Bettelkönigin

Die kleine Hand war dunkel und ein wenig schmutzig; unter den Fingernägeln zeichneten sich schwarze Ränder ab. „One Rupee, one Rupee.“
„No.“ Unwirsch blätterte Isabella eine Seite um; sie wollte in Ruhe lesen und sich nicht schon wieder mit einem bettelnden Kind herumärgern.
„One Rupee.“
Sie musterte das Mädchen. Es war etwa acht Jahre alt und steckte in schmuddeligen Pajamas; die dunklen Augen voll fordernder Ungeduld.
„I don’t give children money.“ Isabella unterstrich ihre Worte mit einem Kopfschütteln.
Die Haare der Kleinen waren zerzaust und an einigen Stellen verfilzt. Sie sah nicht aus, als ob sie die Erklärung akzeptierte. Irgendwie war es immer falsch, was Isabella tat; gab sie den Kindern etwas, gingen sie erst recht nicht zur Schule; gab sie ihnen nichts, musste sie ein schlechtes Gewissen haben – wovon sollten sie denn sonst leben. Ständig fühlte sich Isabella hier schuldig, irgendwie kam sie mit der Armut nicht klar.
„One Rupee, pleeeeeease.“
Aber jeden Bettler zu unterstützen, weil der kapitalistische Westen immer an allem schuld war?
„No!“ Isabella wandte ihren Blick ab und lehnte sich zurück, die Tempelsäule fühlte sich kühl an. Wenn sie so bedrängt wurde, konnte sie stur sein. Eine Taube flog auf und landete auf dem Kopf eines steinernen Tempellöwen. Nach einer Weile machte das Mädchen kehrt und ging weg.

Prakriti zog sich in eine schattige Nische neben dem Goldenen Tor zurück. Unter einem Ziegelstein hatte sie ihre Einnahmen versteckt – alles war noch da. Die anderen Kinder respektierten sie, schließlich verdiente sie mit Abstand am meisten. Sie streunten in den angrenzenden Straßen herum und machten Beute. Zufrieden überblickte Prakriti den Durbar Square – der Platz gehörte ihr und niemand würde es wagen, ihn ihr streitig machen. Gerade kam eine japanische Touristin im Kimono aus dem Königspalast, während ihr Mann sie mit seiner riesigen Kamera von allen Seiten fotografierte.
Prakriti nickte Aruna zu, die ein paar Meter weiter eine leere Plastikflasche in einen Sack stopfte. Plötzlich kam ihr dieser halbnackte Security in den Sinn; sie wischte die ekelhafte Erinnerung weg, stand auf und gab Aruna eine Ohrfeige. Das kleine Mädchen weinte. Prakiti nahm sie auf den Arm und ging auf das Paar zu.
„Baby hungry“, jammerte sie und streckte die Hand aus. Die Touristin sagte etwas zu ihrem Mann, der umständlich in seinem Brustbeutel kramte und ihr ein paar Münzen gab.
„Baby hungry!“, wiederholte Prakriti zornig, der Trottel war wohl schwer von Begriff. Endlich fischte er einen Schein hervor. Sie schnappte ihn sich und schlenderte zu ihrem Platz zurück.

Das kleine Mädchen tat Isabella leid. Eigentlich taten ihr beide leid. Eltern waren keine in Sicht. Die Kleine schien zu spüren, dass Isabella sie beobachtete und näherte sich vorsichtig, während ihre Schwester eine ältere Amerikanerin mit Schirmmütze bearbeitete: „School book, one hundred Rupee, please.“
Die Kleine erklomm zielstrebig die Steintreppen. Isabella nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Wenn sie doch nur Bonbons dabei hätte oder wenigstens einen Keks. Vielleicht mochte die Kleine spielen? Sie schüttete den Rest Wasser auf den rötlichen Stein, tauchte ihren Finger in die Pfütze und malte kurzerhand das Haus vom Nikolaus. Das Kind sah sie groß an. Ein scharfer Pfiff hallte über den Platz. Die Kleine fuhr hoch und rannte zu ihrer Schwester. Die beiden verschwanden im nächsten Laden.

Pakriti drückte den Kleber aus der Tube und gab Aruna die zweite Plastiktüte; sie bliesen die Tüten auf und sogen die Dämpfe ein. Im Nu wurde Pakriti von einem Schwindel erfasst und ein Kribbeln breitete sich in ihrem Körper aus. Sie schaute in den strahlendblauen Himmel, der intensiv leuchtete. Pakriti torkelte in die Mitte des Platzes, drehte sich im Kreis, dass die Pagoden nur so um sie herumflitzten, und glaubte für einen glücklichen Moment, abzuheben und davonzufliegen. Aruna gluckste; ihr Lachen war ansteckend und sie lachten beide grundlos und verrückt, bis sich der Rausch wieder verflüchtigte.

Angela Kreuz

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 18009

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