Allein mit Meret Oppenheim

Man fährt ja immer wieder nach Passau. Der Gründe sind genug. Zu nennen wären die Brauereien. Linz, eine Stadt mit vier Mal mehr Einwohnern, hat längst keine einzige mehr. Selig die Zeiten, da der Onkel meines Vaters, der mir nur einmal als sich den Bauch kratzender Teddybär im Pyjama begegnete, sein Bierkontingent, das ihm als Bediensteter der Linzer Brauerei zustand, gar nicht vertrinken konnte. In Passau finden sich heute noch zwei Brauereien – von ehemaligen vier, die mir seit jeher geläufig waren. Man kann aber auch nach Passau fahren, um, sagen wir, im Stadtgebiet zu flanieren. Auf einer Fläche von 70 Quadratkilometern – gerade einmal 25 Quadratkilometer weniger als es das Stadtgebiet von Linz bietet – finden sich genügend Möglichkeiten, sich die Beine zu vertreten und nach solcher die Gesundheit fördernder Betätigung in einem der Wirtshäuser herumzuhängen.

Man kann es freilich auch weniger profan angehen. Und den neuen Passauer Bischof Oster besuchen, der sich seit mehr als einem Jahr in Amt und Würden befindet und dem US-amerikanischen Schauspieler Scott Bakula aufs Haar gleicht, sodass man meinen könnte, er wäre es und gibt jetzt in einer bayerischen Reality-Soap den leutseligen Pontifex. Ebenso empfiehlt sich ein Gang in die Staatliche Bibliothek in der Michaeligasse, schon des klassischen Lesesaals wegen. Man kann sich sperrige Folianten zur Landesgeschichte ausheben lassen und das zuvorkommende Personal mit Fragen zur Vervielfältigung von Textstellen aus Zimelien triezen.

Von Ausflugsschiffen am Donaukai angelandete Touristen suchen bevorzugt die Ortspitze auf oder lassen sich unter dem Generalkommando von enzyklopädisch bewanderten Touren-Guides durch den Bratfischwinkel schleusen. Denen schließt man sich natürlich nicht an, man ist ja kein Touri.

Man könnte die als Erdsubstruktionen ins Gelände eingeprägten fortifikatorischen Hinterlassenschaften der Franzosenzeit, Ravelins, Redouten und Tenaillen abmarschieren, unmittelbar an der Stadt-, Landes- und Staatsgrenze jene Beerenbüsche besuchen, die im Garten eines Hauses auf österreichischem Territorium von ihrer Besitzerin jeweils nur im Freistaat geerntet werden. Mit Speläologenkollegen nach behördlicher Genehmigung in den Stollen an der Mühltalstraße einfahren oder im kreisrunden Ziegelteich in Rittsteig ein Maar wie in der Vulkaneifel vermuten. Man könnte im Stadtteil Haidenhof das allmähliche Zerbröseln der Backsteinkirche St. Peter bedauern, als Architektur-Aficionado, als der man sich versteht, oder am Spitzberg die ominöse Glasscherbenvilla des Exzentrikers Aristide Ostuzzi bestaunen.

Zu Mittag bin ich im „Goldenen Schiff“ am Unteren Sand und wähle eines der beiden Tagesmenüs. Schnuppere beim Weißbier ein wenig in Kurt Flasch‘ „Warum ich kein Christ bin“ hinein, blättere das Buch „10 Milliarden“ von Stephen Emmott durch, dessen Schlusssatz mir ziemlich reinfährt, und begutachte meinen dritten Erwerb, ein Stadtportrait von „Pilsen/Plzeň“ von Tobias Weger. Danach nehme ich in der Innstadt einen doppelten Espresso im Café des ehemaligen Stadtratskandidaten Stephan Bauer, tingle über Beiderwies vorm Severinstor über den Innsteg an den Universitätscampus und vergrabe mich für die Dauer einer Zeitschriftendurchsicht in der Bibliothek.

Das alles als Vorgeplänkel zur Hauptsache, der Meret Oppenheim-Ausstellung „Gedankenspiegel“ im Museum Moderner Kunst der Stiftung Wörlen. Picasso soll ja gesagt haben „Im Grunde gibt es nur Matisse“, um auf einen großen Solitär der Kunstgeschichte zu verweisen, den er natürlich selbst genauso verkörperte. Ein weiblicher Solitär ist meines Erachtens Meret Oppenheim. Was freilich ebenso auf Louise Bourgeois, Judy Chicago oder Kusama Yayoi zutrifft.

Vom Campus spaziere ich in die Bräugasse, schätze mich glücklich, wie ein Protagonist in einem von Binnie Kirshenbaums Romanen, von Radfahrern dabei nicht über den Haufen gefahren zu werden. An der Museumskassa bringe ich das Aufsichtspersonal mit der erklärten Absicht zum Schmunzeln, ich fände mich ein, um Frau Oppenheim zu besuchen. Damit wäre ich in Basel wohl besser aufgehoben, wird mir lachend versichert.

