Mein Leben mit A.

Es waren zwei Figuren, die der eher naiven V., die ebenso sicher ihren Platz im Wiener kulturellen Leben zu verteidigen wusste, als auch A., die es eher verkrampft, aufsteigerisch dazu bringen wollte: der Drang über anderen stehen zu wollen, kulturell, intellektuell, moralisch. Nichts auslassen zu wollen: Kultur als eine Möglichkeit, das Leben ändern zu wollen. Ebenso nahbar wie andererseits unnahbar.

Ich hätte mich nicht mehr erinnern können, wann der Regen begonnen, noch, wann er wieder aufgehört hatte. Die Situation, die – historisch betrachtet – auch als Brautlauf betrachtet worden war: Sie zur Rechten, ich zur Linken. Ich den Regenschirm haltend, wortlos.

Das eigentlich Sonderbare war die Abwesenheit von wechselseitiger Aggression, also auf beiden Seiten, und vielleicht hätte ich die Sicht der anderen Person doch kennenlernen müssen.

Denn siehe, der Winter ist vorbei, die Regenzeit ist vorüber, ist vergangen.

Nicht einmal das genaue Aussehen ist ihm geblieben außer den dunklen Haaren, und als er später einmal ihr Gesicht auf einem Foto gesucht hat, ist er erschrocken, dass er nichts mehr finden konnte. Die erste nicht wahrgenommene Gelegenheit.

Was mir noch an ihr aufgefallen war seit unseren ersten Gesprächen: Sonnenbrille, ein neongelbes Kapuzenshirt und ein abgeschnittenes bonbonfarbenes Stück einer Gardine, das sie damals darunter getragen hat, gewissermaßen als Rock: „Ganz so irre dürfen Sie sie sich auch nicht vorstellen“, sagte ihre Mutter einmal, sie habe schon ein gewisses Niveau, und wenn sie in eine Aufführung geht, dann ist alles in bester Ordnung, dann ist sie äußerlich wahnsinnig gepflegt. Dazu kommt noch die Schönheit unbefangener Gespräche: Sie war darin Weltmeisterin.

War diesen Gesprächen aber nicht immer auch zu eigen, dass in ihnen vor allem die Langeweile erstarb, welche den Ich-Erzähler durch das Aufwerfen der Fragen und Gedanken, die sie immer und immer wieder vor sich hergetragen hatte, aber den anderen um sich herum verschwiegen hätte?

Belanglosigkeiten. Mit Belanglosigkeiten provozieren. Die Kunst, dass einem dies auch gelang.
Eigenartig, dass sich ein solches Entsetzen über Beiläufigkeiten manchmal wiederholen konnte. Theoriebildung auch über die am weitesten hergeholten Ereignisse:

Der Tiananmen-Jahrestag war vorgestern, darauf muss man aber auch erst mal kommen, und wenn die Chines/Innen vielleicht etwas mehr Glück gehabt hätten, so sagte es mir gestern wieder A., wer weiß, ob die Europäische Gemeinschaft nicht längst schon den Laden dichtgemacht hätte. China ist halt anders. Bei uns legitimiert sich die Macht der Politiker/Innen daraus, dass wir alle vier Jahre auf einen Zettel ein Kreuz zeichnen können, in China müssen die Politiker/Innen halt Leistung bringen, um ihre Legitimität zu bestätigen: Arbeitsplätze, Wirtschaftswachstum, Kindergartenplätze und so weiter. Ich finde diese Situation aber surreal. Denn obwohl sich viele Städte der Millionengrenze genähert haben, werden rasch Zweifel an ihrer Urbanität laut. Denn, wenn der/die geneigte Leser/in ebenfalls schon einmal in den Genuss eines Besuches westlicher Metropolen gekommen wäre, würde er/sie wahrscheinlich sehr schnell bemerken, wenn er/sie dort einmal gezielt nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden Ausschau hielt, dass letztere dann doch überwiegen dürften. Vielleicht hätte es ja etwas damit zu tun gehabt, es kann aber überhaupt nichts damit zu tun gehabt haben. Den Genuss des anderen stehlen, indem der Nichtgenuss des anderen genossen wird.

Sicher, wie Lilien blühen nur Lilien und war es nicht endlich an der Zeit, sich diese botanischen Metaphern ein für alle Mal abzugewöhnen?

Obwohl ich sie seit Längerem kannte, war unsere Nähe stets eine ambivalente – ich kann nicht dichten, das ist es. Und wenn ich diesen Raum noch einmal mit meinem inneren Auge betrachtete, dann ist mir dieser Moment immer noch so starr eingefroren da oben. Es erhob sich plötzlich ihre Stimme […] meine unbeschreiblich große Distanz zu diesem Menschen …

Sicherlich wäre es für seinen Charakter erbaulich gewesen, sich mit dem verschmutzten, seit dem letzten Winter vom Schimmelpilz befallenen hölzernen Klappgartentisch auseinanderzusetzen, aber nicht jetzt. Um 2:45 Uhr ein Taxi gerufen, zu Fuß nach Hause wäre jetzt nicht mehr möglich gewesen. [Auch eine Möglichkeit: der Dachboden; was früher hier passiert ist, interessiert keinen.]

Als wäre es das schon gewesen, sagte ich, bevor ich von ihr ging, dass ich nicht die Absicht gehabt hätte, hier meine Arbeit fortzusetzen, und irgendwann würde mir dies auch mit Sicherheit furchtbar leidtun, aber so weit sei ich gerade gefühlsmäßig noch nicht gekommen. Sie sollte das zu verstehen versuchen und ohne mich eine Lösung finden. Aber vielleicht wollte ich es ja gar nicht, so sehr hätte mich allein der Gedanke, dass meinem Gegenüber durch diese Bestrebungen alles zuwiderlaufen würde und sich der Graben zwischen uns beiden noch mehr auftun würde, aus meinen Tagträumen reißen müssen. Leider war diese Idee in meinem Kopf noch viel zu lebendig, als dass ich mich kurzfristig hätte davon losreißen können. Ich hoffte ja auch, endlich von dem Druck befreit zu sein, der sich jahrelang in meinem Inneren angestaut zu haben schien und den ich jetzt in einen gewaltigen Schlussakkord überführen wollte, gleichgültig, ob dessen Ergebnis gut oder schlecht ausfallen sollte. Wie in einem süßen Traum: Alles schien zu gelingen, du scheinst dich wohlzufühlen, du kannst dein Glück noch nicht fassen, bist aber dennoch ständig getrieben, eine Kleinigkeit erledigen zu müssen, bevor du dein Glück genießen darfst. Und dann ist es meistens auch schon wieder zu spät.

Ausbilden: Einen Menschen aus ihr machen, vielleicht war das mein Plan und sie auch dazu bringen, wo er sich nie sehen konnte: Verwirklichen all die hehren Gedanken, die er mit sich herumgetragen hatte …

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24070

image_print

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert