Schlagwort-Archiv: es menschelt

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Verpasst

Immer wieder
verstecke ich mich in Ablenkungen
Stunden, Tage, Wochen,
stecke fest
und ich finde keinen Weg hinaus,
Erinnerung an Vergangenes
an dich
sauge alles hinaus,
Momente, die ich verpasst habe
scheinen mir wie eine Tragik
zur Komödie sollte es werden
denke ich an mein Alter

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 21018

Die Amethyst-Kette

Frau Elfriede Buchta, 79, lag im Krankenhaus. Es war abzusehen, dass es zu Ende ging. Ihr tapferes Herz würde wohl nicht mehr lange durchhalten, meinte der behandelnde Arzt nach der ersten Untersuchung, und zu seinem Erstaunen breitete sich auf ihrem Gesicht ein befreites Lächeln aus: „Gott sei Dank“, sagte sie, „jetzt muss ich mich nicht mehr vor jahrelangem Siechtum und totaler Hilflosigkeit fürchten. Ja, das ist gut so.“

In der ersten Woche hatte Frau Buchta das Glück, mit der Bettnachbarin, einer Altbäuerin aus dem Marchfeld, eine verständige und angenehme Gesprächspartnerin über den Spitalsalltag und später auch über „ernstere“ Belange gefunden zu haben. Und in stillen Stunden – vorwiegend nachts, denn in einem Spital durchzuschlafen ist kaum möglich – überdachte sie die Stationen ihres Lebens:

Die Kindheit im Wiener Gemeindebau Schlingerhof, wo sie mit Schulfreundinnen im Hof gespielt hatte, mit der Mutter jeden Samstag den Markt besucht und von der Frau Stipic oft ein Stück Obst bekommen hatte. In einem Tümpel des Überschwemmungsgebietes hatte sie Schwimmen und im Winter Eislaufen gelernt. Als Lehrmädchen hatte sie im nächtlichen Haustor den ersten Kuss von einem jungen Arbeitskollegen bekommen. Die süßen Irrungen und Abenteuer der Liebe zogen in der Erinnerung vorbei, Gott, war sie jung, naiv und selig gewesen. Und wie sie bei einem Ball ihren späteren Mann kennengelernt und bald nach der bescheidenen Hochzeit ihr Mädchen zur Welt gebracht hatte. Nun war dieses auch schon Großmutter eines kleinen Buben, drüben in Australien. Weit, weit weg, viel zu weit.

Nach ein paar Tagen wurde sie in ein kleines Einzelzimmer verlegt, intern das „Sterbezimmer“ genannt. Dort wurde sie von der jungen Schwester Mira aufmerksam umsorgt. Als Mira einmal anzusehen war, dass sie Kummer hatte, sagte Frau Buchta zu ihr: „Kommen Sie, erzählen Sie mir was Sie bedrückt, bei mir brauchen Sie wohl keine Angst mehr haben, dass ich es weitersage.“ Es war Mira eine große Erleichterung, ihre Sorgen und Unsicherheiten der erfahrenen Frau am Rand des Lebens mitzuteilen, manchen guten Rat und tröstliche Einsicht bekam sie da mit nach Hause. Auch der junge Stationsarzt Dr. Nemec besuchte sie täglich, mehr aus ärztlicher Neugier, weil der Organismus dieser Patientin eigentlich schon seit Tagen nicht mehr funktionieren konnte – aber eine unbewusste leise Unruhe hielt sie ganz einfach noch in dieser Welt fest.

Als sie einmal den Wunsch nach einem Schluck Wein äußerte, schmuggelte Schwester Mira ein Stifterl gekühlten Weißwein ins Zimmer, Frau Buchta trank ein Glas davon und drehte sich dann behaglich auf die Einschlaf-Seite. In dieser Nacht träumte sie von ihrem verstorbenen Mann, und wie sie später von der Caritas seine Sachen abholen ließ. Beim Aufwachen erinnerte sie sich, dass sie danach ihre goldene Halskette mit Amethysten, ein Geschenk von ihrem Karl zur Silberhochzeit, vermisste. Es musste sie wohl einer der Caritas-Arbeiter „mitgehen“ lassen haben, vermutlich der größere der beiden, Bogdan genannt, weil er die Kleidung aus dem Schlafzimmer getragen hatte. Sie hatte damals geweint, aber keine Anzeige gemacht. Den ganzen Tag und auch am nächsten kamen ihr diese Bilder in den Sinn, und was sie mit den Männern gesprochen hatte, dass sie ihnen einen Kaffee serviert und ein schönes Trinkgeld gegeben hatte. Hatte da dieser Bogdan nicht ein wenig verlegen gewirkt? Immer wieder musste sie daran denken, und dass sie trotz ihrer Anständigkeit bestohlen worden war.

Als Doktor Nemec zu Beginn der Nachtschicht beim Pulsmessen ungläubig lächelnd fragte, was sie denn noch am Leben hielte, kam die leise Antwort: „Wissen Sie, ich habe da noch eine Rechnung offen, dann erst kann ich die Augen zumachen.“ Da schüttelte der junge Arzt den Kopf: „Liebe Frau Buchta, was wollen, ja was können Sie in Ihrer Lage denn noch unternehmen?“ Da atmete sie tief ein und sagte: „WissenS’, vielleicht kommt doch der Berg zum Propheten. Es gehören ja immer zwei dazu.“ Der Doktor ging kopfschüttelnd.

Gegen 21 Uhr gab es beim Spitalseingang Streit, denn ein Besucher beharrte darauf, jetzt noch einen Besuch zu machen. Der Nachtportier rief den diensthabenden Arzt, weil der Mann beteuerte, es wäre sehr dringend und er würde danach auch gleich wieder gehen. Als Doktor Nemec um den Namen des Patienten fragte, stammelte der Gastarbeiter den Namen „Frau Ruchter“ oder „Buchter.“ Sinnend blickte der Arzt in die Höhe: „Vielleicht kommt doch der Berg zum Propheten“, hatte Frau Buchta gesagt. Er beruhigte den Portier und nahm den Mann mit ins Krankenzimmer.

Frau Buchta war hellwach, als hätte sie den Besuch erwartet. Der Mann stürzte zum Bett, fiel in die Knie und reichte ihr ein Stoffsackerl, dabei unter Tränen beteuernd: „Bitte, Frau, bitte nicht böse sein, hab ich damals kein Geld, nix gehabt, wollte auch einmal Geld in Tasche haben und lustig sein, nicht nur arbeiten und schlafen. Hab ich das nicht mehr gefunden in Zimmer, bin wieder nach Zagreb heimgefahren. Erst heute habe ich alten Rock mit Loch in Tasche wieder angezogen und ist Kette rausgefallen. Nachbarin hat gesagt, Sie im Spital. Bitte nicht mehr böse sein, tut mir leid, hat mir das kein Glück gebracht. Bitte wieder nehmen und alles wieder in Ordnung, ja?“ Frau Buchta nahm ihre goldene Halskette mit den lila Steinen heraus und hielt sie in die Höhe: „Ja, Bogdan, jetzt ist alles in Ordnung, du hast mir das zurückgebracht. Wenn man etwas gutmacht, hat man wieder Glück im Leben, ich trage dir nichts nach. Lass es gut sein und fahr nach Hause.“ Sie legte die Kette aufs Nachtkasterl und strich ihm tröstend mit der Hand über den Kopf wie einem Kleinkind. Der Mann stand auf, verbeugte sich mit nassen Augen noch einmal und ging.

Als Doktor Nemec, der diese Szene im Türrahmen staunend beobachtet hatte, wieder gehen wollte, bat ihn Frau Buchta, noch kurz dazubleiben und Schwester Mira zu rufen. Als diese eintrat, winkte die Patientin sie ans Bett und legte ihr die Kette in die Hand: „Liebe Mira, du hast mich so liebevoll gepflegt, bitte behalt das als Dank und Andenken an mich.“ Die junge Schwester wollte verlegen ablehnen, das hätte sie nicht verdient und könne sie nicht annehmen, aber Frau Buchta erwiderte: „Dort wo ich jetzt hingehe, brauche ich sie nicht mehr, und wem sonst sollte ich sie geben? Nimm sie nur und freue dich daran. Der Herr Doktor hat ja gesehen, dass ich sie dir geschenkt habe.“ Verlegen errötend bedankte sich Mira und verließ mit dem Arzt das Zimmer.

Als sie um Mitternacht noch einmal zu Frau Buchta ins Zimmer kam, atmete diese nicht mehr. Aber auf ihrem Gesicht lag ein friedliches Lächeln.

Epilog:
Das echt Mystische an dieser Geschichte ist aber, dass der Autor am Ende in Wikipedia nachsah, ob man Amethyst wirklich mit „th“ schreibt, und dort las, dass diesem Stein eine (apotropäische) Negativwirkung auf den Dieb nachgesagt wird.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 20115

 

Abschied vom „Baum-Ausreißen“

Irgendwann kommt der Moment, wo man nicht mehr zu den Männern gehört, die Häuser bauen, im Wald Holz machen oder sonstige mit Schwerarbeit verbundene und damit prestigeträchtige Projekte bewältigen. Man ist eben älter geworden.

Vor einigen Wochen kuppelte der Pensionist Anton Kurz den kleinen Anhänger an sein Auto und fuhr zum nahe gelegenen Kieswerk, um einen viertel Kubikmeter Schotter für seinen Gartenweg zu holen.

Es versprach ein schöner Septembertag zu werden, als er frühmorgens gegen sieben Uhr über die Feldwege fuhr; die Vögel sangen in den Hecken und die Sonne hing als orangener Feuerball noch tief am Himmel. Herr Kurz erinnerte sich der vielen Male, die er – damals als Mittfünfziger – meistens um diese Tageszeit zu seiner Baustelle unterwegs gewesen war.

Ach Gott, war das eine schöne Zeit gewesen, trotz oder – so denkt er heute darüber – gerade wegen der schweren Arbeit beim Aufmauern seines Hauses im Grüngürtel außerhalb Wiens. Ja, es war eine Schinderei, den ganzen Tag bei Wind und Kälte (er baute größtenteils im Winter, wenn die bereits abgemeldeten Herren Maurer gerne einen Wochenend-Pfusch annahmen) Mörtel mischen, Ziegel schleppen, Wasser holen, Gerüst bauen etc. Aber am Abend, wenn er sich vor dem Heimfahren noch einmal müde umdrehte, sah er die Arbeitsleistung des Tages im nunmehr wieder höher gewordenen Mauerwerk, in den ausgesparten Fenstern und Türöffnungen. „Heute ist ganz schön etwas weitergegangen“, dachte er da befriedigt und vergaß das Kreuzweh und die zerschundenen Hände. Er hatte etwas geleistet, was nicht jeder konnte, er hatte schwere Arbeit getan und war in Gesellschaft von Männern, die als „Hand-Werker“ (Maurer, Zimmerleute, Elektriker, Installateure oder Dachdecker) Häuser entstehen ließen, Grundstücke planierten, Gärten anlegten, mit Krampen und Schaufel Wege bauten – mit einem Wort: Heimstätten schufen, aus dem nackten Boden Häuser bauten für ihre Familien und Freunde.