Geschenkt: An einem Freitagnachmittag lässt sich beschwingt komisch sein.

Um das Entree der Ausstellung zu erreichen, stapfe ich eine verwegen steile Treppe vom ersten in den zweiten Stock hinauf. Die Steilheit ist in dem alten, mit Bedacht renovierten Gebäude einer durch den inwärtigen Lichthof bedingten Raumnot geschuldet. Keine Baubehörde der Welt würde heutzutage eine solche Genickbruchstelle abnehmen. Na ja, in Islamabad vielleicht, nach Überreichung von reichlich Bakschisch an schlaksige Bartträger.

Den Lichthof ziert ein fünffeldriger Deckenspiegel, eine Art stationärer Prozessionshimmel. Das Haus bezeugt an allen Ecken und Enden, was man aus ursprünglich vier Häusern über identem Baugrund innert achthundert Jahren machen kann, wenn man die Offenlegungen der historischen Bauforschung einbezieht. In Linz hätte man mit der Abrissbirne saniert.

In den Ausstellungsräumen bin ich mit den Artefakten der Künstlerin allein. Eine unerwartete Wohltat, Kunst ohne lästige andere betrachten zu können. René Magritte in Wien, eine Horde ADS-Schüler und keine Eintrittsrückerstattung – das ist institutionelle Brutalität! Tamara de Lempicka und gelangweilte Gymnasiasten, zum Aufgabenbewältigen im Rahmen des Kunstunterrichts verdonnert – die Hölle ist ein Paradies mit blödelnden Quälgeistern.

Die Hängung der Objekte hält sich an die Chronologie ihrer Entstehung, was einen Lebensverlauf nachzeichnet, der mit seinen Unterbrüchen an Schaffenskraft auch anders gedeutet werden könnte denn als Stetigkeit absichtsloser Vollzüge. Einer der Ikonen des Surrealismus, der ominösen Pelztasse, zu begegnen erwarte ich freilich nicht. Befindet sich das Objekt doch im Museum of Modern Art in New York und wurde nie als Multiple vervielfältigt. Malewitsch‘ „Schwarzes Quadrat“ hat meines Wissens die Moskauer Tretjakow-Galerie auch nie mehr verlassen.

Meret Oppenheim hat ihrem beschwingten Objekt von 1936 vierunddreißig Jahre später eine pfiffige Devotionalie gewidmet: das „Andenken an das Pelzfrühstück“. Es erinnert in seiner Machart an ein Kitschsouvenir aus den Alpen, das meist die Ansicht eines berühmten Kuhdorfs mit getrockneten Edelweißblüten vor schneespitziger Gebirgslandschaft hinter konvexem Glas feilbietet. Beim „Andenken“ ist es ein besticktes Deckchen, das Löffel, Tasse und Stoffblüten zeigt. Die dort angebrachte Beschreibung unterschlägt allerdings den nicht unwesentlichen Hinweis, dass das Objekt einst in einer Anzahl von 120 Exemplaren aufgelegt wurde.

Die gleiche Unterlassung fällt am Objekt „Eichhörnchen“ auf. Selbiges wurde 1969 für die Galerie La Medusa in Rom in 100 Exemplaren angefertigt. Das Tierchen ist ein Bierglas mit künstlicher Schaumkrone und einem Fellschweif anstelle eines Henkels.

Dem Oppenheim-Humor begegne ich auch im „Tisch mit Krähenfüßen“, der kleinen Bronze, die aus einer Zeichnung von Giacomettis Ohr entwickelt worden ist oder im aufgeschlagenen „Schulheft“, das ursprünglich aus 1930 datiert und 1973 in Serie ging. Die „Termitenkönigin“ steht in der Tradition des Objet trouvé: Ein bemalter Auspufftopf wandelt sich zu neuer, durchaus doppelbödiger Bestimmung. Köstlich die Zeichnung „Eine entfernte Verwandte“, Bleistift und Rotstift auf Papier. Die „entfernte Verwandte“ steht hier nicht zwingend für die nähere Erläuterung einer Familienkonstellation, sondern kann auch als Resultat einer drastischen Maßnahme interpretiert werden.

Dieses vermeintlich unscheinbare, auf einem schmalen Podest drapierte Objekt ist mir neu, es erfreut mich besonders und entschädigt für die abwesende Skulptur „Genoveva“: „Wort, in giftige Buchstaben eingepackt (wird durchsichtig)“ aus 1970. Es besteht aus einer über einer nicht vorhandenen Schachtel zusammengezogenen Schnur und einem davor fixierten, gravierten Messingschild. Eine Skulptur, die eine Bedeutung behauptet, die sich ab jener Hälfte bestätigt findet, ab der man bereit ist, die vorgebliche Unernsthaftigkeit ernst zu nehmen. Das Kunstwerk evoziert eine bestimmte Betrachtungsweise, die, indem man ihr in Treu und Glauben folgt, gerade jene Hintergedanken austreibt, mit denen man es betrachtet – nämlich ihm durch Überprüfung der angeführten Beschreibung beikommen zu wollen.

Unaufwändig verpacktes Nichts, das die Ironisierung der ins Monumentale entrückten, prätentiösen Verhüllung vorwegnimmt, wie sie später von einem prominenten Verpackungskünstlerehepaar forciert werden wird.

Die Serigraphie „Mann im Nebel“ aus 1975 zeigt eine hinter Schwadenstreifen verzerrt in ausholender Bewegung konturierte Figur. An dieser und anderen Arbeiten paradiere ich vorüber in Vergegenwärtigung eines Satzes von Anselm Glück: „Die Bilder sehen die Menschen an“. Das unterschätzt man, dass das Anschauen eines Gegenstandes sich im Gegenstand selbst spiegelt, wir auch unser Anschauen betrachten, wenn wir schauen. Dass Spiegel zurückschauen könnten, ist ja ein altes Sujet menschlicher Vorstellungskraft und mit eine Erklärung, warum in manchen Kulturen reflektierende Oberflächen tabuisiert sind. Aber dass uns auch Bilder ertappen, fällt uns schon seltener auf.

Ein Bildkunstwerk nimmt sein Betrachtet-Werden immer schon vorweg. Insofern als es ein Maler darauf anlegt, dass es geschaut wird. Ein Bild, das zu keinem Zeitpunkt je gesehen würde, bräuchte nicht und könnte allenfalls nur von einem Blinden gemalt werden. Das einzige existierende geschaffene Bild der Kunstgeschichte, das in seiner Ausführung tatsächlich nicht betrachtet werden kann, ist meines Wissens eine von Robert Rauschenberg ausradierte Zeichnung Willem de Koonings, das „Erased de Kooning Drawing“ aus 1953, das im San Francisco Museum of Modern Art hängt: ein von einem Blattgoldrahmen umfangenes, im Passepartout-Karton gefasstes Blatt Papier, darauf sich allenfalls Spuren von Tinte und Kreide ausnehmen lassen. Wahrscheinlich eines der am wenigsten beachteten „Leitbilder“ der Moderne, das die Bildverweigerung inkarniert. Man kann die Rauschenberg-de Kooning-Arbeit eben nicht wie ein Bild betrachten, einen Inhalt auf sich wirken lassen, sondern hat im Bild lediglich das Ergebnis seiner Entfernung.

So müsste man, überlege ich, einmal einen Saal im Louvre gestalten, sagen wir im Sully-Flügel, wo Exponate von Ingres und Georges de la Tour zu finden sind: mit abgehangenen Bildern und nichts als den aus der Umgebung hell hervortretenden Flecken der Fehlstellen an den Wänden.

Klar, die Besucher würden ihr Eintrittsgeld zurückfordern und verlangen, den Kurator zu feuern.

Ein Raum der Oppenheim-Ausstellung ist Arbeiten von Künstlern vorbehalten, die als Hommage an die Künstlerin entstanden sind. Daniel Spoerri ließ immer wieder Brotteig aus Schuhen quellen. Das ist: Epigonentum, von wurmstichigem Backwerk überwölbt.

Ich kehre zu den Schwarzweiß-Photographien des Amerikaners Man Ray zurück. Sie zeigen die Künstlerin Meret Oppenheim – eine Person, die sich nie in ihrem Leben aufgebrezelt hat.

Erst als ich meinen Rundgang beende, findet sich eine weitere Besucherin ein. Das liegt wohl am Freitagnachmittag und daran, dass Passau eben eine Bierstadt ist.

Für mich ein Grund, im Zuge eines Spaziergangs über den Ludwigsteig und durch den Stadtteil Anger in Hacklberg einzukehren. Der Gastgarten vorm Bräu erstrahlt in wärmendem Sonnenlicht. Ich beobachte das Befüllen eines Heißluftballons mit dem charakteristischen Kronenemblem, der sich beim Lustschloss, dem sogenannten Fürstenbau hinter den hochragenden Ruinen der ehemaligen Brauerei allmählich zu seiner vollen Größe aufbläht. Vier, fünf unerschrockene Jugendliche klettern zum Steuermann in den brusthohen Korb. Dann steigt der Ballon mit einer Geschwindigkeit in die Luft, wie es den hochsausenden Fahrkabinen der Expressaufzüge in den Petronas-Türmen Kuala Lumpurs angemessen wäre. Mir hebt es schon beim Zusehen den Magen aus. Im Nu ist das Luftschiff am Himmel nur noch münzengroß zu sehen. So hoch oben und doch noch nicht über den Wolken, erschiene mir die wahre Freiheit vermutlich als jene, am Boden geblieben zu sein.

Bernhard Hatmanstorfer

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau'n | Inventarnummer: 15046

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