Die weinende Krähe – Begegnung im November

Am Allerseelentag bog Sebastian – von der Heiligenstädter Brücke kommend – in die Anton-Bosch-Straße ein und ging, entlang der Gärten zwischen Karl-Marx-Hof und dem erhöhten Gleiskörper der U4, vorwärts zur Station Heiligenstadt. Es war ziemlich kalt und windig, der Frühnebel lichtete sich gerade. Da saß auf einem der Bäume eine Krähe und krächzte ziemlich laut und anhaltend. Sebastian hielt an, denn irgendetwas an diesem ohrenkratzenden Geschrei war anders, er konnte nur nicht sagen was. Krähen krächzen oft genug, es ist ein unangenehmes Geräusch. Warum aber so durchdringend?

Er sah hinauf: Der Vogel saß auf einem unteren Ast und schrie ununterbrochen. Irgendwie tat er ihm leid, also öffnete er seine Tasche, riss ein Bröckerl seines Jausenbrotes ab und warf es ihm hin. Aber die Krähe reagierte überhaupt nicht darauf. Und dann sah er – am Rasen neben dem Baumstamm – eine zweite Krähe liegen. Offenbar noch nicht lange, der Vogel war noch glänzend sauber und ganz. Also das war’s. Er erinnerte sich, gehört oder gelesen zu haben, dass die Rabenvögel in lebenslanger Einehe leben. Jetzt trauerte der Überlebende um den Gefährten. Sebastian vermeinte nun in der rauhen Stimme den Schmerz, das Weinen des Verlassenen herauszuhören, seine Totenklage.

Es fiel Sebastian ein, dass die Raben als Totenvögel galten, ja verrufen waren. Und dass sich seinerzeit im britischen Tower wohl deshalb eine Kolonie von ihnen ansiedelte, weil bekanntlich in der Zeit der englischen „Weltherrschaft“ und der Intrigen am Königshof ein britischer Henker selten arbeitslos war und somit den Raben oft genug eine schmackhafte Leiche zur Verfügung stand bzw. hing. Vermutlich bedeutete die alte Weissagung, dass es mit dem Reich zu Ende gehen würde, wenn es dort keine Raben mehr gäbe (d.h. wenn dessen imperiale Interessen nicht mehr mit allen Mitteln, auch durch brutale Beseitigung der Feinde = „Rabenbraten“, verfolgt würden), genau das.

Aber die Rabenvögel (zoologische Familie) waren auch – neben der Eule – die Vögel der Weisheit und Botenvögel. Der germanische Gott Odin umgab sich mit ihnen, in vielen Sagen und Märchen kommen sie vor. Und wer wollte so einem Tier, das auch als klug und gelehrig gilt, das ein ausgeprägtes Sozialleben hat und immer in der Gruppe lebt, Gefühle absprechen? Dass die „Rabeneltern“ ihre Jungen im Stich lassen, ist ein dummes Märchen – richtig ist, dass ein Rabe seine Jungen auch unter eigener Lebensgefahr schützt.

Sebastian jedenfalls tat der Vogel leid, er fuhr in richtiger Allerseelen-Stimmung zum Friedhof. Und jedesmal, wenn er Krähen sieht, denkt er an dieses Erlebnis.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 23135

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3 Gedanken zu „Die weinende Krähe – Begegnung im November

  1. Claudia Dvoracek-Iby

    Beobachtungen dieser Art gehören wohl zu den wesentlichsten Gründen, weshalb viele von uns schreiben (müssen)...

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    1. Mag. Robert Müller

      Wohl wahr, liebe Kollegin - und immer noch besser als ewig auf die kussfaulen Luder von Musen zu warten. Danke für "teilnehmende Anerkennung".
      PS: Eine Fam. Iby war jahrzehntelang meine Quelle für den guten mittelburgenl. Baufränkisch.

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      1. Claudia Dvoracek-Iby

        Es wird ja gemunkelt, dass so manche Muse einem guten Glas Rotwein nicht abgeneigt sein soll..
        Ps: Quelle in Horitschon? Verwandte von mir..

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