Jeden Sonntag, wenn er nachmittags müde und abgerackert in schmutziger Arbeitskleidung vor seinem Wiener Wohnblock aus seinem uralten Auto stieg, standen einige Bewohner in teurer Freizeitkleidung am Parkplatz herum, besprachen ihre Ausflüge und die Lokale, in die sie mit ihren Frauen eingekehrt waren, und sahen mitleidig lächelnd zu ihm herüber. Jedoch Anton Kurz grinste nur überlegen und winkte ihnen zu, bevor er zu seiner Wohnung hinaufstieg. Die Nachbarn waren zumeist Angestellte oder Beamte in seiner Einkommensklasse, sie gaben ihr Geld für die Annehmlichkeiten des Lebens aus und hatten vielleicht ein kleines Bankkonto, aber kaum einer von ihnen hatte jemals einen Ziegel auf den anderen gelegt – es waren eben Leute und keine Männer. Und offensichtlich schätzten diese Nachbarn ihre Mitbewohner nach Urlaubsreisen, Auto, Tennisklub und dem Outfit ihrer Frauen ein; somit gehörte Anton nicht zu den „Schönen und Reichen“ seines Wohnblocks.

Aber als ihn – gegen Ende der Rohbauphase – ein Nachbar zufällig beim Heurigen traf, wo Anton mit seinem Maurer und einem Helfer zu Mittag aß, ergab sich bei der Theke doch ein kurzes Gespräch, bei dem der erstaunte Mitbewohner erfuhr, dass Anton in dieser prominenten Heurigengegend einen Garten hatte und nun ein Haus baute. Was sich in seinem Wohnblock rasch herumsprach und zur Folge hatte, dass Anton nun von seinen Nachbarn freundlicher gegrüßt wurde und auch in deren Achtung deutlich gestiegen war. Man bedenke, ein Haus in diesem schönen Vorort Wiens! Aber er kümmerte sich nicht viel darum – wer vorher mit ihm auf gutem Fuß gestanden hatte, blieb es weiterhin, und die „Neu-Freundlichen“ begrüßte er genauso reserviert wie sie vorher ihn. Nur die Neid erregende Bemerkung, dass er gänzlich ohne Kredit baute, hatte er sich doch nicht verkneifen können.

Aber das war nun Vergangenheit, Anton hatte sein Werk getan: ein Haus gebaut, ein Kind aufgezogen, einen Garten angelegt, und nun war er auch schon aus den Erfordernissen des Berufslebens heraus, wo er 45 Jahre lang fleißig gearbeitet und manchen Erfolg verbucht hatte. Auch das fehlte ihm, das Bewältigen schwieriger Aufgaben und der Zeitdruck. So manches Mal war er mit einem ungelösten Problem zu Bett gegangen und hatte doch kaum Schlaf gefunden, weil er nicht wusste, wie der nächste Tag laufen sollte. Manchmal war ihm dann im Morgengrauen eine Lösung eingefallen, weil er sich bemüht hatte, die Sachlage alternativ zu sehen, das Problem von anderer Seite zu beleuchten. Oder er hatte seiner Frau auf ihre besorgte Rückfrage die schwierige Situation möglichst verständlich zu erklären versucht, was ihm manchmal einen verblüffend einfachen Lösungsansatz bescherte.

Je nun, vorbei ist vorbei – jetzt sollte er sich besser seiner noch passablen Gesundheit und der wohlverdienten Pension erfreuen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Und an einem so schönen Morgen mit dem Auto unterwegs sein, ein paar Scheibtruhen Schotter holen und anschließend mit der Frau auf der selbst gemauerten Terrasse frühstücken – gab es was Schöneres? Schon war er auf der staubigen Brückenwaage, kletterte die Eisenstiege zum Vorarbeiter hinauf, sagte seinen Wunsch und fuhr dann hinunter ins Kieswerk, wo ihm der Baggerfahrer eine viertel Schaufel Kies in den Anhänger kippte. Nun wieder zurück auf die Brückenwaage und ins „Büro“ zum Zahlen. Hier musste er warten, bis die drei Fahrer der riesigen Betonmischer und zwei „Häuslbauer“ abgefertigt waren.

Anton hörte sie über ihre Arbeit reden, die Zeit- und Materialprobleme, und was sie alles noch vor bzw. bereits geleistet hatten. Als bauerfahrener „Hackler“ beteiligte er sich an einem Gespräch und riet einem „Leidensgenossen“, der gerade seinen Rohbau fertig hatte und schon einen Weg betonieren wollte, davon ab. Es wäre – so Anton – praktischer, den Zugang zwischen Gartentor und Haus provisorisch mit im Rasen liegenden Trittsteinen anzulegen, bis auch die Fassade fertig sei. Denn es passiert oft genug, dass der „Trampelpfad“, wo die Menschen wirklich zum Haus gehen, nicht immer eine gerade Linie ist. Einer der LKW-Fahrer stimmte zu, er hätte auch seinen befestigten, rechteckig angelegten Weg nach einem Jahr wieder mühsam herausreißen müssen, weil Frau, Kinder und Gäste daneben im Gras eine Kurve eingetreten hätten. Außerdem wäre das viel hübscher geworden als die harte gerade Linie. Was den betreffenden „Häuslbauer“ dann nachdenklich stimmte.

Da rief ihn der Vorarbeiter zur Kassa, Anton legte den kleinen Geldschein hin und warf die Wechselgeld-Münzen in die „Kaffee-Kasse“, ein abgestoßenes Keramik-Sparschwein neben dem Bildschirm. Mit „Alsdann pfüat euch“ kletterte er dann die Gitterstufen zum Auto hinunter und fuhr langsam nach Hause. Es rumorte noch immer leise in ihm, dass er jetzt nicht mehr zu den „produktiven, Schwerarbeit leistenden“ Männern gehörte, sondern ein „nicht mehr viel nützer“ und daher, wie er es empfand, auch weniger geachteter Pensionist war. Natürlich sagte er sich beim Heimfahren selbst mehrmals, dass er doch das Seine geleistet und viel geschafft hatte, mit Arbeit Tag und Nacht und allen dazugehörigen „Randerscheinungen“ wie Kreuzweh, Sorgen, Stress, eiserner Sparsamkeit und kaum „Freizeitvergnügen“. Ja, alles in Ordnung, er war stolz auf das Erreichte, auch Familie und Freunde anerkannten das.

Warum dann diese wehmütige Stimmung, wenn er andere dem Ziel zustreben sah, das er schon erreicht hatte? Traf für ihn die Redewendung „Der Weg ist das Ziel“ zu? Nein, Herrgott nochmal, sicher nicht! Er hatte geackert, um etwas zu erreichen und nicht, um ewig weiter ackern zu müssen! Ja, das war’s, er hatte seine Ziele erreicht und war damit zufrieden. Also warum zum Kuckuck beneidete er die noch aktiven Häuslbauer? Vielleicht, weil sie ein Ziel hatten, das ihm nun fehlte? Ja, das auch, gestand er sich ein. Aber da war noch was, etwas nicht so leicht zu Greifendes, das ihm keine Ruhe ließ.

Wieder zu Hause stellte er den Wagen in die Garage und den Anhänger zum Gartenweg, dann rief die Gattin schon: „Kaffee ist fertig!“ Anton liebte diese wichtigste Mahlzeit des Tages, in einem sonnigen schönen Garten am liebevoll gedeckten Tisch Platz zu nehmen und den ersten Schluck Kaffee zu genießen. „Was ist mit dir – du siehst irgendwie bedrückt aus?“, ermunterte ihn die Frau zum Sprechen.
Als Anton ihr von seinen Gefühlen erzählte, wie er die noch aktiven „Häuslbauer“ beneidet hätte und eigentlich nicht wusste warum, blickte sie eine Weile sinnend in die Luft und meinte dann: „Ich glaube, du beneidest sie nicht um die Arbeit, nein, du beneidest sie um das Können, dass sie dazu noch körperlich imstande sind. Ja, mein Lieber, wir sind älter geworden und das müssen wir akzeptieren! Heimweh ist ja auch nicht die Sehnsucht nach dem Ort, sondern nach der Zeit, als wir dort waren. Diese schwer arbeitenden „Häuslbauer“ würden dich beneiden, wenn sie dein Haus und den Garten sehen könnten, sie würden gerne mit dir tauschen und sich viel lieber an den gedeckten Tisch setzen, als schon wieder die Schaufel und die Scheibtruhe in die Hand zu nehmen, glaubst du nicht auch?“

Da stand Anton von seinem Platz auf, ging um den Tisch herum und gab ihr einen Kuss: „Ja, du hast recht, ich sollte das jetzt genießen und nach vorne schauen. Ich werde dann die Nachbarn fragen, ob sie nachmittags Zeit für eine Tarockpartie hätten, was meinst du?“

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 20093

Touché – oder: Wie ein Blechschaden zum stillen Triumph wurde

Um den Hergang dieser herrlichen Geschichte zu verstehen, muss man zwei Dinge wissen:
Erstens, mein Vater, mittlerweile in Pension, war sein Leben lang Mechaniker. Zuerst als Lehrling, dann als Geselle und schließlich als Meister. An Autos und Traktoren schraubte er sich durch sein Berufsleben, stets beschäftigt im schönen Raiffeisen-Lagerhaus in einer idyllischen Kleinstadt im Weinviertel. Er war also in Sachen Autos und Fahrstil die unbestrittene Autorität in der Familie und erklärte mir nur zu oft, was ich im Umgang mit dem fahrbaren Untersatz zu ändern hätte und warum.
Zweitens, die Einfahrt meines Hauses hat eine sanfte S-Krümmung, zur Straße hin begrenzt durch eine Betonmauer auf beiden Seiten, hinter der rechts ein kleines Auto Platz hat. Um daher korrekt ein- und bequem wieder ausparken zu können, muss man die S-Kurve im Rückwärtsgang meistern, also: von der Hauptstraße links kommend ein Schwung zur anderen Straßenseite links, beim Zurückfahren in die Einfahrt zielen, dann rechts einschlagen und schließlich links. Alles mit Gefühl und im richtigen Winkel, sonst kracht man nämlich entweder gegen die Hauswand oder zerkratzt den Autolack an den Sträuchern, welche die Einfahrt auf der anderen Seite säumen.

An diesem Tag hatte ich Besuch von meinen lieben Eltern. Während mein Vater mit meinem alten Elektrorasenmäher den riesigen Garten mähte, hütete meine Mutter die Kinder, und ich konnte einige Besorgungen machen.
Endlich war alles getan, und ich setzte vor der Einfahrt zum Einkehrschwung an. Doch was war das? Mein Vater hatte sein Auto hinter der Betonmauer geparkt, Kilometer an Kabeln lagen auf dem Asphalt der Einfahrt, und die zugehörige Trommel stand dort ganz hinten.
Die schon längst gewohnten Bewegungen ausführend, starrte ich im Rückspiegel auf die Kabel. Würden sie sich um die Reifen wickeln? Nein? Sicher nicht?

Als ich das Tor passiert hatte, begannen die Abstandssensoren zu piepsen. Und wenn ich nun gegen die Kabeltrommel ganz hinten fuhr? Das Auto vielleicht sogar dort aufsaß und mein Vater dann kopfschüttelnd zu mir sagte: „Mensch, hearst … “ Wie würden wir das Auto da wieder runterbekommen?
Die Sensoren piepsten lauter. Aber die Rolle war doch noch so weit weg? Wieso sah ich dann im Rückspiegel meinen Vater händeringend angelaufen kommen?
Krach. Wieso Krach, da war doch nichts im Rückspiegel?
Nein, aber im Seitenspiegel hätte ich das von ihm heiß geliebte kleine Coupé meines Vaters gesehen, in welches ich gerade eine riesige Delle in die Verkleidung über dem Hinterreifen gerammt hatte, während mein wuchtiger Kombi völlig unbeschädigt geblieben war.

Es folgte ein ziemlich wort- und gestenreicher Vortrag meines sonst eher stillen Herrn Vaters, unterbrochen durch zischende Fluchlaute, einigen „Mensch hearst …“ seinerseits und verlegen gestotterten Erklärungen bezüglich der Kabeltrommel meinerseits, der schließlich in väterlichem Kopfschütteln und betretenem Schweigen von mir endete. Mein Angebot, ihm den Schaden zu bezahlen, schlug er natürlich aus.
Die nächsten zwei Wochen verbrachte ich sozusagen in der Büßerstellung, bis ein unerwarteter Vorfall den Spieß umdrehen sollte.

Wieder waren meine Eltern auf Besuch, und diesmal borgte sich mein Vater mein großes Auto aus, um eine Ladung Strauchschnitt zur Mülldeponie zu bringen, bis zum Mittagessen wäre er wieder zurück.
Das Essen war gerade fertig und Mutter und ich machten uns gerade ans Tischdecken, als mein Vater hereinkam, kopfschüttelnd, blass und mit reuigem Blick. „Dass an  so was passier’n kann ...“
Oh Gott. Welch Schock. Aber was war überhaupt passiert?
„I bin mit dein’ Auto auf da Betonmauer ang’foan ...“

Es folgten väterliche Erklärungsversuche, wahrscheinlich hätten die Sensoren nicht angeschlagen und deshalb sei es passiert – vielleicht waren sie ja kaputt? –, gefolgt von Beschwichtigungen und Beruhigungen meinerseits. „Des kann ja mal passieren. Siechst eh“, erklärte ich achselzuckend, redlich bemüht, mir die Schadenfreude nicht anmerken zu lassen. Man würde jetzt erst einmal was essen und dann weitersehen.
Bei der anschließenden Besichtigung stellte sich heraus: Sensor kaputt, Rücklicht kaputt, Stoßstange eingedrückt. Kann man wieder richten. Ich schob die fertige Waschmaschine vor, um endlich im Keller einen stillen Freudentanz aufführen zu können.

Natürlich kümmerte sich mein Vater auch um die Reparatur meines Autos, fiel dies ja schließlich direkt in seinen Kompetenzbereich. Man kann ja auch nicht von einem erst 34-jährigen Töchterlein verlangen, zu einer Werkstatt zu fahren, um von einem wildfremden Mechaniker den Schaden begutachten zu lassen und dann auch noch einen Termin zu vereinbaren.

Und so fuhr ich bis zum Reparaturtermin weiter mit meinem Auto, im Rückwärtsgang noch immer der schrille Alarm der Sensoren, die ich manchmal zwecks Belustigung einschaltete.
Selbstverständlich bekam ich auch, während mein Kombi in der Werkstatt weilte, das spritzige Coupé meines Vaters. Er konnte mich doch nicht so im Regen stehen lassen – ganz allein, einsam, hilflos, ohne Auto!
Papa ist halt einfach der Beste!
Seitdem musste ich über mich auch nie wieder Vorträge über das richtige Autofahren ergehen lassen.

Fazit:
Reparatur 1. Auto (in der Fachwerkstätte): ca. 1.200 Euro.
Reparatur 2. Auto (ebenso in der Fachwerkstätte): auch ca. 1.200 Euro.
Die väterliche Einsicht, dass selbst dem großen Meister ein Fehler unterlaufen kann: unbezahlbar.

Lydia Kellner

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 20083

Im tiefen Wald

Blätter sie fallen
Licht flutet das Weizenfeld
Zweige unter meinen Füßen
knacken
Klein wirke ich
Riesen um mich herum
sie atmen
ich atme
saubere Luft
Lungen frei,
Getier versteckt sich in Büschen
ich sitze auf der Bank
mein Bewusstsein verschwimmt
im Meer der grünen Lungen
Wind trägt Gedanken fort
in dunkles Meer
Tiefer gehe ich hinein
Mein Ziel
wieder herauszufinden
Tauche in der Vergangenheit herum,
wo wir alle noch zusammen waren
Alte Wege
verschwimmen mit neuen

Ich gehe weiter
in der Gegenwart

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 20074

Boxer oder Eingriff?

Blau war seine Lieblingsfarbe. So viel war klar. Das war einfach.
Aber wie viele verschiedene Blaus gab es? Himmelblau, Nachtblau, Marineblau, Veilchenblau usw. Was würde ihm gefallen?
Robert stand auf der Straße und haderte mit sich. Boutique oder Kaufhaus? Amazon oder Otto Versand? Boxer oder Slip? Microfaser oder Feinripp? Eingriff oder Knöpfe? Seide oder Spitze? Nein, das dann doch nicht.

Erstmal eine Runde über den Marktplatz, eine Tasse Kaffee bei Tante Käthe. Und dann vielleicht Onkel Google fragen.
Strategisch angehen die Sache. So wie er es immer machte, so wie es immer zu guten Ergebnissen führte. Genau. Ein Projektplan musste her, eine Pro-und-Kontra-Liste, ein Gantt-Chart, Milestones definieren, Etat aufstellen, Stakeholder benennen.
Robert atmete auf. Das war der richtige Weg. Das wäre doch gelacht, wenn Ruth Recht behalten würde. Sie hatte vorgeschlagen, dass sie die Sache für ihn erledigen könne. Sie traute ihm eben nie etwas zu. Dabei war er der geborene Problemlöser. Der Stratege. Der durchsetzungsstarke Strippenzieher.

Wie lange stand die Bedienung schon neben seinem Tisch und wartete auf seine Bestellung?
„Ein blauer Kaffee mit Spitze, bitte.”
„Sie meinen doch wohl einen schwarzen Kaffee mit Milch, oder?”
„Hab ich doch gesagt. Und bringen Sie mir bitte etwas zu schreiben, ja? Einige große Blätter und mehrere Stifte in verschiedenen Farben.”
Als seine Bestellung kam, der Kaffee und das Schreibzeug, musste Robert erstmal den Platz wechseln. Die plakatgroßen Blätter, die der Kellner besorgt hatte, passten nicht auf den winzigen Bistrotisch. Robert zog mit allen Sachen in das Nebenzimmer des Cafés und entschied: „Hier kann ich gut arbeiten.”

Doch ohne Flipchart ging das nicht. Robert schaute sich um und entdeckte den kauenden Kellner: „He, kommen Sie mal. Geben Sie mir Ihren Kaugummi.“ Der Mann starrte ihn mit offenem Mund an. Robert juckte es in den Fingern, sich den Kaugummi selbst zu nehmen. Dann zuckte der Kellner mit den Schultern und spuckte den Kaugummi in Roberts Hand.
Der pappte damit den großen Bogen Papier an die Wand und vergaß sogar, sich zu ekeln.
Den anderen Bogen riss Robert in etliche kleine Stücke. Nun konnte er seinen Masterplan ausarbeiten.

Fünfzehn Minuten später stand Robert in unveränderter Haltung vor der weißen Wand, nur der Stift in seiner Hand war beinahe durchgenagt. Es war zum Mäusemelken, zum Das-Blaue-  vom-Himmel-Runterfluchen. Er kam keinen Schritt voran.
Aber noch würde er nicht aufgeben. Von vorne denken, nicht mittendrin anfangen. Geplant vorgehen, nicht impulsiv wie Frauen. Er war nicht emotional, er handelte stets rational.
Robert schrieb das Wort „Blau” mit blauem Stift oben auf das Blatt. Darunter mehrere Pfeile: ein roter führte zu Baumwolle, ein grüner zu Microfaser, der dritte in Violett zu Satin. Der vierte führte ins Leere, mehr Stoffarten fielen Robert nicht ein.
Nächste Stufe: Form Fragezeichen. Boxer, Slip oder großes Fragezeichen. Gab es noch andere?

Der Kellner brachte die fünfte Tasse Kaffee.
„Bitte bringen Sie mir einen Schnaps. Schnell”, flehte Robert.
Er kam nicht weiter. Und dabei war er noch gar nicht zur alles entscheidenden Frage vorgedrungen: Einzelstück oder Mehrfachpackung?
Der Schnaps kam und erschien ihm wie ein himmlisches Labsal, wie Manna, wie von Göttern gesandter Nektar. Jetzt würde es besser gehen.
Jetzt.
Jetzt klingelte sein Handy.
Ruth.
Sie rief so laut, als wollte sie ohne Satellitenhilfe kommunizieren: „Wo bleibst du denn? Die Besuchszeit in der Klinik ist fast vorüber. Hast du die Unterhosen für deinen Vater?”

Renate Müller
www.renas-wortwelt.de

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 20044

 

„Ich bin ein Teil von euch“

Ich spaziere durch mein Nachbardorf. Ich sehe ein junges Paar mit einem weißen Hund in einem orangen Regenmantel, und in mir steigt das Gefühl hoch: „Ich bin ein Teil von euch.“ Ich sage das nicht, aber es ist angenehm, das zu spüren. Auch in der Landeshauptstadt denke ich bei jedem: „Ich bin ein Teil von dir.“ Ebenso bin ich in der Bundeshauptstadt ein Teil von jedem. Ich bin auf keinen Fall alleingelassen worden. Und überhaupt überall auf der Welt fühle ich bei jedem, den ich treffe, ein Teil von ihm zu sein. Weil ich ein Mensch bin und auf der Erde lebe.

Der weiße Hund mit dem orangen Regenmantel

Der weiße Hund mit dem orangen Regenmantel

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 19142

Ohrmarken

Heute besuchen wir wieder Opa. Im Altersheim. Ja, ich habe kein gutes Gewissen dabei, aber was hätten wir tun sollen? Ich arbeite viel, meine Frau arbeitet auch und erledigt die meiste Hausarbeit, die Kinder versorgen wir gemeinsam. Es ist zu wenig Zeit da, um sich rund um die Uhr um Opa zu kümmern. So musste er ins Heim, schade irgendwie, aber irgendwie auch nicht, denn es geht ihm ganz gut dort, hat es den Anschein.

Er hat halt diese Ohrmarken, diese gelben, die man von der Mutterkuhhaltung kennt, EU-Vorschrift, sonst gibt es keine Förderungen, für Opa gibt es fünfzehn Prozent der Unterhaltskosten, eine Ohrmarke pro Ohr. Darauf steht ein beliebiger Buchstabe am Anfang, bei Opa ist es ein K, dann sein Geburtsdatum, 110639, danach ein weiterer Buchstabe ohne Bedeutung, ein U bei Opa, und dann kommt ein Code, der aus drei Buchstaben besteht, bei Opa steht XIV, das bedeutet, was Opa nicht weiß, „Klonen verboten!“.

Ohrmarke

Ohrmarke

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 19102

Hair Remastered

Kleine Kinder mögen es nicht, wenn man ihnen die Haare oder die Finger- und Zehennägel schneidet. „Weil ihnen damit etwas weggenommen wird. Natürlich wollen sie das nicht“, hat eine Freundin von mir den Grund dafür erklärt. Vielleicht ist es eher so, dass die Kinderchen nicht stillhalten wollen, denke ich mir.

„Komm Luis, wir fahren zum Friseur“, sagt seine Mutter, die Fanny heißt. „Nein, ich will nicht!“, ruft der Siebenjährige. „Ich will so bleiben, wie ich bin.“ „Das geht nicht. Du bist ein Bub. Du kannst keine langen Haare haben“, sagt Fanny. „Auf dem alten Foto im Wohnzimmer hat auch ein Verwandter von uns lange Haare“, sagt Luis. „Ja, das war dein Ururgroßvater. Er war damals ungefähr so alt wie du jetzt. Das Foto ist hundert Jahre alt“, sagt Fanny. „Er hat auch einen Hut mit einer Feder auf, und neben ihm sitzt wahrscheinlich seine Mama“, sagt Luis. „Stimmt“, sagt Fanny. „Du Mama“, sagt Luis, „wir können doch auch so ein Foto von uns machen lassen, wenn ich erst richtig lange Haare habe.“ „Gar keine schlechte Idee, Luis“, sagt Fanny. „Das Foto können wir auch machen, wenn du kurze Haare hast.“ „Warum hat denn mein Ururopa als Kind lange Haare gehabt?“, fragt Luis. „Ja weißt du, früher war das öfter so“, sagt Fanny. „Jetzt wird das auch wieder so sein“, sagt Luis, „und zwar bei mir.“ „Also kein Friseur, Luis?“, fragt Fanny. „Nein, kein Friseur!“, bekräftigt er.

„Mit deinen langen Haaren kannst du dann in der Schule auf das Mädchen-WC gehen“, sagt Fanny. Sie will Luis dabei sticheln. „Das tu ich jetzt schon“, sagt er. „Was, nein, das kannst du doch nicht tun!“, sagt Fanny. „Das mach ich ja nur, wenn mir niemand zusieht“, sagt Luis. Was soll seine Mutter nun entgegnen? Sie überlegt. Es ist für einen Buben verboten, das Mädchen-WC zu betreten? Luis weiß das ja, und er macht es trotzdem. Aber irgendetwas muss sie ja jetzt sagen, also sagt sie: „Du weißt, dass das Ärger geben kann, nicht Luis? Wenn das eine Lehrerin oder die Direktorin bemerkt, können sie dich von der Schule verweisen.“ Luis sieht sie nur an.
Gut, jetzt habe ich mich geäußert, denkt Fanny, das war sozusagen das Pflichtprogramm. Mein Bub soll ja in größtmöglicher Freiheit aufwachsen, nicht nur er natürlich, auch Kay. Luis‘ Schwester Kay ist elf.

Man soll Kinder nicht in eine bestimmte Richtung drängen. Man muss ihnen viele verschiedene Möglichkeiten anbieten, und sie entscheiden selbst, welchen Weg sie einschlagen wollen. Außer es geht bei den Kindern grandios schief. Wenn sie Crash-Kids werden, muss man eingreifen, aber sonst nicht. Jedes Kind hat seine Anlagen und seine Vorlieben. Sollen sie selbst herausfinden, wie weit sie damit kommen, vorerst einmal. Von mir aus kann Luis ja gerne lange Haare tragen. Es würde im bestimmt gut stehen. Auch sein Vater hatte lange Haare, als wir uns kennenlernten. Nur steht Luis dann unter genauerer Beobachtung und muss sich womöglich öfter behaupten. Mit dem Friseur wollte ich es ihm ja nur leichtmachen.
Luis hat ja schon als Vierjähriger den kleinen Mädchen die Puppenwagen weggenommen und durch die Gegend geschoben. Manche Nachbarn haben sich darüber lustig gemacht. Die, welche am hämischsten und lautesten lachten, hatten die unglücklichsten Kinder. Luis dagegen war total happy, wenn er einen Puppenwagen schob.

