal, da mach ich doch gleich etwas ganz Banales. Sie steht auf und holt mit gezielter Geste aus der Abstellkammer ein Staubtuch. Sie kennt dort jeden Millimeter, hat sie sie doch selbst eingerichtet und ausgestattet.

Sie wischt mit dem Staubtuch über die dunklen Holzwände der Sitzecke, dort sammeln sich gern die Fusseln oder die Flankerl, wie die Ösis sagen. Als sie sich wieder aufzurichten versucht – vielleicht mit einer zu heftigen Bewegung – stößt sie mit der linken Schulter von unten an das Bücherbrett. Diese kleine Erschütterung bringt die schräg aufgestellten Bildbände ins Rutschen, und wie eine Dominoreihe fallen sie um. Ein Buch auf das andere, langsam, wie in Zeitlupe, aber irgendwann haben sie keinen Platz mehr auf dem schmalen Brett und poltern herunter, auf sie, die noch immer halb gebückt vor der Bank steht. Eines trifft den Kopf, eines die rechte Schulter, mehrere treffen die Mitte des Rückens und gleiten über die Hüften. Wie die Bücher in ihre rechte Kniekehle eindringen konnten, welche Dynamik, welche Drehungen der Physik wirksam wurden, weiß sie nicht. Das große Buch von Kafkas Tagen in Wien, Kafkas Prag, einige Bildbände über das alte Prag, die drei Bände der Biographie von Reiner Stach, ein Prachtband mit Fotos von Kafkas Familie, zwei Ausgaben über Kafkas letzten Freund, Robert Klopstock, einer über Kafkas letzte Liebe Dora Diamant, über Kafka und das Judentum. Welches von denen war ihr in die Kniekehle eingefahren? Prag, Wien, Liebe, Freund, Judentum? Ah, er versucht mir nah zu sein, ein Wink aus dem Himmel. Aber mit welcher Bedeutung? So groß wie ein Taubenschiss auf den Kopf?

Aber das sind schon Überlegungen von danach, nach allem, als es vorbei war. Sie fühlt sich noch am Boden krabbeln, hinaus aus dem ersten Raum, vor die Tür, auf den Korridor.
Gleich links von der Eingangstür befindet sich eine Bassena, ein Wasserbecken auf dem Gang, üblich in alten Wiener Häusern. Was erinnert sie noch? Den Geruch von feuchten Steinen im Hausflur, Putzfetzen und Wischmopp. „Der Geruch von nassen Steinen im Hausflur“, nicht mehr und nicht weniger – die Definition von (guter) Literatur nach Hugo von Hofmannsthal. Sie krümmt sich, die Beine gehorchen nicht, das ganze Gewicht hängt in den Armen. Nur nicht alt werden, nicht schwach! Nach mehreren Versuchen bekommt sie mit einer Hand das Rohr unter der Bassena zu fassen und kann sich an ihm hochziehen.
Sie ist doch kein Ungeziefer wie Gregor, keine Maus wie Josefine, kein Hund, nicht der Affe Rotpeter, keine Ratte und kein Schakal. Kurz bevor es ihr gelingt, sich aufzurichten, gibt das Wasserrohr nach, und die Schüssel kracht auf sie herab, Vollmetall der Firma Gerb & Söhne Wien. Die massiven Armaturen aus Edellegierungen prasseln auf sie herab, das schwere Gitter trifft sie an der Schläfe. Aber bevor sie im Geruch der muffigen Bodenfliesen versinkt, spürt sie etwas um sich, nicht die schweren Bücherbände aus der Ecke, sondern einzelne Blätter, Hefte, Notizbücher, Papier, viele Blätter, einen Berg, eine Decke, weit verstreut über die Steinplatten des zweiten Stockwerkes. Sie riechen noch nach dem Park von Berlin-Steglitz, nach Astern, Laub und feuchter Erde, nach dem Herbst von 1923.

Liebe Lotte, steht oben auf den Blättern. Du bist traurig, weil Du suchst Deine Puppe. Sie ist nicht mehr da, sie hat Dich verlassen und ist auf eine Reise gegangen. Du bist traurig, aber sei sicher, sie hat Dich lieb! Sie hat jetzt andere Pläne und schreibt mir Briefe über ihr neues Leben. Sie geht in die Schule, weit weg von hier. Es geht ihr gut und sie denkt oft an Dich. Ich erzähle Dir ihre Geschichte. Wenn ich nicht kommen kann, wird Dir Dora die Briefe vorlesen.

An einem warmen Tag Anfang November trafen sie im Park ein kleines Mädchen, das bitterlich weinte, weil es seine Puppe verloren hatte. Franz erfindet sofort eine tröstliche Geschichte, dass die Puppe eine Reise macht, er weiß es, weil sie ihm einen Brief geschickt hat. Drei Wochen lang schreibt Franz nun täglich im Namen der Puppe an das kleine Mädchen: von der Reise, der neuen Heimat, wo sie in die Schule geht, von ihren Abenteuern und wie sie neue Leute kennenlernt. Die Puppe ist erwachsen geworden und versichert sie immer wieder ihrer Liebe. Aber sie will nicht mehr zurückkommen, sie habe jetzt andere Menschen um sich und viele Verpflichtungen. Er bereitet sie auf den endgültigen Verzicht vor. Aber wie soll das enden, wie aus diesem Dilemma herauskommen, ohne das Vertrauen zu verlieren? Zuletzt lässt er die Puppe heiraten und erklärt dem Mädchen, dass sie es jetzt natürlich nicht mehr besuchen könne.
Franz hat den Konflikt eines Kindes durch die Kunst gelöst, durch das wirksamste Mittel, über das er persönlich verfügte, um Ordnung in die Welt zu bringen. Er verwandelt die Lüge in die Wahrheit der Fiktion.
23 Briefe und vier Postkarten, handgeschrieben, in seiner steilen und doch runden Handschrift, die Buchstaben besonders groß, ohne Korrekturen und Streichungen. Dora hat sie aus Berlin mitgenommen und im Hohlraum unter dem Wasserbecken des Sanatoriums versteckt, eingewickelt in Öltucher. Nachdem Franz im Februar weggefahren war, hatte sie keine feste Bleibe und niemanden, dem sie ihre Schätze anvertrauen hätte können.

Pia verliert das Bewusstsein.
Gefunden hat sie Herr Odradek, der Hausherr. Sie weiß nicht, wie lange sie so dagelegen war. An den Samstagen mit dem open door im Gedenkraum hat er ja immer die Ohren am Boden. Kaum sperrt sie auf, steht er schon da und bietet einen Kaffee an. So etwas von Quasi-Kaffee aus dem neumodischen Hausautomaten von N., brr. Sieht freundlich aus, ist aber sein samstäglicher Kontrollgang. Vielleicht hat er schon den Krach gehört, mit dem die Bücherkaskade auf sie niedergegangen war. Er sieht sie da wie einen Lurch am Boden kriechend und ruft die Rettung, keine zehn Minuten später ist diese zur Stelle und bündelt sie auf eine Bahre. Mit Martinshorn ins Krankenhaus Klosterneuburg.
Es geht glimpflich aus, keine Spätfolgen, eine Gehirnerschütterung und eine klaffende Wunde auf der Stirn, einige Stiche, links über die Augenbraue kommt ein Klebeverband. Die Blutergüsse und Schrammen am Rücken sieht niemand, am wenigsten sie selbst. Nur die Innenseite ihres rechten Knies schmerzt noch lange und lässt sie humpeln, wahrscheinlich eine Prellung.

Wohin die Papiere gekommen sind, kann Pia bis heute nicht herausfinden. Das Ehepaar Odradek hat unterschiedliche Erinnerungen und kann sich nicht einigen. Sicher war das eine große Aufregung für diese alten Leutchen. Und der Gedenkraum war ihnen nie ganz recht gewesen, die vielen fremden Leute im Haus, man weiß ja nie. Herr Odradek meint, die Rettung hat das Zeug mitgenommen, auf die Bahre gepackt, weil die Frau so geschrien hat: Die Briefe, die Briefe, bitte, rettet die Briefe! Frau Odradek erinnert sich nur daran, dass sie später die Treppen gesäubert hat. Da war viel Blut, eine Sauerei war das, alles durcheinander, die Bassena heruntergerissen, die Mauer offen und rundherum das viele alte Papier. Pah, Briefe, welche Briefe, lauter Fetzen sind auf dem Treppenabsatz herumgelegen. Und wer zahlt den Schaden? Den Mist hat sie hinuntergetragen, eine Plackerei, und in den Containern vor dem Haus entsorgt. Die Eimer mit Mauerwerk in den Restmüll, das Altpapier in den so bezeichneten Kübel. Alles muss seine Ordnung haben. Wer kann da widersprechen.

Pia selbst hat keine gesicherten Erinnerungen, nur das „Liebe Lotte“ steht ihr für immer eingebrannt vor den Augen. Kein körperlicher Schmerz kann so tief sein wie der um den zweiten Verlust der Puppenbriefe. Dora hat gelogen, als sie Brod versicherte, Franz’ letzte Schriften seien in Berlin verlorengegangen, als die SS ihre Wohnung durchsuchte.

Von einem gewissen Punkt gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.
Franz Kafka. Blaue Oktavhefte

Wien, zwischen 13. und 25.5.17

Veronika Seyr
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