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Lux

2. Juli Ein heißer Sommertag kündigt sich an. Frühmorgens gieße ich all die Sträucher und Pflanzen, muss lachen, weil Lux übermütig unter dem Gartenschlauch hin und her saust und bellend nach dem Wasserstrahl schnappt. Es freut mich, dass Lux sich so wie ich schnell hier eingelebt hat, sich zuhause fühlt – wieder kann ich kaum glauben, dass dieser blühende Garten und das frisch gestrichene kleine Haus tatsächlich mir gehören. Meine Großeltern haben mir dieses Grundstück, ihren Nebenwohnsitz, letztes Jahr überschrieben. Wie dankbar ich ihnen dafür bin! Ja, denke ich, es ist die richtige Entscheidung gewesen, die Stadtwohnung zu kündigen und, nach Renovierungsarbeiten im Frühjahr, hierher an den Stadtrand zu ziehen. Auch meinen Job habe ich gekündigt, nachdem ich die Zusage einer Kanzlei in der Nähe bekommen habe. Anfang September ist mein erster Arbeitstag, es liegen also zwei freie Monate vor mir, eine Zeit, die ich zum Krafttanken nutzen will, dazu, den Verlust von Anna zu verarbeiten.

5. Juli Hitze umfängt mich, als ich aus dem klimatisierten Lebensmittelgeschäft trete. Geblendet von der Mittagssonne taste ich nach Lux’ Leine, die ich auf der dafür vorgesehenen Stelle vor dem Geschäft befestigt habe. Meine Hand greift ins Leere. Ungläubig sehe ich auf den leeren Platz, auf den Lux sich doch vor kurzem folgsam hingelegt hat, um auf mich zu warten, starre auf den nackten Boden, kann nicht begreifen, dass er nicht hier ist.

Am Abend habe ich es noch immer nicht realisiert. Jemand muss Lux gestohlen haben. Linda, meine Nachbarin, hat mir geholfen, eine Vermisstenanzeige anzufertigen. Bei brütender Hitze haben wir gemeinsam dutzende Kopien davon in der Umgebung aufgehängt. Ohne Linda hätte ich es nicht geschafft. Die ganze Zeit über befinde ich mich in einer Art Schockstarre, denke an Anna, denke an Lux. Linda hat gemeint, ich solle es unbedingt bei der Polizei melden, doch ich entscheide mich dazu, abzuwarten, entscheide mich, daran zu glauben, dass Lux zurückgebracht werden wird.

7. Juli Zwei Anrufe, die sich als Fehlanzeigen herausstellen, doch nachmittags eine Mädchenstimme, leise, unsicher, an meinem Ohr:

„Ja, Kim spricht hier, es ist so, – uns – uns ist ein Hund zugelaufen, ein Spaniel, sehr zutraulich, eindeutig der Hund auf der Vermisstenanzeige.“

Eine knappe Stunde später hüpft Lux freudig winselnd an mir hoch, überglücklich drücke ich ihn an mich. „Ich bin so froh“, sage ich immer wieder. „Lux ist mir unendlich wichtig, weil ...“ Ich muss schlucken, kann nicht weitersprechen, sehe erst jetzt von Lux auf zu den beiden Mädchen, die ihn mir gebracht haben.

Die Anruferin, Kim, ist auffallend dünn. Eine riesige Sonnenbrille verdeckt beinahe gänzlich ihr blasses Gesicht. Ihre Bewegungen sind fahrig, als sie stotternd erzählt, wo Lux ihnen zugelaufen ist. Es ist offensichtlich, dass sie lügt. Das kleine Mädchen, vermutlich ihre Schwester, schätze ich ungefähr acht Jahre alt. Sie sieht traurig, sieht verweint aus.

„Meine Tochter – sie hat Lux sehr ins Herz geschlossen.“

Meine Tochter? Eine sehr junge Mama also, denke ich, Kim wird dann wohl in meinem Alter sein, Mitte zwanzig.

„Oh, das tut mir leid, dass du traurig bist“, sage ich zu der Kleinen, und zu beiden: „Aber kommt bitte rein, ich mache Tee –“

„Nein, danke“, unterbricht mich Kim, fährt sich durchs strähnige Haar. Ihre Hand zittert. „Wir haben es eilig, müssen gehen.“

„Aber, der Finderlohn –“, ich greife in meine Tasche, drücke ihr einen Geldschein in die Hand. Eiskalte Finger, spüre ich, eiskalt, trotz der Hitze.

„Danke“, sagt sie beinahe tonlos. „Komm, Stella.“

Die Kleine streichelt Lux liebevoll, reißt sich dann los, geht schnell zum Tor und hinaus, Kim hinter ihr her. Ich sehe ihnen nach, als sie den Gehsteig entlanggehen. Kim will den Arm um ihre Tochter legen, doch diese weicht der Umarmung aus, geht mit gesenktem Kopf neben ihr her.

8. Juli Die beiden gehen mir nicht aus dem Kopf. Nach dem Frühstück beschließe ich, Kim anzurufen, um sie und ihre Tochter einzuladen. In diesem Moment höre ich draußen freudiges Bellen, öffne das Fenster, sehe Lux wedelnd vorm Zaun stehen. Ein Mädchen, ich erkenne eindeutig Stella, greift durch die Holzstäbe und streichelt Lux. Ich rufe ihr zu:

„Stella, grüß dich! Komm doch rein, das Tor ist offen, du kannst gerne mit Lux spielen!“

Stella sieht erschrocken zu mir und läuft weg. Sie schämt sich, denke ich, wahrscheinlich hat sie Lux vorgestern vor dem Geschäft gesehen, sich in ihn verliebt, ihn einfach losgeleint und mitgenommen. Kim war bestimmt entsetzt, erst recht, nachdem sie meine Plakate entdeckt hat, hat aber ihre Tochter nicht verraten und mir eine Lügengeschichte aufgetischt.

Ich denke daran, wie sehnlich ich mir als Kind einen Hund gewünscht habe, nehme mein Handy und drücke auf Kims Nummer, die ich nach ihrem Anruf gespeichert habe.

„Ja, Kim hier.“ Ihre Stimme ist kaum vernehmbar.

„Hallo Kim, hier spricht Inka, ihr habt mir gestern Lux zurückgebracht. Gerade vorhin war Stella vor meinem Haus, sie traute sich allerdings nicht herein. Bitte sage ihr, dass sie jederzeit kommen kann, um mit Lux zu spielen.“

„Ja, ich richte es ihr aus.“ Sie spricht schleppend, langsam. „Danke, das – das ist sehr nett von dir.“

9. Juli Ich sitze am Gartentisch, frühstücke und lese Zeitung, als ich Stella draußen auf dem Gehsteig auf und ab gehen sehe, während sie immer wieder verstohlen zu mir über den Zaun sieht. Endlich fasst sie sich ein Herz und kommt zur Gartentür.

„Stella, wie schön“, sage ich, lege die Zeitung weg, öffne ihr das Tor. „Schau nur, da freut sich aber jemand sehr!“

Lux kommt angesaust, er springt an ihr hoch, sie geht in die Hocke, er leckt ihr übers Gesicht. Das Mädchen quiekt, lässt sich lachend ins Gras fallen, Lux hüpft begeistert um sie herum. „Er mag dich sehr!“, sage ich.

15. Juli Lux sitzt wartend vorm Gartentor. Minuten später ist die Freude riesig, denn Stella ist wieder da. Wie die Tage zuvor begrüßen sich Hund und Kind stürmisch. Dann kommt Stella zu mir, wir decken gemeinsam den Gartentisch. Stella trinkt Kakao, isst ein Honigbrot, wieder hat sie noch nicht gefrühstückt. Sie trägt dasselbe fleckige Kleid wie seit zwei Tagen, fällt mir auf, ihr Haar ist ungewaschen, ungekämmt. Vage Sorge um sie steigt in mir auf.

Sie kramt in ihrem Rucksack, reicht mir ein Kinderbuch über den Tisch, sagt stolz: „Schau, Inka, das hat Mama gezeichnet.“ Ich bewundere die fröhlichen, fantasievollen Zeichnungen. Kim ist also Illustratorin. Es freut mich, dass Stella mich ein wenig in ihre und Kims Welt blicken lässt, bisher hat sie kaum etwas über sich erzählt. Was ich weiß, ist, dass die beiden in einem Gemeindebau in meiner Nähe wohnen, sie gerne Schokoeis isst, dass sie ihren Papa nicht kennt, nach den Ferien in die dritte Volksschulklasse kommt.

Nach dem Frühstück machen wir einen langen Spaziergang mit Lux, gegen Mittag sagt Stella: „Bis morgen, Inka! Bis morgen, Lux! Jetzt ist Mama bestimmt schon aufgestanden!“ Ich sehe ihrer kleinen Gestalt nach, wieder wird mir schwer ums Herz.

18. Juli Nach den Hitzetagen heute endlich erlösender Regen. Wir machen es uns im Haus gemütlich, ich lege eine CD ein, singe laut zur Musik, Lux jault dazu, und Stella lacht.

„Warum hast du Lux eigentlich Lux getauft?“, fragt sie später, als wir schokoeisessend am Sofa sitzen. „Er ist ja ein Hund und kein Luchs.“

„Meine beste Freundin Anna hat ihm diesen Namen gegeben. Lux hat zwei Jahre lang Anna gehört, bevor er zu mir gekommen ist vor drei Monaten. Lux bedeutet Licht. Weißt du, Anna war oft sehr traurig. Sie hatte dunkle Tage, und Lux hat ihre Dunkelheit erhellt.“

„Aber warum hat sie Lux dann dir gegeben?“

„Sie ist gestorben, Stella. Ihre Eltern haben mir Lux gegeben. Sie sagten, Anna hätte das bestimmt so gewollt. Und darum war ich auch doppelt froh, dass deine Mama und du ihn mir wiedergebracht habt. Erstens weil ich Lux sehr liebe, und zweitens, weil ich das Gefühl habe, dass durch Lux auch Anna bei mir ist.“

Stella schweigt, dann fragt sie: „Inka, und wer ist jetzt deine beste Freundin?“

„Mhm, ich kenne sehr liebe Menschen, aber eine beste Freundin habe ich nicht.“

„Ich habe auch keine beste Freundin“, sagt Stella. „Obwohl.. Zoe, die wohnt im Stock unter uns, sie ist sehr nett, aber ich kann sie nicht mehr zu mir einladen, weil ...“ Sie stockt. „Inka, wir beide können ja beste Freundinnen sein, du bist zwar schon alt, aber ...“

„Was heißt das, ich bin alt, na warte, du!“ Ich nehme sie in den Arm und kitzle sie, sie lacht und lacht, und ich sage: „Gerne, kleiner Stern, ich möchte sehr gerne deine beste Freundin sein.“

„Stern? Ich bin doch kein Stern.“

„Dein Name Stella bedeutet Stern.“

Stella wirkt nun nachdenklich, verabschiedet sich dann bald.

19. Juli Ich soll mich aufs Sofa setzen, meinen Arm ausstrecken und die Augen schließen. Als ich sie wieder öffnen darf, ist ein buntes Perlenband um mein Handgelenk gebunden.

„Ein Freundschaftsband. Selbst gemacht“, erklärt Stella. „Sieh nur, ich trage das gleiche.“

„Wie schön, Süße! Danke! Ich werde es immer tragen.“

Gerührt umarme ich sie. Sie kuschelt sich an mich.

„Inka, ich sage dir ein Geheimnis, weil wir ja beste Freundinnen sind. Ich weiß, warum ich Stella heiße. Ein Stern macht Licht in der Nacht, und das braucht meine Mama, weil sie dunkle Tage hat, so wie Anna.“

Ich bin sprachlos.

„Schwöre mir, dass du es niemandem erzählst.“

„Ich schwöre, Stella.“

In der Nacht kann ich nicht schlafen. Ich beschließe, Kim gleich morgen früh anzurufen, um ein Treffen mit ihr zu vereinbaren. Seit dem Tag, an dem sie und Stella Lux gebracht haben, habe ich Kim nicht wiedergesehen. Sie richtete Grüße aus, aber nie begleitete sie Stella zu mir. Ich muss unbedingt mit ihr reden, denke ich. Je länger ich wach liege, desto mehr alarmierende Zeichen fallen mir ein.

20. Juli Kims Handy ist ausgeschaltet. Ich hinterlasse eine Nachricht, bitte sie um einen Rückruf. Lux sitzt vorm Gartentor und wartet auf Stella, die uns üblicherweise vormittags besucht. Doch Stella kommt nicht. Als sie gegen Mittag noch nicht aufgetaucht ist, rufe ich ein weiteres Mal Kim an, da Stella noch kein Handy besitzt. Es ist nach wie vor ausgeschaltet.

Am Nachmittag parkt ein Auto direkt vor meinem Haus. Eine ältere Frau mit verhärmten Gesichtszügen steigt aus. Und Stella. Ich erschrecke, als ich ihr blasses, verweintes Gesicht sehe. Sie stürzt sich in meine Arme, als sie mich sieht, schluchzt herzzerreißend.

„Meine Süße, ist gut, ist ja gut“, umarme ich sie.

„Entschuldigen Sie den unangemeldeten Besuch“, sagt die Frau, „aber Stella wollte sich unbedingt noch von Ihnen verabschieden. Ich bin Maria, Kims Mutter.“

„Verabschieden?“, frage ich, streichle Stella, die sich an mich klammert. „Ich verstehe nicht. Bitte, erklären Sie mir.“

„Ach, es ist eine Tragödie. Meine Tochter, Sie wissen ja sicher über ihren psychischen Zustand Bescheid, gestern ging’s ihr wieder schlecht, sie ging zum Arzt –“ Sie seufzt. „Er hat Kim in eine Klinik überwiesen, und Stella wird nun bei uns wohnen, bis ...“

Da löst sich Stella von mir und rennt laut weinend ins Haus hinein, Lux hinter ihr her.

„Arme Kleine ... “ Ich bin schockiert.

„Ja, und ich sage Ihnen, ich habe immer gewusst, dass es schiefgehen würde, Kim hätte das Kind nicht bekommen dürfen, wird mit 16 Jahren schwanger, von irgendwem, das muss man sich mal vorstellen – will es alleine großziehen, ich hab ihr gleich gesagt, von uns brauchst du dir keine Hilfe erwarten – ach, schon als Kind war Kim so stur, stur und labil, immer nur Zeichnen im Kopf, nie hat sie auf uns gehört, ach, ich habe ihr gesagt, es ist ein Fehler, das Kind zu bekommen, du wirst das nicht schaffen, und jetzt ...“

„Ich sehe jetzt nach Stella“, unterbreche ich sie wütend, keine Sekunde will ich ihr mehr zuhören.

Stella kauert mit Lux in ihrem Zelt aus Pölstern und Decken, das wir an einem Regentag gemeinsam gebaut haben. Ich krieche zu ihr, nehme sie in den Arm.

„Ich will nicht zu Oma und Opa, ich will nicht“, weint sie, „ich will bei dir bleiben, Inka. Bitte, darf ich bei dir bleiben, bis es Mama wieder gut geht?“

„Ich rede mit deiner Oma, Stella.“

„Ob ich bei dir bleiben darf?“ Sie blickt mich hoffnungsvoll an.

„Ja“, sage ich.

„Das kommt nicht in Frage“, wischt Maria sogleich unwirsch mein Angebot vom Tisch. „Ich trage Verantwortung für meine Enkeltochter.“ Sie ruft laut, „Stella, komm jetzt endlich, wir fahren!“

„Nein“, brüllt diese zurück. „Ich will hierbleiben, bei Inka und Lux.“

Nach einer halben Stunde gibt Maria auf.

„Ich kann nicht mehr. Ein unmögliches Kind, frech, ungehorsam, ganz wie Kim.“

Am liebsten würde ich diese Frau anschreien, es gelingt mir aber, halbwegs ruhig mit ihr zu vereinbaren, dass Stella vorerst übers Wochenende bei mir bleibt. Wir würden telefonieren.

25. Juli „Ja, Mama, ich rufe dich morgen wieder an“, Stella kommt telefonierend ins Zimmer. „Ich habe dich auch lieb! Ja, ich gebe dir jetzt Inka. Bis morgen!“

Sie reicht mir das Handy, läuft wieder zu Lux in den Garten. Wie bei jedem Telefonat versichere ich Kim, dass es Stella gut geht, dass sie Kim natürlich vermisst, aber trotz allem ausgeglichen ist. Und Kim sagt wieder, wie unendlich dankbar, wie froh sie ist, Stella bei mir zu wissen.

8. August Ich sitze im Vorzimmer der Kinderpsychologin und warte auf Stella. Bevor Stella zu ihr hineinging, sprach ich kurz allein mit der Psychologin, wie beiläufig fragte sie:

„Warum tun Sie das alles eigentlich für sie? Sie kennen Stella und ihre Mutter doch kaum.“

Die Frage trifft mich, geht mir nicht aus dem Kopf. Handle ich aus egoistischen Gründen? Will ich unbewusst die Leere füllen, die Annas Tod in mir hinterlassen hat? Ich muss an den furchtbaren Tag denken, an dem Annas Mutter anrief, mir weinend sagte, dass Anna tot sei, dass sie mit überhöhtem Tempo gegen einen Baum gefahren ist. Wir hatten verloren, Annas Depressionen waren stärker als all unsere Bemühungen um sie.

Stella kommt heraus, all die schweren Gedanken lösen sich auf, als sie mich anlächelt, sich an mich schmiegt. Wie sehr dieses Kind mir ans Herz gewachsen ist..

10. August Kim hat mich vorgewarnt. Als ich ihre Wohnung betrete, bin ich trotzdem erschüttert von der Unordnung, dem Schmutz. Der Gedanke, dass Stella in diesem Mief leben musste, tut weh. Ich öffne alle Fenster, draußen regnet es stark.

Alles hier lässt mich an Anna denken, die in ihren depressiven Phasen zu keinem Handgriff fähig gewesen ist, alles verkommen, sich nicht helfen ließ. Ich gehe auf den kleinen Balkon, sehe auf verdorrte Pflanzen und leere Bierflaschen, atme tief durch. Der Regen hört langsam auf. Am dunklen Himmel bildet sich ein Regenbogen, unwirklich schön.

Dann, als ich die Kleidung und die Bücher für Kim zusammensuche, um die sie mich gebeten hat, finde ich, in einem Eck gestapelt, dutzende Zeichnungen und Acrylbilder von Kim. Allesamt sind sie energievoll, eigenwillig, farbenprächtig, ich sehe auf zarte Abbildungen von Stella, in jeder davon ist für mich deutlich erkennbar, wie sehr Kim ihre Tochter liebt.

11. August Ich bin bei Kim in der Klinik. Stella ist mit Lux bei Linda, sie möchte ihre Mama nicht in der Klinik besuchen, sondern erst wieder gesund zuhause sehen. Lange sprechen wir über Stella.

„Meine Kleine“, flüstert Kim, „was habe ich ihr nur zugemutet letzte Zeit.“

Und dann erzählt sie mir stockend, dass bis vor ein paar Monaten all die Jahre über alles sehr gut gegangen ist, es sei zwar anstrengend gewesen, allein mit einem kleinen Kind, nebenbei die Ausbildung, später die Arbeit, doch immer zu schaffen. Doch Ende März ging ihr Verlag in Konkurs, sie verlor ihre Arbeit, beinahe zeitgleich ging eine anfangs vielversprechende Beziehung in Brüche. Dies alles zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Von heute auf morgen war ihr alles, war ihr jeder Handgriff zu viel, sie fühlte sich erschöpft, ausgelaugt, konnte nachts nicht schlafen, morgens nicht aufstehen, konnte sich nicht mehr ausreichend um Stella kümmern, griff zu Tabletten, zu Alkohol, etwas, was sie zuvor nie getan hatte. Sie schämte sich, erzählte niemandem davon, kapselte sich und damit auch Stella ab, jeden Tag entglitt ihr alles ein wenig mehr …

Während Kim erzählt, muss ich an die unschöne Begegnung mit ihrer Mutter denken, an deren harte Worte über Kim, denke, wie sich wohl alles entwickelt hätte, wenn Kim Unterstützung, Liebe, Ermutigung bekommen hätte, denke, welches Glück ich im Gegensatz mit meiner Familie habe.

„Inka“, sagt Kim leise, „ich war betrunken an jenem Tag, betrunken und verzweifelt deswegen, habe an Stella gedacht, wie ich alles wiedergutmachen, ihr eine Freude machen kann – da habe ich Lux vor dem Geschäft gesehen, es war wie ein Blackout – ich habe ihn losgeleint und einfach mitgenommen. Es ist unverzeihlich.“

27. August Im Stiegenhaus begegnen wir zwei Kindern. Es sind Zoe, von der Stella mir erzählt hat, und deren Bruder. Die beiden streicheln Lux, der Kinder liebt und freudig wedelt. Ich schlage vor, dass sie im sicheren Innenhof eine Runde mit ihm spazieren gehen, während ich in der Wohnung werke. Vom Balkon aus sehe ich, wie sie mit Lux spielen. Stella blickt zu mir herauf, winkt lachend. Wie schön es ist, sie unbeschwert mit anderen Kindern zu sehen.

28. August Ungläubig sieht sich Kim in ihrer sauberen, ordentlichen Wohnung um.

„Ist das wirklich unsere Wohnung? Waren Heinzelmännchen bei uns, Stella?“ fragt sie Stella, die voller Freude auf dem Sofa hüpft.

„Ja, ja“, ruft Stella übermütig. „Wir haben sie gesehen, stimmts, Inka? Viele kleine Heinzelmännchen, die haben alles geputzt.“

Sie springt vom Sofa, zieht Kim auf den Balkon, zeigt ihr die blühenden Pflanzen, die wir eingesetzt haben. Kim ist voll der Bewunderung und des Lobes.

Stella entdeckt Zoe, die mit anderen Kindern unten auf dem Spielplatz ist, und die ihr zuruft: „Komm runter zu uns, Stella! Ist Lux bei dir?“

Wenig später sehen wir Stella mit Lux unten, lachend, umringt von den Kindern.

Kim strahlt. „Stella ist wie ausgewechselt, offen, fröhlich. Du hast sie aufgefangen – und an mich geglaubt, mir Mut zugesprochen. Es ist unglaublich, was ein einzelner Mensch alles bewirken kann! Ich weiß nicht, wie ich dir für alles danken kann, Inka.“

„Aber ich weiß es“, umarme ich sie, „indem du so weitermachst, gut auf dich und Stella achtest, dich nicht unterkriegen lässt. Alles andere wird sich von allein einstellen, du wirst sehen.“

31. August Heute würde Anna ihren 25. Geburtstag feiern. Ich bin traurig, vermisse sie schmerzlich, lange telefoniere ich mit einem gemeinsamen Freund und mit ihrer Mutter. Am Nachmittag werden Kim, Stella und Zoe zu mir kommen, auch Linda habe ich eingeladen. Doch sogar der Gedanke an ihren Besuch stimmt mich wehmütig. Der Sommer neigt sich dem Ende zu. Für Stella beginnt übermorgen wieder die Schule, für mich meine neue Arbeit. Natürlich würden wir uns weiterhin oft sehen, aber unsere intensive gemeinsame Zeit ist wohl vorüber.

Und dann sind sie alle da, bringen Eis und Blumen und Fröhlichkeit mit, wir unterhalten uns, essen Eis, Stella und Zoe spielen ausgelassen mit Lux. Kim erzählt von einem bekannten Autor, mit dem sie sich getroffen hat und dessen Buch sie illustrieren wird. Immer wieder muss ich sie ansehen, sie strahlt, scheint ein paar Kilo zugenommen zu haben, trägt einen neuen Haarschnitt, wirkt frisch und ausgeglichen.

Es ist ein schönes, vertrautes Zusammensein, doch spätabends, als sie gegangen sind, kommt meine Traurigkeit zurück. Ich streichle Lux, denke an Anna. Als ich ins Haus gehen will, sehe ich auf dem Gartentisch ein Paket liegen. Auf einem Kärtchen steht schlicht: „Für Inka.“

Vorsichtig löse ich das Geschenkpapier, halte ein Bild in meinen Händen. In strahlenden Farben hat Kim mein Haus und den Garten gemalt, mich mit Lux im Gras sitzend. Am Horizont leuchtet wie beschützend ein Regenbogen. Ich weiß, dass er symbolisch für Anna gemeint ist. Ich betrachte Kims kraftvolle und zugleich sensible Darstellung, all die liebevollen Details, den Schwung, die Farben des Regenbogens, und spüre, wie sich meine Traurigkeit auflöst, und es stattdessen leicht und licht in mir wird.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 23136

Am Zaun

Er steht,
seit Kurzem kann er das erst.
Wackelig auf den Beinchen.
Er hält sich am Zaun fest.
Jetzt hat er den Ausblick von höher oben.
Unter ihm liegt die Drau.
Er grinst.
Foto!

Michael am Zaun

Michael am Zaun

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 23181

Und Phora wuchs

Olga wurde von einem feuchten, klatschenden Geräusch geweckt. Sie befand sich noch halb in ihrem Traum, war in ihrer alten Volksschule und hielt einen Vortrag über Wildkräuter. Fast 60 Jahre war sie nicht mehr dort gewesen, doch das Klassenzimmer weckte immer noch mulmige Gefühle in ihr.

Verwirrt und aus dem Zusammenhang gerissen, richtete sie sich im Bett auf. Dem schwachen grauen Licht zufolge war es gerade erst Morgen geworden. Abwesend wischte sie über die feuchte, klebrige Stelle neben ihrem Mund.

Warum war sie nochmal wach?

Das Einzige, das sie mit Sicherheit wusste, war, dass sie jetzt noch schlafen sollte. Und wollte. Sie war schon dabei, sich wieder zurückzulegen, als sie ein klatschendes Geräusch, gepaart mit einem dumpfen Schlag, erneut zusammenzucken ließ. Olga konnte gerade noch sehen, wie ein schlammiger Brocken Erde von ihrem Fenster herabrutschte. Mit einem Mal war sie hellwach und die feindseligen Mienen ihrer Mitschüler verblassten vor ihrem Auge.

Ehe sie hinausstürmte, schlüpfte sie hektisch in ihre Pantoffeln. Die morgendliche Luft war kühl und mit Nebelschwaden durchzogen, die ihr kleine Wassertröpfchen ins Gesicht drückten. Die letzten 20 Jahre hatten sie morgens Vogelgezwitscher und der Geruch von moosigen Bäumen empfangen. Seit 37 Wochen roch sie als Erstes Benzin und Abgase. Gleich danach erreichten die Ausdünstungen des Mobilklos ihre Nase, das 3,5 Meter von ihrem Haus entfernt stand – exakt 3,5 Meter, weil das Gericht bestimmt hatte, dass es nicht näher sein durfte.

«Sie überschreiten meine Intimsphäre!», brüllte Olga quer über die Baustelle. Die Arbeiter waren unbeeindruckt. Mittlerweile waren sie ihr Gebrüll genauso gewohnt wie ihren Anblick in dem verwaschenen, knielangen Nachthemd.

«Wir halten den Mindestabstand ein. Wie immer», rief der Vorarbeiter mit einer Zigarette im Mundwinkel über die plattgewalzte Wiese. Es war offensichtlich, dass er sich dabei ein Grinsen verkniff.

Dieser Mistkerl.

Als ob es in ihrem Leben nicht schon genug Leute gegeben hatte, die sich ihr gegenüber ein Grinsen verkniffen hätten. Wutentbrannt stapfte sie durch den Schlamm zu ihrem Schlafzimmerfenster. Anklagend zeigte sie auf das Glas, auf dem die Erdklumpen klebten.

«Das muss wohl beim Ausheben passiert sein», erklärte der Vorarbeiter mit einem derartigen Unschuldston in der Stimme, dass es nur Absicht gewesen sein konnte. «Sie können uns nicht dafür verantwortlich machen, was eine Maschine anstellt.» Unterdrücktes Gelächter war von den anderen Arbeitern zu vernehmen.

«Sie werden das reinigen!» Olga stieß jedes Wort mit giftiger Kälte hervor.

«Werte Dame», der Vorarbeiter ging ein paar Schritte auf sie zu, die Zigarette locker in der Hand. «Jetzt hören Sie doch endlich auf, sich so zu wehren. Das ist nun mal der Lauf der Dinge.»

Er drehte ihr den Rücken zu, drehte ihr einfach den Rücken zu, als ob er fertig mit ihr wäre, und ignorierte ihr Gezeter. Die anderen Arbeiter lachten noch, während sie weiter ihrer mörderischen Arbeit nachgingen, um den Wald zu zerstören. Olgas Hals fühlte sich rau an. Sie hatte zu zittern begonnen, doch nicht, wie sie anfangs angenommen hatte, aus Wut, sondern weil die Kälte durch ihr dünnes Nachthemd gekrochen war.

Sie warf einen erbosten Blick auf das verdreckte Fenster. Nein, sie würde das nicht wegputzen. Olga würde das den Anwälten zeigen, wenn sie das nächste Mal hier auftauchten. Als sie schon dabei war, sich wieder abzuwenden, um zurück ins Haus zu gehen und ihre schmerzenden Gelenke aufzuwärmen, erkannte sie etwas in dem bereits trocken werdenden Schlamm. Etwas Zartes, Zerbrechliches. Hilfloses. Eine Pflanze, komplett mit Wurzeln und kleinen grünen Sprossen.

«Diese Barbaren», zischte Olga, als sie das halb zerdrückte Gewächs vorsichtig mit beiden Händen aufklaubte. Ihre Pantoffeln machten schmatzende Geräusche im Schlamm, als sie zurück zur Haustür stapfte.

Sie setzte die Pflanze in ein kleines Gefäß und drückte zärtlich die frische Erde fest. Andere hätten sie übersehen, doch Olga hatte ein Auge für Lebewesen, waren sie auch noch so klein und unscheinbar. Dieses schien es ihr bereits zu danken, die ovalen Blätter ließen sich schon nicht mehr hängen, der dünne Stängel richtete sich wieder auf. Sie betrachtete ihr Werk wohlwollend, während sie den Schlamm von ihren Pantoffeln klopfte.

Das Vibrieren und Poltern der Maschinen endete erst am Abend. Sie nutzten das Sonnenlicht, so lange sie konnten, wollten so viel wie möglich zerstört haben, ehe das endgültige Gerichtsurteil gefällt werden würde.

«Stadtstraße, pah!», murmelte Olga, als sie sich mit ihrem allabendlichen Kräutertee zu der kleinen Pflanze an den Tisch setzte. Die Feuchtigkeit kroch durch die Wände in ihre Hüfte und Knie. Es bereitete ihr Sorgen, jedes Jahr mehr. Nicht, weil sie noch vorgehabt hätte, einen Marathon zu laufen, doch es fiel ihr zunehmend schwerer, sich um ihre Kräuter und Blumen, ihre Salate und Sträucher zu kümmern. Ihre Sorgen bekamen einen bitteren Geschmack, als ihr bewusst wurde, dass ihr Garten vermutlich nicht mehr lange überleben würde, genauso wie ihr kleines Häuschen. Mit grimmiger Sturheit hatte sie sich am Optimismus festgeklammert, hatte sich nicht eingestehen wollen, was unausweichlich war. Nur abends, wenn sie hörte, dass die Bauarbeiter abzogen und ihre stählernen Zerstörungsmonster abkühlten, konnte sie die Fassade nicht mehr aufrechterhalten. Der Dampf ihres Kräutertees vermischte sich mit ihren Tränen.

«Stadtstraße, pah!», rief sie erneut und donnerte die Tasse so heftig auf den zerfurchten Holztisch, dass die Blätter der kleinen Pflanze zitterten. «Das wird eine Autobahn, aber damit können Politiker nicht hausieren gehen.»

Pflanzen wuchsen besser, wenn man mit ihnen redete, da war sich Olga sicher, und dieses kleine Exemplar brauchte gerade jede Hilfe, um nicht einzugehen. Außerdem bekämpfte das ihre Einsamkeit. Zuerst waren ihre Nachbarn verschwunden, einer nach dem anderen. Vor drei Wochen waren dann auch die Reporter abgezogen. Das Thema hatte ihre Leser gelangweilt. Ein paar Bäume mehr gefällt, ein paar Wiesen mehr niedergewalzt – was machte das schon für einen Unterschied? Immerhin mussten die Autos ja irgendwo fahren. Wen kümmerte das schon?

«Mich kümmert es», flüsterte Olga und sie meinte, die Blätter der Pflanze erneut zittern zu sehen.

Als sie am nächsten Morgen das Wohnzimmer betrat, geisterte ihr ein Satz im Kopf herum, den die Bauarbeiter immer wieder von sich gaben: «Völlig durchgeknallt, die Alte.»

Die Pflanze war in die Höhe geschossen, gute 30 cm. Die kleinen, zerdrückten Blätter hatten sich nicht nur erholt, sondern vermehrt und waren handtellergroß angewachsen. Blütenknospen hatten sich gebildet. Noch bevor sie sich einen Kaffee machte, noch bevor sie auf die Toilette ging, begann sie in ihrem dicken Botanikbuch zu blättern.

Nichts.

Die Pflanze hatte entfernte Ähnlichkeit mit Heliamphora tatei, einem Schlauchpflanzengewächs aus Südamerika. Allerdings passten die Blüten nicht, die erinnerten eher an eine Orchidee.

«Hmmpf», machte Olga. Im Grunde konnte es ihr egal sein. Der Pflanze ging es gut, sie gedieh. Und das nur, weil sie sich hier wohl fühlte. Ein Gefühl, an das sie sich kaum noch erinnern konnte, schoss durch ihre alten Knochen. Hoffnung. Vielleicht war das der Ausweg aus diesem Albtraum. Wenn das ein seltenes Gewächs war, könnte hier alles zum Naturschutzgebiet erklärt werden und sie wäre gerettet.

«Ich werde dich Phora nennen, selbst wenn du keine Heliamphora bist, in Ordnung?»

Die Blätter der Pflanzen zitterten, wie um ihr zu zustimmen. Aber vielleicht lag es auch an den Baumaschinen, die vor ihrer Haustür gerade aus dem Schlaf erwachten und den Boden zum Beben brachten.

Eine Woche später ragte Phora schon bis zu Olgas Stirn.

«Sie glauben mir nicht, pah!», erzählte sie der Pflanze, als sie spätnachmittags nach Hause kam. «Sie denken, ich hätte dich von irgendeinem Exotenhändler!»

Die zwei größten Kelche in Phoras Mitte bewegten sich hin und her, wie um Olga zuzustimmen und gleichzeitig den Kopf zu schütteln, über die Verkommenheit dieser Welt. Die alte Frau verstand die Sprache, weil sie sich mittlerweile schon mehrere Stunden am Tag unterhielten. Olga besprühte die Blätter mit Wasser und streichelte zärtlich ihren Strunk, der so dick wie ein Oberarm war. Eine fette Fliege flog brummend in einen von Phoras Kelchen und verschwand in den burgunderroten Tiefen. Das Brummen endete abrupt.

Es war drei Uhr morgens, als Olga von einem Klirren geweckt wurde. Es hatte immer öfter Vandalenakte an ihrem Haus gegeben. Ihr Kräuterbeet war zertrampelt worden, einer ihrer Holundersträucher herausgerissen. Das hatte ihr Herz stärker bluten lassen als die beschmierten Hauswände und die Fäkalien auf ihrer Türmatte. Es dauerte ihnen schon zu lange. Die abschätzigen Witze über die verrückte Alte waren unverhohlenem Hass gewichen. Der Geruch des flüssigen Betons näherte sich nun immer mehr ihrem Häuschen und verdrängte den Duft von grünen Blättern und Moos. Es war, als ob der Sauerstoff von hier verschwand.

Sie dachte, das Klirren stammte von einem zerbrochenen Fenster, aber es war nur Phora. Sie hatte den Topf gesprengt. Den größten, den Olga hatte auftreiben können. Die Wurzeln schienen sich zu bewegen, als ob sie sich strecken wollten, nach der langen Zeit des Eingesperrtseins. Vor ein paar Wochen hätte ein solcher Anblick Olga in Panik versetzt, sie an ihrem Verstand zweifeln lassen. Doch Phoras Bewegungen und rasantes Wachstum waren mittlerweile zur Konstanten im Leben der alten Frau geworden. Das Einzige, was ihr in diesem trostlosen Dasein keine Angst oder Sorge bereitete. Sie überlegte nur für einen Moment, dann zerrte sie die großen Säcke mit Erde aus der Kammer, schnitt sie auf und verteilte sie auf den Wohnzimmerboden.

Eine Woche später hatte sich Phora im ganzen Haus ausgebreitet. Olga hatte sich anfangs noch bemüht, überall Erde zu verstreuen – selbst auf den Fliesen im Badezimmer. Doch ihre Pflanze schien das gar nicht zu benötigen. Ihre Wurzeln waren hölzern und kräftig, einige ihre Kegel reichten mittlerweile bis zur Zimmerdecke, andere nur bis zu Olgas Hüfte oder Waden. Ihre Wände waren dick und innen klebrig feucht. Insekten waren Phora nicht mehr genug, sie bekam seit ein paar Tagen zusätzliche Nährstoffe von ihrer menschlichen Mitbewohnerin. Kartoffeln, Nüsse, Karotten, Fleisch – was auch immer zur Hand war, verschwand in den dankbaren Kelchen. Und Phora wuchs.
Die Fenster waren mit Zeitungspapier abgedeckt, weil die Vorhänge zerschlissen waren und Olga die bösartigen Gesichter nicht mehr ertrug. Die Politiker und Anwälte waren gekommen, ihr herablassender Ton war Drohungen gewichen. Bald würden sie sie ins Irrenhaus schleppen und das Haus niederwalzen. Eine Frau, die mit einer Pflanze auf Erdreich lebte, war nicht zurechnungsfähig. So eine Frau dürfte sich nicht mehr dem Fortschritt in den Weg stellen.

Abends duckte sich Olga unter Phoras Ranken durch, um in ihr Bett kriechen zu können. Wenn dann die Tränen über ihre vertrockneten Wangen glitten, spürte sie schon, wie sich die Kelche ihrer Pflanze unter die Bettdecke schoben. Wie sie tröstend über ihre Haut strichen, wie sie sich vorsichtig an ihrem Körper festsaugten. An ihrem Hals, ihren Brüsten, zwischen ihren Schenkeln. Olga streichelte die Kelche zärtlich und wusste, dass sie einen Menschen nie so geliebt hatte wie diese Pflanze.

Sie kamen an einem warmen Sommermorgen. Die alte Frau kannte die Geräusche der Bauarbeiter und ihrer mörderischen Maschinen. Doch diesmal klang es anders. Automotoren, entfernte Sirenen. Angsterfüllt zog sie sich an und wartete. Ihr fiel nichts anderes ein. Sie setzte sich auf Phoras Wurzeln, denn für Sessel oder einen Tisch war in dem Haus schon länger kein Platz mehr. Unter sich spürte sie das Beben und Zittern, das durch jede Faser ihrer Pflanze drängte. Keine Angst, nein. Es war Wut. Olga streichelte über die Wurzeln, die Ranken und Blätter und Kelche. Mehr, um sich selbst zu beruhigen als ihre Freundin. Ihr Herz blieb fast stehen, als der Ton der Türklingel durch das Haus schepperte. Ein eiskalter Klumpen bildete sich in ihrem Magen und drohte, sie immer weiter hinabzuziehen, bei jedem mühevollen Schritt zur Eingangstüre.

Die zwei Männer im Anzug sahen einschüchternder aus als die vier in Uniform. Einer der Anzugmänner öffnete den Mund, um etwas mit grimmiger Miene zu verkünden. Da schoss einer von Phoras Kelchen vor und umschloss sein Gesicht mit einem schmatzenden Geräusch. Ein dumpfer Schrei kämpfte sich dahinter hervor. Die anderen Männer schreckten instinktiv zurück, doch ihre Gehirne schienen nicht verarbeiten zu können, was ihre Augen sahen. Bevor sie handeln konnten – nach Hilfe rufen oder schlicht wegrennen –, fegten weitere Kelche an Olga vorbei und saugten sich an den Männern fest. Alle sanken zu Boden, wie leblose Puppen, ihre hilflosen Körper waren nur noch zu einzelnen Zuckungen imstande. Fenster zerbarsten, Mauerwerk bröckelte, als sich die Pflanze neue Wege aus dem Haus bahnte. Wurzeln, Ranken und weitere Kelche kümmerten sich um Schaulustige, Arbeiter und Maschinen.

Olga war von einer seltsamen Ruhe erfüllt. Als ob die Geschichte nur so enden konnte, indem ihre Pflanze die Ungerechtigkeit, die der Natur hier widerfahren war, rächte. Weit hinten sah sie den Vorarbeiter in ihre Richtung rennen, verfolgt von einer Ranke.

«Machen Sie was!» Seine Miene war verzerrt vor Angst und Fassungslosigkeit. «Sie müssen was machen!»

«Jetzt hören Sie doch endlich auf, sich so zu wehren», rief Olga ihm zu. «Das ist nun mal der Lauf der Dinge.»

Sie glaubte nicht, dass er sie noch gehört hatte.

C. N. Stance
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www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 23145

 

Ballprinzessin

 „Sie ist schon jetzt eine richtige Walküre.“
Das möchte man als zwölfjähriges Mädchen am liebsten hören, wenn man der Großmutter den neuen Schottenrock vorführt. Claudia weiß natürlich, was eine Walküre ist. Schließlich sind die „Deutschen Heldensagen“ Bestandteil der elterlichen Bibliothek und Schullektüre.

Sie weiß also, dass sie keine Chance hat, ihrem Ideal auch nur in die Nähe zu kommen. Das Role Model ist Olivia Newton-John als Mandy in „Grease“. Schon seit Wochen versucht Claudia, die Mutter zur Erlaubnis für eine Dauerwelle zu überreden, weil die Selbstversuche mit in Zuckerwasser getränkten, fest geflochtenen Zöpfen, die über Nacht trocknen, nicht das gewünschte Ergebnis zeigten. Vergeblich. Schlecht für das Haar, teuer. Also möchte Claudia wenigstens so aussehen wie Mandy vor der finalen Verwandlung: braver Pony, Faltenrock, Bluse, Weste. Schließlich hat John Travolta sich in diese Mandy verliebt, nicht erst in jene mit den Lederhosen und dem ausgeschnittenen Top, wollte sich für die brave Mandy sogar verändern. Und die Mutter ist eher bereit, Geld für einen neuen Rock als für Glockenhosen, die alle anderen Mädchen jetzt tragen – oder gerne tragen würden –, auszugeben.

Claudia weiß selbst, dass sie nicht dem aktuellen Idealtyp entspricht. Schon mit zwölf Jahren ist sie fast einen Meter und siebzig Zentimeter groß, ihre Figur ist eher die einer Kugelstoßerin als die einer Ballerina. Aber wenigstens versuchen will sie es. Schon in der Volksschule war sie die weitaus Größte in der Klasse, überragte alle Buben, war dementsprechend uninteressant für sie. Dann der Wechsel ins Gymnasium. Eine der letzten reinen Mädchenschulen. Das hat sich als Segen erwiesen. Claudia ist zwar immer noch die Größte ihres Jahrgangs, der Vergleich mit den Buben entfällt aber wenigstens. Zu allem Unglück ist Claudia auch noch eine gute Schülerin, eine sehr gute sogar. Sie muss aufpassen, nicht als Streberin abgestempelt zu werden. Hässlich und Streberin – völlig unmöglich.

Die erste Klasse hat sie spielend hinter sich gebracht, zu Anfang der zweiten werden zum ersten Mal Freigegenstände an den Nachmittagen angeboten. Einige haben eher Nachhilfecharakter. Es gibt zusätzlichen Sport, der Claudia interessieren würde. Wenn sie schon riesig ist, will sie wenigstens dünn sein. Doch sie entscheidet sich schließlich für „Bühnenspiel“. Man darf in der zweiten Klasse nur einen Freigegenstand belegen, damit die schulischen Leistungen nicht leiden. Hungern kann sie zu Hause auch. Sie wird an den Wochenenden spazieren gehen und Gymnastik machen, um abzunehmen. Im Theater wird sie im Mittelpunkt stehen, der Star sein. Auf der Bühne sehen große Menschen viel besser aus als kleine.

Das Schulgebäude ist alt, wurde während des Sommers renoviert, hat nicht nur einen neuen Turnsaal bekommen, sondern im Keller auch einen großen Veranstaltungsraum mit einer richtigen Bühne. Die Deutschprofessorin, die „Bühnenspiel“ leitet, wurde nicht renoviert. Sie hat ausgerechnet „Schneewittchen“ als das Theaterstück ausgesucht, das zu Semesterende aufgeführt werden soll. Eine kluge Wahl für eine Mädchenschule, kaum Frauenrollen. Aber eine davon wird Claudia ergattern. Sie wird Schneewittchen spielen. Eventuell noch die böse Stiefmutter. Die muss ja auch attraktiv gewesen sein, sonst hätte der König sie nicht geheiratet. Keinesfalls wird sie den Prinzen spielen. Nur weil sie groß ist. Nein. Es gibt schließlich auch kleine Männer. Und sie sieht viel zu weiblich aus. Wenn sie sich von allen Seiten im Spiegel anschaut, ist sie sicher: Prinz geht gar nicht. Sie bekommt ja schon einen richtigen Busen. Es gibt kein Kostüm, das den verdecken könnte. Prinzessin oder Stiefmutter!

Eigentlich hat sie ja Angst davor, auf der Bühne zu stehen, sich von Publikum begaffen zu lassen. Angst davor, dass sie schlecht wegkommt. Doch sie wird allen Mut zusammennehmen. Sie wird die anmutigste Prinzessin sein. Oder die böseste Stiefmutter. Auf jeden Fall wird sie blendend aussehen, allen zeigen, dass sie das hübscheste Mädchen weit und breit ist. Oder wenigstens das hübscheste an diesem Nachmittag in diesem Festsaal.
Und dann die Katastrophe: Claudia wird krank. Nichts Ernstes, nur eine starke Verkühlung. Aber sie kann nicht in die Schule gehen. Was sonst ein großes Glück ist, ist nun die schlimmste Strafe. Sie versäumt die Verteilung der Rollen.

Endlich wieder in der Schule. Montagnachmittag. „Bühnenspiel“. Die Professorin kündigt an, noch einmal über die Rollenverteilung zu sprechen. Man kann auch einmal Glück haben. Schnell auf die Toilette, bevor es losgeht. Claudia beeilt sich, Bluse und Pullover wieder ordentlich zu richten.
Das Türschloss klemmt. Das gibts doch nicht! Nicht nervös werden! Ganz ruhig noch einmal probieren. Nichts. Vielleicht funktioniert es, wenn man die Tür ein bisschen anhebt. Nein. Dagegendrückt. Zu sich zieht. Hinunterdrückt. Keine Chance. Das Schloss klemmt. Weder unter noch über der Tür gibt es einen Ausweg. Um Hilfe rufen. So peinlich. Aber was bleibt ihr übrig. Keine Reaktion. Die Toiletten sind gleich beim Eingang des Festsaals, weit entfernt von der Bühne. Sie muss lauter rufen. Noch immer kommt niemand. Irgendwann wird sie den anderen abgehen. Nach Stunden kommt jemand. Es war eigentlich nur eine halbe Stunde. Auch die Professorin schafft es nicht, die Tür zu öffnen. Sie holt den Schulwart. Der rückt mit seinem Werkzeugkoffer an. Claudia wird befreit.

Doch die Erleichterung währt nur kurz. Nun sind die Rollen wirklich vergeben. Übrig sind noch: einer der Zwerge oder Hilfe bei der Technik. Hilfe bei der Technik bedeutet, nichts zu tun, denn der Schulwart lässt niemanden an die Anlage. Aber Zwerg? Ausgerechnet sie? Der größte Zwerg aller Zeiten? Und nur ein Satz Text. Die Professorin meint, das mit den Zwergen dürfe man nicht so eng sehen, man könne sie auch als Bergleute bezeichnen. Kann man. Aber die Rolle heißt „Zwerg“. Zwerg! Claudia sieht die anderen Mädchen verstohlen lachen. Und was werden die Eltern sagen, wenn sie erzählt, dass sie einen Zwerg spielen wird? Sie wollte auf der Bühne stehen, der ganzen Schule beweisen, dass sie ein hübsches und talentiertes Mädchen ist. Aber als Zwerg? Claudia entscheidet sich für die Technik. Am liebsten hätte sie überhaupt alles hingeschmissen, aber dann hätten die anderen nur noch mehr gelacht.

Dienstag. Bei Claudia zeigen sich keinerlei Zeichen eines Krankheitsrückfalls. Kein Grund, nicht in die Schule zu gehen. Erste Stunde Turnen. In der Pause danach nimmt die Turnlehrerin sie beiseite. In vier Wochen sei das erste Handballmatch der Schülerinnenmeisterschaft, aber es seien gleich fünf Spielerinnen ausgefallen. Ob Claudia nicht einspringen könne? Sie wäre zwar die Jüngste in der Mannschaft, aber mit ihrer Größe. Außerdem stelle sie sich bei Ballspielen doch sehr geschickt an.
Handball. Das ist doch total unweiblich, brutal. Würde Mandy Handball spielen? Niemals! Die wollte zu den Cheerleadern. Akrobatische Übungen in hübschen, engen Kostümen. Alle Burschen haben nur Augen für sie. Andererseits könnte sie die Mannschaft retten. Außerdem gibt es in Österreich keine Cheerleader. Claudia sagt zu.
Dass sie wegen des Trainings nun nicht an „Bühnenspiel“ teilnehmen kann und die Aufführung nicht im Technikraum verbringen wird, ist kein großer Verlust. Weder für Claudia noch für die Aufführung.

Ein Samstagnachmittag im November. Das Match gegen das andere Gymnasium im Bezirk. Aufwärmen in der Halle. Es kommt tatsächlich Publikum, Eltern, Geschwister der Spielerinnen. Anpfiff. Claudia sitzt vorerst auf der Ersatzbank. Die ganze erste Hälfte über. Anpfiff zur zweiten Halbzeit. Ihre Mannschaft hat schon fünf Tore Rückstand. Doch die aufmunternden Worte der Turnprofessorin in der Pause haben gewirkt. Der Rückstand wird kleiner. Nur noch zwei Tore. Eines. Da: Die Spielerin am linken Flügel knöchelt um, humpelt zum Spielfeldrand. Die Lehrerin gibt Claudia ein Zeichen, sich bereit zu machen. Wechsel. Fehlpass. Mehr Konzentration! Ihre Mannschaft erobert den Ball zurück. Claudia läuft, so schnell sie kann. Bekommt den Ball zugespielt. Sie ist alleine vor der Torfrau. Springt. Ausgleich. Ausgleich! Die ganze Mannschaft kreischt. Die Schiedsrichterin pfeift das Match ab. Unentschieden immerhin. Claudia ist die Heldin. Ausgerechnet die Jüngste. Das hat Mandy nicht geschafft.
Und jetzt kommt sogar der Bruder der Kreisspielerin, um zu gratulieren. Der ist bestimmt schon vierzehn und einen Kopf größer als Claudia.

Sascha Wittmann
www.saschawittmann.at

www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 23140

Beauty Forever

Die Schönheit zu erhalten
sah der Mann als seine Aufgabe.
So schockgefror er seine liebste Blume.
Tag für Tag erfreute er sich an ihrem Anblick,
nur Duft hatte sie keinen mehr.

Der Rosenkranz und der kleine Schneemann hängen am Autoinnenspiegel

Der Rosenkranz und der kleine Schneemann hängen am Autoinnenspiegel

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 23067

Wald, Baum, Holz

Woran denkt man, wenn man „Wald“ hört? An den würzigen Geruch der Nadelwälder? An den Sonneneinfall zwischen den hohen Stämmen (wie in gotischen Kirchen)? An Schwammerl- und Beerensuchen? An lange Wanderungen auf dem weichen Waldboden? Oder ein wenig ängstlich an Orientierungslosigkeit; und dass hinter dicken Baumstämmen jemand/etwas lauern könnte? Ein Jäger oder ein Forstwirt haben da ganz andere Gedanken.

Was assoziiert „Baum“? Seinen wohltuenden Schatten? Seine Früchte? Seine verwurzelte Standfestigkeit und Lebensdauer? Oder seine Blüten im Frühjahr und das Vogelgezwitscher in seiner Krone? Ein Sägewerksbesitzer oder Bauer denken prosaischer.

Welche Anmutungen weckt „Holz“? Den angenehmen Duft und seine lebendige Struktur? Das warme Knistern seiner Scheiter im Kamin? Ein Tischler denkt praktisch an seine Verwertbarkeit (wie viel ist es wert?). Ein Zimmermann schätzt seine Brauchbarkeit im Holzbau ab. Aber ein Volkskundler kann wohl mehrere Bücher schreiben zum Thema Holz.

Wie auch immer, ein Baum ist viel mehr als etwa zwei Festmeter Brennstoff. Und wenn wir ein Stück Holz in die Hand nehmen, können wir fragen: „Was für ein Baum bist du gewesen? Wo bist du aufgewachsen? Welche Vögel haben in deiner Krone ein Nest gebaut und in der ersten Dämmerung den neuen Tag mit ihrem Gesang begrüßt?"

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 23031

Liebeshymne an meine Kinder

Noch traute ich mich nicht, mit euch zu rechnen, da hab ich schon von euch geträumt,
ließ euer Lachen gegen meine Wände krachen, hab in meinem Leben aufgeräumt,
damit ich bereit war für euch. Hab eure Hände gefühlt
und an euren Haaren gerochen, mich mit euren Worten durchspült,
wollte von eurem Übermut trinken und in euren Augen versinken,
denn mir war schon immer absolut klar, ich hätte das Beste versäumt,
wenn ich am Ende ohne euch wär. – Weil ihr mein Wunder seid,
mir neues Leben schenkt und mich mitnehmt in eine Zeit, in der ohne euch nichts von mir bleibt.

Dann wart ihr da, und nichts blieb so, wie es war.
Ihr habt mich neu programmiert, meine Saiten gestimmt und meine Fehler studiert,
habt mein Herz vertieft, seid in längst vergessene Höhlen getaucht, habt mich analysiert,
mich mit Schwächen konfrontiert, die ich offenbar bisher nicht sah.
So konnte ich wachsen mit euch, mir an euch die Zähne ausbeißen,
all meine Pläne über Bord schmeißen, jeden Tag tanzen,
mich im Sprudelbad eurer Leichtigkeit verschanzen. Und ihr habt mir die Welt neu erklärt,
mir den Mut beschert, das Undenkbare zu denken, habt meinen Blickwinkel umgekehrt.

Ihr seid die Zündschnur für meine Glücksraketen
und die Quelle für meine Tränen,
habt große Träume in mir losgetreten,
seid das Pflaster für mein Sehnen.
Ich seh mich in euren Augen wohnen und hefte meinen Blick
tagtäglich voller Stolz auf euch, bin fassungslos vor Glück.

Für euch mach ich täglich zehntausend Schritte und bin auch ohne Yoga in meiner Mitte,
denn ihr zieht an meinen Zügeln, sodass ich innehalten muss
und dann nicht anders kann, als im Moment zu verweilen, ihn zu genießen,
in euch zu fließen, Sternenfunkeln zu teilen und Lachtränen zu vergießen.
Ängste zu dämmen, Sorgen zu hemmen, eure Verzweiflung und euren Verdruss
anzunehmen und zu verstehen. Euch den Rücken zu stärken und ein mutiges Herz zu formen,
dabei nicht zu vergessen, auch mal eigene Wege zu gehen.
Und Hilfe anzubieten, bei der Lösung dessen, was ich für mich bis heute nicht gelöst habe.

Und wenn ich ab und an mal meine Fühler nach innen strecke,
mich kurz besinne und die Fäden rückwärts spinne, dann krieg ich Angst und erschrecke,
weil mein Herz so schnell schlägt, die Zeit an meinem Leben sägt,
und ich mich frage, wo sind die Jahre geblieben, seh euch noch auf dem Wickeltisch liegen,
beginne zu philosophieren wie die Alten, die einst prophezeiten,
ihr werdet schneller groß, als ich denke, und muss mir traurig eingestehen, dass sie recht hatten.
Dann will ich alle Uhren abschalten, die Momente mit euch auseinanderfalten, glatt streichen
und in Marmor meißeln. Und die ganze Welt soll den Atem anhalten.

Denn ihr seid der Leuchtturm in meinem Herzen,
und der Nährboden für meine Falten.
Mit euch geh ich durch die schlimmsten Schmerzen,
kann mein Fühlen auf Höchststufen schalten,
bin um ein Grad wärmer getunt und richte meinen Blick
tagtäglich voller Stolz auf euch, bin fassungslos vor Glück.

Doch ihr lauft lachend vor mir her, taucht mich in ein Farbenmeer,
hüllt meine Seele in goldenes Licht und bestickt ihr Gesicht mit Perlen,
die funkeln und schimmern und mich daran erinnern, nicht so viel zu denken,
sondern zu leben, euch Halt zu geben, da seh ich, wie unsere Seelen tanzen vor Glück,
sonne mich in ihrem Schein und mach mir gleichzeitig bewusst, dass ich euch ziehen lassen muss, jeden Tag ein Stück.
Doch ihr schreibt mit blauer Tinte in den Himmel, dass wir trotzdem zusammen weitergehen, auch wenn wir uns nicht immer sehen.
Dass unsere Seelen sich nacheinander sehnen, sich suchen und finden, miteinander verbinden.
Und in meinem Herzen bleibt für immer für euch ein Zimmer.

Kommt, lasst uns die Zeit genießen, die wir haben, uns in den Schlaf lachen und ein wunderbares Leben machen.
Zusammen weinen, verzeihen, staunen und fragen, uns gegenseitig tragen.
Und wenn ich alt bin, dann geht ihr euren Weg. Und ich werde ganz still,
weil ich den Nachhall eures Lachens hören will, mit dem ich meine Seele befüll.
Und es wird mir eine Gänsehaut machen, die Zeit überbrücken, bis wir uns wiedersehen.
Dann streich ich über euer Haar und bin voller Glück und Staunen, strahle im Herzen,
weil es das Beste in meinem Leben war, mit euch zu sein, und freu mich schon jetzt auf unseren nächsten Tanz, halt euch ganz fest und versprech bis dahin über euch zu wachen.

Ihr seid das Konfettibad für meine Seele
und in meinem Herzen die Wunderkerzen,
der Garantieschein dafür, dass ich mein Glück nicht verfehle,
doch den gibt es nicht ohne Sorgen und Schmerzen.
Ich lieb euch mehr als mich selbst und hefte meinen Blick
tagtäglich voller Stolz auf euch, bin fassungslos vor Glück.

Claudia Lüer

Diesen Text können Sie hier auch hören, gelesen von der Autorin.

www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow und unerHÖRT!| Inventarnummer: 22112

Windräder am Berg

Droben auf dem Kamm, da stehen sie. Aufgefädelt wie auf einer Kette, von Bergkuppe zu Bergkuppe sich schwingend, von Nord nach Süd sich kontinuierlich ausbreitend. Sie glitzern im Sonnenlicht und sagen: Wir sind da. Vor zwölf oder fünfzehn Jahren wurden die ersten von ihnen gesichtet. Damals wohnten wir noch in der Stadt, mein Mann und ich, wir kamen gelegentlich auf ein paar Tage bei den Eltern und Schwiegereltern vorbei und zogen wieder von dannen. Eines Sommers erblickten wir drei Exemplare, hohe schlanke Stelen mit gleichförmig rotierenden Flügeln.

Klein und niedlich sahen sie aus, in der Ferne. Hinter der Rundung eines Hügels schwebten sie über dem engen Tal. Man hätte meinen können, es bräuchte lediglich einen kleinen Spaziergang hügelaufwärts, und schon würde man Aug in Aug einem Windrad gegenüberstehen. Was für eine Illusion! Natürlich wussten wir, dass die Dinger in Wahrheit riesengroß, der Aufstieg durch Täler, Schluchten, steile Hänge hinan, lang und beschwerlich, kurz gesagt, dass alles ganz anders war, als es uns der Augenschein vermittelte. Wie aufregend! Dies waren die ersten Windräder, die man in dieser Gegend leibhaftig zu Gesicht bekam. Zwischen zwei beschaulichen Tälern hatte man sie platziert, auf dem Zug eines Mittelgebirges, sozusagen genau auf des Berges Schneide. Damals fand ich das eine gute Sache. Dort in der Höhe, weit weg, da störten sie niemanden. Wir brauchen die Windkraft, den ökologischen Strom. So weit alles gut.

Nun steht die Zeit freilich nicht still, auch nicht für Windräder. Erst recht nicht für die Windräder! Sie müssen wachsen, sich vermehren, und so sind zu den ersten drei Setzlingen immer weitere hinzugekommen, Stück für Stück. Sie haben sich ausgedehnt droben auf dem Kamm, wo vorher nichts war außer Friede und Wald. Für den Bau der gewaltigen Türme mussten neue Straßen angelegt werden, Bagger fraßen sich durch den Waldboden. Nachdem sie den jeweiligen Bauabschnitt gründlich planiert und plattgewalzt hatten, folgten die nächsten Konvois an schweren Maschinen: Sattelschlepper, um die Ringsegmente der Türme bergan zu karren, große Baukräne, um dieselben zu montieren und so weiter. Züge von Lastwägen quälten sich durch die kleinen Siedlungen im Tal, kletterten die frischgegrabenen Serpentinen hoch, und der Windpark wuchs … Auf einer Luftaufnahme habe ich eines Tages gesehen, dass mittlerweile eine regelrechte Autobahn über den Gebirgskamm verläuft, Windrad um Windrad verbindend, zig Kilometer lang. Ein Ende des Ausbaus nicht abzusehen, das ist das Problem, die hören einfach nicht mehr auf damit.

Und noch etwas hat sich verändert, etwas Wesentliches: Wir nämlich leben inzwischen wieder in unserer alten Heimat. Vor einigen Jahren sind wir zurückgezogen aufs Land, dorthin, wo wir herkommen. Wir haben jetzt unseren Wohnsitz genommen in dem größeren der beiden Täler. Seitdem ist der Wald gar nicht mehr so weit weg von uns, deshalb ist es auch nicht mehr gleichgültig, wie es in ihm aussieht. Wir nehmen wieder Teil an der Natur, seit wir zurück sind aus der Stadt. Das war uns ein Herzensanliegen – wir haben ja als Kinder viel Zeit verbracht im Wald! Jeder für sich, damals noch, jeder auf seiner eigenen Seite des Berges, denn kennengelernt haben wir uns erst etwas später. Aber in den Wald gegangen, das sind wir beide sehr gerne:

Mein Mann, der Naturbursch,

das Naturmensch, das bin ich.

Er geht zum Pilzesuchen, ich bevorzuge das Wandern.

Als ich wieder zurückgekommen bin in die alte Heimat, nahm ich die Wiederentdeckung meiner Kindheit in Angriff. Es war im ersten Frühjahr der Pandemie, als es Zeit gab und Muße im Überfluss. Genauer gesagt, fing ich damit schon im Winter an. Mit den Stöcken bewaffnet, begann ich im Tal auf vergleichsweise bequemen Strecken. Als der Schnee verschwand, zog ich meine Bahnen in die Höhe, die Hänge werden bei uns schnell einmal recht steil. Mit Genugtuung konstatierte ich, dass sich meine physische Kondition, einigermaßen, dem Gelände anpasste, so dass meine Touren immer ausgedehnter wurden und die Ausgänge länger. Ich tauchte ein in die Stille des Waldes. Von alten, bekannten Plätzen drang ich zu neuen vor, ließ mich treiben und vorwärtsziehen von der wachsenden Neugierde. Jede Wegbiegung das Versprechen auf eine neue Entdeckung. Das Schauspiel der wechselnden Landschaften, Hochwälder, Jungwälder und Brombeerschläge, Wiesen und Sumpf. Der Wandel der Vegetation im Jahreslauf. Immer weiter zog es mich. Nur nach ganz oben – dorthin wollte ich nicht! Droben auf dem Kamm, das wusste ich ja, da verläuft nun diese Autobahn, von Windrad zu Windrad walzt sie sich und sie ist gekommen, um zu bleiben. Für die Wartung der Anlagen wird die Straße gebraucht, da wächst nichts mehr zu, darf die Natur nicht mehr gnädig ihren Mantel über die aufgerissenen Wunden breiten. Die stille Magie des Waldes ist verschwunden, ganz oben.

Also suchte ich mir meine Wanderwege in den mittleren Lagen, wo es noch ruhig ist, der Lärm der Welt schweigt. Nur selten kreuzten andere Wanderer meinen Weg. Im Rucksack hatte ich stets eine zusammengerollte Decke dabei, und wenn es mir an einem lauschigen Plätzchen gefiel, so blieb ich für eine Weile. Einmal legte ich Halt ein auf einem stillgelegten Forstweg, es duftete nach Nadelgehölz und Sommer. Ich breitete das Plaid und mich selbst in der Sonne aus. Nach einer Weile hob aus dem Gebüsch ein Konzert an, ein fröhliches Zwitschern und Tirilieren. Es dauerte ein wenig, bis ich begriff. Der dichte Niederwuchs am Wegrand, er beherbergte Piepmätze in Scharen. Kurz waren sie verstummt, meinetwegen. Hatten indes offenbar beschlossen, dass von mir keine Gefahr ausging, und sie setzten ihr munteres Treiben fort. Was für ein herrlicher Sommertag, eingebettet in Wärme und Licht und Vogelsang …

Die Vögel

ohne uns Menschen

wären sie besser dran …

Im diesem Sommer sind weitere Windanlagen hinzugekommen. Der Windpark schreitet voran. Dort, wo wir sie zum ersten Mal erblickten, im kleineren der beiden Täler, reiht sich nun Rad um Rad, so weit das Auge reicht. Dieses Mal aber ist etwas Ungeheuerliches geschehen. Die Prozession der Windtürme – hat den Kamm überquert! Richtig im Geschwader sind sie angerückt, fast ein Halbdutzend von diesen glitzernden Ungetümen ist jetzt da. Sie stehen also auch schon auf unserer Seite. Und auf einmal sehen sie ganz nahe aus, mit ihren riesigen Schwingen.

Gewiss, sage ich mir, ist dies wieder nur optische Täuschung. In Wahrheit befinden sie sich ein ordentliches Stück entfernt, irgendwo da hoch oben halt.

Aber nein! ruft mein Mann. Die sind gar nicht mehr weit weg! Da geht er doch hinauf zu seinen Pilzen und auf einmal sieht er sich Aug in Aug mit einem Windrad – genau dort, wo der gute Pilzplatz war! Ich finde, das geht allmählich zu weit. Ich sage so: nichts gegen die Windräder, nur es sollten eben nicht gar so viele sein. Und schon gar nicht dort, wo ich wohne! Irgendwann ist es auch einmal gut. Ist das zu viel verlangt?

Ich laufe an gegen Windmühlen. Vor allem gegen die eigenen, im Kopf. Ach, wäre doch nicht alles so schrecklich kompliziert!

Ulla Puntschart
https://ulla-puntschart.jimdo.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 22109