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Heckenrosenrot

Rückblickend auf die ersten beiden Dekaden meines Erwachsenenlebens stelle ich mit Bitterkeit fest, dass das Liebesglück mich bisher nur tangential gestreift hat. Dies ist mir selbst zuzuschreiben.
Das mag abgeklärt und resignativ klingen – ich bin mit meinen 37 Jahren weder das eine in ausreichendem Maße noch erfreulicherweise das andere. Dennoch bin ich mir meines damaligen schwerwiegenden Fehlers klar bewusst. Noch heute bin ich davon überzeugt, es war eine Begegnung mit der Frau fürs Leben, ein Zusammentreffen mit dem wahren Glück.
Damals war ich ein smarter Student, unterwegs in angesagten Kreisen. Ich war unerfahren und unfreiwillig bereit, en passant den Fehler meines Lebens zu machen. In der dummdreisten Gewissheit, dass diese außergewöhnliche Frau nicht mein Niveau hätte, habe ich ebendieser nicht ausreichend Beachtung geschenkt.

Jetzt schaut sie mich an, aus der Wirtschaftsbeilage der Presse, direkt und aufmerksam, mit ihren hellen Augen. In der Zeitung und der pixeligen Schwarz-Weiß-Darstellung ist ihr intensives Blau nicht ersichtlich, aber auch nicht relevant für die Leserschaft, der geht es mehr um Zahlen. Betriebswirtschaftliche Firmenkennzahlen: Bilanzsumme, Jahresüberschuss, Umsatzrendite, Gewinn, Cash Flow. Wenn sie in den Gesellschaftsgazetten Erwähnung findet, was oft der Fall ist, dann interessieren sich die Leser mehr für die Persönlichkeit hinter dem bekannten Bio-Label. Denn die Frau, die eines der erfolgreichsten österreichischen Startups des letzten Jahrzehnts gegründet hat, ist eine wahrlich auffallende und aparte.

Die Crème-Tiegel dieser Rosie Reiser aus dem oberösterreichischen Mühlviertel stehen auch in unserem Badezimmer. Meine Frau cremt sich abends das Gesicht mit Rosenölcreme ein. Biologisch produzierte Grundstoffe, sorgfältig geerntet, ganz bestimmt recyclebar verpackt, Nachhaltigkeitszertifikat inkludiert. Rosenblättermarmelade oder Rosenessig derselben Marke finden sich in unserer Küche. Und da wären noch die vielen Gewürze und Tees, denen man die Wertschätzung der Produzentin für die Natur und die ökologische Verantwortung für die Region ansieht. Total Quality Management.

Ich studierte damals an der Universität für Bodenkultur in Wien und hatte stets ein kleines Mikrofon parat, das ich hübschen Mädchen unter die Nase hielt, und vorgab, im Auftrag der ÖH eine Umfrage zu machen. Das nahm mir die Hemmschwelle, Frauen anzusprechen. Meist folgte eine kleine Befragung in der Cafeteria oder auf einer Parkbank. Manchmal mehr.
So hatte ich auch Rosie Reiser kennengelernt. Sie war mir zuerst gar nicht aufgefallen und eine andere, die ich ansprach, war zu sehr in Eile. Da kam sie als Nächste daher und hatte diesen aufgeweckten Blick, den sie auch nicht verschämt senkte, als sie mein Mikrofon als solches erkannte. Sie war auf den ersten Blick nicht mein Typ, aber ich konnte irgendwie nicht anders, ging auf sie zu und fragte sie nach ihrer Work-Life-Balance.
„Ja, gut, wenn es dich interessiert, was ich denke, dann frag doch!“, meinte sie unbekümmert und lebhaft.
Mein Blick lag gebannt auf ihrem Gesicht, das mit Sommersprossen übersät war. Sie war nicht geschminkt, unauffällig mit Jeans und T-Shirt bekleidet. Das ziegelrote lange Haar hatte sie mehr schlecht als recht locker auf ihrem Kopf aufgetürmt.
Schon der Anfang des Gesprächs war desaströs: Sie stellte sich mit einem freundlichen „Ich bin Rosie“ vor. Und mir fiel nichts Besseres ein als den urbanen Wiener Schnösel zu geben und überheblich zu artikulieren: „Und ich nenne dich Rosa.“ Sie verwehrte sich sogleich recht unmissverständlich dagegen.

Sie war – wie soll ich sagen – urwüchsig, sowohl in ihrem Aussehen als auch Auftreten. Ich stellte sie mir an meiner Seite und in Gegenwart meiner Freunde in unserem hippen Club vor, im stylishen Abend-Outfit und mit einem Drink in der Hand, und musste schmunzeln. ‚Die könnte mehr aus sich machen‘, war tatsächlich einer meiner respektlosen Gedanken, während ich ihr in der Cafeteria zuhörte. Dabei war sie hinreißend, wie sie angeregt erzählte, was sie für ihre Zukunft plante.

Meine Vorgangsweise war investigativ: „Wie viel Deiner in wachem Zustand verbrachten Zeit in Prozenten entfällt auf Studium, wie viel auf Familie, Freunde, Partner und Hobbies?“
So erfuhr ich viel Wissenswertes meist sehr rasch und in Rosies Fall darüber hinaus von ihrer Begeisterung für Heckenrosen.
„Sie werden nicht kultiviert und wachsen einfach wild. Es gibt sogar Sorten in hellem Orangerot, so wie es meine Haare sind. Und die ganzen Kräuter und Pflanzen, die auch naturbelassen wuchern – das sind Schätze!“
Sie hatte ihre Haarspange gelöst. Das wallende Ziegelrot auf ihrem Kopf war demnach ein Heckenrosenrot und stand ihr ganz wunderbar zu Gesicht. Letzteres gab sich bedeckt und war nicht leicht zu erforschen, die Sommersprossen forderten mich geradezu heraus.
„Rosenöl wird in der Parfüm- und Kosmetikindustrie verwendet. Es erhöht die Elastizität der Haut. Rosenblüten können als Tee zubereitet werden. Auch die Früchte der Rosen, die Hagebutten, finden in der Küche Verwendung. In der Heilkunde dient Rosenöl zur Krampflösung, es hebt die Stimmung, belebt und hilft bei Kopfschmerzen.“
Sie berührte mich kurz am Unterarm, um die Tragweite ihrer nächsten Aussage zu verstärken, und fügte ernst und nachdrücklich hinzu: „Und wenn Babys viel weinen und unruhig sind, dann helfen Massagen mit stark verdünntem Rosenöl.“
Als ob das für einen 22-jährigen Studenten von irgendeinem Belang gewesen wäre! Dennoch fand ich meine Gesprächspartnerin in besonderer Weise anziehend.
Doch mein Fokus lag damals auf den richtig coolen, modisch gekleideten Studentinnen in High-Heels und nicht auf sommersprossigen Biotanten. Nur so kann ich mir erklären, dass ich rasch das Interesse an ihr verlor, als eine Kommilitonin an einem Nebentisch direkt in meinem Blickfeld Platz nahm und mich mit ihrem aufreizenden Lächeln (oder war es das Dekolleté?) ablenkte.
So geschah es, dass diese Rosie sich furchtbar über meine dumme Unaufmerksamkeit ärgerte. Sie nahm das Objekt meiner Ablenkung kurz ins Visier, hörte auf zu sprechen und legte energisch ein paar Münzen auf den Tisch. Sie erhob sich entschlossen und klang sehr aufgebracht: „Schade, du hast echt den falschen Job. Das war vertane Zeit.“
Ehe ich noch etwas entgegnen konnte, war dieses unverfälschte Landmädel mit ihrer heckenrosenroten Mähne wütend auf und davon geeilt.
Meinen Kaffee trank ich damals ungerührt am Nebentisch weiter.

Aber unbewusst fand ich Rosie wohl damals schon bezaubernd, ich sah mich am Campus permanent nach ihr um. Einmal traf ich sie danach in der Bibliothek (nicht ganz zufällig im Bereich Wildpflanzen) wieder und ließ mich an einem Tisch in ihrer Nähe nieder. Als sie mich bemerkte, fühlte sie sich gestört und entfernte sich mit grimmigem Blick und entrüstet.
Rosie und ihre Sommersprossen ließen mich nicht los. Immer war ich seither auf der Suche nach ihnen.
Später hielt ich Ausschau nach einer Partnerin mit ähnlich unverfälschtem Temperament, erdverbundenem Verhalten oder was ich dafür hielt. Das brachte allerdings nichts als Verdruss und sogar eine Scheidung. Immer wenn ich damals an Rosie Reiser dachte, kam ich mir in einem unsäglichen Ausmaß emotional unzulänglich vor. Ich habe deshalb danach nie wieder einen Versuch der Kontaktaufnahme unternommen, obwohl es Gelegenheiten gegeben hätte. Und noch heute tut mir das leid.

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 15094

Traum & Trugschluss

Wachträume, egal ob zur Tages- oder Nachtzeit, böten alle Möglichkeit, doch die Fantasie muss sich begnügen, muss haushalten mit dem Vorrätigen an Kreativität und Zeit. Die Verantwortlichkeit, das Beschwerliche und das Banale des Alltags schmälern die Träume und setzen dem Variantenreichtum Grenzen.
Emil behalf sich dennoch mit seiner Vorstellungskraft; und das über viele Jahre. Über ebendiese Jahre, in die er jetzt gekommen war. Fraglos hatte das Leben ihn mit seinem zügigen Ablauf überrumpelt.
Er hatte dem Alltäglichen das Sehnen hintangestellt, hatte begehrt und entbehrt. Und erkannt, Fantasie ist bei aller Vielfalt vor allem eines: subjektiv. Es fehlt die zweite Dimension, die Erwiderung, das Bilaterale. Einzig die Vorstellung zu bemühen, ist der verzweifelte Versuch, zum Begehren eheadäquat Stellung zu nehmen, sich zum Verlangen in anständiger Weise zu verhalten. Doch die Haut bleibt einsam.

Er hätte sich beizeiten umsehen sollen und hatte nicht.
Die optischen Veränderungen des Älterwerdens sind nicht verhandelbar. Doch mehr als das bereitete es Emil Sorge, dass niemand seiner Freunde ihn mehr erkennen würde, wenn sein Inneres zur Ansicht stünde. Ein Mensch in seinem Alter sollte längst in Balance sein, doch da waren massive Dissonanzen. Die Koordinaten des Lebens waren in Schieflage geraten und verweigerten sich einer Neukalibrierung. Obwohl er das nie von sich erwartet hätte und keinesfalls billigen konnte, verspürte Emil den dringenden Wunsch, die Regeln zu brechen.

Und dann sah er eines Tages diesem befremdlich agierenden Mann zu, wie er mit Entschlossenheit die Telefonnummer aus der Internetwerbung wählte und zaudernd seine Wünsche bekanntgab. Dieser Mann war er selbst und er ruderte aus freien Stücken im Dunkeln aufs offene Meer hinaus. Emil fühlte sich dabei verletzlich und nackt, gleichzeitig klar und stark.
Man könnte sagen, diesem Mann sei schlichtweg langweilig. Die häuslichen geschlechtlichen Verrichtungen wären spannungslos und absehbar geworden. Und das Brodelnde müsse sich Luft schaffen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Emil suchte echte Nähe.
Wäre die exekutierte Körperlichkeit nur eine gekaufte, wäre der Betrug zwar nicht trivial, aber immerhin einigermaßen gewissenskompatibel.

24/7, das war ihm nach dem Telefonat noch im Gedächtnis. Und dass er sich auf Diskretion verlassen würde können. Bezahlt würde erst danach und direkt an die Agentur.
Der Tagtraum, den Emil gegen Bares umgesetzt sehen wollte, begann in einer Bar. Er hatte eine Frau hinbestellt, Mariella, 39, gut zehn Jahre jünger als er selbst. Sie sollte ihn ansprechen und in Folge alles richtig machen.
Emils Erwartungshaltung wurde von Almut gebrochen. Falls sie in irgendeiner Weise enttäuscht war, dann war ihr das nicht anzumerken. Sie strahlte ihn unmittelbar nach seinem Betreten der Bar an. Und doch entsprach die Bestellte so gar nicht den vereinbarten Kriterien. Ihre Haare waren entgegen seinen Wünschen kurz geschnitten, ihr Anmachspruch abgegriffen, wenngleich pfiffig und spontan vorgebracht. Sie trug auch kein Kleid und hochhackige Schuhe, sondern Jeans. Sie war einfach nicht Mariella. Sich nach ebendieser zu erkundigen, erschien Emil unpassend. Er stand zur Disposition, warum nicht ebenso für eine Almut.

Ein anspruchsvolles Einleitungsgespräch hatte er bei der Agentur vorgeschlagen, etwa über Kultur. Das was jetzt von Almut kam, war anderen Inhalts, aber nicht minder unterhaltsam. Ganz bestimmt wusste sie, dass ihre kleine nervositätsbedingte verbale Unbeholfenheit ungemein anziehend wirkte. Sie alberten herum über die Kennenlernkultur in virtuell dominierten Zeiten wie diesen. Und dass es doch auch so ginge, ganz traditionell an der Bar. Ha!
Sie erzählte von ihrem Beruf als Ausstellungskuratorin eines städtischen Kunsthauses. Ihren Nebenjob sprach sie nicht an. Als er kurz auf seine Ehe zu sprechen kam, da schien es Emil, als zucke es bedauernd um ihren Mund und als würde ihre Körperhaltung etwas distanzierter. Sie selbst sei Single, gab sie an. Aber rasch war die vorherige Nähe wiederhergestellt.

Falls sie kein Vergnügen an ihrer lukrativen Nebentätigkeit hatte, dann verstellte sie sich gut. Die Frau gab sich unentwegt interessiert. Vermutlich wurde ihr eingetrichtert, nicht laut von sich selbst reden zu machen, sondern alle Aufmerksamkeit auf den Kunden zu richten. Alkohol und der nervöse Elektropop erzeugten ein Flirren in Emils Kopf. Er spürte sich schweben und fühlte sich am äußersten Limit taumelig. Genau so hatte er sich das gewünscht, ganz genauso.
Emils Knie berührte ihres, als er seinen Barhocker ein wenig drehte, und er spürte Almuts Gegendruck, der von einem tiefen Blick begleitet wurde. Sie legte ihre Hand auf seinen Unterarm und räusperte sich, um etwas zu sagen. Doch sie schluckte nur und es blieb beim Subtext. Der Bann war gebrochen, das wussten beide. Ein vorsichtiges Peut-être gravitierender Körper. Damit hatte er nicht gerechnet. Nicht damit, dass ihre Blicke zärtlich sein würden, nicht nur verführerisch. Nicht damit, dass sie sich für die Konversation davor so viel Zeit nehmen würde. Nicht damit, dass sie ihre Wohnung anbot und kein Hotel vorschlug.
Auch nicht damit, dass sie später ein solches Verlangen zeigen würde, ihn zu küssen und sich recht zielstrebig mit ihrer Zunge in seinem Mund einfand. Emil war sicher, dass dies in so ausgeprägter Intimität in dem Metier nicht üblich war. Und doch gefiel es ihm, und er konnte ihre Liebkosungen genießen. Es ließ ihn vergessen, dass es ein Spiel war.
Er dachte, er hätte ihre Rhythmuskompetenz und überhaupt das umfassende Repertoire als Liebhaberin gebucht, aber überraschenderweise liebte sie ihn mit einer ambivalenten ungestümen Innigkeit und Hingabe, die ihn rührte und der er sich emotional nicht entziehen konnte. Ihre Zuneigung war nicht unerwünscht und anscheinend eine Draufgabe, denn er hatte sie nicht bestellt.

Als Almut eingeschlafen war, ging Emil nach Hause. Er verbrachte den Rest der Nacht mehr oder weniger schlaflos. Einmal schreckte er hoch, denn er wusste plötzlich, da hatten sich zwei, wenngleich nicht gesucht, so doch gefunden. Ein wohlwollender Zufall hatte diese Mariella unter anderen verwechselbar gemacht und ihm Almut beschert.

Lieber Emil,
unsere bezaubernde Mariella nimmt Ihnen gewiss nicht übel, dass Sie das gestrige Tête-à-tête mit ihr platzen ließen. Sie war pünktlich am vereinbarten Ort, hat aber höflicherweise von einer Kontaktaufnahme Abstand genommen, da Sie bereits in ein Gespräch mit einer Dame vertieft waren.
Wir erlauben uns, Ihnen hiermit das vereinbarte Honorar in Rechnung zu stellen, auch wenn Sie die Dienste Mariellas nicht in Anspruch genommen haben (gemäß Absatz 7 der geltenden Geschäftsbedingungen).
Mariella würde sich natürlich über eine zweite Gelegenheit freuen. Sehr gerne bieten wir Ihnen aber auch an, unser Gesamtportfolio nochmals zu begutachten, Ihre Login-Daten sind noch bis zum Monatsende gültig.
Mit besten Grüßen
Agentur Escort 24/7

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 15088

Das Totenmahl

Liebe Constance!

Da ich dich telefonisch nicht erreiche, schreibe ich dir ganz einfach. Ich muss zugeben, ein völlig neues Gefühl. Ich brauche nicht zu versuchen, mir deine Stimme vorzustellen, denn ich höre sie andauernd in mir, sie ist mir in all den Jahren zu vertraut geworden, dies solltest du wissen. Nach anfänglichem Entsetzen über deine schriftliche Nachricht, du würdest nun in Paris bleiben, es sind nun einige Tage vergangen, habe ich mich so weit gefasst, dass ich in der Lage bin, dir meine Situation zu schildern, in die du mich durch deine, eine für mich völlig neue Seite an dir, ungezügelte Triebhaftigkeit gebracht hast, oder Liebe, wie du es nennst, und möchte dir mitteilen, dass ich beabsichtige, mich von dir zu trennen, weil ich die augenblickliche Situation nicht länger ertragen kann.
Wenn ich mir vorstelle, dass dich dieser breitschultrige Affe Tag und Nacht berührt, wohl mehr noch, empfinde ich Ekel und Wut gleichzeitig und bezweifle zutiefst, dich je wieder unvorein-genommen in die Arme schließen und dich lieben zu können, wie ich es bisher getan habe. Vielleicht war ich all die Jahre auch nur ein Spielzeug für dich, welches du jetzt, dessen überdrüssig geworden, ganz einfach weggeworfen hast.

Ich kann den Sinn unserer Beziehung nicht mehr erkennen und denke, dass dies der beste Weg für uns beide sein wird. Wenn du zurückkommst, werde ich nicht mehr in unserer Wohnung sein. Meine Bücher, die Regale und den Fernseher nehme ich mit, schließlich sind sie mein Eigentum und so gut wie alles, was ich vorläufig brauche. Bezüglich der Wohnung, des Autos und all der anderen Sachen können wir uns über Klaus verständigen, den ich als Anwalt kontaktieren werde. Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich ihn damit beauftrage. Wenn mich mein siebter Sinn nicht im Stich lässt, warst du ja einmal sehr eng mit ihm befreundet. Ich ersuche dich lediglich, unsere finanziellen Angelegenheiten mit deiner Bank so zu regeln, dass du die Hälfte unseres gemeinsamen Kredites nunmehr wieder auf dich umschreiben lässt.

Ich habe dir sonst nichts mehr zu sagen, als dass ich von ungeheurem Schmerz über das jähe Ende unserer Gemeinsamkeiten wie gelähmt bin, unfähig, jetzt noch länger darüber nachzudenken. Neunzehn Jahre sind schließlich nicht irgendwas. Ich wünsche dir nicht zuletzt, dass du das, was wir in diesen Jahren gemeinsam erlebt und genossen haben, nicht gegen minder Qualitatives eintauschen musst und dich die Wahl, die du nun getroffen hast, nicht eines Tages reut. In Liebe … Arno hatte diese Worte mit dem Tintenkiller wieder ausgelöscht und durch „In Freundschaft, Arno“ ersetzt. Er wollte eigentlich „dein Arno“ schreiben, aber plötzlich war ihm bewusst, dass er nicht mehr „ihr Arno“ war.

Merkwürdig, dachte er, es störte ihn jetzt gar nicht so sehr, dass sie ihn so plötzlich verlassen hatte. Eine Lüge? Zum Selbstschutz? Immerhin, sie war ja bereits zweimal wieder zurückgekommen, seit sie mit diesem… Lächerliches Theater! Eine Affäre eben. Käme in den besten Familien vor, versuchte er sich einzureden. Aber diesmal? Er konnte sich nicht erklären, was sie diesmal für eine Show abzuziehen gedachte. Dabei hatte er sie stets für eine kluge Frau gehalten, für eine gebildete, beinahe zu berechnende Frau. Zu berechnend! Eine mit Anstand und Moral. Nein? Und wenn schon. Einen Arno Schmidt verlässt man eben nicht, durchfuhr es ihn, obwohl er dem Wahrheitsgehalt solcher und ähnlicher Aussagen selbst kaum große Bedeutung beimaß.

Plötzlich fiel ihm seine eigene kurze Liaison mit Clara ein, die mit dem Nitrogeschmack auf den Lippen und dem gelenkigen Körper. Armins Schwester. Und überhaupt, er hatte eine Menge zu tun gehabt, mit Schwestern von Freunden und so, überlegte er. Mochte wohl alles eine Frage der Gelegenheit sein. Und erst Lissi Radner! Aber nein, da war nichts. Wie denn auch? Wegen mangelnder Erotik. Du liebe Zeit! Wie schnell doch dieses Leben ablief. Die ist auch älter geworden, überlegte er, und dachte voll Grauen an die peinliche Szene in einem Lokal im Zuge des Totenmahls im September, wo sie ihn, so ganz ohne Vorwarnung und ohne jeglichen für ihn ersichtlichen Grund öffentlich bloßgestellt hatte. Blöde Kuh!
Er wäre ganz einfach anders geworden, überlegte er, während dieser Zeit, irgendwie anders. Jetzt wäre er nicht mehr so wie damals vor Abhängigkeit und Sehnsucht nach Constance gestorben, vor lauter Demütigung durch ihr Verhältnis mit diesem Franzosen abgestumpft, apathisch, irgendwie am Ende. Anfangs vielleicht, ja. Da hatte er noch gekämpft um sie. Aber jetzt? Sinnlos. Es wäre ihm gleichgültig, wie die Sache sich entwickeln mochte, beschloss er für sich. Und er dachte an ihre zahlreichen Briefe, die er bis jetzt von ihr bekommen hatte, und die Worte darin, die ihm wie Eisen im Fleisch steckten.

