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Etwas zur Blauglocke

Der Garten hat uns verändert. Eigentlich ist es kein Garten, sondern das Gelände einer stillgelegten Gemüse-Konservenfabrik in einem westlichen Wiener Bezirk.

Jetzt, da der Frühling kommt, liege ich öfter bei geöffnetem Fenster und da sowohl der Straßenverkehr als auch meine Berufstätigkeit stark abnahmen, umfängt mich ein wohltuend betäubender Frieden. Ich lausche den Vögeln und atme unsere Pflanzen.

Ab und zu verfällt eine alte Werkshalle, die müssen wir dann räumen. Dadurch entsteht neuer Boden, den wir freistemmen, und wir erkennen langsam, wie groß das Gelände ist.

Hier wohnen noch: die Nachkommen des Fabrikanten, deren Kinder, drei Katzen und ich. Ich wollte hier eigentlich nur vorübergehend wohnen.

Als ich hier vor Jahrzehnten in eines der leeren Betriebsgebäude einzog, war das Viertel so gut wie tot. Die Ruhe hier machte uns allen Angst. Wir stellten die Boxen in die Fenster, luden Bands ein, grillten, redeten laut und viel und lernten uns alle nicht kennen. Wir tanzten auf den alten Werkshallen, bis die Dächer einbrachen. Das alles war dann nach der Jahrtausendwende vorbei.

Um 2008 herum tauchten die ersten Blumentöpfe auf. Erst kleine, unbedeutende Zierblumen, dann Küchenkräuter und diverse Strauchartige. Ein paar Jahre später kam es zu massiven Oleandern und Magnolien, schließlich Rosen. Vorerst alles in Töpfen. Keiner wusste, woher. Es fragte auch keiner.

Wir begriffen: jede Pflanze ein Schritt aus der Depression. Wir lernten bald, unsere Hochbeete vor den Katzen und streunenden Hunden zu schützen, indem wir Zweige quer über die errichteten Holzkästen legten. Wir lernten, Fässer unter die undichten Regenrinnen zu stellen, unweit unserer Gemüsepflanzungen. Wir schärften unseren Blick auf die Wolken und ihre Bedeutung.

Wir pflanzten bald direkt im Boden. Während uns das Interesse an unserem Berufsleben ungewollt verloren ging, stellten wir allgemeines Wachstum fest. Während der immer heißeren Sommer ließen sich Neulinge bei uns nieder: Die Chinesische Blauglocke, ein besonders wuchsfreudiger Baum, der violett blüht, bevor er massive Blätter anlegt, fällen wir nicht mehr. Sie liegt den Katzen am Herzen. Sie trauerten an den verbliebenen Stümpfen.

Dadurch aber bricht die Chinesische Blauglocke vermehrt durch unsere Mauern. Sie wächst dort am liebsten. Zwei schon unserer Mauern fielen in die benachbarten Höfe. Von dort wird uns seither diverser Müll über die Mauerreste geworfen: Küchensäcke, Bestandteile alter Kühlschränke, Schnapsflaschen.

Oder ist dieser Müll immer noch die Rache unserer gekränkten Katzen? In unseren Träumen erobern wir diese Höfe und erweitern unseren Garten. Doch dann fehlt uns dazu die Lust.

Wir merken, wie wir immer ruhiger werden und uns das Interesse an der Außenwelt abhandenkommt. Auch die immer selteneren Besucher beruhigen sich bei uns sofort. Sie sagen, dass sie sich bei uns an etwas erinnert fühlen, das ihrer Kindheit fehlt.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 21076

 

Der Traum das Leben

Ich liege im Bett. Ich mache meine Augen auf. Damit ist der Schlaf verschwunden. Gleich bemerke ich, dass ich nicht zuhause bin, ich bin aber auch in keinem Hotel. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Und es stellt sich auch die Frage, welche Zeit gerade herrscht, denn die Gegenwart, in der ich eingeschlafen bin, ist es nicht. Es könnte in den 1970er Jahren sein. Ja, vielleicht ist es das wirklich, ich bin noch ein Kind, und mein bisheriges Leben habe ich nur geträumt.

free your mind.

free your mind.

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 21068

Ein Märchen

Es war einmal ein König, der in einem Traum gesagt bekommen hat, dass eine seiner beiden Zwillingstöchter ganz dumm und liederlich, die andere hingegen klug und geizig sei. Da sich die Prinzessinnen glichen wie ein Ei dem anderen, sei es ihm jedoch bis zu deren Hochzeit verwehrt, herauszufinden, welche die schlauere und welche die dümmere sei.

Der König beschloss nun, seine Töchter einer Prüfung auszusetzen, um herauszufinden, welche von beiden die tüchtigere und klügere sei. Diese dürfe dann die Erbfolge antreten, einen schönen, klugen und reichen Prinzen heiraten und bis an ihr Lebensende glücklich sein. Der König gab beiden jeweils einen Sack mit tausend Goldstücken, was beinahe sein gesamtes Vermögen darstellte, beide durften damit machen, was sie wollten, und mussten ein Jahr voneinander getrennt auf Wanderschaft gehen und nach der Rückkehr berichten, was sie mit dem Geld gemacht hatten.

Da die Klügere der beiden die Absicht ihres Vaters erahnen konnte und zudem ihrer Schwester neidete, sie wäre die Sparsamere von beiden, beschloss sie, ein ganzes Jahr lang im Wald zu leben, Pilze zu sammeln und kein Geld auszugeben. Die Leichtgläubigere der beiden Schwestern lebte hingegen in Saus und Braus und hatte schon nach einem halben Jahr das ganze Geld verjuxt.

