Schlagwort-Archiv: anno

Mit Blindheit geschlagen

Manchmal hat man Augen und sieht nicht.
Man sieht die Blitze nicht, man hört den Donner nicht, man spürt den Wind nicht.
Der Himmel ist nicht mal blau, sondern rosarot.

Die alten Römer waren bestimmt der Meinung,
sie wären das am weitesten entwickelte Volk,
sie hätten die ideale Staatsform und wären allzeit gerüstet,

im Jahr eins vor der Völkerwanderung.

Römer mit Federhelm an einer Hauswand in Krumpendorf

Römer mit Federhelm an einer Hauswand in Krumpendorf

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25008

Der Bauer und sein Herr

„Mein Herr ist um einen Kopf größer als ich“, sagt der leibeigene Bauer. „Er speist fürstlich, was aus meinem Stall und von meinen Feldern stammt. Meiner Familie und mir bleiben die Reste. Mein Herr ist sehr gescheit, ich bin ein dummer Bauer und völlig ungebildet, mein Herr hingegen kann mehr als nur lesen, schreiben und rechnen. Die Kinder meines Herrn sind wohlgeraten und gesund, meine Kinder husten oft und müssen das Bett hüten. Die Gattin meines Herrn ist eine Schönheit, was meine leider nicht ist. Das ist der jetzige Zustand, den ich soeben berichtete, aber wie wird es in hundert Jahren sein? Wird mein Herr überhaupt noch mein Herr sein?“

Das Wohngebäude des Bauernhofs in Viktring am 28. April 2023

Das Wohngebäude des Bauernhofs in Viktring am 28. April 2023

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 24175

A Sentimental Journey

„In Regen kann’s zwieseln,
aber in Zwiesel kann’s nicht regnen“,
sagtest du dir.
Und wart glücklich zu zweit
auf eurer herbstlichen
Wanderung.

Von einer Bank zur nächsten
durch Wälder und Felder.
Gelb, schwarz und braun
bis zum abendlichen Wein.
Aber ansonsten verlor sich
jede Spur.

Hätte ich dich doch
früher gekannt.
Sagen wir:
Vor einem halben
Jahrhundert.
Mir ginge mein Herz
über
vor so viel Schönheit.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 24119

Mein Traum

Still liege ich da, mit offenen Augen, und hänge meinem Traum nach. Wie seltsam und wie seltsam schön er gewesen ist! Ich bin völlig ergriffen, richtiggehend verzaubert, was äußerst selten der Fall bei mir ist. Zuletzt fühlte ich mich so – fällt mir ein – vor ungefähr neun Jahren. Gefühlsmäßig werde ich nun zurückkatapultiert zu diesen Momenten damals, als ich mich ähnlich überwältigt fühlte wie jetzt. Es war am Tag von Mutters Begräbnis. Ein Musiker-Kollege von Mutter sang ein Medley ihrer Lieblingssongs zu ihrem Abschied. Und bei einem der Songs liefen mir plötzlich Tränen übers Gesicht. Unaufhaltsam. Natürlich werden alle, die mich damals weinen sahen, angenommen haben, dass ich wegen Mutter weinte. Doch es war rein jenes fremdsprachige, sanfte Lied, das mich zu Tränen rührte. Um Mutter zu weinen, gab es keinen Grund.

Sie ist immer abwesend gewesen. Es gab kaum Kontakt zwischen uns. Ich bin bei meinen Großeltern in einem kleinen Dorf aufgewachsen. Die Großeltern waren fleißige, einfache Leute. ‚Und du, Kind, bist ganz aus unserem Holz geschnitzt‘, haben sie des Öfteren stolz zu mir gesagt. Mutter aber tanzte aus der Reihe, sie tanzte weit, weit weg von uns. Sie war nicht das schwarze, sondern das buntschillernde Schaf der Familie. Künstlerin war sie, Sängerin, mit Leib und Seele. Ständig war sie unterwegs, irgendwo, auf Tourneen mit ihrer Band. Sie starb bei einem Autounfall, mit reichlich Alkohol und Drogen intus. Ewig nicht daran gedacht. Schnell schiebe ich diese Gedanken weg und spüre wieder dem Traum nach.

Und – wie schön! – ich fühle mich nach wie vor als diejenige, die ich im Traum gewesen bin. Regungslos bleibe ich liegen, um so lange wie nur möglich dieses Traum-Ich zu bleiben. Ich möchte es halten, es mitnehmen in den Tag. Nein, eigentlich möchte ich es nirgendwohin mitnehmen, eigentlich möchte ich mich nirgendwohin bewegen. Ich möchte im Moment bleiben, oder, noch besser, wieder zurückgehen dorthin, wo ich nie zuvor, außer vorhin im Traum, gewesen bin.

Es ist ein mediterraner Ort. Zielbewusst gehe ich durch schmale Gässchen. Um mich: bunte Fensterläden, hohe, blühende Topfpflanzen, lebhafte Stimmen, Lachen, ab und zu knatternde Mopeds. Die Sonne scheint. Warm ist mir. Hübsche Sandalen und ein kurzes, luftiges Sommerkleid trage ich.

Jetzt muss ich schmunzeln. Ich trage nämlich nie Kleider. Immer Hosen. In einem Kleid würde ich verkleidet wirken. Unförmig sowieso. Vor allem würde ich mich für meine dicken Beine genieren.

In meinem Traum aber bin ich schlank, bin ich schön. Alles passt zusammen. Mein Inneres, mein Äußeres und die Umgebung bilden eine harmonische Einheit. Anmutig spaziere ich die malerischen Gassen entlang, mit der Selbstverständlichkeit derjenigen, die diese Wege unzählige Male gegangen ist. Diese Gelassenheit in mir! Und so also fühlt sich Selbstwertgefühl an: leichthin Leute grüßen und ein paar Worte mit ihnen tauschen – ohne die üblichen quälenden Gedanken meiner Realwelt: ‚Wie komme ich an? Was denken die von mir?‘ Mein Traum-Ich wird geschätzt, ja, verehrt, das ist an der respektvollen Art, die mir entgegengebracht wird, klar ersichtlich. Vielleicht bin ich ja Ärztin oder Schauspielerin, auf alle Fälle eine bekannte Persönlichkeit.

Und hier, jetzt, in meinem kleinen Zimmer, knurrt laut mein Magen. Da riecht es nach abgestandener Luft, da zwickt’s mich im Rücken, da stoßen meine Zehen an die harte Bettkante. Aber das wohlige Traum-Gefühl ist noch da, ist abrufbar.

Vor mir erstreckt sich nun ein weitläufiger Platz, in dessen Mitte ein einladender, offener Gastgarten. Runde Tische mit weißen Damast-Tischtüchern, Korbsessel mit blauen Pölstern. Davor eine kleine Bühne. Hinter diesem ganzen Ambiente: Felsen, die Küste, ein tiefblaues Meer. Ich nehme Platz an meinem Tisch in der Mitte des Gastgartens, genieße das Gefühl des Ankommens, des Willkommen-Seins. Andere Gäste grüßen mich wohlwollend, sie scheinen mich zu kennen. Der Kellner kommt lächelnd zu mir: ‚Das Übliche?‘, fragt er. Ich neige leicht und zustimmend meinen schönen Kopf.

