Lob des Zornes

Herrlicher, heilsamer Zorn, wie gut, dass es Dich gibt. Du bläst als reinigender Sturm die dürren Blätter und den fauligen Mief des Lebens fort, Du gibst uns Kraft und Mut, das Notwendige oder Überfällige gleich herzhaft anzupacken und Entscheidungen zu treffen.

Wer sich schon lange Zeit zu nichts aufraffen konnte, wer müde/kraftlos/depressiv ist, dem verhilft der Zorn zu ungeahnter Energie – auf einmal geht einem von der Hand, was man so lange vor sich hergeschoben hat. Es wird etwas erledigt – und zwar gleich! Und siehe da, der Dreck beißt nicht, und die Bugwelle des Zorns schwemmt trübe Wehleidigkeiten und Kannichnicht und Gehtdochnicht glatt hinweg.

Wer sich wie ein Schaf aufführt, wird auch als solches behandelt und provoziert selbst seine Missachtung. Wer immer „JA“ sagt und sich anpasst, alles Unangenehme und Ungerechte hinunterschluckt, bis der Kragen platzt, der sagt im Zorn auch einmal die Wahrheit, brüllt seine Empfindungen hinaus, die von seiner Umwelt bislang nicht wahr – oder ernst genommen wurden, der stellt sich endlich auf die Hinterbeine und ist auf einmal jemand, den man nicht mehr so leicht herumschubsen kann!

Wenn etwas nicht geht, wenn man sich auf etwas verlassen hat und es platzt ohne eigenes Verschulden, was auch immer – wenn man einen Zorn bekommt, beginnt plötzlich ein alternativer Denkprozess zu laufen, da sieht man die Dinge auf einmal auch von anderen Seiten, da gibt es auf einmal auch neue Lösungen oder Wege zum Ziel, an die man vorher nicht gedacht hat, da kann es sein, dass man wie von selbst mit Leuten ins Gespräch kommt, die man vorher nicht wahrgenommen hat, da ist wieder die ganze Welt offen, da löst sich die bisherige Betriebsblindheit in Luft auf und das Problem erscheint gesamtheitlich in neuem Licht.

Und ganz wesentlich: In zorniger Unterhaltung sagt man nicht nur mit wünschenswerter Deutlichkeit etwas, sondern da bekommt man ebenso deutlich Tatsachen und Umstände zu hören, die man bisher nicht wusste, nicht wahrgenommen oder deren Gewicht und Zusammenhang man als unwesentlich weggewischt hat. Da werden auch die eigenen Fehler, Versäumnisse und falschen Einschätzungen besprochen und klargelegt, und dass zu vielen Sachen zwei oder mehr gehören, und dass nicht alles selbstverständlich und ausreichend ist, was man bisher dafür gehalten hat. Und dass man auch die zarten Pflänzchen „Rücksicht, Verständnis und Entgegenkommen“ fallweise zu gießen vergessen hat. Zorn ist oft genug ein heilsamer Tritt in den eigenen Hintern, im wahrsten Sinn des Wortes ein Anstoß nicht nur zum Tun, sondern auch zur eigenen Erkenntnis!

Überdies: Fallweise ein erfrischendes Gewitter ist auch für die Partnerschaft ein Segen – da wird einmal „ausgemistet“, da werden gestaute Missverständnisse aus­geräumt, dann ist die Luft wieder rein, man fühlt sich erleichtert. Und wenn das Blut in Wallung ist und kleine Flämmchen aus den Augen sprühen, wird der/die PartnerIn attraktiver gesehen und intensiver gespürt. Die schönsten Versöhnungen sind doch die im ... (oder sonstwo). Und beim vertraulichen Duett danach kann auf einmal ohne Vorbehalte und gutwillig über wirklich alles gesprochen werden.

q.e.d.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 15013

image_print

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert