Christian Otto Joseph Wolfgang Morgenstern zum 150sten

Ein rechter Künstler schildert nie, um zu gefallen, sondern um zu – zeigen.[1]

Christian Otto Joseph Wolfgang Morgenstern zum 150sten Geburtstag am 6. Mai 2021

1

Ich gestehe es am besten gleich: Die Zeilen Er gehört zu jenen Käuzen, die oft unvermittelt nackt / Ehrfurcht vor dem Schönen packt packten mich als stimmige Charakterisierung meines Studentendaseins in der Kunstwissenschaft intensiv: nicht nur damals, sondern lange weiter wirkend mit dem Kauf der einschlägigen Gedichte Morgensterns, die mich in ihrer Prägnanz seither nicht mehr verließen – und diese letztere soll hier im Fokus stehen. Der Aha-Effekt dürfte um 1970 herum gewesen sein.
Das Datum ist insofern nicht ganz unwichtig, weil damals die kleinbürgerlichen verwaltungsaffinen Vorstellungen, von Morgenstern vor einem Haufen von Jahrzehnten zuvor aufs Korn genommen, trotz aller Nachkriegswunderwelt beileibe nicht ausgestorben waren. Somit mag den heutigen jungen Erwachsenen ein spezifischer Kern der Poeme Morgensterns nicht mehr recht zugänglich sein? Faszinieren, meine ich, könnten die heutigen Generationen immerhin gleichwohl die nonchalante Reimkunst und die (je nach Gusto des seinerzeitigen Bezugfelds entkleidete) aufmüpfige Diktion.
Womit sich die Frage stellte, was dann der Unterschied zu einem gut gelungenen Rap sei? Diese Anmerkungen vielleicht als eine Art Ehrenrettung meiner selbst? Nein, in mancher Beziehung bleibt Morgenstern zeitlos!

Als Nicht-Germanisten (siehe oben) sind mir endemische Analysekategorien nicht gegeben, wenngleich mich die Aufgabe, künstlerische Sachverhalte in Worte zu fassen (noch einmal siehe oben) fast das ganze Leben begleite(te)n. Also, da ist zum einen die Melodie: Ein Wiesel / saß auf einem Kiesel / inmitten Bachgeriesel, kaum ein «klassisches» Versmaß aber kongenial zu den wenig inhaltsschwangeren Worten leicht plätschernd fließend bis zum Abbruch als Zäsur Wisst ihr weshalb / das Mondkalb, um dann in hiatus-beladenem Rhythmus halbwegs wiederaufgenommen zu werden Das raffinier / te Tier / tat’s um des Reimes willen.

Der an sich (im ursprünglichen Sinn) blöde Spruch «Reim, oder ich fress dich» passt somit ganz und gar nicht: Morgenstern beherrschte das Wortfinden perfekt. Denn jedes (Wort) fordert, sobald es nur sichtbar wird, zur Produktion heraus (1909). Sprache ist für ihn in welcher Form auch immer Material zum (helvetisch stilgerecht ausgedrückt) Hintersinnen. Dabei lotet er die realitätsbezogenen Verbindungen aus: Ich habe oft bemerkt, daß wir uns durch allzuvieles Symbolisieren die Sprache für die Wirklichkeit untüchtig machen (1896). Grammatikalisch wird es etwa beim Werwolf, dessen erste Silbe der Deklination anheimfällt. Das Ge-dicht (!) avanciert zum Setzen markanter Punkte, die – und das macht wesentlich die Qualität aus – gleichsam unwiderruflich als Markierung platziert werden, damit kaum verrückbar.

Der Versuch eines Weglassens endete wie die berühmte eine Dose im Dosenberg, die (zuunterst) herausgezogen den ganzen Aufbau zum Einsturz brächte. Vielleicht stimmt das aber auch nicht so recht, denn Morgenstern weiß stets den Beginn als perfekten Einstieg zu inszenieren und vor allem den Schluss als zusammenfassend illustrierenden Leitgedanken punktgenau zu platzieren, damit kernig hervorzuheben: daß ihm (dem Huhn auf dem Bahnhofsvorplatz) unsere Sympathie gehört / selbst an diesem Orte / wo es stört und regelrecht unvergesslich zu machen (als Palmströms berühmt gewordenes Ergebnis der Ursachenforschung) weil, so schließt er messerscharf, / nicht sein kann, was nicht sein darf. Somit gibt Morgenstern nicht einfach einen Endpunkt an, sondern bietet uns ein regelrechtes Finale, das nachebbt, echo-gleich, darin – und seine «subkutane» Größe begründend – meditativ.

2

Ich gestehe noch einmal, dieser Morgenstern ist mir in seinen Gedichten lebendig. Der philosophische, der zeichnende und malende, also letztlich zeitgebunden eben doch irgendwie «bürgerliche» Morgenstern wirkt da fast wie ein fremder Schatten. Vielleicht, weil ich ihn erst viel später wahrnahm. Fast musste ich mich zwingen, diesen Schemen als unbedingt zugehörig zu akzeptieren. Hierher gehört zum Verständnis zwingend die Geschichte eines nur knapp 43-jährigen Lebens, das geprägt wird von der wohl von der Mutter weitergegebenen Tuberkulose. Diese befällt ihn in Krankheitsschüben und führt zu ausgedehnten «Reisen» von Kurort zu Kurort, nach Versuchen in Nord- und Mitteldeutschland ab 1905 in den bayerischen, Tiroler und Schweizer Alpen, darunter nach Davos (das er als Patient ganz konträr zu dem «Nurbesucher» Thomas Mann erlebt) und mehrfach und ausgedehnter in das nahegelegene Arosa: stets, ohne einen gesundheitlichen Durchbruch zu erringen.

Aber bereits die späte Kindheits- und Jugendzeit kennt ein häufiges Aufbrechen, sieht ihn an wechselnden Orten, unter denen Breslau (beim Vater, dem Kunstprofessor, und im Studium der Nationalökonomie) eine etwas längere Phase abgibt, auf die ab 1894 Jahre in Berlin folgen. Wohl nicht zuletzt aufgrund einiger erster Arbeiten und kleinerer Veröffentlichungen wird er kurzzeitig Dramaturg, Mitarbeiter renommierter Zeitschriften und Lektor im Verlag Bruno Cassirers, wo er (den auf seine Weise höchst eigenwilligen) Robert Walser betreut; 1905 erscheint Morgensterns bis heute bekanntestes Werk, die «Galgenlieder», die dem Kinde im Menschen und dessen Bildnertrieb gewidmet sind; 1910 folgt der «Palmström».

Morgenstern konnte den widrigen Bedingungen seiner weltlichen Existenz nicht entgehen, eine seiner Schlussfolgerungen lautet: Der Mensch ist mein Fach und hier will ich bis zum Äußersten gehen (1909). Im Mental-Geistigen bedeutet ein erster Bezugspunkt das Sich-Beschäftigen mit Kierkegaard und, intensiv, mit Nietzsche. Darauf folgt ein anderthalb Jahre umfassendes Erforschen Norwegens, das er bereist, um sprachlich die richtige Grundlage für das Übersetzen mehrfacher Dramen Ibsens, Knut Hamsuns und der Werke des (Nobelpreisträgers 1903) Bjørnstjerne Bjørnson zu gewinnen. Währenddessen Morgenstern, alles andere als nebenbei, des Landes Natur nachhaltig aufnimmt und, im Band «Sommer» (1900), in kurzgefassten sensibel wie prägnant darstellenden Texten beschreibt – mit der Schlussfolgerung im letzten der 68 Gedichte Wie vieles ist denn Wort geworden / von all dem Glück, das mich durchdrang! / Von all den seligen Accorden / ach, nur ein schwacher, flacher Klang.

Eine dritte innere Entwicklung beginnt im Sich-Befassen mit dem Mittelalter; er überträgt Verse von Walther von der Vogelweide, liest Meister Eckhart und nachfolgend Jakob Böhme; es entstehen die Sammlungen «Einkehr» (1910) – darin etwa O Leben, Leben, lass mich nicht allein! / Dies Herz hier ist bereit zu jeder Last – und «Ich und Du» (1911) mit der Aufnahme strengerer Poetikformen, sprich Sonette und Ritornelle.

Die Auseinandersetzung mit religiös begründeter Weltanschauung, ja Mystik führt ihn zu Rudolf Steiner, der ihm als großer spiritueller Forscher (…) ganz dem Dienste der Wahrheit gewidmet (1913) eine die Realität durchschreitende höhere Welt zu öffnen scheint. Seinen Wandel legt Morgenstern nachdrücklich in der langen Sammlung «Wir fanden einen Pfad» (1914) nieder, er formuliert etwa Denn zu fragen ist / nach den stillen Dingen, / und zu wagen ist, / will man Licht erringen.
Die Beziehung führt zur Mitgliedschaft in der «Theosophischen Gesellschaft» und zugleich zu einer persönlichen Freundschaft bis dahin, dass Steiner Morgensterns Aschenurne im Anthroposophischen Zentrum des «Goetheanums» in der Nordostschweiz beisetzt.

Der nicht aufhören wollende Wechsel von Ort zu Ort bringt – obwohl im Tiefsten nicht gewollt: Die Sehnsucht meines Lebens ist eine oft übermächtige Sehnsucht nach praktischem Schaffen im Großen (1897) – kaum von ungefähr die stete, beständige, perfektionierte Kurzform der Gedankenäußerungen mit sich.
«Stufen. Eine Entwickelung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen» betitelt seine Witwe Margarete geb. Gosebruch 1918 die posthume Herausgabe des von ihrem Gatten verstreut Aufgeschriebenen mit dem Hinweis auf das Material für einen autobiographisch gedachten Roman; ein Germanist mag in den Texten auch andere formale Formate finden. Die Sammlung besticht in der Intensität der in knappe Zeilen gebrachten Überlegungen, die wie die Gedichte die verschiedenen (sich auch widersprechenden) Stimmungen, die konstruktiven Kritikansätze und die konzentrierten Überlegungen zu einem sich evolutiv entwickelnden eigenen Weltbild widerspiegeln.

3

Ich gestehe, noch weiß ich einiges auswendig zu rezitieren, wobei mir «Palmström» mit seinen subversiv nachdenklichen Passagen (Und er kommt zu dem Ergebnis / nur ein Traum war das Erlebnis; oder: Kein Fühlender wird ihn verdammen / wenn er ungeschneuzt entschreitet) einen schwer zu überbietenden Höhepunkt bedeutet. Zumal die genial auf den Punkt gebrachten Zeilen bleiben definitiv haften, wenn sie, wie ebenfalls in vielen anderen Gedichten, als ein geniales Einstimmen wirken Die Möwen sehen alle aus / als ob sie Emma hießen, oder sogar, wenn sie absonderlich scheinen, wie im «Gebet»: Die Rehlein beten zur Nacht, / hab acht! / Sie falten die kleinen Zehlein, / die Rehlein, da bleibt zwingend nachhallend das Laut-Malerische bestehen. Das Stichwort ist grundlegend: Ich bin Maler bis in den letzten Blutstropfen hinein. – Und das will heraus ins Reich des Wortes (1894, Brief an Marie Goettling vom 2. Juni).

Darin gründet der andere Teil des Erbes, nunmehr seines Großvaters (bis hin zum Vornamen), der als ein wichtiger Vertreter einer realistischen Landschaftsmalerei gelten darf. Auch der andere Großvater mütterlicherseits (Schertel) und sein Vater oblagen vollberuflich dieser Kunstsparte. Die Konsequenz für den Jüngsten liegt zum einen allgemein im Bildnertrieb, zum anderen ganz konkret im niemals aufgegebenen sensibel-feinen Beobachten, das ihm – siehe oben zu den Aphorismen – die in ihrer Vielschichtigkeit dichte Fülle des menschlichen (Da-)Seins erschließt. Mein Hauptorgan ist das Auge. Alles geht bei mir durch das Auge ein (1909), es gebiert in breiter Fülle kaum von anderen nachahmensfähige Ein-Sichten Es war einmal ein Lattenzaun, / mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.
Keine Kunst ohne die Diskussion von Ästhetik, Morgenstern kommt dezidiert zur Ansicht Schönheit ist empfundener Rhythmus. Rhythmus der Wellen, durch die uns alles Außen vermittelt wird.
Die innere Größe des Menschen Morgenstern offenbart sich in der anschließenden Fortsetzung Oder auch: Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet. Je mehr jemand die Welt liebt, desto schöner wird er sie finden. In dieser das ganze Leben umfassenden Haltung, in diesem dezidierten Habitus liegt denn letztlich auch der Sprachwitz des jüngeren Morgenstern, der die ihm in der Besichtigung der Realität den notwendig erscheinenden Wechsel in den Perspektiven als (wörtlich) Durchblicke durch das Gesehene und Erlebte generiert, mit begründet – womit sich der Kreis schließt.

[1] Die Zitate, wenn nicht den Gedichten entnommen, stammen mit einer angegebenen Ausnahme aus dem Band «Stufen» 1918.

Martin Stankowski
www.stankowski.info

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 21086

image_print

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert