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Das ist ein weites Feld. Theodor Fontane zum 200. Geburtstag am 30. Dezember 2019

Das ist ein weites Feld.[1]

Auf den Feuilletonseiten großer Zeitungen, als gedruckte Publikationen, in den Fernseh-Angeboten mehren sich zwischenzeitlich Übersichten, Zeugnisse und Interpretationen Fontanescher Werke. Zumindest frühere Schulzeiten (wie die des Schreibenden) prägte die Pflichtlektüre einzelner Gedichte und ausgewählter Romane, etwa «Die Brück’ am Tay» einerseits oder «Effi Briest» andererseits. Für Fontane jedoch gilt mehr noch als für viele andere: Ein Ausschnitt, so groß er sein mag, wird diesem Mann nicht gerecht. Sein immenses Werk stellt dafür nur einen Teilgrund. Sein Werk ist unlösbar verbunden mit seinem Leben, mit seiner persönlichen Entwicklung ebenso wie mit seinem Umfeld. Dies beschrieb er nicht nur in Erinnerungen in Mitteilungen zu seinen Kinderjahren und namentlich in dem im Alter entstandenen «Von Zwanzig bis Dreißig» sogar selbst; nahezu unüberblickbar erscheint seine inhaltlich und sprachlich reiche Korrespondenz. Auch wenn den meisten unbekannt, es sei denn in aus ihr (wie aus Romanen) als Aphorismen gebotenen Einzelsätzen (wie Die Dinge beobachten gilt mir beinah mehr, als sie zu besitzen[2]), ist sie doch integraler Teil des großen, großartigen Opus – und allein durch sie wäre Fontane bereits ein bedeutender Schriftsteller. Sein Ganzes zu begreifen dürfte immer ein Versuch bleiben, der sich aber unbedingt lohnt.

Die Anfänge sehen recht bescheiden aus: In dritter Generation einer in das reformierte Preußen ausgewanderten Hugenottenfamilie ist ihm der Beruf seines Vaters vorgegeben: Er wird ebenfalls Apotheker, wenngleich seine finanziellen Verhältnisse niemals ausreichen werden, ein eigenes Geschäft zu erwerben. Phasen der Akzeptanz wechseln mit Strecken beruflichen Zweifels, für den Außenstehenden sichtbar in seinen bereits früh verfassten Gedichten. Auf Umwegen erreicht er, nach Aufenthalten an verschiedenen Orten, bereits mit 24 Jahren in Berlin die Mitgliedschaft im «Tunnel über der Spree» genannten Literaturklub gebildeter Autodidakten ganz unterschiedlicher sozialer Niveaus. Eine eigene Stellung schafft er sich mit Balladen von einer von ihm immer mehr vervollkommneten (kunstvollen) Schlichtheit des Ausdrucks, die speziell zu packen vermag. Vorbild ist England, dessen Kultur, die für ihn nicht vom Alltag zu trennen ist, er sich bei zweimaligen vielmonatigen Aufenthalten in London als eine Art preußischer Korrespondent intensiv widmet.

Auf einer Schottland-Reise wird er sich bewusst, wie stark Landschaftliches von Geschichte geprägt ist, eine Erkenntnis, die zum Auslöser wird, nun auch die Mark Brandenburg um Berlin zu erfassen: Die «Wanderungen» werden zu einer vielverzweigten, meist in seiner Freizeit unternommenen Erforschung und Notationsarbeit, die ihn über Jahrzehnte beschäftigen und in vielen Bänden ihren Ertrag finden wird; sie entwickeln sich naturgemäß in ihrer Schreibweise, bleiben jedoch allesamt geprägt von einer Mischung aus möglichst genauer Feldforschung, einer klaren thematischen Struktur und einer angenehmen Lesbarkeit. … nur grüne Fläche (…); mal auch ein Kahn, der über diesen oder jenen Arm der Oder hingleitet, dann und wann ein mit Heu beladenes Fuhrwerk oder ein Ziegeldach, dessen helles Rot wie ein Lichtpunkt auf dem Bilde steht.[3]

Genau diese Methodik aus sachlicher Präzision und guter sprachlicher Nachvollziehbarkeit legt er einer Art Parallele im Reporterdasein zugrunde: Sie erwächst ihm aus der gleichfalls langwierigen Berichterstattung über die Kriege 1864, 1866 und 1870/71, die er jedoch nicht während der Kampfhandlungen, sondern durch Sammlung von Zeugnissen und nachträglichen Besichtigungen vor Ort – Das Büchermachen aus Büchern ist nicht meine Sache[4] – nachvollzieht. Nunmehr hält er als Neuerung fest: (Meine) Kriegsbücher sind etwas anderes: Gruppierung des Stoffs im Ganzen wie im Einzelnen; Übersicht und Klarheit; und, maßgeblich prägend für das folgende belletristische Werk, lebensvolle Darstellung und Fülle der Details[5].

Selbst daraus erwächst zwar neuerlich kein finanzieller Erfolg, aber er wird – nicht zuletzt auch durch die Kunde seiner Wochen als französischer Gefangener – bekannter bis hin zum Antritt einer zweiten beamteten Stellung. Wie in den besten (seiner) Novellen folgt der bühnengerechte Wendepunkt: Er kündigt als immerhin Mittfünfziger nach wenigen Monaten, weil er einsieht, wie sehr seine menschlichen Qualitäten und seine beruflichen Fähigkeiten unter den letztlich eingebildet-bornierten Umständen leiden müssen. Zumal seit einiger Zeit schon gilt, uns vor Erniedrigung und Unwürdigkeit zu bewahren. Und nur darauf kommt es schließlich an. Independenz über alles. Alles andere ist zuletzt nur Larifari.[6]

Die Dramatik gilt nicht nur innerlich, sie hat, trotz, wie er vorrechnet, bleibender Ersparnisse für ein Jahr, erhebliche existentielle Auswirkungen auf die sechsköpfige Familie. Nur langsam fängt sich etwa seine Frau und lässt nach und nach die schweren Sorgen hinter sich. Dahinter dürfte kaum der vielfach von Fontane bekundete Entschluss gestanden sein, in Zukunft nur noch als Schriftsteller tätig zu sein, sondern vielmehr die von ihm akzeptierte praktische Konsequenz: Courage ist gut, aber Ausdauer ist besser[7], konkret: hoher Fleiß, um des lieben Brotes halber am Trapez weiterzuturnen[8], was hieß im Beendigen der begonnenen «Serienwerke» inklusive verdichtetem Schriftverkehr mit Verlegern, Publizisten, Redaktionen von Zeitschriften und Wochenblättern, unermüdliche Theaterkritiken für die «Vossische Zeitung» (die über 19 Jahre anhalten), manchmal sogar umfangreichere Gelegenheits- oder Auftragsarbeiten wie Rezensionen und Essays. Und es folgen ab seinem sechzigsten Altersjahr die vielen Romane und Novellen in dichtester Folge.

Die Familie darbt nicht, verbleibt in der eher bescheidenen Wohnung mit Hausmädchen, die Kinder schließen jedes eine respektable Ausbildung ab, das Ehepaar verbringt Teile des Sommers auf dem Land (im Harz, Erzgebirge, in Schlesien oder Mecklenburg), später in Bad Kissingen. Man lebt aber ebenso wenig auf großem Fuß, muss sich finanziell stets nach der Decke strecken, was auch heißt, sich stärker aus dem gesellschaftlichen Leben zurückzuziehen. Die äußere Schlichtheit verinnerlicht Fontane und schreibt in dieser Anfangszeit: … daß ich an meinem Schreibtisch auf die Dauer am besten und am glücklichsten sitze. Einfache Lebensverhältnisse sind allem andern vorzuziehen; der Geist ist dabei am freiesten.[9]

Die Umstände bringen überdies mit sich, dass die Familie ein Rückzugsort wird, in oder vielleicht besser aus dem heraus sich differenziert das gesamte sich Blick und Denken darbietende Geschehen kommentieren lässt. «Bevorzugt» wird dabei eindeutig die Gattin in einem oft spannungsreichen aber immer ebenbürtigen Austausch, schriftlich fixiert in den oft durchaus längeren Trennungsphasen der Gatten. Emilie, aus vergleichbaren Verhältnissen stammend, akzeptiert zum einen das Patriarchalische mit den daraus folgenden umfassenden Diensten von Kinderaufzucht bis Haushaltsvorstandschaft, ist aber andererseits bis hin zu den Secretair-Diensten (…) täglich[10] – sprich den Abschriften aller komplexen Manuskripte und insbesondere dem Reinschreiben kaum endender Korrekturarbeiten des Perfektion anstrebenden Autors – oder gelegentlicher gesellschaftlicher Besuche eng eingebunden in die literarische Entwicklung der Zeit und insbesondere das schriftstellerische Vorankommen ihres Mannes.

Zumindest indirekt vermag man sich den Briefen Fontanes entnehmen, wie sehr Emilie in ihre Kommentierungen eingehend Bücher Dritter einschloss und in den Bewertungen der Werke des Gatten wie wohl auch in privaten Dingen oft kein Blatt vor den Mund nahm – wobei der so Beanstandete wusste, wie sehr er dies als Quell vieler Anregungen brauchte. Eine ähnliche «fachlich» vertraute Stellung dürfte nur noch die Tochter Martha, genannt Mete, gewonnen haben. Mit ihr erörtert er ebenfalls Detailfragen (wie etwa, wie die Menschen in den Texten sprechen sollten[11]) und Fragen der Literatur als Kunstsparte. Wesentliches des in den Briefen zur Arbeit Erwähnten – Basis bleibt Das Menschlichste, was wir haben, ist doch die Sprache[12] -– findet sein kreatives Echo in den publizierten Werken, während die politische und nicht zuletzt die «Welt der Texte» einen reichen Widerhall im Dialog nicht zuletzt mit den «außenstehenden» Briefpartnern erhält.

Selbst als die letzten Jahre des 80-Jährigen eine Art Durchbruch auf nationalem, ja internationalem Niveau bedeuten, bleibt er der höchst skeptische, das zutiefst Humane im Geschehen freilegende Geist und wird je älter je offener für neue Entwicklungen. Bei aller sezierenden pointierten Treffsicherheit, nicht zuletzt in seiner nach wie vor faszinierend reichen Ausdrucksweise, fehlen unbeugsam harte Urteile weitgehend, sondern sein Beobachterstatus erlaubt nur eine letztlich großzügige Haltung dem Leben gegenüber. Dies gebot womöglich seine gesundheitliche Labilität, die sich aus steter nervlicher Anspannung mit depressiven Anwandlungen speiste – und somit ein weiteres, auch aus vielen anderen Biografien bekanntes Schlaglicht auf das «Künstlerleben» eines wachen, sensiblen, schöpferischen Menschen wirft: der hier stark unter der jahrzehntelangen Nichtachtung litt und doch zugleich im grundehrlichen Wissen um seine schriftstellerische Qualität ein gleichsam nicht endendes bedeutendes Werk schuf, das erst mit Fontanes Tod im Alter von 88 Jahren sein natürliches Ende fand.

Kurz zuvor beendete er in erstaunlicher, bewundernswerter Geistesfrische (dokumentiert von Gesprächspartnern) voller Entwürfe, mit regstem Interesse für alles und jedes[13] einen nunmehr letzten umfangreichen Roman, «Der Stechlin». In ihm geschieht fast nichts an Aktion, es wechseln differenzierte Beobachtungen der räumlichen Umgebung und Dialoge einiger als Exponenten gewählter Personen. Und doch wird’s beim Lesen niemals langweilig, denn mit geistvollem Gespür, mit feiner Nuancierung und verständnisvoller Milde malt Fontane ein vielfältiges, sublim angelegtes Tableau seiner Jetztzeit der späten 1890er Jahre in der preußischen Gesellschaft … und zieht zugleich eine noch heute höchst beeindruckende, ja wunderbare Summe seiner eigenen Lebenserfahrungen.

[1] vor allem bekannt aus Effi Briest 1895, Kapitel 22 und 36
[2] an die Tochter Martha (Mete) 4.8.1883
[3] aus «Das Oderland» 1863, Blick von Freienwalde
[4] an die Gattin Emilie 12.4.1871
[5] an Otto Baumann 3.9.1872
[6] an Emilie 28.5.1875
[7] aus «Der Stechlin» 1898, 4. Kapitel
[8] an den Sohn Theodor 18.10.1886
[9] an Martha 21.9.1878
[10] so in einem Brief an Mathilde von Rohr 26.4.1874
[11] Brief vom 24.8.1882
[12] aus „Unwiederbringlich“ 1891, 13. Kapitel
[13] so Paul Schlenther Mitte Sept. 1898 anlässlich der Verlobung Marthas (nach O. Drude, Fontane. Ein Leben in Briefen, insel tb 540 Frankfurt/Main 1981, S. 480)

Martin Stankowski
www.stankowski.info

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 20017

Handke, der serbische Nobelpreis und die falsche Heiligsprechung

Es ist zu hoffen, dass der frisch gebackene Nobelpreisträger Peter Handke eine Hilfskraft hat, die ihm in diesen Tagen die nationalkommunistische Presse in Serbien übersetzt.
Weil da ist er das Thema Nr. 1, und es herrscht die reine Freude vor. Mit Handke habe nach Ivo Andric der zweite Serbe den Nobelpreis bekommen. Er habe Serbien und das serbische Volk stetig und tapfer verteidigt und sei damit nach Milosevic der größte Serbe. Dabei wird der Diktator in alter nationalistischer Rhetorik von „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ mit dem Volk gleichgestellt; wer gegen Milosevic sei, stelle sich gegen das serbische Volk uswusf. Der Jubel kennt keine Grenzen und keine Scham.

Das sind schlimmere Töne als in den 90er Jahren, als Milosevic noch an der Macht war, und es zumindest in der Hauptstadt relativ freie, anti-nationalistische Medien gab, die der nationalistischen Vergiftung Widerpart gaben. Die heftig betriebene Restauration des Milosevic-Regimes wird nun also mit dem höchsten internationalen Preis ausgezeichnet – und damit eine Person, die wie keine andere Milosevics Verbrechen geleugnet und schöngeredet hat.

So wird alles in Frage gestellt, die Zerstörung von Vukovar, die Toten von Ovcara, die ermordeten Moslems von Srebrenica, das zerschossene Krankenhaus von Gorazde, die von der serbischen Artillerie getöteten Kühe am Straßenrand, die verschreckten, ausgemergelten Menschen mit ihren Handwägelchen in den elendslangen Zügen die kroatischen und bosnischen Straßen entlang, die unzähligen Verbrechen in Sarajewo und im Kosovo, das blutrote Wasser der Drina bei Foca und Visegrad, die Kühlwagen voller albanischer Leichen, die in der Donau versenkt wurden und in den Bleigruben von Trepca. Die Massengräber auf dem Polizeigelände von Batajnica. Und all diese Krüppel, Vertriebenen und Geflüchteten.

Ich nenne nur diese wenigen Beispiele von Verbrechen, die ich mit eigenen Augen gesehen und über die ich in den Jahren 1991 bis 1997 im ORF berichtet habe.

Aber man muss solche Erfahrungen gar nicht haben. Noch viel mehr zu berichten hätten die Hunderttausenden Geflüchteten aus den jugoslawischen Kriegsgebieten und ihre Nachkommen, die in Österreich Schutz und Heimat gefunden haben. Sie alle wissen aus eigener Anschauung oder Familiennarration, was Handke beschönigt oder verschweigt.
Und das mit Zynismus verziert als Poesie oder Freiheit des Autors.
Handke hat unfassbare Schuld auf sich geladen, indem er Milosevic und Karadzic glorifiziert. Er bespuckt damit alle Opfer und ihre Angehörigen – wie auch durch seine Teilnahme an Milosevics Begräbnis in Pozarevac: „Die letzte Ehre erweisen.“

Wie kann das Komitee in Stockholm so völlig versagen und eine internationale Nobilitierung vergeben, genau zur selben Zeit, als die Welt entsetzt und in Trauer vor dem Anschlag auf die Synagoge von Halle steht. Was für ein böser „Zufall“! Will da jemand die Menschen verhöhnen, die nicht mit literaturgeschmäcklerischem Wortgeklingel à la Akademie, sondern mit Wissen und Gewissen die Wirklichkeit beobachten.

An mich, an alle und auch an das zornige Rumpelstilzchen („Ich komme von Tolstoj, ich komme von Kafka, ich komme von Cervantes“) möchte ich zwei Fragen stellen, oder vielmehr ein Gedankenspiel spielen: Was hätten diese drei – es könnten aber auch genauso gut Goethe, Beethoven oder Kant sein – zu den Balkankriegen der 90er Jahre gesagt?
Und was wäre, wenn die Opfer Schweden gewesen wären?

13.10.19

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
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www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 19139

Zwischen Ernst und Sarkasmus. Anne Mary Evans / George Eliot zum 200sten Geburtstag am 22. November 2019

Und hätte sie nur diesen 1871 erschienenen Roman geschrieben, wäre ihr doch ein herausgehobener Platz im englischen Literaturgeschehen des 19. Jahrhunderts sicher. Sie besaß ihre Stellung bereits zu Lebzeiten, wenn auch naturgemäß nicht unwidersprochen, und sie behielt sie bis dato: Gerade dieses Buch soll erst vor wenigen Jahren von zahlreichen Anglisten zum besten seiner Epoche gerechnet worden sein.
Der Autorin eignende gesellschaftliche Unstimmigkeiten von mehrfacher Selbstbenennung bis zu einer «wilden Ehe», die als Makel ihren Ruf im puritanischen Umfeld erheblich beeinträchtigten, wirken aus heutiger Sicht kaum mehr kompromittierend. Und doch spielten diese Rankünen durchaus eine literarische Rolle, denn zum einen benutzt sie immer wieder von neuem ein männliches Pseudonym, vornehmlich den George Eliot, zum anderen verarbeitet sie aus einem deutlichen Beobachterinnenstatus heraus das Verhalten der bürgerlichen Sozietät in ihrem Werk.

Einen gedanklichen Hintergrund stellte ihre Beziehung (über Richard Owen) zu den «Freidenkern» dar, der zu ihrer Übersetzung von D.F. Strauß und L. Feuerbach ins Englische führte. Ihr geht indessen missionarischer Eifer ab: Bei einzelnen beschreibenden Passagen des Buchs weiß man nicht recht, inwieweit die Bewertungen nun effektiv im direkten wörtlichen Sinn gemeint sind oder doch nicht ganz so ernst: britischer Humor eben.

Das hier im Fokus stehende oder besser: liegende Opus hat es wahrlich in sich: Schon äußerlich beindrucken die gut 1100 Seiten (im «normalen» Buchformat). Über die ganze Länge wird eine übersichtliche Gruppe der Handelnden in kleinstädtischem Umkreis und begrenztem zeitlichen Rahmen weniger Jahre vorgestellt; Abweichungen (wie eine Romreise) erscheinen nur peripher, freilich als spezifisch figurenbezogen verifiziert. Obwohl die Vorgänge sich verweben, verwirren sie sich kaum und bleiben über die gesamte Abfolge übersichtlich.
Demgemäß legt die Autorin den höchsten Wert der Ausführungen auf die Entwicklungen ihrer Gestalten, in denen, mittels eines ungeachtet der laufenden Erzählung deutlich auktorialen Sich-Hineinversetzens, nachdrücklich die innere Haltung das Handeln bestimmt. Konsequent stehen diese Personen abwechslungsweise im Fokus der Erzählung, einzelne – nicht zuletzt Frauen – in ihrem im doppelten hintergründigen Sinnieren und somit als eigentliche Handlungsträger herausgehoben.

Wobei sich die Roman-Handlung primär auf die Beziehungswelten, zu Sachfragen ebenso wie zu den Mitmenschen, bezieht und in zahlreichen Dialogen zu Wort kommt. Hierin zeigt die Autorin, wie erheblich sie von den vorangehenden anderen spezifisch femininen Sichtweisen in der englischen Literatur beeinflusst ist, etwa von Jane Austens älteren antipodisch aufgebauten Entwicklungsromanen und namentlich der Brontë-Schwestern jüngeren romanhaften Zuspitzungen. Indem sie noch zu der Schwestern-Generation gehört (!), ist es kaum ein Zufall, wenn Anne Mary Evans beim Schreiben trotz des erheblichen zeitlichen Abstands sich in etwa die selbe Epoche vornimmt. Dadurch erweisen sich (im heutigen Rückblick aus Mitteleuropa) viele inhaltliche Abhandlungen als in hohem Maß für die 1830er Jahre zeitgebunden, so insbesondere der Dauerschatten der Parlamentswahl im Gezerre von Torys und Whigs sowie die Frage medizinischer Forschung jenseits akademischer Institutionen.

Dass die Personen nicht nur in Verhaltens-, Sprach- und, kaum vermeidbar, Kleidungsfragen, sondern letztlich in ständigen ständischen Beziehungs- und Zuordnungsfragen stark dem Milieu und Jahrzehnt verquickt verbleiben, erstaunt beim Lesen demnach weit weniger. Andererseits, und darin liegt ein spürbarer Unterschied, beurteilt A.M.E. resp. G.E. die damalige Gesellschaft eben aus der Distanz von vier Jahrzehnten: Wobei die Gegenwart der streng viktorianisch geprägten Epoche von der Autorin offenbar nur graduell verstanden wird.
Zumindest auf diese Weise erklärt sich (für mich) der Untertitel A Study in Provincial Life, «Studie» dabei als Tableau in der (notwendig?) ausschnittsweisen Komposition verstanden und den Sinn des Haupttitels erheblich beeinflussend: Middlemarch, eine fiktive Kleinstadt Mittelenglands, die das erwünschte Spektrum an Aktivitäten ermöglicht, während zugleich das leicht erreichbare London den direkten Bezugsspiegel erlaubt. Eigentlicher Hauptträger des Geschehens ist somit der Kern einer Mittelschicht mit «Ausfransungen» nach oben und unten, die trotz aller Aktualitäten sich auf dem Marsch in eine spätere Jetztzeit (siehe noch einmal das Datum der Publikation) befindet.

Aus diesem Blickwinkel erscheint des Volumens Umfang nicht zu groß, obwohl im Verlauf des Lesens manches zumindest für heutige Nichtengländer etwas langatmig scheint, während umgekehrt der Schluss als Ausblick auf das Werden der Hauptfiguren etwas arg abrupt wirkt. Beides hingegen ist beileibe nicht auf dieses Buch beschränkt, man nehme sich nur einmal Thomas Manns Zauberberg vor (für den er sich den Nobelpreis erhoffte).
Es scheint also aus sozialphilosophischer Sicht durchaus eine gewisse Ausführlichkeit nötig, soll die Study nicht in eine akademische Abhandlung abgleiten, sondern in einen lebensvollen Bericht in der allzu menschlichen Atmosphäre weniger Jahre münden und in einer einfühlsamen, die jeweiligen Handlungsweisen in ihrer Bindung an Zeit, Raum und persönlichen Eigenheiten in literarischer – gut und gerne lesbarer – Schilderung verbleiben. Überdies liegt in der ansatzweisen Vorwegnahme (um im Angelsächsischen zu bleiben) späterer Entwicklungen wie Henry James’ feingliedrig-feinsinniger Schilderungen oder Virginia Woolfs innerem Monolog ein weiterer hoher Wert von Anne Mary Evans Werk.

Rund ein Jahrzehnt zuvor, 1860, veröffentlichte sie – nach journalistischer und Rezensionstätigkeit und dem (eher späten) literarischen Beginn mit Kurzgeschichten in Zeitschriften – einen zweiten, bereits sehr umfangreichen und erfolgreichen Roman Die Mühle am Floss (Anm.: Floss ist weder Floß noch Schreibfehler, sondern der Fluss-Name). Er gilt ebenso als eines  d e r  klassischen Bücher Englands. Im Grunde genommen finden sich bereits die Charakteristika des Hauptwerks von A assoziative Gedankengänge über F fiktionale aber konkret erlebbare Handlungsstätten, G starke Gewichtung inneren bürgerlichen Empfindens bis Z durch eine frühere Handlungsepoche zeitbedingte äußere Einwirkungen.
Die Palette der Personen bleibt enger als in Middlemarch, handelt es sich doch im Grunde genommen um einen Familienverband, wird aber zugleich eingehender herausgearbeitet.