Johnny spaziert alleine am Ostufer des Wörthersees. Er ist auf Tour, er geht weite Strecken. Heute ist so ein Tag. Er ist mit Fanny verheiratet und der Vater von Kay und Luis. Johnny passiert den kleinen Spielplatz, der zur Villa Lido, einem Restaurant, gehört. Nicht ein einziges Kind ist dort.

Keine Kinder

Keine Kinder

Und das heute, am frühen Nachmittag eines Sonntags. Man kann aber als Entschuldigung hernehmen, dass noch Schnee liegt.

Da sieht Johnny einen kleinen Buben auf einem Laufrad, dessen Vorderreifen im Schlamm steckt. Johnny geht hin, hebt den Vorderreifen auf, und der Bub läuft los. Er heißt Luca, so ruft ihn jetzt seine Mutter.
Kleine Kinder beobachten anders als Erwachsene, denkt Johnny. Sie schaffen es, sehr gut abzuschätzen, wer ihnen wohlgesinnt ist. Erwachsene schätzen Johnny wegen seines meist – ungewollt – düsteren Gesichtsausdrucks oft als bedrohlich ein. Kleine Kinder dagegen betrachten ihn länger, verdrehen dabei den Kopf, sehen ihn also aus unterschiedlichen Blickwinkeln, und dabei kommen sie praktisch immer zu dem Schluss: „Dieser Mann ist nett. Er mag mich.“ Manche Kinder sagen dann freche Sachen zu ihm. Johnny lässt ihnen den Spaß. Kinder sollen sich wohlfühlen, ist seine Ansicht, später wird es hart genug für sie werden. Johnny bleibt diesen Kindern so im Gedächtnis. Er wird ein positiver Teil ihrer Kindheitserinnerungen sein, wenn sie erst groß sind.

Man muss die Kinder lassen, wie sie wollen. Sie machen schon das Richtige. Und man muss sich für sie interessieren. „Zeig mir, was euch gefällt!“, muss man sagen. Die Kinder werden dann erklären, wobei sie sehr stark in Details gehen werden. Und sie werden sich freuen, dass jemand über ihre Interessen Bescheid wissen will. Will man Kinder verderben, muss man sie gängeln und einschnüren, Schule und Erfolg und „Denkt an die Zukunft!“. Wer ständig an die Zukunft denken soll, ist nicht mehr in der Gegenwart daheim, ist es nicht so? Das ist eine Erziehung über Druck und Zwang und wirkt garantiert bei Kindern als Kreativitätskiller. Als Künstler tätig zu sein, wird dann nicht mehr möglich sein.
Ich habe noch etliche Kilometer vor mir, überlegt Johnny. Ich tue das ja freiwillig. Würde mich jemand dazu anweisen, wäre die lange Geherei wahrscheinlich eine Qual. So ist sie ein Spaß für mich.
Morgen kommt Kays neue Freundin zu uns. Sie wird in Kays Zimmer schlafen. Sie besuchen gemeinsam die 1-a-Klasse des Ingeborg-Bachmann-Gymnasiums. Sie soll so ein superfreies Mädchen sein. Die Mädchen in der Klasse bewundern sie. Sie singt und spielt Klavier, später möchte sie Frontfrau in einer Band sein. Außerdem ist sie eine tolle Volleyballspielerin. Ihr Name ist Andi. Mal sehen, wie es werden wird.

Als Johnny am Montag von der Arbeit nachhause kommt, nimmt ihn seine Frau gleich beiseite. „Die Mädchen sind in Kays Zimmer. Alles ist in Ordnung“, sagt sie. „Du Schatz, hast du nicht auch gedacht, dass die Andi Andrea heißt?“ „Ja, eigentlich schon“, erwidert Johnny. „Sie heißt aber Lisa“, fährt Fanny fort. „Ihr ist der Name aber zu kleinmädchenhaft, deshalb will sie Andi gerufen werden.“  „Daran ist ja nichts auszusetzen, findest du nicht auch, Liebling?“, fragt Johnny. „Naja, sie hat auch raspelkurze Haare“, sagt Fanny. „Sie möchte halt wahrscheinlich ein Bub sein“, antwortet Johnny, „das ist doch nicht weiter schlimm, finde ich.“ „Die Andi schminkt ich aber, sehr gut und auffällig“, sagt Fanny. „Ich werde nicht schlau aus dem Mädchen.“
Leise singt sie die erste Strophe des Songs Aquarius aus dem Musical Hair: “When the moon is in the Seventh House and Jupiter aligns with Mars, then peace will guide the planets and love will steer the stars.”

Es ist schön hier, Kay ist ein liebes Mädchen, denkt Andi, als sie im für sie in Kays Zimmer gestellten Gästebett liegt. Ihr kleiner Bruder ist recht lustig. Ihre Mama wirkt sehr bemüht. Sie sollte sich mehr stylen, dann würde sie noch besser aussehen.
Beim Abendessen saß der Vater am Kopfende des Tisches und fragte mich doch glatt nach meinem Berufswunsch. Ich sagte: „Pilotin“, worauf er fragte: „Warum nicht Stewardess?“ „Weil Pilotin besser ist“, sagte ich da.
Das war so etwas von retro, wie 1972.

Johannes Tosin
(Text und Bild)

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