Die Briefe! Wo hab ich die Briefe nur hingeräumt, überlegte Arno fieberhaft. Ich weiß, dass du vor Sehnsucht vergehst, begannen die ersten Worte in einem davon, und … so wie ich hier vor Schmerz zerrissen bin, in Paris, zerrissen zwischen dir und ihm … ach, er war ja doch betroffen. Arno fühlte sich betroffen, ja, gleichzeitig aber auch getroffen, sich selbst einen Spiegel vorhalten zu müssen, in dem er zu erkennen glaubte, seine eigene Ehrlichkeit in Frage stellen zu müssen. War nicht ein solcher Mensch, der seine Fehler und Schwächen offen und ehrlich zugab, der bessere Mensch? War Constance in ihren Verfehlungen und ihrem Schmerz darüber nicht ehrlicher als er selbst in seinen Vorwürfen ihr gegenüber? Da waren noch seine kleinen Spielchen mit Clara, mit Marion, mit Lea und weiß Gott noch mit wem?
In diesem Augenblick hasste er sich! Er hasste sich für seine Kleinbürgerlichkeit, für seine Ängstlichkeit, für seinen Irrglauben, dieses Leben hier würde ewig dauern und würde sich ohne sein Zutun, etwas an seiner eigenen Situation ändern zu wollen, zum Besseren wenden. Lächerlich das alles!, raunte er vor sich hin.
Er würde sich dem Gespräch mit Constance stellen müssen, ob er nun wollte oder nicht. Jetzt, wenn sie bloß da wäre, dachte er. Gleich! Sofort! Er war ja doch immer bloß auf der Flucht gewesen. Oder besser mit Lea mit dem letzten Geld in den Süden fahren? Und danach? Vielleicht käme Constance inzwischen zurück? Schwachsinn!

Bald kam das neue Jahr. Und die Aussichten waren nicht gerade rosig. Schließlich war Rezession angesagt. Kurzarbeit lag in der Luft, gar keine bei ihm. Noch. Vielleicht würde es etwas mit dem Roman. Diesen Roman müsste er schreiben, sagte er zu sich ja immer. Die Idee ließ ihn nicht los. Was sei er doch für ein heilloser Träumer!, haderte er mit sich.
Ich muss es ihr sagen, dass ich für ihren persönlichen Jammer keine Zeit mehr habe. Ich verreise ganz einfach. I can’t feel her on my skin … dabei lächelte er, als er sich dabei ertappte, diese Melodie leise vor sich hin zu pfeifen, ganz von selber, unbewusst.
Größe haben, wäre gefragt. Größe. Die Größe, hinzugehen und ihr zu sagen, schön, dass du wieder da bist, wenn sie hier wäre. Wenn sie bloß hier wäre! Ist was passiert? Du musst wissen, ich verreise, mit … Vielleicht würde sie ihm schon gleich zu Beginn ins Wort fallen? Dann würde sie erzählen, wieso sie überhaupt wieder zurückgekommen wäre und so weiter. Seine Gehirnmühle mahlte und mahlte.

Und im Übrigen, was war falsch daran gewesen, neulich mit Marion ins Bett zu gehen? Schließlich lebten sie zu der Zeit sozusagen getrennt voneinander. Hätte er auf Constance warten sollen, bis sie wiederkam? Vielleicht, bis zum jüngsten Tag? Ach Quatsch!

Arno dachte an sein bereits begonnenes Manuskript, diesen kümmerlichen Versuch, sprachliche Divergenzen seiner subjektiven Wahrnehmung umzusetzen, jener tiefen Betroffenheit, den Vorgängen zwischen ihm und seiner unmittelbaren Beziehung zur Außenwelt ein sprachliches Gesicht zu geben, wie er das nannte. Ein schlechter Liebesroman würde es werden, sonst nichts. Leicht durchschaubare Mischszenen zwischen ihm und seinem eigenen Versagen, Constance das zu bieten, was sie offenbar woanders suchte.
Zielloser Aktionismus vertrackter, diametral auseinanderlaufender Lebensläufe im Visier eines psychotisch-neurotischen Blindgängers, der drauf und dran war, mit seinen ungewollten Liebesabenteuern das Chaos zu perfektionieren, wo er doch nur eines im Sinn hatte, mit Constance ein normales Leben zu führen. Er würde hineingehen zu ihr, wenn sie jetzt da wäre, sicher. Sie würden über alles reden und danach würde man dann die großen Dinge angehen. Sie die ihren, er die seinen.
Und er selbst nahm sich vor, dabei ganz locker darüberzustehen, ohne sich gleich zu fragen, was anders geworden wäre, wenn … Wir sind doch nicht so wie die andern, die sich bloß verlieben und dann weiterwandern, verhallte Udo Lindenberg in ihm.

Aber dann …. ach ja, dieses Totenmahl, durchzuckte ihn die Erinnerung zum wiederholten Mal. War doch längst Vergangenheit. Arno starrte Löcher in die Luft. Wie war das gleich noch damals? Das Rad war heute nicht zu stoppen! Er war gerade noch rechtzeitig eingetroffen, in dem kleinen Lokal am Hauptplatz, um wenigstens das „Totenmahl“ nicht zu versäumen. Der Verstorbene war längst erfolgreich in die Gruft versenkt worden, worin Stiefvater und tatsächliche Mutter schon seit geraumer Zeit ruhten, alles in allem höchst unkonventionell, mit Getute und Geblase von New-Orleans-Blues untermalt, wie ihm zu Ohren gekommen war. Arno betrat soeben das kleine Kaffeehaus, in dem die Trauergäste den Abschied ihres lieben Freunds begossen, wobei er, als Zuspätkommender, Anekdoten zu lauschen gedachte, die sich um den Verblichenen rankten, aber auch, um alte Freunde wiederzutreffen, auch Freundinnen, von denen er überzeugt war, dass sie es auch noch immer waren.
Gleich am ersten Tisch begrüßte ihn die Organisatorin dieses Himmelfahrtsevents mit einem sanften Kuss, den Arno nur zu gerne erwiderte. Caro Ass, Arnos ziemlich bester Freund und Beichtvater, wenn man so wollte, winkte aus der hintersten Ecke, der Leibesfülle halber kaum zu übersehen. Arno begann, all die zahlreichen Gesichter abzuklappern, blickte in bekannte und unbekannte Augenpaare, mit dem Gefühl, absolut nichts zu versäumen, wenn er deren Besitzer auch nicht alle gleich begrüßte, um sich diesen eventuell auch zu einem späteren Zeitpunkt widmen zu können.

Wer aber war der frisch Verblichene? Nun, der Tote war ein Mann der ersten Stunde der aufbrechenden 68er, Theresianums-Zögling, danach erst DJ, dann Fahrlehrer, schließlich Künstler und Lebenskünstler mit wenig Geschick in beiden Disziplinen. Immerhin passiver Aktivist des aktiven Widerstandes gegen das Establishment, gegen den Konservativismus, gegen die Heuchelei, gegen die Präpotenz und die Dummheit, gegen jede Art von Verherrlichung des Krieges oder dessen Herbeireden, einer, der im Kampf in der Errichtung seiner freidenkerischen Windmühlen gefallen war, von deren sich im Winde drehenden Flügeln er sich Kühlung seines Lebens- wie auch Liebeskummers erhofft hatte.
Rein optisch gesehen scheinbarer Klon zwischen Peter Fonda und Chris Kristofferson, schlohweiße Mähne mit dazupassendem Vollbart, Ray-Ban-Brille in Gold mit großen Gläsern. Dass der Abgang dieses lieben Freundes schmerzte, der bisweilen auch unbequem sein konnte, wenn man die Finger in seine Wunden legte oder nicht damit hinterm Berg hielt, seiner immer wieder aufgewärmten Geschichten müde zu sein, war allen bewusst, wie auch die Tatsache, dass sein konsequentes Sitzenbleiben, zum Überdruss für alle Beteiligten, oftmals die Nacht zum Tag gemacht hatte.
Doch nur wenige wussten um seine wahre Leidenschaft, die Malerei. Eingeweihte hingegen schätzten ihn als wenngleich ruhmlosen, doch äußerst geheimen Rat der Pinselkunst. (In diesem Land musste man erst tot sein, um Lorbeeren in so einer Disziplin zu erlangen, oder man hatte Beziehungen.) Immerhin, er hatte einige Semester an der Akademie absolviert, doch dann hatte ihn das Schicksal mit List in die Welt des Profanen katapultiert und es sich zur Aufgabe gemacht, ihn stets mit Gewalt von dem fernzuhalten, wovon er glaubte, dass es seine Bestimmung sei.
Vielleicht war er ganz einfach zu bescheiden im Umgang mit seiner Begabung und hatte es nicht verstanden, sich zu verkaufen?

Im Gegensatz zu ihm pflegte in seinem Heimatort manch Hobbykünstler großmannsüchtig sich die Lorbeeren selbst aufs Haupt zu drücken und mit sinnigen Sprüchen wie, „Hier wohnt die Kunst“ über dem Hauseingang zu protzen, was in Vorübergehenden wiederum die Ahnung nähren mochte, dass in diesem Hause wohl eher der Kitsch als die Kunst zu Hause wäre, oder besser gesagt, nur ihr Phänomen, in Form der Verkennung ästhetischer Sinnzusammenhänge, als verwesendes Ornament sozusagen, als unverfälschter Ausdruck des Verfalls aller Kultur zur Massenkultur in der Moderne.
Denn heute, da das Bewusstsein der Herrschenden mit der Gesamttendenz der Gesellschaft zusammenzufallen beginne, zergehe die Spannung von Kultur und Kitsch, sagt Adorno zu Recht. Kunst sei nicht zuletzt das Schöne wie auch die Wahrheit. Alles andere sei Schein. Es sei schon ein Stück Wahrheit, die der Künstler einfängt, auch wenn es lediglich der Abglanz derselben und mit unterschiedlicher Akzentsetzung ein Spiel mit den letzten Dingen ist und er damit doch gewissermaßen ein Endspiel erreicht, das nicht bloß erbauen und gefällig sein will. Eine Wirklichkeit also, die in schöner Weise verschleiert, Wirklichkeit aber erst dadurch sichtbar macht, hat einen gewissen Anteil am Schönen als auch am Hässlichen.
Form und Inhalt unterscheiden sie und lassen alles an ihr sehen und erahnen, an dieser Kunst. Nichts jedoch ist wirklicher als das Unwirkliche in der Kunst. Kunst ist also konkret ein schöpferischer Prozess mit Anspruch auf das Unaussprechliche, Unendliche, Unfassbare und Unbegreifbare. Und davon abgesehen, wer könne überhaupt für mehr als eine bestimmte Gruppe bestimmen, was Kunst denn überhaupt sei?

Wie auch immer. Böse Zungen behaupteten, das dahingeschiedene verkannte Genie hätte sich zu Tode gesoffen. Mitnichten. Enteignet, ausgenützt und hintergangen, längst unter Beobachtung der Behörden, noch dazu vor den Augen einer Supermarktkassiererin gestürzt, hatte er nicht nur sich selbst, sondern auch eine daraus resultierende Embolie mühsam mit nach Hause geschleppt, vor der sein Geist und Körper schließlich endgültig kapitulierten.

Dass aber das Ableben dieses guten Freundes nicht bloß in Arnos geistiger Registratur im Kanon der Erinnerungen ausgerechnet beinahe zeitgleich mit dem spektakulär tödlichen Blechsalat eines unverwechselbaren, seit Jahrzehnten die Öffentlichkeit an der Nase herumführenden Politgurus und Spitzbuben zusammenfallen würde, einem jener Gutmenschen, die alles besser wussten, durchtrieben, verlogen und betrügerisch und der jetzt womöglich am Himmelstor flehend „Ich bidde um Einlass, hicks! Wo gibt’s hier für kleine Jungs?“, lallen mochte, stieß ihm höchst sauer auf.
Arno sah sich erst einmal um und wandte sich schließlich den anwesenden Gästen zu.

– Wo bist du denn gewesen, fragte ihn Lissi Radner, und versetzte dabei ihre blau geschatteten Basedow-Augen in gefährliche Rotationen. Arno, von dem jähen Angriff überrumpelt, murmelte irgendeine Ausrede, mit der sie sich zufriedengeben sollte. Die gute Lissi. Und er stellte sich vor, sie und seine Gattin Constance, in einer Klosterschule bei den Töchtern des göttlichen Heiland! Eigentlich unvorstellbar! Arno musste lachen. Vor fünfunddreißig Jahren! Mein Gott, wie die Zeit verging! Und sie hinterließ deutliche Spuren, nicht nur in den Gesichtern, sondern auch in den Seelen und Organen.
– Hab nicht wegkönnen, wiederholte Arno eher so für sich, Ersatz für eine deutliche hörbare Antwort. Zu viele Gesichter gleichzeitig!
Lissis Frage wäre ja ohnehin bloß rhetorischer Natur gewesen, denn, ohne Arnos Antwort abzuwarten, fuhr sie zu ihren Tischnachbarn fort:
– Was ich mitmache, mit meinen Herzrhythmusstörungen, das kann sich kein Mensch vorstellen, jammerte Lissi und zündete sich die nächste Zigarette an, um Platz für den nächsten Hustenanfall zu schaffen. An ihrer kaum zu übersehenden Art simulierter Entspanntheit las Arno den Stand ihres Alkoholpegels ab. Zumindest das fünfte Glas, diagnostizierte er so für sich. Ein rein empirischer Erfahrungswert.
– Und ihr könnt euch nicht vorstellen, wie berührend dieses Begräbnis war, fuhr Lissi fort. Es waren nur seine besten Freunde hier. Er hatte ja sonst niemanden mehr, nur uns. Und die…
Die Organisatorin fiel ihr ins Wort. Schließlich ging es um ihr Ding:
– Stimmt! Ich habe alles daran gesetzt, dass er das bekommt, was er sich gewünscht hätte, sagte sie. Und diese Band! Gott und die Welt habe ich angerufen, damit die am Grab spielen. Ein Sousaphon haben sie auch gehabt, wie in .. also, wie damals in New Orleans eben. Er war ja schließlich selbst mit, vor einigen Jahren. Wir hatten eine CD für ihn aufgenommen, die wir über einen Lautsprecher abgespielt haben. Irre, sag ich dir, einfach irre. Unser Pfarrer hat sofort den Blues gekriegt. So ein Begräbnis haben die Leute hier noch nicht erlebt!

Arno nickte ungläubig. Er wählte ein Bier und einen Schinken-Käse-Toast als Totenmahl, der allerdings nie bei ihm ankommen sollte.
Lissi nippte stetig an ihrem Weinglas. Es war laut hier drinnen und verraucht, von garantiert an die dreißig, vierzig Leuten verursacht. Ein bunter Haufen. Der Richter, der auf teure Autos stand, der Versicherungsvertreter, der gerne Jurist geworden wäre, der Lebensmittelvertreter, der besser Gartenarchitekt hätte werden sollen, der Diplomkaufmann, der nichts zu kaufen hatte, ein Fernfahrer ohne Führerschein, weil man ihm den wegen Trunkenheit am Steuer abgenommen hatte, eine Verführerin, die Arno damals nicht wirklich hatte verführen können, aber beabsichtigt hatte, dies eines Tages nachzuholen, eine pädagogisch gebildete Kampftrinkerin, die nie aufgab, anzuecken, eine Kindergärtnerin mit Migräne, ein durch die Last der Jahre aus den Fugen geratenes Möchtegernmannequin und weiß Gott wer noch alles hier anwesend war.
Arno stützte seinen Kopf in die Hand, Ellenbogen auf dem kleinen, runden Tisch vor ihm und hörte aufmerksam zu. Lissi und die Organisatorin standen plötzlich auf, sich ruhelos von einem Tisch zum anderen begebend, um nichts zu versäumen, was hier und dort gesprochen wurde. Schließlich sah man sich nicht alle Tage. Arno ging an die Bar, wo der Richter und der Vertreter saßen, um ein wenig Smalltalk zu treiben.

– Alter Freund, begrüßte ihn der Richter, lass dich küssen. Sie fielen sich in die Arme.
– Lange nicht gesehen, altes Haus, konterte Arno freudig. Der Richter, der sich die letzten Jahre so rar gemacht hatte in diesem illustren Kreis, sei es, um mit angeseheneren Leuten zu verkehren, sei es aus Bequemlichkeit, niemand wusste es so genau, bestellte eine Runde für alle. Sie plauderten über dies und das, über Aktienkurse, über Innenpolitik, über die Pension, die nach einer der ausgesprochen fiesesten und hinterhältigsten Politaktionen in diesem Lande für alle in weite Ferne gerückt schien. Hinter ihnen Lissi und die Organisatorin. Beide schon ein wenig vom Alkohol gezeichnet, letztere das rabenschwarz gefärbte Haar devastiert, dies in wilden Strähnen ins Gesicht hängend, die Zunge noch bewegungsuntüchtiger als zuvor, jedoch durch nichts zum Stillstand zu bringen. Da plötzlich brach es heraus, das lange Angestaute, Zurückgehaltene, wie ein Gewittersturm:
– Ach übrigens, das wollte ich dir schon lange sagen, dich hab ich ja ohnehin nie leiden können!, schmetterte Lissi heraus in Richtung Organisatorin, die sich völlig überrascht ihr ruckartig zuwandte und in Abwehrhaltung verharrte.
– Das beruht durchaus auf Gegenseitigkeit, konterte diese und fuhr sich mit ihren Spinnenfingern durch die wirre Mähne, von vorn nach hinten, um die glühenden Augen für den Zweikampf freizulegen.

Arno und die anderen drehten sich nach ihnen um. Was? Wie? Was sollte das denn werden?
– Nur dass du Bescheid weißt, ich habe dich stets als arrogant, präpotent und unnahbar empfunden, fügte Lissi hinzu. Und überhaupt, dass du diesen Mann bekommen hast, vergönne ich dir schon überhaupt nicht. Immerhin war er einer aus unserem Freundes- und Alterskreis. Auf den hatten wir Anspruch. Und dann bist du gekommen und hast … hast ganz einfach … aber so eine wie du, die kriegt ja immer alles, was? Betretenes Schweigen aller.

– Damit du es nur weißt, ich habe dich von Anfang an unsympathisch gefunden. Du repräsentierst für mich nichts als den Vorwurf und den Frust schlechthin!, schmetterte die Organisatorin dazwischen. Und dass ich den Mann gekriegt habe, den ich wollte, geht dich gar nichts an!, zischte sie giftig und holte rasselnd Atem, Zigarette in der einen, das Weinglas in der anderen.

Arno begann zu ahnen, was hier ablaufen würde und ging friedensengelgleich langsam auf die beiden zu.
– Was ist denn in euch gefahren? Selbstfindungstrip heute, oder was?
Genau das hätte er besser vermieden, denn kaum waren die Worte über seine Lippen gekommen, nahm ihn Lissi auch schon in die Mangel.
– Du hast es ja nötig, hier einen Auftritt zu inszenieren!, herrschte sie ihn an. Das Ex-Mannequin lachte höhnisch. Mit dir bin ich ohnehin noch nicht fertig. Könntest du überhaupt versuchen, mit uns einmal normal zu reden? Ja? Schaffst du das? Du Halbintellektueller, du … erinnerst du dich an die Geburtstagsfeier damals? Den ganzen Abend hast du damit zugebracht, uns lauthals zu signalisieren, wer du nicht jetzt bist, du… du Doktor du! Du Doktor!, wiederholte sie in einem fort.
Und sie verunglimpfte diesen akademischen Grad bewusst genussvoll mundartlich zu „Doukta“. Arno stand da wie angewurzelt. Meinte sie ihn? Meinte sie wirklich ihn? Er konnte sich an keine Geburtstagsfeier erinnern, wo sie anwesend gewesen wäre, und dass er wegen seiner erworbenen akademischen Ehren so ein Theater gemacht hätte, auch nicht.
Zugegeben, ein wenig stolz war er gewesen, schon, war ja schließlich nicht irgendwas, ein Haufen Arbeit und Stress, aber … so wie Lissi das darstellte, konnte es nicht gewesen sein. Das war einfach nicht er. Arno zuckte mit den Schultern und sagte, es täte ihm leid, wenn das ihr Eindruck gewesen sei.

Überhaupt schien es in letzter Zeit schick zu sein, ihn zu schikanieren, dachte Arno. Arrogant wäre er, sagen die einen. War ihm nicht bewusst. Leichte Beute wäre er, der Älterwerdende, für Bürokraten, die an ihm herumzunörgeln begannen, ihn hinausmobben wollten, aus Neid und Missgunst. Er war in letzter Zeit einige Male länger krank gewesen.
Kunststück, man war ja auch nicht mehr der Jüngste. In Teilkarenz wollte man ihn verbannen, ihn um seinen Vertrag prellen, ihn mit unlauteren Mitteln unter Druck setzen und Unterschriften und Zusagen von ihm erpressen. Aber da kannten sie ihn schlecht.
Auch wenn er schon etwas wackelig war, sein Kampfgeist war ungebremst und sein Widerstand gegen Ungerechtigkeiten ungebrochen. Ein „Rolling Stone“, ein „Let´s spend the night together“, ein „I can get no Satisfaction“, ein „This ist the end“ wäre er immer noch! Nicht ein „Hundertjähriger“, wie die „Migräne“ heimlich von ihm hinter seinem Rücken behauptete, weil er immer so früh nach Hause ging, müde war, erschöpft, des Lebens manchmal überdrüssig.

Insgeheim aber begann Arno irgendwie zum ersten Mal an der gesunden Wahrnehmung seiner Person in Relation durch sich selbst und im Vergleich durch Dritte zu zweifeln.
– Red ganz einfach normal mit uns!, bedrängte Lissi ihn weiter.
– Aber, was hab ich denn gesagt, um Himmels Willen?, fragte Arno beinahe hilflos.
– Du sollst nur normal mit uns reden, ganz einfach!, wiederholte sie stereotyp, sog heftig an ihrer Zigarette und goss sich Weißwein gespritzt in die Kehle.
– Aber, aber, ich sag ja gar nichts!, beteuerte Arno, was hast du bloß?
– Was ich hab? Du hättest dich hören sollen damals!, tobte sie förmlich aus lauter Lust an der augenblicklich günstigen Chance zur metaphysischen Überhöhung dieses offensichtlich lang herbeigesehnten willkommenen Konfliktes.

Damals, damals! Das war Jahre her, ärgerte sich Arno. Ich bin doch kein überheblicher Mensch, nicht jetzt, und damals auch nicht gewesen, Blödsinn, durchfuhr es Arno und er verstand die Welt nicht mehr. Möglicherweise war er noch zu tief in seinem Vokabularium gesteckt, Fachausdrücke, vielleicht ein paar zu viel, aber das wäre vorbei bitte! So normal wie er schien ihm keiner hier. Oder täuschte er sich in sich selbst?
– Das stimmt, genau! Finde ich auch!, fiel nun auch die Organisatorin über ihn her, von der er niemals gedacht hätte, dass auch sie … jetzt verstand er gar nichts mehr. Und das Küsschen von vorhin? War das bloß Routine? Macht man eben so, nicht? Aber hinterm Rücken wird schon das Messer gewetzt.
Ja, sind hier alle bescheuert!, kam es Arno über die Lippen. Was war denn mit denen los? Von Lissi war man ja gewohnt, dass sie alles schlechtredete, was andere gemacht hatten. Alles kleinzureden, das war typisch für jene, wo sie herkam. Nichts gelten lassen, was andere erreicht hatten, ein Menschenschlag, von Neid und Missgunst geprägt, verhängnisvolles Relikt geistiger Ohnmacht ihrer Vorfahren. Aber die Organisatorin? Also, das war wirklich ein starkes Stück! Von Lissi hätte er auch mehr erwartet. Aber da konnte man eben nichts dran ändern! All die Jahre der persönlichen Entwicklung und des positiven Fremdeinflusses waren offensichtlich nicht in der Lage, den krankhaften Infantilismus in ihr zu verdrängen und diesen wenigstens durch rudimentäre Ansätze einer bislang zu vermissenden Reife zu ersetzen.