Dieser unausgesprochene Respekt, der meinem Traum-Ich entgegengebracht wird!  In meiner Wirklichkeit ist er mir fremd. Weder von meinen Mitmenschen noch von mir selbst erhalte ich ihn. Ich bin eine, die im besten Fall Mitleid erntet, eine, der man, falls man ein gutherziger Mensch ist, helfen will, weil man mir sofort ansieht, dass ich zu jenen gehöre, die zu kämpfen haben, zu jenen, denen nichts in den Schoß fällt, die sich schwer tun im Leben. Eine Naive bin ich, eine Zaudernde, Schwerfällige. Eine unhübsche Dicke. Bestimmt hat Mutter sich geschämt für die uninteressante Tochter, die ihr mit knapp achtzehn – Vater unbekannt – passiert ist. Geschämt sicherlich auch für ihre biederen Eltern. Doch auch umgekehrt empfanden wir sie, die Künstlerin, als Fremdkörper – eine Verrückte, deren unkonventionelle Lebensweise wir ablehnten.

Ich reibe meine Stirn: raus mit diesen unangenehmen Gedanken aus meinem Kopf und zurück in meinen Traum – zurück in den schönen Gastgarten. Selbstbewusst sitze ich in der Mitte des Geschehens. Nun seufze ich selbstmitleidig auf. Normalerweise nämlich, in meinem realen Leben, suche ich überall nach Nischen, in denen ich mich geschützt fühle, setze mich an den Rand, wo ich hingehöre, als Randfigur. Der Kellner serviert mit einer kleinen Verbeugung und einem Scherz mein Getränk, ich lacht laut und unbeschwert.
Um mich sprühen beinahe greifbar positive Energien. Dann wird es still, alle sehen gebannt zur Bühne. Eine wunderschöne Frau mit einem Mikrofon in der Hand steht oben. Sie nickt mir zu, beginnt dann mit samtener Stimme zu singen. Eine sanfte, eindringliche Melodie in einer fremden Sprache. Spanisch, vermute ich.
Sie sieht mir dabei unentwegt in die Augen. Es ist offensichtlich, dass ihre wunderbare Darbietung einzig und allein mir gilt. Als der letzte Ton verklungen ist, lächelt sie mir zu – und so endet der Traum, mit diesem, ja, zärtlichen Lächeln und Blick der Sängerin.

Wieder seufze ich laut auf. Wie unglaublich klar und detailreich mein Traum doch gewesen ist, im puren Gegensatz zu meinen bisherigen Träumen stehend, von denen ich mir, wenn überhaupt, nur verwischte Szenen merken konnte.

Mein Magen knurrt wieder. Nun stehe ich doch auf, ächzend wegen meiner Rückenbeschwerden. Es gelingt mir jedoch, das ungewohnte Hochgefühl durch den Tag zu tragen. Bestimmt auch, weil heute Sonntag ist und ich nicht arbeiten muss. Ich verbringe fast den ganzen Tag auf der Couch, versorge mich mit Pizza, Naschereien und Cola und sehe fern. Abends, als ich die Vorhänge zuziehe und die Nachtlampe einschalte, taucht unvermutet etwas in mir auf. Eine tief in mir gelagerte Erinnerung? Ein Wunschbild? Jedenfalls sehe ich deutlich mein altes Kinderzimmer im Haus meiner Großeltern vor mir. Es ist abgedunkelt, nur der zartgelbe Schimmer einer Nachtlampe fällt in den Raum. Ich sehe mich als winzig kleines Kind in den Armen meiner Mutter. Langsam geht sie mit mir im Zimmer auf und ab, mich liebevoll wiegend, und singt dabei leise und zärtlich ein Lied in einer fremden Sprache.

Mir kommen die Tränen. Aufgewühlt suche ich nach Zigaretten, öffne ein Fenster und rauche. Später dann schalte ich, einem Impuls folgend, den Laptop ein, und suche in abgelegten Ordnern nach dem Video von Mutters Begräbnis, das mir damals, vor neun Jahren, irgendjemand geschickt hat.

Nach ewiger Zeit finde ich es endlich. Noch nie habe ich dieses Video angesehen. Tief atme ich ein und aus, bevor ich auf Start drücke. Dann sehe ich den Friedhof. Mutters Grab. Meine Großeltern, ihre alten, traurigen Gesichter. Daneben ich, mit versteinerter Miene. Ein paar Dorfbewohner hinter uns. Ich sehe mir unbekannte Freunde meiner Mutter, die bewegt leise Abschiedsworte sagen. Und dann Mutters Musiker-Kollege. Das Medley. Klare, eindringliche Melodien. Wie vor neun Jahren muss ich beim selben Lied weinen. Ich erkenne es sofort. Beim ersten Ton. Es ist das Lied von meinem Traum. Dasselbe Lied, das Mutter vor langer, langer Zeit mir, ihrer kleinen Tochter, so zärtlich vorgesungen hat.

Immer wieder spule ich zurück und höre es mir an, präge mir das Lied ein. Dann tippe ich die Worte des Refrains in mein Handy: ‚Mi amada hija hermosa‘. Lasse es auf Deutsch übersetzen. Und lese wieder und wieder die vier Wörter, die schwarz auf weiß da stehen: ‚Meine geliebte schöne Tochter.‘
Sage sie leise vor mich hin, ungläubig, schließe die Augen. Die Traum- und die Erinnerungsbilder von heute tauchen wieder in mir auf und verschmelzen zu einem einzigen Bild. Und dieses Bild breitet sich in meinem Inneren aus und lässt mich spüren, was ich mein bisheriges Leben vermisst habe: Ich spüre Liebe, Wärme und Sicherheit.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 23088

Magie im Alltag

Ich erinnere mich jetzt – mit dem Abstand von drei Jahrzehnten – nur noch vage an sie. Zudem könnte ich nicht einmal mehr sagen, wann ich sie das erste Mal bewusst gesehen oder wahrgenommen habe. Wenn sie in meiner Umgebung war, veränderte sich etwas. Damals. Am Anfang spürte ich eine unbestimmte Art der Erregung, eher eine Art Neid oder Aggression auf sie.

Das konnte ich damals aber noch nicht recht deuten.

Als ich sie beim Baden sah oder der Tag, an dem sie mich wie Mozart in ein Gartenhäuschen sperrte. Ich konnte noch gar nicht wissen, wie ich meine Empfindungen einordnen sollte.

Mir war es, als wollte ich sie näher kennenlernen. Aber wollte ich es wirklich?

Der Tag, als ich mich zum ersten Mal verliebt in sie zeigte. Es sollte der letzte gemeinsame Tag sein.

An einen Nachmittag in meiner Schulzeit erinnere ich mich noch. Es war bereits dunkel und ich aß eine Dose Heringsfilet in Tomatensoße. Da fiel mir ein Auto ein, dessen Namen ich gelesen hatte, aber dessen Aussehen ich nicht kannte: Morris Marina von 1972. Ich dachte an einen wertvollen britischen Oldtimer, rassiges Design. Damals dachte ich, dass Autos aus dem Grund der technischen Perfektion entwickelt worden wären. Erst viel später kam die Ernüchterung. Aber der vorgestellte Morris Marina gefiel mir viel besser als die reale Entsprechung. Und das ist auch eine Art Magie im Alltag, die mehr und mehr verlorengeht: die Vorstellungskraft.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 23078

Schulgeschichten

Der Lateinlehrer, der dem Schüler sagte, er sei ein „Radfahrer“, und bemerkte „nach oben buckeln, nach unten treten“ und ein paar Klassenstufen später war es ebenjener Lehrer, der diesen Schüler bei einem Referat bloßstellte und einem anderen Schüler, der wegen seines frechen Verhaltens bei den anderen Lehrern sehr unbeliebt war, ständig Komplimente machte („du, dein Vater ist doch Universitätsprofessor“).

Der Geschichtelehrer, der in seinem Unterricht das Prinzip der Hitlerjugend erklärte („und dann marschierten die Hitlerjungen draußen fröhlich und die restlichen Schüler/innen wurden in der Schule mit schweren Aufgaben schikaniert“). In einem Zeitungsinterview über sein Schultheaterprojekt erklärte er später, die Schüler/innen, die dieses Wahlfach gewählt hatten, durften mit ihm viele Städte in Europa besuchen, während die restlichen Schüler im Unterricht saßen.

Der Religionslehrer, der immer vor der Faszination des Nationalsozialismus und der Ideologie der Herrenrasse warnte und später ein Zitat eines modernen griechischen Schriftstellers über die angebliche Überlegenheit der griechischen Sprache verbreitete.

Und ich habe noch heute Hochachtung vor der zierlichen Französischlehrerin, die sich zu unserer Verwunderung am Wandertag im Biergarten Strammen Max bestellt hat und dann auf dem Rückweg verdächtig lange hinter dem Kriegerdenkmal verschwunden ist.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 23041

 

Sigurd Sigurdssons Ritterleben

Sigurd Sigurdsson:
Diese Frau gefällt mir außerordentlich, lieber Bruder. Ich möchte sie besitzen!

Kollege des Bruders:
Was hat er denn?

Bruder:
Er erlitt einen Autounfall.

Sigurd Sigurdsson:
Falsch! Mein Streitross warf mich ab.

Bruder:
Hör mal, Stefan. Die Werkstätte hat dir einen Kostenvoranschlag gemailt, 1.317 Euro.

Sigurd Sigurdsson:
Ich ließ mein Streitross doch einschläfern.

Bruder:
Also können sie dein Auto entsorgen?

Sigurd Sigurdsson:
Auto wie automatisch? Interessant. Sag Bruder, was machen wir mit der hübschen Frau?

Bruder:
Eine Heirat ist ausgeschlossen. Sie erhält keine Aussteuer.

Sigurd Sigurdsson:
Schade, sehr schade. Ich werde jetzt ein bisschen mit der Lanze üben.

Bruder:
Auf einem neuen Streitross?

Sigurd Sigurdsson:
Na klar.

Der Ritter mit der roten Atemschutzmaske

Der Ritter mit der roten Atemschutzmaske

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 22076

Bertha Benz

Dass Bertha Benz im Jahr 1888 mit dem Benz Patent-Motorwagen Nummer 3 die 106 Kilometer von Mannheim nach Pforzheim fuhr und drei Tage später über eine andere Route zurück, war natürlich ein werbetechnisch geschickter Schachzug. Die Botschaft lautete: „Wenn ein Weibsbild imstande ist, dieses Höllengefährt zu bewegen, dann kann das jeder Mann.“

Die Rapperbadeente mit Propeller

Die Rapperbadeente mit Propeller

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 22074

„Extrablatt!“

„Extrablatt, Extrablatt! Die Eilmeldung von den Unruhen in Deutsch-Südwestafrika!“

Extrablatt, Eilmeldung – wahrscheinlich per Telegramm. Was ist da los? Er denkt kurz nach. Klar, wir haben das Jahr 1904, und ich befinde mich in Berlin, der Hauptstadt des Deutschen Reiches und des Teilstaats Preußen. Das Staatsoberhaupt ist der nichtsnutzige Kaiser des Deutschen Reiches und König von Preußen Wilhelm II.

Schlechte Zeiten stehen bevor. Das weiß ich, weil ich aus der Zukunft komme.

Die Afrikanerin mit der Amphore

Die Afrikanerin mit der Amphore

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 22063

Man steht am Fenster 2

Oktober 1956, der Ungarn-Aufstand

Vielleicht war in dieser Zeit auch die Rede von Ungarn, vielleicht habe ich etwas aufgeschnappt von der bedrohlichen Situation im Nachbarland, 60 Kilometer von uns entfernt. Die Gefahren durch den Kommunismus waren im Bräuhaus und auch später bei uns in Tulln immer gegenwärtig:
Die Erzählungen vom Leben in der sowjetischen Besatzungszone, von der Zonengrenze auf der Ennsbrücke, die Onkel Klaus und seine Bierführer einmal in der Woche passieren müssen, vom Putsch der gefährlichen Kommunisten in der Tschechoslowakei. Alles nicht weit weg. Und jetzt ging es um Ungarn, noch näher. Sicher verstand ich nichts von der politischen Situation, aber nur das Wort „Kommunismus“ ließ alle Alarmglocken klingeln. Die Erwachsenen senkten ihre Stimmen und machten sorgenvolle Gesichter. Es hatte immer mit Krieg zu tun, mit Flucht, Gefangenschaft, Stalingrad und Sibirien. Das hatte ich mit meinen acht Jahren schon oft gehört und die Angst der Erwachsenen im Raum mitschwingen gespürt.

Nach dem Abendessen, dem gemeinsamen Rosenkranz und dem Singen verteilten wir uns auf unsere Zimmer. Hedi und ich bewohnten die „kleine Mansarde“. Sie war sechs, ich acht. Papa kam später noch zu uns herauf. Er sang Lieder und rezitierte Verse. Er machte Spompanadeln mit Worten und Gesten. Er konnte manche Kinderbücher im Ganzen auswendig aufsagen, in Reimen und mit Melodien unterlegt. Immer mit einem dramatischen Getue, das uns zum Lachen brachte. Er sprach keine tröstenden oder beruhigenden Worte direkt aus, sondern machte Spaß mit lustigen Wortspielen. Er war der erste Rapper aller Zeiten. Er konnte uns ablenken und verzaubern wie ein Kartentrickser, nur mit Worten. „Puckerl und Muckerl“ hatte er vertont, indem er es mit der Melodie von Hänsel und Gretel unterlegte. Hedi schlief meist schnell ein. Ich flüsterte noch lange mit meinem Vater, der am Bettrand saß.

Papa, kommt der Krieg zu uns? Nein, niemals. Warum? Weil sie nicht dürfen. Aber die Buben, die Brüder, machen oft etwas, was sie nicht dürfen. Ja, weil sie Kinder sind. Die Russen und die Ungarn, sind das große Kinder, die tun, was sie nicht dürfen? Nein, das sind Staaten, und da passen alle anderen auf, dass sie nichts tun, was sie nicht dürfen. So ging das hin und her, bis auch mir die Augen zufielen.
Aber ich schlief nie sofort ein. Ich hatte mir mit den Fingernägeln in der Wand Gräben ausgekratzt. Zum Teil durch den porösen Verputz, zum Teil entlang der hellgelben Kringel der Malerei. Als ich kleiner war, fuhr ich dort die Reisen des Florians über die Tapete von Franz Karl Ginzkey nach, die Papa sehr dramatisch und komisch vortragen konnte. Jetzt grub ich dort Tunnel und Höhlen aus, in denen ich mich vor den Kommunisten verstecken konnte. Aber ich war nirgends sicher, denn vom Bett meiner Schwester kam ein leises, aber ununterbrochenes Geräusch des Mahlens. Sie mahlte ihre Zähne aufeinander, dass ich dachte, in der Früh müsse Mehl neben ihrem Bett liegen.

Mein Vater war Katholik, Pazifist, Kriegsteilnehmer, der keine einzige Kugel abgeschossen hat, ein amerikanischer Kriegsgefangener und Spätheimkehrer. Altphilologe, Germanist, Philosoph, Lehrer und Autor, getragen von hohen Aspirationen im akademischen Leben, geschlagen mit sieben Kindern und einer psychisch angeschlagenen Frau, meiner Mutter.

Einmal spielte ich mit den jüngeren Geschwistern Hedi und Franzi im Garten. Fangen, Verstecken, Nachlaufen, Bäumekraxeln. Ich war ziemlich weit oben im Weichselbaum, er war schon kahl im Oktober. Ich hing in einer bequemen Astgabel mit einem Querast, an den ich mich mit den Händen klammerte. Da schwebte über mir plötzlich ein Fluggerät. Ein Hubschrauber oder ein Flugzeug, eines oder viele, geräuschvoll oder stumm, kreisten sie oder standen über mir, bereit zum Angriff, uns zu vernichten. Das weiß ich nicht mehr. Jetzt sind die Russen da, die Gewissheit, und ich ließ den Ast los. Ein kurzes Empfinden von Segeln, und dann war ich schon tot. Den Aufprall auf der Wiese unter dem Weichselbaum spürte ich nicht mehr.

Ich lag wie ein Käfer auf dem Rücken, stocksteif. Wassergüsse und Wangentätscheln, Rückenklopfen und Pulsfühlen, alle Geschwister sprachen auf mich ein, die Kaninchen des ältesten Bruders schnupperten an meinem Gesicht herum, seine Barthaare kitzelten. Die Eltern wickelten mich in eine Decke und verfrachteten mich ins Bett. Tee, Honigmilch, Suppe, Gesänge und Gebete, Puckerl und Muckerl und die Reise des Florian über die Tapete, das Zähnemahlen meiner Schwester. Alles vermischt und weit entfernt. Die Familiengeschichte sagt, ich habe drei Tage und Nächte geschlafen und danach einige Zeit nicht gegessen und nicht gesprochen.

Da war schon alles vorbei, der Ungarn-Aufstand und die Ungarn-Krise. Die Flugzeuge und Hubschrauber hatten nicht die Russen in Ungarn über uns kreisen lassen, sondern sie kamen vom „Fliegerhorst Langenlebarn“ fünf Kilometer entfernt. Das österreichische Bundesheer hatte sie aufsteigen lassen, damit sie nicht am Boden zerstört werden konnten. Also war ich damals nicht die Einzige, die vor den Russen Angst gehabt hatte. Das verstand ich erst viele Jahre später. Der „Flughafen Langenlebarn“ lud zu jedem „Tag der Fahne“ am 26. Oktober zu einer Schau ein. Wir Kinder durften auf Panzer klettern, Flugzeuge und Hubschrauber besichtigen und bekamen Gulaschsuppe aus der Gulaschkanone. In meiner Erinnerung gibt es bis heute keine bessere Gulaschsuppe auf der Welt.

Danach kamen die Flüchtlinge. Ins Haus, in die Schule, ins Pfarrheim und ins Judenauer Schloss. Redda barnen, mit vielen fröhlichen blau-gelben Wimpeln. Die Schweden waren so freundlich, dass ich ihnen meine Lieblingspuppe, mein einzige Puppe damals, die Lotte, überließ, für die Ungarn-Kinder. Sie sagten bei jeder Spende, die wir ins Schloss brachten: Jegelskedeg, so wie der Mesner in der Kirche mit dem Klingelbeutel sagt: Vergelts Gott, Gott vergelts. Meine Schwester trennte sich von ihrer Kuscheldecke, mein kleiner Bruder von seinem Matador-Baukasten. Wir waren sieben Kinder in einem nicht übergroßen Haus, aber Zsuzha wohnte bei uns, und sie blieb mir fast bis zur Matura die „beste Freundin meines Lebens“.

Ich war sehr unglücklich über den Verlust meiner Lotte und malte mir aus, dass sie auf eine schöne, weite Reise gegangen ist, vielleicht bis ins freundliche Land der Schweden. Redda barnen und jegelskdeg, das war Schweden. Das hab ich nie vergessen, und erst sehr viel später erfahren, was jegelskedeg bedeutet. Zumindest so habe ich das gehört. Mehr Schwedisch habe ich nie erlernt und bin leider noch nie dort gewesen.

Teil 2: 28.2. – 1.3.22

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 22047