Die andere Schwester war aber in dieser Zeit schon von den Wölfen aufgefressen und der Sack mit den Goldstücken von Räubern im Wald geplündert worden. Als Strafe für seinen Aberglauben und sein Misstrauen musste der König fortan mit seiner törichten Tochter ein karges und trauriges Leben führen.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques| Inventarnummer: 21066

Alles blüht

Irgendwann ist mein Leben stehen geblieben: Wenn man die ersten vierzig Jahre lebte und die nächsten vierzig Jahre das Leben verstand, war das bei mir schon nach zwanzig Jahren der Fall. Und was mich am meisten beschäftigte, waren die vielen verpassten Chancen in den ersten Jahrzehnten meines Lebens. Ich wurde am Neujahrstag 1978 geboren. Mein Gedächtnis setzt aber erst eine ganze Weile später ein. Ein Kind, das am Beginn eines neuen Jahres geboren wird, ist zwar in vielen Kulturen ein Zeichen der Hoffnung oder der Auferstehung, aber ich bin nichts davon. Vielleicht war mein Leben ein ewiges Neujahr, und ich konnte weder zurück an den Anfang noch an das Ende. Wird mein Todestag auf Silvester fallen? Wer weiß? Ich jedenfalls glaube nicht an Wunder und auch nicht an Zufälle.

Nun bin ich vierzig Jahre alt und habe, wie gesagt, zwanzig Jahre des Lebens und zwanzig Jahre der Reflexion hinter mir. Was in den kommenden vierzig Jahren sein wird, weiß ich noch nicht. Vielleicht beginnt dann alles wieder von vorne oder etwas Neues, Unerwartetes geschieht. Ich hoffe noch immer auf eine alles verändernde Begegnung mit einem anderen Menschen oder auf das Wiedersehen, wäre ich diesem Menschen schon einmal früher begegnet und hätte nichts von der Bedeutung unseres Treffens gewusst.

Als Sechzehnjährigen bewegten mich Gedanken an solche Begegnungen noch nicht. Erst Jahre später, als die Erinnerung verblasst war, kamen die Gedanken wieder hoch. Es waren die Jahre, in denen ich nachts immer vorm Fernseher hing. Die Handlungen in Filmen hielt ich für Vorahnungen auf mein Leben als Erwachsener. (Hatte ich damals schon einen Lieblingsschauspieler oder kannte ich einen guten Regisseur? Wohl eher nicht!)

Beruflich hatte ich später die Laufbahn als Journalist eines kleinen Nachrichtenmagazins eingeschlagen und war häufig im Ausland unterwegs. (Mir kamen die Landungen des Flugzeugs oft vor wie kleine Geburten: mal sanft und äußerst angenehm, manchmal abrupt und manchmal war ein Unwohlsein da und man wünschte sich, einige Minuten nach der Landung wieder in den Bauch des Flugzeuges zurückkehren zu dürfen. Auf diese Weise wurde ich wohl einige dutzendmal wiedergeboren, scherzte ich manchmal.)

Vor meiner letzten Dienstreise schrieb ich Anja, einer Bekannten aus meiner Schulzeit, ein SMS: „Du kannst mich ruhig einen Clown nennen, aber weil du dich in der elften Klasse einmal so lange mit mir unterhalten hast, dachte ich, du hättest Interesse an mir gehabt, jedenfalls damals. Die Schulzeit ist schon eine Weile her und es kann sein, dass du dieses Treffen und mich schon lange wieder vergessen hast. Aber ich muss dir sagen: Ich war damals anders und so bin ich heute nicht mehr. Wie gerne würde ich dir schreiben, dass mir dieses Treffen gefallen hat und ich angenehm überrascht gewesen bin, mit dir diskutieren zu können, auch wenn du ganz anderer Meinung als ich gewesen bist.“

Nach kurzer Zeit hatte ich das SMS wieder vergessen und bereitete mich auf die Reise vor, indem ich die Preise der Fluggesellschaften verglich, beim günstigsten Ticketpreis zuschlug und inzwischen auch meine Koffer gepackt hatte.

Zweck der genannten Reise war ein Treffen mit einer Schriftstellerin. Es handelte sich allerdings um eine bei uns wenig bekannte Autorin, die in ihrem Heimatland zudem mit einigen Jahren Schreibverbot sanktioniert worden war und nur – halb in die Illegalität gezwungen – ihre Bücher über Mittelsmänner im Ausland veröffentlichen konnte.

Nachdem ich ihre Adresse, die sie verständlicherweise nur den wenigsten Leuten weitergibt, gefunden und mit ihr einen Termin ausgemacht hatte, traf ich sie in ihrer ganz beträchtlichen Privatbibliothek und machte mit ihr ein Interview. Ich begann zuerst mit allgemeinen Fragen, ob sie als Schriftstellerin, die keine Bestseller und auch keine Krimis schreibt, überhaupt beim Publikum Gehör findet; woran die moderne Gesellschaft krankt und ob es überhaupt noch große Provokationen in der Literatur gäbe. (Das Politische klammerte ich so weit es ging in diesem Gespräch aus.) Sie antwortete mir, die Welt müsse wieder einen Sinn haben, wir bräuchten etwas Größeres, Erhabeneres, für das es sich zu leben – und falls es sein muss, zu sterben – lohne. Die großen Erzählungen, Homer, Vergil, Dante und so. Außerdem bräuchte unsere Welt wieder einen Sinn für das Phantastische. Ja, genau: „Wir brauchen eine zweite Romantik ...“ Mir ging ihr kluges Gefasel zwar schon jetzt gehörig auf die Nerven, aber ich durfte mir nichts anmerken lassen, schließlich war ich ja nicht als Privatperson, sondern dienstlich hier. Sie fuhr weiter fort:

„Der Held meines neuen Romans kann sich nicht so recht entscheiden zwischen einer bürgerlichen Laufbahn oder einer Künstlerkarriere. Er fühlt sich zu etwas Höherem berufen, muss aber mit irgendetwas sein Geld verdienen und möchte – verständlicherweise – ein Haus, Auto und Familie mit Hund und allem, was dazugehört. Das bringt ihn natürlich in einen Gewissenskonflikt – man könnte fast sagen, in ein Dilemma: Denn wie er sich entscheidet, er kann sich nur falsch entscheiden. Machte er das eine, kann er das andere nicht machen und umgekehrt ... Aber, durch einen erzählerischen Trick versuche ich, dass beides funktioniert, ich habe bereits beide Lebensentwürfe ausgearbeitet. Ich will zeigen, dass es doch möglich ist ...“

„Wie das?“, fragte ich erstaunt.