Anstatt ihr jedoch zu zeigen, wie schäbig er sich vorkam, in aller Öffentlichkeit gemaßregelt worden zu sein, nahm er die besoffene Lissi strategisch berechnend in die Arme und sagte:
– Weißt du, du solltest nicht so streng mit mir sein!, und küsste sie auf den Mund, was zur Folge hatte, dass sie ein wenig unsicher wurde und zumindest lächelte, so irritiert war sie von der unerwarteten Reaktion Arnos, der sich sicherheitshalber wieder den staunenden Freunden an der Bar zuwandte, um an diesem Abend zu retten, was noch zu retten war, während er fühlte, wie seine sorgfältig für sich ausgearbeitete Scheinwelt immer mehr und mehr im Sog des Boulevards zu versinken drohte.
Warum hatte es ihn bloß hierher gezogen? Um sich ein blaues Auge zu holen? Und er beschloss, dass es für ihn kein nächstes Mal mit diesen Leuten geben würde. So bestimmt nicht mehr! Wie Caro Ass dies hier ertragen konnte, war ihm ein Rätsel. Und er musste an Constance denken und daran, dass sie mit dem französischen Gorilla, ihrem Geliebten, und damit musste er auch noch fertigwerden, vielleicht eben beim Diner saß, oder schlimmer noch …. woraufhin er fürchterlich wütend wurde, sich jedoch bezwang und diese Stätte der Demütigung eher verließ als er vorgehabt hatte, alleine.
Oder doch nicht ganz? Denn kurz vor ihm hatten Lissi und das Mannequin offensichtlich bereits denselben Gedanken gehabt, oder war es für sie eine wohlüberlegte Notwendigkeit gewesen, rechtzeitig zu verschwinden? Denn Lissi torkelte und taumelte trotz Mannequins gereichtem Arm als Henkel derart bedenklich, dass sie für zwei Meter vorwärts einen Meter links und rechts zusätzlich Raum benötigte, um überhaupt noch vorwärts zu gelangen. Alle Achtung!

Ach, diesen Roman müsste er jetzt endlich zu Ende schreiben! Und auch über all den Mist hier einen Roman schreiben!, dachte er. Schon beim Hinausgehen legte er sich im Geiste zurecht, wie er sich selbst als seine eigene Romanfigur anlegen würde, an die er sich, rasch auf dem altersschwachen Dell hineingetippt, ja längst herangewagt hatte. Diesen einen Roman, den er zügig vollenden wollte, wenn nur die Zeiten für ihn wieder besser würden. Und er, darin Hauptfigur in seiner Rolle als Erlebender. Einer, nämlich dieser seltsamen Welt, sich selbst zeichnend, einer, der zum Verfassen verklärter Biografien neigte, skurrilen Zufallsgeschichten ausgeliefert war, dem paradoxe Anekdoten nachhangen, der in melodramatische Beziehungskisten verstrickt und unausweichlichen Schicksalsschlägen ausgeliefert war. Er selbst, mittendrin, voll von Ironie und mythomanischen Tagträumereien geplagt.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 15073

Herbststurm

Arno erinnerte sich, es musste im Oktober gewesen sein, als er zusammen mit seiner Frau Constance Freunde in einer Bar in der Innenstadt getroffen hatte. Eine Menge Leute waren um sie herum. Klaus und Marion, deren französischer Freund Pascal, Elke und Hans, und noch einige Bekannte, die er nicht beim Namen gekannt hatte. Man saß auf diesen hohen Stahlrohrhockern rund um eine schwere Eichentheke und plauderte angeregt miteinander. Klaus und dieser Pascal unterhielten sich prächtig übers Segeln.
Er selbst war etwas gelangweilt, irgendwie war damals nicht sein Tag. Wann war eigentlich jemals sein Tag gewesen?, überlegte Arno fieberhaft. Was für eine blöde Frage! Auf alle Fälle brannten ihm tierisch die Augen vom Zigarettenrauch, das wusste er mit Sicherheit und er versuchte, sich an Pascal genauer zu erinnern. Ein hübscher Mann, gewiss, schlank, wirklich gute Figur, schwarze, dichte lange Haare. Gesicht braungebrannt. Sein weißer Pullover mit Zopfmuster stand in Opposition zur dunklen Gesichtsfarbe. Wer so aussah, brauchte kein Hirn. Blöd war nur, dass er offensichtlich auch noch sehr klug war.  Ob Constance ihn damals … ?

Dabei war ihm nicht das Geringste aufgefallen. Und doch! In dieser Bar mussten zwischen ihr und diesem, diesem … die Grundlagen dafür geschaffen worden sein für das, was jetzt ganz offensichtlich Sache war. Spätestens da, als jener davon gesprochen hatte, dass man in Paris jetzt häufig Sushi aß, und wo die besten Restaurants dafür wären.
Wieso war ihm nicht schon damals aufgefallen, dass Constance diesem Kerl mit einer Faszination zugehört hatte, die ganz einfach … ach! Natürlich! Und wie sie ihn angestarrt hatte! Als wollte sie ihn an Ort und Stelle vernaschen. Und Arno war sich ganz sicher, dass dieser Zuchthengst gar nicht erst dazu gebracht werden musste, wenn man wusste, wie gut Constance aussah. Wieso hatte dieser Scheißkerl keinen Respekt vor ihm und seiner langjährigen Ehe mit Constance, fragte sich Arno voll Grimm und der blanke Hass stieg in ihm auf, wie ein Gewitterturm im Juli vor der Heuernte. Hatten die beiden nicht auch noch getanzt? Natürlich, weil er, Arno, zu müde war. „Man sollte das Ruder nie aus der Hand geben, richtig! Hätte ich an diesem Abend … zu spät.“

Jetzt wusste er, warum sie so ruppig zu ihm gewesen war, als er sie drängte, endlich zu gehen. Schließlich war der nächste Tag ein Arbeitstag. Natürlich! Jetzt wurde ihm alles klar. Schließlich war er dann allein nach Hause gegangen. „Was für ein nicht wiedergutzumachender Fehler!“ Aber dass es so leicht sein würde? Schließlich waren sie beiden seit über zehn Jahren verheiratet gewesen und nichts, aber schon gar nichts hatte jemals darauf hingedeutet, dass Constance, die ihm eigentlich immer so durch und durch vergeistigt schien, auf solch animalische Anmache hereinfallen würde.
Nie im Leben hätte Arno daran gedacht. So konnte man sich täuschen!

Am Abend des folgenden Tages … richtig, sie steckte mit beiden Beinen in ihrer Fußbadewanne, vor dem Fernseher, und rasierte sich die Beine mit einer Gründlichkeit, die er so bei ihr zuvor niemals beobachtet hatte. Sie hatte sich Kaffee gemacht und telefonierte eben, als er hereinkam und ganz offensichtlich störte! Jetzt fiel es ihm wieder ein. Diese Blicke, die sie ihm zugeworfen hatte! Beinahe verächtlich, so, als wäre er für sie gar nicht vorhanden. Er war nicht darauf eingegangen, weil er keinen Grund dafür gesehen hatte. Alles schien in Ordnung. Kein Anlass für irgendwelche Hirngespinste. Doch musste zu diesem Zeitpunkt bereits etwas im Busch gewesen sein. Was sie von dem Franzmann wollte, schien ihm jetzt klar.

Heute Morgen, nachdem er vergeblich versucht hatte, Constance telefonisch zu erreichen, hatte er einen Brief von ihr an sich gefunden. Er lag versteckt hinter dem Brotkörbchen, und irgendwann, wenn man dieses zur Seite geschoben hatte, musste man eines Tages zwangsläufig darauf stoßen. Und dieses „irgendwann“ war heute. Also öffnete er ihn und begann ganz langsam darin zu lesen:  Liebling, wenn du diese Zeilen gefunden und gelesen hast, ruf mich bitte nicht gleich an, sondern versuche, mich ganz einfach erst zu verstehen!

Arno senkte das Blatt und starrte stumm in den Raum. Er, der kaum rauchte, ging in den Vorraum, um nach Zigaretten zu suchen, die dort meist im Schuhregal deponiert waren, wenn überhaupt welche da waren. Zum Glück waren welche da. Mit Zeigefinger und Mittelfinger fischte er eine aus der bereits geöffneten Packung und suchte nach einem funktionierenden Feuerzeug. Neben dem Gasherd fand er eines, wer hätte das gedacht? Arno zündete sie an und blies den Rauch bedächtig von sich. Er wagte vorläufig nicht, weiterzulesen, so, wie er es oft bei Finanzamtsbenachrichtigungen tat, damit der Schock über die Enttäuschung etwas zeitverzögert blieb.
Um noch Zeit zu gewinnen, denn er wusste, dass dies keine für ihn beruhigende Nachricht sein konnte, ging er zum Schiebeschrank und nahm die einzige, nur noch viertelvolle Flasche Whisky heraus. Er griff sich ein bauchiges Glas und goss langsam ein. Bevor er den ersten Schluck tat, atmete er zunächst das starke Aroma tief ein. Dann setzte er das dünne Glas an seine schmalen Lippen. Der Whiskey brannte etwas auf der Zunge. An und für sich kein gutes Zeichen für einen „Zwölfjährigen“. Aber heute sollte man nicht genießen, sondern töten! Die Seele betäuben und den Schmerz lindern. Arno spürte, wie der Alkohol seine Magenwände wärmte und sich sein Bauch entspannte. Er nahm einen tiefen Zug von der Zigarette. Dann griff er zum Brief, gestützt, gefasst, gleichzeitig innerlich unruhig, aufgewühlt. Was hatte dies alles zu bedeuten?

– Ich kann nicht anders.
„Was, zum Donnerwetter kann sie nicht anders?“
– Du musst mich verstehen! Bitte, reg dich nicht auf, mir geht es gut. Ich werde voraussichtlich bis dreiundzwanzigsten bleiben.
„Dreiundzwanzigsten? Das sind… verdammt, das wären ja über drei Wochen! So lange war sie noch nie weg. Sollte doch dieser Scheißtyp aus der Bar … ich bringe ihn um, diesen Drecksack! Ja, ich erschieße ihn. Ich fahre nach Paris und knall ihn ab!“ Arno musste sich setzen. Seine Beine wurden schwach. Er rauchte hastiger als zuvor. Die Zigarette war bereits bis an den Filter geraucht. Er dämpfte sie in einem Kaffeeuntersetzer aus und nahm einen großen Schluck Whisky, an dem er sich beinahe verschluckte.