„Ich habe überlegt, einen Werdegang zu erzählen, und den anderen z. B. in den Fußnoten gleichberechtigt zu erzählen. Ich weiß aber noch nicht, welcher Lebensweg in den Haupttext und welcher in die Fußnoten kommt.“

„Sie glauben ehrlich, dass das geht: den einen Lebensweg leben, aber die andere Option, die ja im Extremfall das genaue Gegenteil sein kann, kann man gleichzeitig auch leben?“

„Genau. Man müsse nur wollen und natürlich wissen, wie es geht.“

„Und was muss man genau wissen?“, fragte ich neugierig.

„Das habe ich mir noch nicht genau überlegt. Aber ich denke, man muss nicht alles tatsächlich leben. Es reicht doch auch, wenn man Dinge nur symbolisch tut.“

„So wie ich eine Lederkluft zuhause habe, die ich nur einmal getragen habe, weder Gitarre spielen kann noch einen Motorradführerschein besitze.“

„Genau das meinte ich mit: symbolisch.“

„Ich wollte auch immer Schriftsteller werden. Ich habe deshalb auch Publizistik studiert. Meine Vorbilder waren ... lassen Sie mich kurz nachdenken: Kafka und Hesse. Aber jetzt bin ich Journalist und denke, jetzt im Nachhinein war es die bessere Entscheidung.“

Die Schriftstellerin schlug vor, zum Abschluss des Interviews in ihre Stammkneipe zu gehen und uns zu betrinken, die Zeche gehe auf ihre Kappe. Als wir uns auf den Weg begaben, blühten auf den Alleen die Kirschbäume. Menschen kamen uns entgegen, alte, junge, Familien mit Kinderwägen. Sie finde in dieser Stadt alles, was sie für ihre Romane bräuchte, sagte sie beiläufig, alte Kalender, Groschenromane, überall fände man heutzutage Anregungen. Vor einem Gebäude sah ich eine Menschenansammlung, Fähnchen in den Landesfarben, laute Sprechchöre. „Sie demonstrieren hier gegen unsere Regierung und unseren Präsidenten. Er ist aber bei den meisten Menschen in diesem Lande sehr beliebt. Wissen Sie, politisch ist für jeden was dabei. Vom 'Nationalromantiker' bis zum Altanarchisten. Jeder kann sich was aussuchen von seiner Ideologie, wie gesagt: Für jeden ist etwas dabei. Und er ist sehr sprachbegabt, einfache, wirkungsvolle Sätze. Inszenierte Fototermine. Meistens mit Kindern. Das wirkt. Und das macht ihn auch so gefährlich. Jedenfalls für uns Intellektuelle.“ Tränengas. Die Menge wurde auseinandergetrieben. Wir änderten unsere Pläne und kehrten zu ihrer Wohnung zurück. Sie zitterte am ganzen Leib und holte eine Flasche Whisky aus einem Schrank. „Das ist die Wirkung des Tränengases. Zudem bin ich Asthmatikerin, das macht es doppelt schlimm“, sagte sie nachdenklich. Wir prosteten uns beide zu, ich verlor den Faden und schlief ein, erst am nächsten Tag erwachte ich in meinem Hotelbett wieder.

Was dann am nächsten Tag geschah, nachdem ich aufgewacht war, überraschte mich außerordentlich: Ich merkte, dass ich anscheinend auf einer Party gewesen sein musste. Mein Diktiergerät, mit dem ich das gestrige Gespräch mitgeschnitten hatte, war gelöscht. Ich kleidete mich daraufhin hektisch an und beschloss, zu meiner Schriftstellerin zurückzukehren. Im Frühstückssaal des Hotels nahm ich neben einem alten Ehepaar Platz. In der Eile fiel mir der Teller mit den Käsescheiben herunter und zerbrach in tausend Stücke. Ich sagte: Das ist doch kein Weltuntergang! Wobei das alte Ehepaar dermaßen in Rage geriet. Ich muss wohl eine Vorahnung für den Tod in ihnen geweckt haben.

Also nahm ich nach dem Frühstück ein Taxi und ließ mich zur Wohnung der Autorin fahren. An ihrem Türschild prangte nun das Logo der Regierungspartei. Ich klingelte, aber niemand ließ mich in die Wohnung. Resigniert kehrte ich zurück zum Hotel. Dort packte ich meine Siebensachen, kramte mein Rückflugticket hervor und stieg vor dem Hotel in die hinterste Sitzbank des Hyundai-Starex-Kleinbusses, der mich zum Flughafen bringen sollte.

Auf der Fahrt fuhren wir über eine kurvige Gebirgsstraße. Ein Tunnel nach dem anderen. Mir kam das Licht wie eine Vorahnung auf den Tod vor. Gleich würde es passieren, dachte ich. Ich erinnerte mich an meine Kindheit, wie ich zu den Großeltern gefahren bin und wir genau so einen Tunnel passierten. Dazwischen wurde es wieder hell, als wir aus dem Tunnel herausfuhren. Nach jedem Tunnel fühlte ich mich um einige Jahre jünger und irgendwann musste ich den Status wie vor meiner Geburt erleben. Und ich fühlte eine seltsame Vorfreude: Warten auf die Geburt. (Oder war es die Wiedergeburt?) Was kommt nach dem Tod? Ist dann alles schwarz? Fegefeuer? 72 Jungfrauen? Das weiß niemand!

Plötzlich meldet mein Smartphone ein SMS. Anja hat geantwortet: „Ich nenne dich ruhig einen Clown. Aber das war doch zu flüchtig, um in Erinnerung zu bleiben, oder? Ich meine, ich habe das Ganze inzwischen vergessen. Womit beschäftigst du dich sonst noch? Ist denn damals nichts anderes passiert? Ich bin inzwischen glücklich verheiratet und habe drei Kinder. Dein Leben muss ganz schön fad sein, nicht wahr. In alten Erinnerungen schwelgen. Hast du sonst kein Leben oder warum hast du ausgerechnet an mir so einen Narren gefressen?[1]

Das ältere Ehepaar auf der Sitzbank vor mir schien indessen immer älter zu werden. Nach der letzten Fahrt aus dem Tunnel war das Ehepaar eingeschlafen und rührte sich nicht mehr.

In diesen Minuten verpasse ich meinen Flug. Ich habe vor langer Zeit einmal einen Film gesehen, in dem jemand einen Flugzeugabsturz überlebt, aber dermaßen traumatisiert ist, dass er glaubt, er sei bereits tot und nur noch als Geist auf der Erde, und somit verliert er auch jede Angst. Es vergeht eine halbe Ewigkeit, in der der Kleinbus von Tunnel zu Tunnel rast.

„Du bist schon tot. Das ist die letzte Reise“, höre ich meine innere Stimme. „Ich bin der Tod. Du weißt nicht, dass du schon tot bist.“

Nach dem kurdischen Kalender ist der heutige Tag der Beginn des neuen Jahres.

Neujahr. Neujahrsfeiern. Alles blüht.

 

[1]    Zur selben Zeit kommt der Erzähler andernorts am Flughafen an. Nach einem kurzen Aufenthalt im Wartebereich geht er nach Aufruf mit seinem Gepäck und Ticket zum Check-in-Schalter. Eine merkwürdige Vorahnung macht ihm bewusst, dass es auch anders hätte sein können: Erlebte er nicht auf der Fahrt zum Flughafen ein seltsames Déjà-vu? Schien es nicht so, als ob das alte Ehepaar immer jünger geworden sei und sich schließlich bei der Ankunft am Flughafen geweigert hatte, aus dem Wagen zu steigen, sondern darauf bestand, wieder zum Hotel zurückzukehren und die Reise zu verlängern. Kam nicht wieder ein mulmiges Gefühl, von wegen: Flugzeugabsturz und was wäre wenn, auf? Gerade in diesem Moment erreichte ihn ein SMS von Anja: „Ich kenne dich eigentlich nicht, und dieses Ereignis ist schon über zwanzig Jahre her, aber was soll’s. Du hast mir geschrieben, also schreibe ich dir: Dein SMS zeigt, dass du so ein großes Interesse an mir haben musst, das zudem auch noch ernsthaft ist, dass ich nicht Nein sagen kann. Ich bin seit einigen Jahren eine mittelmäßig erfolgreiche Schriftstellerin. Merkwürdig: Es kommt mir so vor, als hätte ich vor kurzem jemanden getroffen, den ich für den Verfasser dieses SMS hielt. Warst du vor kurzer Zeit im Ausland ...“

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques| Inventarnummer: 21058

Der Zettel

Jakob musste zur Bibliothek an der Uni. Er brauchte das Werk „L’ordre du discours“ von Foucault, um ein Einführungsseminar zur Semiotik für die Studierenden des ersten Jahres vorzubereiten.
Jakob liebte seine Stelle als Assistent der Professorin Dubois und träumte immer wieder von dem Tag, an dem er als Professor seine erste Lektion halten würde. Die Universität war seine Welt, er konnte sich keine andere vorstellen. Er lebte in einer Einzimmerwohnung neben der Bibliothek, wo er praktisch nur schlief. Er verbrachte sonst den ganzen Tag an der Uni: Er frühstückte immer um 07:30 mit Madame Dubois in der Cafeteria, aß mit Thomas und Britta, die ebenfalls als Assistenten arbeiteten, in der Mensa zu Mittag und Abends nahm er eine Kleinigkeit allein an der Studentenbar in der Eingangshalle zu sich.
Dort begegnete er dem einen oder anderen Studierenden, die sich gerne mit ihm unterhielten. Er war sehr beliebt mit seiner zurückhaltenden und humorvollen Art, und seine Seminare waren immer spannend, da ihm die Liebe für die Wissenschaft anzusehen war.
Jakob war selbstsicher, ohne überheblich zu sein, sein Humor bewahrte ihn vor jeglicher Hochmütigkeit.

Es war ein verregneter Tag, die Regentropfen klopften an die großen Fenster der Lesesäle, wie unzählige winzige Finger, die die Schwelle zu einer neuen Welt öffnen wollten. Jakob bewegte sich wie ein Kater zwischen den Regalen, er schmiegte sich an die Werke, roch die Blätter und konnte fast aufgrund der Art des Papiers das Alter des Buches erraten.
„L’ordre du discours“ war noch weit weg, Jakob irrte zwischen den Romanen umher und plötzlich wurde er von einer eleganten Frau gelockt. Die Haut war hell und leuchtete, in ihrem Gesicht glühten dunkle und asymmetrische Augen, während die Ohrringe einen geschmeidigen Hals betonten.
Jakob streichelte das Gesicht, das auf dem Buchdeckel des Werkes „Die Glut“ von Sándor Márai die Leser lockte. Es war eine neue Ausgabe, das Papier des Buchdeckels war glatt wie Seide. Jakob öffnete langsam und vorsichtig das Buch, er wollte es nicht zu weit aufklappen. Er steckte die Nase in die Mitte und roch einen zeitlosen Duft. Die Seiten waren Flügel eines Kolibris, er berührte sie entzückt.

Ein leises, fast unhörbares Geräusch von Papier, das auf den Boden fällt. Jakob schaute nach unten uns sah einen roten Zettel. Er sah wie ein Blutstropfen auf einer Leinwand aus. Ein Tropfen, der immer größer und flüssiger werden konnte. Jakob war von seinen Assoziationen überrascht und spürte gleichzeitig Anziehung und Furcht vor diesem Zettel. Er barg vorsichtig das rote Stück Papier. Er hatte das Gefühl, eine Blume mit einer Wespe in den Händen zu halten.
Jakob öffnete es und las: „Und wären wir keine Freunde gewesen, wäre ich nicht anderntags in deine Wohnung gegangen, in die du mich nie eingeladen hattest, wo du das Geheimnis wahrtest, das Böse, unverständliche Geheimnis, das unsere Freundschaft vergiftete.“

Jakob hörte fast die tiefe und vorwurfsvolle männliche Stimme, die diese Worte aussprach. Er sah sich plötzlich in einem großen mit Kerzen beleuchteten Saal, auf einem Sessel vor einem Kamin, in dem ein unruhiges Feuer brannte.
Ganz unten auf dem Zettel war eine Adresse aufgeschrieben: Sackgasse 5, 8008 Zürich.
Jakob schmunzelte und mochte den Geistesblitz sehr. Dann wurde er plötzlich neugierig und wollte nachforschen, ob eine Sackgasse in Zürich tatsächlich existierte.
Er nahm sein Smartphone aus der Tasche und ging online: Ja, eine Sackgasse mit Hausnummern war tatsächlich auf der Karte angegeben!
Er wollte unbedingt hin, ein unerwarteter Drang katapultierte ihn zuerst aus der Bibliothek und dann aus dem Uni-Gebäude. Er stand mitten im Regen und hatte den Regenschirm im Schließfach der Bibliothek vergessen, aber er hatte deutlich das Gefühl, dass er keine Sekunde verschwenden durfte, und stieg flugs in die erste Tram, die vorbeifuhr.

Die Sackgasse war eine Querstraße der Seestraße, ein Zufluss. An dem verregneten Tag fühlte sich Jakob wie ein Papierschiffchen auf einem dunklen und tiefen Wasserspiegel.
Sackgasse 1, Sackgasse 2, Sackgasse 3, Sackgasse 4, und wo war denn die Hausnummer 5? Er schaute sich um, sah die Sackgasse 6, 7, 8 und so fort, aber die Nummer 5 schien im Wasser versunken zu sein. Die Kapuze seiner Jacke war inzwischen durchnässt und seine Geduld fing an zu wackeln. Er musste aber durchhalten, er durfte nicht mehr zurück.

Plötzlich eine Stimme: „Was sucht der junge Herr?“ Jakob sah ein runzeliges Gesicht vor sich, das graumelierte Haar leuchtete fast unter dem roten Regenschirm.
„Wo ist denn die Hausnummer 5?“, fragte Jakob.
„Bei mir zuhause“, schmunzelten die schrumpeligen Lippen.
„Ach so!“, sagte Jakob sprachlos, ohne zu wissen, wie er das Gespräch fortsetzen konnte, und vor allem wusste er jetzt nicht mehr, ob ihn die Sackgasse 5 noch interessierte.
„Haben Sie meine Adresse von Herrn Lehmann bekommen?“, fragte die Stimme.
„Nein, nein, es ist eine lange Geschichte. Ich wusste nicht, dass es in Zürich eine Sackgasse gibt, und ich habe mit einem Freund gewettet, die Nummer 5 zu finden, einfach so“, antwortete Jakob verlegen.
„Einfach so, interessant“, kommentierten die schrumpeligen Lippen.

Jakob zitterte jetzt, er war durchnässt und ihm war kalt. Außerdem fand er diese Begegnung beunruhigend und fühlte sich gefesselt, als ob er jetzt nicht mehr zurück dürfte.
„Kommen Sie doch zu mir auf einer Tasse Tee, Ihnen ist kalt und Sie haben keinen Regenschirm. Bleiben wir nicht länger da.“
„Ich muss zurück zur Uni, ich muss mich für einen Vortrag vorbereiten.“ Jakob versuchte seinen Weg zurückzufinden, als er einen festen Griff am Oberarm spürte.
„Sie kommen jetzt zu mir, ich habe Sie eingeladen, das mache ich nicht mit allen fremden Leuten, das soll eine Ehre für Sie sein!“ Die Stimme war leiser geworden, aber sehr bedrohlich. Zwei kleine dunkle Augen fesselten Jakobs Blick, nun hatte er keine Kraft mehr sich zu wehren.

Die Sackgasse Nummer 5 war hinter einem Wohngebäude versteckt, es sah wie ein heruntergekommenes Häuschen aus, aber die inneren Räume waren sehr gepflegt.
Jakob wurde aufgefordert, am Couchtisch im Wohnzimmer zu sitzen. An den Wänden waren ausschließlich Porträts aufgehängt, sie waren in verschiedenen Größen und in verschiedenen Stilen gemalt oder einfach nur schwarzweiß gezeichnet worden.
„Sind es Freunde von Ihnen, die Bilder an den Wänden?“, fragte Jakob.
„Tja, sie waren Freunde von mir“, seufzte die Stimme.

Jakob wurde bange und spürte die Wände des Zimmers dicht an seine Haut drängen. Er suchte eine Tür, aber im Wohnzimmer gab es keine Fenster und die einzige Tür führte in die Küche, wo das graumelierte Haar zu sehen war. Es leuchtete wie ein Gespenst in der Dunkelheit.
„Ihr Tee, junger Mann“, die Stimme war jetzt warm und beruhigend.
Das Getränk hatte einen seltsamen Geruch und Jakob trank es nicht.
„Schmeckt es Ihnen nicht? Es ist Pfefferminztee!“, sagte der Mann, als ob er überrascht wäre.
„Es riecht nicht nach Pfefferminze, es riecht nach Chemie. Was haben Sie mit dem Tee gemischt?“ Jakob hatte jetzt keine Angst mehr, er spürte Wut in seinen Adern brodeln und es war ein Gefühl, an das er nicht gewohnt war.
„Sie dürfen nicht aus diesem Haus gehen, ohne den Tee getrunken zu haben“, die Stimme war jetzt scharf und zischend, die Hand griff nach einem Messer.
Jakob stand auf und sagte: „Ich habe keine Angst vor Ihnen und will auch nicht Teil ihrer Gemäldegalerie werden. Lassen Sie mich bitte gehen.“

Das runzelige Gesicht war nun einen Millimeter vom Jakobs Gesicht entfernt und die Klinge drückte an seinem Hals. Jakob spürte eine unbekannte Kraft in sich und trat entschieden gegen das Bein vor ihm. Die Stimme wurde ein Schrei, das Geheul eines verletzten Wolfes, während Jakob weiter und weiter nach dem Mann trat, bis die Kraft seinen Körper verließ.
Das runzelige Gesicht lag am Boden, mit weit aufgerissenen Augen, der Mund leicht offen und das graumelierte Haar auf den Fliesen ausgebreitet.
Es war ein sonderbares Porträt der Göttin Medusa, ein Bild, das Jakob immer wieder begleitete.

Annamaria Bortoletto
https://laltraidea.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 21053

In der Stille wächst das Vertrauen

I.

Sag, wann warst du dir das letzte Mal so nahe: Vor vier Jahren saß ich, Tobias Bonifatius Kotschitsch, Protagonist dieser Erzählung, hier in B. in einer dieser billigen Absteigen, von denen es schon allein in dieser Stadt viel zu viele gibt. Die Vorgeschichte: Flug verpasst, stattdessen eine halsbrecherische Fahrt mit einer versifften Karre von Taxi und dem Fahrer in seinem penetranten Ronaldo-Trikot. Abgelenkt von seinem ständigen Gelaber und dem seichten Plastikpop-Gedudel aus dem Radio wäre er fast in einen SUV gekracht. Bei mir hat andauernd das Handy geklingelt. Fast zu spät gekommen. Gepäck vergessen, kein Wechselgeld parat. Das Mittagessen in einem schäbigen Vorstadtrestaurant, völlig versalzen, fett und überteuert – eine Frechheit in diesem Land. Dazu das ewig gleiche arrogante Getue meiner Kollegen hier vor Ort. Und die Bullenhitze. Mir ist der Schweiß in Strömen heruntergelaufen. Na ja, da kannst du halt nichts machen.

Eigentlich ging mir diese ganze Reise schon jetzt gehörig auf den Zeiger, und ich sah schon viel zu lange keinen Sinn mehr darin, mich von meinen ausländischen Verhandlungspartnern regelmäßig übers Ohr hauen zu lassen. Eine Dienstreise ist nun mal kein Kindergeburtstag.

Aber jetzt zurück zur eigentlichen Geschichte: Nach drei gepflegten Single Malt in der Bar sitzt du hier in deiner Bude und weißt nichts mehr mit dir anzufangen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, du bist das Alleinsein ja schließlich gewohnt. Ziehst dir irgendeinen Film rein, aber nicht so Schwarz-Weiß-Zeugs mit Ingrid Bergman, vielleicht eher einen amerikanischen Psychothriller aus den Neunzigern. Liest ein paar Seiten im Schahname und fällst dann hundemüde in die Kiste, denn morgen ist wieder ein neuer Tag. Tja, aber diesmal war das nicht so. Und warum das diesmal nicht so war, kannst du dir auch nicht erklären. Und am Single Malt lag es höchstwahrscheinlich auch nicht.

Aber ich helfe euch mal auf die Sprünge:

Ich fühlte mich damals einsam und erschöpft. Ich blickte auf die Straße. Nichts Besonderes mehr um elf Uhr nachts, das Leben da draußen hatte sich davor abgespielt. Du sprichst die Sprache nicht und so fällt die Kultur für dich flach. Und ich überlegte, ob ich noch ein oder zwei Flaschen Bier und eine Dose geröstete Erdnüsse aus einem „Convenience Store“ – die ja hier bekanntlich 24 Stunden offen haben – holen sollte.

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Ich ging hin und öffnete sie. Draußen stand ein hagerer älterer Herr mit Vollbart und Glatze, in Badelatschen, karierten Bermudas, einem ausgeblichenen Led-Zeppelin-T-Shirt und fragte mich, ob ich ihm zufällig eine Schachtel Aspirin oder ein Ladekabel für sein Handy borgen könne und: „ob ich nicht mal nach dem Deckenventilator schauen kann, der macht seit ungefähr ’ner halben Stunde so ein eigenartiges Geräusch, mach mir Sorgen, dass der bald den Geist aufgibt und mir auf den Schädel plumpst.“ Ich bejahte, fragte ihn zudem nach seinem Namen und er verriet mir, dass er Kevin McArthur hieß.

Ich ging mit in sein Zimmer, lieh ihm die Sachen, inspizierte den Ventilator, und er lud mich dann noch auf einen Gin Tonic ein, um ein wenig zu plaudern. Er erzählte zuerst so Sachen wie: „Im Leben kommt immer alles anders, als man denkt, und die schlechten Erfahrungen lehrten uns die guten zu schätzen, ob du es glaubst oder nicht.“ Oder „ An so was wie Gerechtigkeit glaube ich zwar schon lange nicht mehr, aber an der Sache mit dem Karma, da ist hingegen schon was dran.

Als er die Flasche Gin geköpft hatte und aus seiner Kühlbox ein paar Eiswürfel hervorkramte, sagte er zu mir: „Erzähl mir mal von dir. Aber dass das klar ist, komm gleich zur Sache und erzähl mir nicht so’n langweiliges Zeug, ja.“

Also fing ich an:

„Ich war schon als Kind anders. Was heißt anders, ich hatte halt keinen Bock auf das, was die anderen machten. Fußballspielen, Rollerfahren und den Kram. Auch wurde ich von den anderen nie zu Geburtstagen eingeladen. Aber besonders gestört hat es mich früher nicht oder nicht so, dass du es als Problem bezeichnen konntest. Noch einmal zurück zu dem, was ich vorhin gesagt habe: Ich wusste nicht, worum es im Leben wirklich geht, und gab mich schon mit guten Schulnoten, einem Himbeer-Stracciatella-Eis oder einer kompletten Sammlung von Star-Wars-Sammelkarten zufrieden. Andere Menschen waren mir zuwider oder bestenfalls gleichgültig. So war das eben.

Jedenfalls nahm dann alles seinen Lauf. In der Schule biss ich mich Jahr für Jahr so durch, war zwar nicht besonders faul, hatte aber auch nie so richtig für etwas Talent. Außer vielleicht für Jahreszahlen. Ich studierte auf Wunsch meiner Eltern Geographie, weil ich Lehrer werden wollte. Nicht dass ich das Studium besonders mochte, aber das ist ein anderes Thema. Später bekam ich als Quereinsteiger meinen Beruf in einem Unternehmen für Rasenmäher und verdiente ganz ansehnlich.

Warum ich das erzähle: Du hast es wahrscheinlich schon erraten, geneigter Zuhörer, mich machte mein Leben nun einmal nicht glücklich. Und das konnte mich wahnsinnig machen. So wahnsinnig, dass ich manchmal die Decke hochgehen wollte vor lauter Wahnsinn. Was hatte ich denn sonst schon in meinem Leben wirklich verbockt? Ich habe mit harter Arbeit alles kompensieren wollen, jeden Misserfolg. Es konnte doch nicht sein, dass ich in dieser Hinsicht ein Versager war.

Und warum war ich ein Versager?

Oder präziser gesagt: Warum wurde ich ein Versager und blieb auch einer?

In zwischenmenschlichen Beziehungen – wie bereits gesagt – hatte ich in meiner Schulzeit einfach keinen Erfolg. Und damit meine ich keine langanhaltenden Freundschaften – nein, das wäre auch nicht nötig gewesen, sondern irgendeine schöne Begebenheit. Vielleicht mal ins Kino oder auf ein Eis oder ins Schwimmbad. Aber auch schon ein Gespräch, ein Lächeln, ein Blickkontakt, eine Berührung, so etwas ...“

„Quatsch, du warst vielleicht einfach nur mit dir selbst beschäftigt. Oder deine Eltern haben dir das mal verboten: ‚Spiel nicht mit diesem, spiel nicht mit jenem’, ‚Konzentriere dich auf den Schulstoff’, ‚Das andere kommt noch früh genug’, einfach idiotisch“, raunzte Kevin, als er gerade die Pappbecher mit dem Gin anrichtete. „Was waren deine drei bisher schönsten Erlebnisse, denk mal scharf nach“, fuhr Kevin weiter fort und reichte mir meinen Becher.

Ich nahm den Becher, sprach einen Toast auf die Sehnsucht und begann zu erzählen.
„Als ich Aniko kennenlernte, obwohl es eine flüchtige Bekanntschaft war. Erinnere mich noch genau, als ich auf dem Weg zur Schule meinen Regenschirm aufspannte und mit ihr zusammen in die Schule ging.“

„Aber gesprochen hast du mit ihr nichts, oder?“

„Kurz darauf hat sie die Schule gewechselt.“

„Was ist dir noch in Erinnerung geblieben?“

„Hast du später noch einmal was von ihr gehört?“, fragte Kevin, nahm einen Schluck von seinem Gin.

„Nein. Überhaupt nichts“, antwortete ich.

„Was kam danach?“

„Danach kam Christina“, sagte ich „aber das war über sechs Jahre später. Christina war ein Engel, so warmherzig, so reif für ihr Alter. Ich erinnere mich noch gut an den Tag in der Bücherei, als sie sich so darüber gefreut hat, dass ich das älteste Buch – das übrigens noch in Fraktur gedruckt war – gefunden habe. Oder sie half mir auch einmal, als ich während der Klassenarbeit Kopfschmerzen bekam und sie den Lehrer davon überzeugte, dass ich die Arbeit wiederholen konnte. Aber sie sagte auch einmal in Religion, dass sie verstehe, warum sich Menschen vor Engeln fürchteten – das war seltsam, nicht wahr?

Kevin hörte mir andächtig zu und sagte: „In der Tat“, dabei musste er kräftig husten. „Was ist mit dem dritten Erlebnis?“, fuhr er fort.

„Ich erinnere mich am besten an Nathalie, die ich im Sommer vor vierzehn Jahren in einem Portugiesischkurs traf. Zuerst saß sie in der letzten Reihe, und ich habe öfter zu ihr heimlich hinübergeblickt. Aber ich war nicht sicher, ob sie es gemerkt hat. In einer der folgenden Lektionen setzte sie sich unvermittelt neben mich und gab mir ihre Adresse, da ich für sie in der nächsten Woche mitschreiben sollte. Nathalie saß tatsächlich neben mir und kicherte, und ich war so perplex, dass ich es nicht einmal realisiert habe.“

„Das ist aber nicht gerade viel, was du über sie weißt. Und es ist außerdem schon verdammt lange her. Klar, danach machtest du noch mehrere Bekanntschaften, aber so intensiv wie bei den ersten drei wurde es nie wieder, nicht wahr?“

„Vielleicht hatte ich auch Angst vor Zurückweisung. Überlege dir mal, was passiert wäre, wenn irgendein Kontaktversuch danebengegangen wäre. Oder ich rot geworden wäre und um Worte ringen hätte müssen. Das ist in jungen Jahren schwer auszuhalten. Da ist es immer angenehmer, sich in sein Schneckenhaus zurückzuziehen, auch wenn einem etwas entgeht. Aber lange Zeit bereitete mir das Fehlen solcher Kontakte auch keinen großen Schmerz, und ich wäre einer Beziehung nicht gewachsen gewesen. Und ob mich mein Gegenüber auch so interessant gefunden hätte, das steht natürlich auf einem anderen Blatt.“

Kevin nahm noch einen letzten kräftigen Schluck von seinem Gin. Er inspizierte die Eiswürfel in seinem leeren Becher.
„Tja, da kann man eben nichts machen“, sagte Kevin. Aber ich kenne da einen Trick: Du musst nicht hoffen, dass du ein und denselben Menschen noch einmal im Leben triffst. Aber manchmal triffst du Leute, die erinnern dich an andere Leute und mit denen kannst du es versuchen. Vielleicht trifft ja auch die andere Person dich auf diese Weise noch einmal. Irgendetwas gibt dir schon die Antwort. Ansonsten musst du versuchen, die Stille auszuhalten, so schwer es dir auch fällt. Es reicht, sich auf die Suche zu machen. Ob man ans Ziel gelangt, ist natürlich eine andere Frage, aber man muss sich zuerst auf die Suche machen.“

Ich hatte jetzt auch meinen Gin Tonic ausgetrunken und war gerade im Begriff zu gehen, als Kevin fortfuhr:
„Und da wäre noch die Sache mit den Außerirdischen?“

„Außerirdische, komm mir doch nicht mit diesem Blödsinn!“, rief ich verdutzt.

„Ja, Außerirdische. Es wäre ja absoluter Topfen zu glauben, da kämen welche oder wir könnten jemals mit irgendwelchen Kontakt aufnehmen, man denke nur an die Relativitätstheorie. Einstein und so, das weißt du bestimmt. Aber die meisten Menschen glauben trotzdem an Aliens und das gibt ihnen eine gewisse Hoffnung. Dummerweise wird für die Astrophysik viel zu viel Geld ausgegeben. Damit könnte man genauso gut in Alaska nach dem Bernsteinzimmer suchen, genau the same fuckin’ shit. Das Geld fehlt dann an anderer Stelle, beispielsweise in der medizinischen Forschung, ist ja logisch.“ Kevin machte eine kurze Kunstpause und kratzte sich am Rücken, dann redete er weiter:
„Und doch denkt fast jeder, dass die Suche einen Sinn hat. Was für einen genau, kann er mir natürlich nicht verraten, aber er denkt trotzdem, dass alles nicht umsonst war.“

Dabei nahm er den Beutel mit dem Tabak aus der Hosentasche und drehte sich die erste von mehreren Zigaretten.
„Bei manchen Leuten ist das die einzige Hoffnung, um weiterzuleben“, sagte er. „Verstehst du: weiterleben“, fügte er hinzu.

Ich fragte Kevin nach einem anderen Beispiel und er antwortete mir, dann gab er mir drei Oliven in die Hand und sagte: „... Schließ jetzt die Hand und denk mal eine Zeit lang darüber nach.“

Aus dem Fernsehlautsprecher vernahm ich auf einmal, obwohl der Bildschirm nicht lief, eine tiefe, geheimnisvolle Männerstimme:
„Ein samisches Sprichwort: In der Stille wächst das Vertrauen.“

Da fiel plötzlich der Strom aus. Das ganze Zimmer wurde zu einer schwarzen, lautlosen Wüste. Auch Kevin war verstummt. Plötzlich wurde es ganz still in meinem Kopf. Ich wollte wieder zurück in mein Zimmer, doch als ich den Türgriff in der Hand hatte, brach dieser ab. Die Stunden wurden zu Tagen, zu Monaten, zu Jahren: Nichts passierte. Nada.

Als der nächste Tag anbrach, fand ich mich wieder in meinem Zimmer vor. Ich öffnete meine Zimmertür und ging in Kevins Zimmer. Er war spurlos verschwunden. Von den Oliven in meiner Hand waren nur noch die Kerne übrig. Diese warf ich in meinem Zimmer in den Papierkorb.

II.

Lange Zeit nach dieser Dienstreise war bei mir alles wieder beim Alten und über die Sache in B. war schon lange Gras gewachsen, so schien es. Manchmal dachte ich an Kevin zurück, aber sein Ratschlag hörte sich für mich in etwa an wie: „Geh nach Ich-weiß-nicht-wohin, bring mir Ich-weiß-nicht-was.“

Also versuchte ich, das Beste aus Kevins Worten zu machen: N. aus dem Sprachkurs schrieb ich eine freundliche E-Mail, in der ich ihr von meinem Erlebnis erzählte und auch davon, wie glücklich es mich gemacht hatte – natürlich auf Portugiesisch. Diese wurde aber nicht beantwortet. Weiters kaufte ich mir eine Geldbörse in der Pastellfarbe des Pullovers, den Christina in der Bücherei getragen hatte, und schrieb einer Regenschirmsammlerin eine E-Mail und erzählte ihr meine Geschichte mit Aniko. Das war nicht viel, aber immerhin etwas.

Dann, eines Tages im Februar, begegnete ich jemandem, der Aniko ähnlich sah, als ich die Porzellangasse in Wien entlangschlenderte. Ein kurzer Blick in die Augen. Ein paar hundert Meter später blieb ich an einem Schaufenster stehen. Darin eine Tasse mit der Aufschrift: „Ich so: Och bitte. Und dann mein Leben so: Nö.“

III.

In diesem Sommer erblühten in Island die ersten drei Ölbäume, was als kleines Wunder galt, und im tiefsten Süden Usbekistans wurde angeblich ein UFO gesichtet. Es stand jedenfalls so im Internet.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques| Inventarnummer: 21049

zählen

Er und die zwei Jugendlichen, einer davon war sein Sohn, gingen vom Badeplatz durch den Wald und die Siedlungen nach Hause. Bei einem Haus stand dieses seltsame schwarzhaarige Kind. Es sah sie an, jeden der drei einzeln, sagte aber kein Wort, reagierte auch nicht, als sie es grüßten. Es stand einfach nur da.

Beizeiten begegnete er dem Kind wieder. Eigenartigerweise stand es vor verschiedenen Häusern. Und immer sah es ihn genau an, und nie sprach es.

Später kam er dahinter, dass das Kind kein Kind war, sondern ein Zählautomat des Österreichischen Statistischen Zentralamtes. Er registrierte Menschen, Hunde, Katzen, Vögel, Eichkätzchen und Touristen – gut: auch Menschen, aber Auswärtige halt. Hinter seinen Augen liefen Zahnräder, die die Zahlen erhöhten. Eine Stimmausgabe war nicht vorgesehen.

Der Blick über das gelb-weiße Haus in Pritschitz und über Maria Wörth am 1. Dezember 2020

Der Blick über das gelb-weiße Haus in Pritschitz und über Maria Wörth am 1. Dezember 2020

Johannes Tosin (Text und Bild)
und
Michael Tosin (Text)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 21046

 

REM

Der Traum gibt mich frei. Wenn ich die Augen aufschlage, ist es, als wäre ich gleich nach ihm erwacht, doch schlief ich danach erst richtig tief. Und in welcher der vielen Welten ich aufwache, kann ich nicht beeinflussen. Bin ich dann munter, wähne ich mich stets in derselben Welt, in der ich einschlief, doch das ist praktisch nie der Fall.

Bunte Lampions

Bunte Lampions

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 21041

Die Sternenpflückerin

Es ist eine Winternacht. Im Garten steht eine silberne Frau, die Sterne vom Himmel pflückt wie Äpfel von einem Apfelbaum und sie in den geflochtenen Korb neben ihr legt. So wie der Himmel leerer wird, wird der Korb voller. Die Nacht erhellt sich zusehends, da die Sterne in der Nähe heller leuchten. Ich zwicke mich, und es tut weh.

Drei Sterne

Drei Sterne

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 21030

Regenbogenmann

Als wären hundert Regenbögen gebrochen
und ihre Farben in den See gefallen.
Millionen Farben, alle, die man sich nur vorstellen kann.
Ich bade im See, schwimme durch seine Lichter.
Und steige ich aus dem Wasser,
habe ich selbst die Farben angenommen.
Meine Haut glitzert von Rot bis Violett.

Der Kleine See in der Nacht des 20. November 2020, bearbeitet

Der Kleine See in der Nacht des 20. November 2020, bearbeitet

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 21022