– Es hat alles überhaupt nicht mit dir zu tun, verstehst du?
„Nein! Das verstehe ich nicht!“, schrie Arno und erschrak vor seiner eigenen Stimme. „Was gibt es daran zu verstehen? Alles klar, oder?“
– Du bist wunderbar, Liebling.
„Sie will mich bloß verarschen, oder?“, flüsterte Arno und raste in den Vorraum um eine zweite Zigarette, die er sich mit zittrigen Fingern ansteckte.
– Das mit Pascal ist eine ganz andere Geschichte. Es ist eine Sache zwischen uns beiden, ihm und mir, verstehst du?
„Und ich bin ein Arschloch, oder?“, schrie Arno aus vollem Halse. „Ich habe nichts damit zu tun, du blödes Stück!“, brüllte er wie von Sinnen und warf sich zu Boden. Das Glas fiel um. Auf dem Teppich breitete sich ein riesiger Fleck aus. „Scheiße! Scheiße!“ Mühsam rappelte er sich hoch. Sein Herz raste wie verrückt. „Ich schneid ihm den Schwanz ab!“, tobte er. „Ich erschlage ihn. Und sie dazu!“ Dann setzte er sich auf die Couch und vergrub sein Gesicht in seine beiden Hände, bitterlich schluchzend. Es dauerte eine Weile, bis er sich erholt hatte. Im Kühlschrank waren noch zwei Flaschen Bier. Er stand auf, etwas wackelig, vor Aufregung und wegen des Whiskys, und ging in die Küche, um eine davon zu öffnen.

– Ich kann dich nur bitten, zu verstehen. Mehr kann ich dir jetzt nicht sagen. Ich liebe dich. Auf bald!
Arno wurde heiß. Sein Hemdkragen begann ihn zu würgen, sodass er ihn aufriss und der oberste Knopf in weitem Bogen davonflog. Rasch einen Schluck kaltes Bier. „Setz dich!“, befahl er sich selbst, „ich bitte dich, setz dich!“, schrie er, „bevor ich einen Blutrausch kriege!“ Mit einer raschen Handbewegung griff er zum Telefon.
– Ruf mich an, wenn es dir nicht gut geht. Sollte ich nicht erreichbar sein, hinterlass mir eine Nachricht. Ich werde dich zurückrufen.
„Miststück! Bestialisches, eiskaltes, widerwärtiges, ekelhaftes Weibsstück! Wie ich dich hasse, ich finde keine Worte! Wie ich euch Weiber hasse und eure ewige Rolle des Schlangenhaften, Verführerischen, und dass ihr sofort alles kriegt, was ihr wollt! Hol euch allesamt der Teufel!“, schrie Arno erneut nach Leibeskräften.

Er wählte Constances Nummer. Nichts! Nur die Sprachbox. Schon wollte er daraufsprechen, dann ließ er das Handy sinken, resigniert, müde, erschöpft, betrunken.
„Das Ende“, hauchte er, „das überleb ich nicht!“

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 15034

 

Auf die Nerven

Eindringlich, warnend, mit hoher Stimme. Wenn du nicht endlich deine Rückenmuskeln trainierst, werd ich dich eines Tages pflegen und im Rollstuhl schieben müssen. Und mit jedem Tag würde ich schon krumm und krummer. Sieh dich an, wie schief du schon daherkommst, sagst du dann. Immer sagst du solche Sachen. Ich lache verunsichert. Lach nicht, sagst du jetzt, du wirst schon sehen, wie weit es mit dir noch kommen wird. Und du? Immer, wenn ich dich etwas frage, kommst du mir mit einer Gegenfrage. Das war nicht immer so. In letzter Zeit aber passiert das immer öfter. Dann sage ich, du antwortest nicht auf meine Frage. Ja, weil ich schon vorausdenke, sagst du dann. Aber woher soll ich wissen, dass du vorausdenkst, frage ich?
Brüllt. Wo ist das verdammte Handtuch schon wieder? Am Morgen habe ich doch erst ein frisches aus dem Schrank genommen. Das rote von gestern ist nass. Da hast du es, sage ich ganz ruhig. Ich rede nicht vom roten von gestern, sondern von dem, das ich heute Morgen aus dem Schrank genommen habe. Es ist nicht da.
Das gehört auch zur Krise, flüstere ich jetzt. Alles ist derzeit in der Krise. Ich, du, wir beide zusammen, die ganze Welt, doziere ich, ist in der Krise. Weinerlich. Mein Gott, jetzt übertreib nicht schon wieder, das ist ja nicht auszuhalten! Mit dir kann man einfach nicht diskutieren. Zornig. Mit mir kann man nicht diskutieren, mit dir kann man nicht diskutieren, weil du immer Recht haben willst. Ich geh jetzt den Buchs spritzen, bevor ihn die Würmer noch ganz auffressen.

Zynisch. Ja, geh nur den Buchs spritzen, jetzt, wo´s doch gleich regnen wird. Das ist sehr klug von dir, damit der Regen gleich alles wieder abwäscht, sage ich. Kämpferisch. Du immer und dein Wetterbericht. Es wird nicht regnen, glaube mir, von wo heraus soll es denn regnen? Etwa aus der kleinen Wolke über uns? Wissenschaftlich. Ich behaupte, dass es gegen Abend Regen geben wird, meine elektronische Wetterstation zeigt die Regenwolke an und das Balkendiagramm geht total nach unten. Verächtlich. Du und dein Balkendiagramm, da kann ich nur lachen. Bestimmend. Ich sage dir, dass es nicht regnen wird und ich gehe jetzt den Buchs spritzen. Vorwurfsvoll. Es ist schade um das Geld, das du dafür ausgegeben hast, wenn es der Regen ja doch gleich wieder abspült. Zurechtweisend. Spinn nicht, sagst du dann, sieh doch nach oben, keine Wolke weit und breit.

Das Thema wechselnd, so tun, als ob nichts gewesen wäre. Irgendwie hoffnungsvoll, mit deutlichen Hebungen und Senkungen. Was ist jetzt mit, frage ich. Nichts ist damit, was soll sein, antwortest du abschmetternd. Wichtig. Ich dachte, wir sehen uns die Angebote an? Herunterholend. Es ist noch zu früh, sagst du, wir warten noch ab. Drängend. Worauf willst du warten, frage ich, bis die Preise noch höher steigen als sie ohnehin schon sind? Vorwurfsvoll. Früher, sage ich, warst du nicht so anstrengend wie jetzt. Ätzend. Wie ist das gekommen? Ironisch. Früher warst du auch ganz anders als jetzt, wie ist das gekommen?
Berechnend angriffig. Das ist es, was ich meine. Siehst du, immer, wenn ich dir eine Frage stelle, stellst du auch eine, anstatt mir eine ordentliche Antwort zu geben. Mit Kalkül. Weißt du, wieso du so anders geworden bist, fragst du. Stark, innerlich aber ängstlich. Nein, ich weiß es nicht, wieso du so anders geworden bist, sage ich. Etwas milder als zuvor. Wir haben uns beide verändert, bemerkst du. Stichelnd. Aber ich sage, du bist so ganz anders geworden, seit damals, als wir uns kennengelernt haben. Einlenkend. Da waren wir jung, sagst du. Jetzt sind wir alt. Resigniert. Ja, jetzt sind wir alt, sage ich. Das ist doch kein Grund, dass man so ist, wie du bist, sage ich. Erst recht. Forte. Das ist sehr wohl ein Grund, anders zu sein, als man war, sagst du.

Verordnend. Und koste jetzt diesen Shake. Abwehrend. Aber ich will jetzt nicht, sage ich, ich habe mir eben ein Bier aufgemacht. Insistierend. Probier ihn, er schmeckt nach Himbeere, den musst du probieren. Wegwerfend. Kann schon sein, aber ich will nicht, sage ich. Attackierend. Hier, du hältst mir das Glas hin. Protestierend. Nein, sage ich, jetzt will ich verdammt noch mal nicht. Begründend im Crescendo. Um diese Zeit bin ich schon beim Bier. Sforzato auf „will“. Ich will deinen blöden Shake jetzt nicht kosten, verstehst du mich nicht? Klein beigebend. Gut. Für eine Weile ist Funkstille. Zwei Minuten hinterm Mond. Kaum, dass sie vergangen sind, eine neue Szene: süßlich. Siehst du dir am Abend den Film mit mir an?
Gelangweilt. Ich weiß nicht, sage ich. Prüfend. Aber da, die Decke! Ich frage mich, ob du das absichtlich machst. Finger auf  die Stirn. Wo ist hier die Logik, fragst du. Schulmeisterlich. Wie oft habe ich dir gesagt, die Fransen gehören nach vorne. Nach vorne, hörst du mich?  Stumm. Ich schaue nur kurz um die Ecke ins Wohnzimmer. Du legst die Decke, ein blassviolettes, klassisches englisches Plaid, welches ich neulich über einen Versandhauskatalog bestellt hatte, um dir eine Freude zu machen, jetzt so auf die Couch, dass die Fransen vorne zu liegen kommen. Brummig. Auch gut. Giftig. Das machst du absichtlich, oder bist du so dumm, sagst du.
Ich ziehe mich in die Küche zurück und denke ganz fest daran, nicht zu reagieren. Ich bitte mich inständig, den Mund halten zu können, sonst wird alles nur noch schlimmer. Am besten gar nichts sagen. Stillhalten. Schweigend. Es wird vorübergehen. Alles – wird vorübergehen, kommt mir in den Sinn.

Bald wird es zwanzig Uhr fünfzehn sein. Dann beginnt der Fernsehabend. Du siehst dir doch den Film mit mir an, oder?, fragst du. Ich weiß nicht, antworte ich. Das hätte ich jetzt nicht sagen sollen. Es war taktisch unklug. Inzwischen hat die Waschmaschine zu schleudern begonnen und ist dabei derart laut geworden, dass ich sie mit beiden Händen festhalte, um die Vibrationen, die die Küche, die Regale und Schränke ins Schwanken bringen, etwas zu besänftigen. Sechs Minuten dauert der Spuk. Endlich ebbt er ab. Meine Hände zittern, weil ich das Gerät so intensiv vorm Davonfliegen bewahrt habe.
Also, was ist jetzt mit dem Film, fragst du. Ich habe es schon einmal gesagt, ich weiß es nicht. Vielleicht schaue ich noch in meine Mails. Immer gibst du so viel Geld aus für deine Filme, sagt du jetzt. Dann spielen sie einmal einen gescheiten, und du willst ihn nicht sehen. Bitte, sage ich mit Nachdruck! Im Vorzimmer fallen deine Walkingsticks um. Ich hebe sie unwillig auf und lehne sie an die Garderobe. Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen, sagst du, ich gehe noch mit den beiden walken, du weißt schon. Mit welchen beiden, frage ich, als ob ich nicht wüsste, wen sie meinte. Na mit den beiden eben, sagst du. Mit der Dicken, sage ich. Auch. Und? Was dagegen? Ich? Mir ist das wurscht, ob du deine Freizeit mit deinen zentnerschweren Weibern verbringst, ehrlich. Zum Filmbeginn bin ich wieder da, sagst du und öffnest die Tür, weil du gehen willst. Küss mich wenigstens, fordere ich dich auf und dann drückst du mir einen flüchtigen Schmetterling auf meine welken Lippen. So ist dieses Leben, sage ich mir, so, und nicht anders.

Im Hintergrund läuft der Fernseher dezent, aber laut genug, dass ich alles verstehe, was gelabert wird. Der schwarze Politheini hat also gestanden, mit den blauen Kumpanen ein linkes Ding gedreht zu haben, wovon die roten, die grünen und die orangen Mitesser angeblich keine Ahnung gehabt hätten. Und diese Arschlöcher wählen wir immer wieder, blöd, wie das Volk eben ist. Dann beschließen die, dass wir noch länger arbeiten müssten als bisher, und nehmen uns über die Steuer auch noch das letzte Geld weg. Ich könnt jeden Einzelnen von ihnen in den fetten Arsch treten, diesem verlogenen Pack!

Bevor du vom Walken zurückkommst, werfe ich das Backrohr an. Heute gibt es Moussaka. Ich hab mich mächtig angestrengt, dass alles so wird, wie´s zu sein hat. Schließlich wollen wir uns auf Zakynthos einstimmen. Die Auberginen nicht zu sehr im Öl, die Kartoffelscheiben ebenfalls nicht zu fett. Das Faschierte gut gewürzt, mit frischen Kräutern und Knoblauch, versteht sich. Koch nicht schon wieder, sagst du dann immer, wie soll ich sonst abnehmen? Du musst es ja nicht essen, sage ich dann. Du musst es ja nicht essen!, äffst du mich nach. Wenn es aber so gut ist? Dann koch ich eben nicht mehr so gut, werfe ich ein und freue mich insgeheim schon darauf, die Bechamelsoße mit Kartoffelpüree aufzupeppen. Den Tipp dazu habe ich einem verschwiegenen Griechen nach und nach aus der Nase gezogen. Ist doch nicht normal, dass die verdammte Soße so steif ist ohne irgendeine zusätzliche Masse. Man kann doch nicht zwei Liter Bechamelsoße anrühren, die sich zu guter Letzt ohnehin bloß zwischen den Kartoffeln und den Auberginen verkriecht. Obenauf kommt geriebener Parmesan, und dann noch eine Schicht pürierter Tomaten. Und nun, ab ins Rohr. Der Ofen macht mächtig Hitze in der ohnehin sommerlich erwärmten Küche.
Ein zweites Bier muss her. Bin gespannt, wen von den verschwitzten Stockwanderinnen du heute mit herauf auf einen Drink nimmst? Könnten doch unten in der Pizzeria im Haus einen nehmen, nicht? Sei nicht so unfreundlich, sagst du, ich hör schon genau, wie du das sagst. Also gut, immer herauf mit ihnen. Die Fenster hab ich schon einmal weit geöffnet. Nicht zum Aushalten! Ist ja schließlich keine Umkleidekabine hier!
Und überhaupt, frage ich, wo sind meine Jausenbehälter? Woher soll ich das wissen, keifst du. Pass selber auf sie auf, sagst du. Aber ich weiß, dass du sie oft als Butterdosen oder sonst irgendwie benutzt, wenn wir aufs Land fahren. Dann landen sie dort im Kühlschrank und finden nie mehr den Weg hierher zurück. Das stimmt nicht, fauchst du jetzt giftig. Das war vielleicht einmal der Fall. Wahrscheinlich hast du sie selbst irgendwo verräumt und wie üblich vergessen, wo du sie hingetan hast. Ich weiß immer, wo meine Sachen sind, sage ich. Ich bin nämlich ein ordentlicher Mensch, im Gegensatz zu dir, ätze ich. Da wirst du aber erst recht wild. Was kümmern mich deine blöden Jausendosen, brüllst du mich an.
Ich liebe dich, sage ich. Aber das nützt mir nichts. Als wäre ich in ein Hornissennest getappt. Die Dosen sind dort, wo sie immer sind, schreist du mich an. Entweder dort unterm Fenster im Kübel oder in der Dreh-Ecke bei den Töpfen. Sind sie aber nicht, sage ich bewusst ganz ruhig. Aber es nützt mir nichts. Dort sind sie aber nicht, wage ich einzuwerfen. Das war wieder ein Fehler. Dann drehst du den Kübel um. Marmeladegläser kommen zum Vorschein, Plastikschüsseln und Blechdosen. Sag ich ja, dass sie nicht dort drinnen sind, flüstere ich. Dann sind sie eben in der Dreh-Ecke, verdammt, plärrst du, und beginnst gleichzeitig Töpfe und Deckel aus dem Eckschrank zu räumen. Allein, die Jausendosen sind nicht darunter. Hab ich ja gesagt, wage ich festzustellen.

Ich geh jetzt, ich hab genug von deinen blöden Dosen, sagst du, nimmst deine blöden Stöcke und verschwindest durch die Eingangstür, hinaus auf den Flur, durch das Treppenhaus, raus auf die Straße. Knall, die Haustüre fliegt ins Schloss. Super, sage ich halblaut und öffne das Backrohr, um nach dem Moussaka zu sehen. Der Fernseher ist noch an, obwohl niemand mehr im Zimmer ist. Mache ihm den Garaus und kehre mit einer Dubliners CD in die Küche zurück. Von der Straße her knattert Mopedlärm penetrant an meine empfindlichen Ohren. Meine Fantasie arbeitet an einer Art Robin Hood, der mit Pfeil und Bogen Störenfriede auf Zweirädern erlegt, die sich dann am Ende der Straße zu einem Biker-friedhof ablagern. Während ich an der Bechamelsoße arbeite, mache ich im Geist Reime mit Politiker- und mehr oder weniger Prominentennamen. Das klingt so:
Putin Pröll Milosevic
Voves Niessl Schüssel
Platter Schmied Berlakovich
Stöger Fekter Küssel.
Nun gebe ich das vorbereitete Kartoffelpüree zum Bechamel dazu und vermische alles innig. Hervorragend! Was für eine Konsistenz! Langsam verteile ich den Brei auf die Kartoffeln und Auberginen.
Wallner Häupl Pühringer
Dörfler Doris Bures
Strache Karl Hörbiger
Kruse Bores Duris.
Obendrauf noch Tomatenmark und Parmesan. Dann ab in die Röhre.
Mikl Leitner Spindelegger
Petzner Mock und Faymann
Reich-Ranicki Schwarzenegger
Darabos und Paymann.

Und dann, während ich zwischendurch das Geschirr wasche, trittst du ganz plötzlich wieder in Erscheinung und vereinnahmst mich, völlig, sodass mir die Tränen kommen und ich höre ein Lied, das Banjo-Barnie (The Dubliners) immer gesungen hat, mit seiner rauen Stimme, ganz langsam, sodass es unter die Haut geht und ich muss daran denken, dass nichts auf dieser Welt ewig hält. Auch unsere Beziehung nicht:

I wish I had someone to love me,
Someone to call me his own,
Someone to sleep with me nightly,
I weary of sleeping alone.

Meet me tonight in the moonlight,
Meet me tonight all alone,
I have a sad story to tell you
I’m telling it under the moon.

I wish I had someone to love me,
Someone to call me his own,
Someone to sleep with me nightly,
I weary of sleeping alone.

Tonight is our last night together,
Nearest and dearest must part,
The love that has bound us together
Is shredded and torn apart.

I wish I had someone to love me,
Someone to call me his own,
Someone to sleep with me nightly,
I weary of sleeping alone.

I wish I had ships on the ocean
Lined with silver and gold
Follow the ship that he sails in
A lad of 19 years-old.

I wish I had someone to love me,
Someone to call me his own,
Someone to sleep with me nightly,
I weary of sleeping alone

I wish I had wings of a swallow,
Fly out over the sea
Fly to the arms of my true love
And bring him home safely to me.

I wish I had someone to love me,
Someone to call me his own,
Someone to sleep with me nightly,
I weary of sleeping alone.

So, und nach diesem Song bin ich völlig durch, in Tränen aufgelöst, hinüber. Her mit dem Bier! Das wäre ja gelacht. Also, so geht das nicht. Ich muss sie anrufen. Schatz, ich liebe dich. Und wenn ich dich beleidigt habe, dann tut es mir aufrichtig leid. Du ahnst nicht, wie sehr ich dich brauche. Du mich auch? Ist das nicht wunderschön? Ich liebe dich! Komm bald! Bussi. Uff!

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 15032

 

Der tolle Mann – ein Fragment

Plötzlich verstand ich sie. Warum sie von ihm nicht loskam, was es war, das sie so unglaublich anzog, über Jahre schon. Und warum es ihr unmöglich war, von ihm zu lassen.

Er war ein echt toller Mann. Er hatte, was die Mehrheit der Geschlechtsgenossen so schmerzlich vermissen ließ: Humor, Scharfsinn, Charme und Ironie in der genau richtigen Dosierung. Darüber hinaus war er feinsinnig und großzügig, einer der wenigen, die sich nicht nur dem eigenen Ego verschrieben hatten, viel zu lange schon. Solche wurden bitter, hart und hartnäckig verschwiegen, vergraben in das Eine, das Einzige, das Ewige, das Selbst. Wie mager diese Ausbeute, was war da schon zu holen? Immer das Gleiche, in unzähligen Varianten, die genauer betrachtet gar keine waren.

Dieser Mann war anders. Er überraschte sie, war spontan und hingebungsvoll, und wenn er etwas mit sich selbst auszumachen hatte, so äußerte er zumindest das, sodass sie es gut nehmen und ihn in Ruhe lassen konnte.
Er hatte nur einen offensichtlichen Haken, dieser Traumprinz, und dieser Haken glänzte golden.

Er gehörte einer anderen. Falls ein Ehering Besitz symbolisieren sollte, und für manche tat er das auch. Wie sie das sah, wusste ich nicht. Ich verstand nur, dass sie bis zu einem gewissen Grad zurückschreckte vor dem letzten Schritt, der einen Frage, dieser einen Entscheidung, vor die sie ihn nie stellte: „Sie oder ich?“

Diese Frage blieb also unbeantwortet, vielmehr ungestellt. Auch wusste sie nicht, wie das Zusammenleben mit ihm war. Wie schwermütig seine Abende ohne sie verliefen, wie wenig er sich mochte und wie gut er an sich selbst leiden konnte.
Das sprühende Charmebündel, das er nach außen gab, war innen nicht gefestigt, eine lose Konstruktion, gebildet, um anderen zu gefallen.
Es klappte ganz gut, das fehlende Fundament zu verbergen, außer, man verbrachte die vielen Tage und Abende und Nächte mit ihm, in denen er zweifelte, meinte, in und an allem zu versagen, nichts wert zu sein und darum auch nicht geliebt zu werden. Wer es dennoch tat, mit dem musste etwas nicht stimmen.

Was half alles Gegenreden, Mutzusprechen, Ermutigen und Ermuntern, wenn die Seele in ihren Grundfesten erschüttert war? Ich wusste nicht, wie es mit ihr gewesen wäre, wenn sie es wirklich versucht hätte, alles, ihr Leben seinen Stimmungsabschwüngen unterordnen, seine Kraft sein wollte, seine Lebenslust, seine Muse. Ich wusste es nicht.

Ich wusste aber, es würde schwer werden, bleischwer. Und ich musste es wissen. Ich hatte es die vielen Jahre versucht, mit diesem tollen Mann, meinem Mann.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 14071

 

 

 

 

Augen auf bei der Partnerwahl!

So hätte der Tag sich nicht entwickeln sollen. Denke ich und versuche, meinen Körper zur Seite zu drehen. Der Schmerz im Bein stellt sich augenblicklich ein und meine Gedanken auf den Kopf. Also drehe ich nur letzteren und da sind sie wieder, die beiden Kugeln im Gras, meinen Augen ein Fokus, meinen Gedanken ein Anker.
Der skulpturale Effekt der roten Kugeln im Grün ist ein unerwarteter. Die gänzlich neue Perspektive macht’s. Auf Augenhöhe mit Käfer und Konsorten. Der Hund winselt mich besorgt an und holt mich aus meinen filigranen Überlegungen in die Realität. Ich höre mich lachen.

Da komme ich vom Flohmarkt heim, in der schweren Handtasche meine Errungenschaften, ein Schnäppchen: neun glanzlackierte Kugeln aus Holz, etwa sechs Zentimeter im Durchmesser. Rote und elfenbeinfarbene, auch eine gelbliche. Ohne Ziffern darauf, also keine Billardkugeln. Wozu sie einmal gedient haben, würde eine Recherche erst noch ergeben.
Die offensichtlich alten, aber unbeschädigten Kugeln würden meine Sammlung ergänzen und sich im wahrsten Sinn des Wortes glänzend einordnen in die bisher zusammengetragenen. In meine ausgesuchte Kollektion bestehend aus gedrechselten, unterschiedlich großen Holzkugeln, manche satt mit Öl versiegelt, andere lackiert und aufgrund ihres Alters mit feinen Sprüngen versehen. Und da sind außerdem drei alte metallene Pétanque-Kugeln und mehrere deutlich größere, braune und schwarze, Boccia-Kugeln aus Holz, deren Lack über die Jahre spröde geworden ist.
Die zwei neuen Kugeln in wunderschönem sattem Kirschrot habe ich jetzt fest im – von meinem verdrehten Bein abgewandten – Blick. Daneben liegt in einiger Distanz eine einzelne gelbe. Runde Skulpturen. Ganz automatisch muss ich an eine „Familienaufstellung“ denken, deren Sinnhaftigkeit sich mir noch nie erschlossen hat. Die Kugeln stellvertretend für Personen, und aus ihrer Anordnung die Beziehung zueinander erkennbar. Lachhaft, ja schon, aber das lenkt mich von meiner Notlage ab.

Ich komme also nach Hause, schließe die Haustür auf und lasse sie weit offen stehen. Gleich darauf öffne ich im Wohnzimmer die Balkontür zum Garten, um die warme Luft so optimal durchziehen und in den Wohnbereich strömen zu lassen. Ich trage die Einkäufe vom Auto ins Haus, bin abgelenkt vom Hund, der mich stürmisch begrüßt und merke deshalb nicht sofort, dass mir eine junge Frau von der Straße ins Haus folgt und plötzlich im Wohnzimmer vor mir steht. Ich habe sie nie zuvor gesehen. Sie ist hübsch, sehr schlank, etwa im Alter meiner Tochter. Blond. Und sehr aufgeregt ist sie, rote Flecken tanzen auf ihrem Hals, als sie so dasteht mit leicht verzweifeltem Blick. Ich weiche instinktiv zurück auf die Terrasse in Richtung Garten. Sie folgt mir und bleibt in der offenen Balkontür stehen. Einen Koffer hat sie neben sich abgestellt.

Da sind also diese gelbliche und hier die zwei rotglänzenden Kugeln zwischen den Grashalmen, den zu langen. Das Mähen hat mein Mann vor seiner Dienstreise nicht mehr erledigen können oder wollen, wie auch immer. Jetzt liegt‘s wohl an mir und doch auch wieder nicht, denn ich bin eindeutig außer Gefecht gesetzt. Beim nochmaligen Versuch mich aufzurichten, ist die schmerzhafte Erkenntnis deutlich. Dabei ist mir genau jetzt danach, alles kurz und klein zu mähen!
Was soll ich viel sagen, eine persönliche Katastrophe, die das Leben für viele bereithält, nicht weiter erwähnenswert; ein überraschend rasantes Finale einer beliebigen Ehe. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jedenfalls für niemand anderen von Interesse.
Die junge Frau weiß, was sie will. Mir nämlich endlich sagen, dass sie meinen Mann liebt, und er sie auch, seit vielen Monaten. Dass sie diese würdelose Situation aber nicht mehr länger ertragen wird. In ähnlichen Worten. In vielen Worten. Mit einer Dativ-Akkusativ-Unschärfe, die ich ansonsten keinesfalls billige. Diese und ihre eingeübte, kunstvoll kultivierte Aufgebrachtheit rühren mich dennoch. Irgendwie.

Meine Lage könnte schlechter sein, es ist sommerlich warm, ein unverletzter Körper könnte zufrieden sein, auf der trockenen Wiese zu liegen, unter dem heute so besonders hohen Himmel, unter den pittoresken Haufenwolken. Irgendwie müsste ich nur an mein Handy gelangen. Die drei Stufen von der Terrasse in den Garten waren mir zum Verhängnis geworden. Ich war auf dem Rücken zu liegen gekommen und unter meinem verdrehten Bein auf Höhe des Knies meine Handtasche. Ein paar der Kugeln waren herausgerollt. Wenn ich mich erst einmal an den Schmerz gewöhnt hätte, dann wäre es bestimmt möglich, mit dem intakten Fuß die Tasche zu angeln und das Handy zu erwischen. Falls mir das wider Erwarten doch nicht gelänge, so würden mich meine Nachbarn hören, das alles war also kein Beinbruch. Oder eben doch einer. Andererseits nichts weiter als ein solcher. Lassen wir die Kirche im Dorf. Solche Dramolette passieren allerorts tagtäglich. Manchmal ist man eben unter den Hauptdarstellern. Komprimierte Ahnungslosigkeit in Person, ja, durchaus auch mit Gipsfuß.

Das seien die Sachen meines Mannes, sie wolle ihn nicht mehr sehen, meint das blonde Klischee einer Geliebten und schiebt schwungvoll den Koffer in meine Richtung, dreht sich um und läuft aus dem Haus. Sie ruft mehr sich selbst als mir noch zu: Augen auf bei der Partnerwahl! Genau in diesem Moment fällt mir endlich etwas ein, das zu sagen irgendeinen Sinn ergäbe, doch meine Stimme bleibt weg. Jetzt im Nachhinein gesehen wäre es ohnehin nur Unnötiges gewesen. Und zittrige Knie habe ich anscheinend, denn als der Hund vor dem auf ihn zurollenden Koffer zurückweicht und mich einen Schritt zur Seite drängt, gerate ich in Schieflage und falle. Über die drei Stufen auf die Wiese mit den zu langen Grashalmen.
Die beiden roten Kugeln im Gras. Und die andere gelbe. Bin ich nun die dritte Person oder noch Teil des Paares? Ungerecht, aber die Chronologie rechtfertigt keinen Anspruch. Die Kugeln halten ihrer zugedachten Rolle in der Dramaturgie nicht lange stand. Und meine Würde nicht der Qual. Nicht auszuhalten, dieser Schmerz im Bein. Dieser Aufruhr im Kopf. Mit einer atemlosen, kläglichen Unbeherrschtheit, die ich nicht von mir erwartet hätte, rufe ich nach den Nachbarn.

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 14049

Gerettet!

Ich folge deinem Blick
direkt in ihre Augen.
Bin aus der Leitung gefallen.
Grellrot durchzuckt mich
die Eifersucht.

Fremde Zärtlichkeit
streckt ihre Finger nach dir aus.
Wirst du dich berühren lassen?
Bitte, komm zu dir!

Sie lächelt dich an,
zeigt mir die Zähne.
Ich schrumpfe.

Du drehst dich zu mir,
lächelst mir zu.

Gerettet!

 

Michaela Harrer-Schütt

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 14037

Die Minuten der Leidenschaft

Ich habe mich verliebt. Leidenschaftlich. Leidenschaftlich wie lange nicht mehr. Ich habe nie gedacht, dass Liebe auf den ersten Blick existiert. Offenbar doch. Komisch, ich bin solch ein rationeller Mensch.
Ich bin von ihr wie besessen. Ich kann nicht richtig atmen. Ich kann mich auf nichts anderes konzentrieren. Ich betrachte sie sprachlos, regungslos. Mein Kopf dreht sich, meine Knie brechen, ich bin schwach. Sie ist nah. So nah, dass ich sie fangen könnte, wenn ich mich nicht schämen würde. Ich würde gerne meine Lippen näher bringen. Könnte ich? Ich starre auf sie, völlig unhöflich. Klar, ich sollte in meinem Alter schon vernünftig sein. Zum Teufel mit diesen blöden Vorschriften. Ich bin erwachsen, ich kann machen, was ich will.

Ich atme tief ein und schließe meine Augen für ein paar Sekunden. Sie duftet herrlich. Sie könnte eine der schönsten Sünden meines Lebens sein. Optisch ist sie genau so, wie ich es mag. Nicht zu dünn, nicht zu dick, zart und dunkel. Ich mag diese dunklen Typen, die bringen mich immer zum Wahnsinn. Sie sieht so aus, als ob sie ihr ganzes Leben nur auf mich gewartet hätte. Ich bin mir sicher, wir gehören einander.

Sie kann jetzt nicht mehr flüchten, auch wenn sie wollte. Sie ist in der Falle. Sie weiß es nicht. Sie ahnt nicht, was kommt. Ich bin ein rücksichtloser Mensch. Ich kann nichts dafür. Ich kriege immer, was ich will. Ich bin mir sicher, sie wird nichts spüren. Ich beherrsche mich nicht mehr und greife an. Ich steche sie mit der Gabel wie besessen. Ich schneide sie klein. Ich weiß zwar, dass niemand nach ihr suchen wird, aber sicher ist sicher. Mit jedem Schnitt fühle ich mich besser und besser. Noch ein Stückchen und sie verschwindet für immer.

In meiner Seele erstreckt sich ein himmlisches Gefühl. Ob ich mich schäme? Nein, gar nicht. Sie war selber schuld. Sie hat mich provoziert, gereizt. Ich werde sie nie in meinem Leben vergessen. Schließlich war sie meine erste. Meine erste Sachertorte.

Marcela Vsetickova

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 13047

im fallwind sieht man ganz schön alt aus

da begegnen mir zärtliche augen
die stellen mir ein glück in aussicht
klipp & klar & geradeheraus
zusammen abheben – quasi im tandemflug

aus irgendeinem toten winkel heraus
ganz unverhofft ein glück im anflug
da sagt doch niemand nein!
to fall in love – in die liebe fallen

dass mir so was schönes passiert!
ich mache mich also startklar
in erwartung eines höhenflugs
voller zuversicht – ready for take-off

und hebe ab – mit albernen schritten
lass ich mich fallen – nicht recht bei verstand
ohne vorbehalt & glückselig
ich spüre mich kurz im aufwind

doch flugs gerät alles ins trudeln
ich dreh mich herum und bemerke
der mit den augen hat sich gar nicht erst eingeklinkt!
ich falle einsam und aus allen wolken

arglos & naiv & unbedarft
verkehrt taxiert, verfehlt gedacht & dumm gelaufen
noch blöder geht’s nicht – tja
höhenangst & misstrauen – wo seid ihr, wenn ich euch nötig habe?

jetzt flieg ich also da herum als teil von keinem paar
den elementen preisgegeben – das glück im abflug – aus heiterem himmel
meine ganze kitschige sehnsucht
einer beschämenden, rotierenden lächerlichkeit überlassen

die contenance fliegt mir nur so aus dem gesicht
ich rudere mit armen und beinen
die fliehkraft verbiegt mir die knochen – das tut weh!
ich sehe ganz schön alt aus

ich falle, dabei wollte ich doch nur
meine umtriebige haut dem spiel des windes aussetzen
und schon kriege ich die volle breitseite – fallwind pur
ich bin so was von ins trudeln geraten!

und hab den boden unter den füßen eingebüßt
und taumle außer rand und band
und schlingere unkontrolliert durch fremde sphären
das vorhaben ein wagnis und zu groß dimensioniert

ich falle weiter und aus allen bezügen
dabei wollte ich nur herumflattern – ein stück weit
und ein wenig loslassen – ab und zu
und mein närrisches luftschloss doch gar nicht bewohnen!

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 13029