Der Ernst des in sieben Teilbüchern intensiv geschilderten Werdegangs vor allem aus der Sicht eines Geschwisterpaars – vom Leben im Wohlstand über den Nieder- bis zum Untergang (darin cum grano salis ein Vorläufer von Manns Buddenbrooks) – erweist sich in der durchdringenden Darstellung, der lebensphilosophischen Auslegung, in der minutiösen Wiedergabe der Reaktionen von allerhöchster Intensität. In die weibliche Hauptfigur Maggie soll viel Autobiographisches eingeflossen sein; womöglich deshalb sind der sarkastische Unterton und die spitzfindigen (manchmal kapriziösen, manchmal bissigen) Randbemerkungen gar nicht zu überlesen – nicht zuletzt auch, weil hier die Autorin noch da und dort als auktoriale Erzählerin in Ich-Form Kommentare zum Verhältnis von gestern und heute einschiebt.
Der in der und für die Entstehungszeit wohl gerade aus seiner facettenreichen Aufführung resultierende «packende» sozial aufbereitete Durchblick in einer Mischung von Darstellung der sich entwickelnden Gegebenheiten einer- und von steter eingehender Bewertung der Ereignisse andererseits erweist sich für eine nicht «irgendwie» enger mit Britannien verbundene Leserschaft allerdings als etwas überdetailreich-ausholend, und an dieser deutlichen Temporeduktion kann die, die Gesellschaft aufspießende spitze Feder nicht viel ändern.

In die Zwischenzeit (1860 – 1871) fallen in dichter Folge zahlreiche Romane, und es schließen sich bis 1876 (vier Jahre vor ihrem Tod) weitere an, sie erreichen die darstellerische Dichte, die zielorientierte Durchführung, die eingehende Erschließung der beiden hier vorgestellten Werke aber im Großen und Ganzen nicht unbedingt.

[Insbesondere liegen dem Essay zugrunde: G.E., Die Mühle am Floss, übersetzt von Eva-Maria König, Stuttgart 1983/2000 Reclam UB 2711; G.E., Middlemarch, übersetzt von Irmgard Nickel, Leipzig 1979/Köln 2010.]

Martin Stankowski
www.stankowski.info

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 19109

NIENTE!

Annäherung an eine narrative Analyse des konstruktiven Nihilismus der zeitgenössischen österreichischen Musikformation „WANDA“ als Versuch einer Hommage

Ich bin kein abgefahrener Musikjournalist und Ihr seid keine kleinen Kinder mehr. Also nennen wir die Dinge gleich beim Namen: NIENTE!
Es ist wahrscheinlich etwas Wahres dran, daß ich mir eine Konzertkarte für Wanda im September 2018 in Klagenfurt, gleichsam das Omega des Österreichteils ihrer Nichts-Tournee, im Internet bestellt hatte. Hatte ich mir doch bereits eine Karte für das Stadthallenkonzert im April gekauft gehabt, war ich doch wieder in der Obersteiermark gemütlich daheim picken geblieben und hatte ich dann schweren Herzens die Karte doch wieder verkauft.
War ich doch beim Gratiskonzert am Donauinselfest bereits fest schreibend im wesentlich kühleren also im Sommer angenehmeren Dänemark verplant gewesen. War mir also nur mehr diese eine winzige Chance geblieben. War es doch noch in der Zeit Prä-„Ciao Baby“ gewesen, also im unerträglichen wandalistischen Vakuum. „Alles zahlt sich aus. So viel Schmerz und so viel Sehnsucht zahlt sich aus.“ Von dieser Erleuchtung aus dem neuen Album konnte ich damals also noch nicht einmal antizipatorisch geträumt haben.

Doch blättern wir zurück. Genauer gesagt dreieinhalb Jahre. Was? So lange gibt es Wanda schon? Ja, so lange. Mindestens. Was sich wie eine Leitentscheidung des EuGH anhört (So lange I), ist echte Realität geworden.
Du weißt es, wenn Du Dir ehrlich bist, genau – so schnell findest Du nicht einen besseren Clown (eine der Selbstbezeichnungen von M.M.W.)!

Ich weiß es noch und ich weiß es noch, als ob es heute gewesen wäre. Ich war mit einem Spezi auf der Leipziger Buchmesse, die überdies viel lässiger, weil kleiner und familiärer war als das anonyme Frankfurter Fabrikshallengefühl. Auf der Heimfahrt traf ich im Zug irgendeinen Abgrund oder wie auch immer, eventuell hatte mich das Buchmessenvirus erwischt (Buchfluch). Ich lag mit nicht unhohem Fieber „daheim“ in Wien darnieder und drehte im Delirium das Radio auf. Was geschah? (Ja, es war zufällig 88,6, weil ich hohes Fieber hatte und zu schwach war, um weiterzudrehen 😉 )

Ich hörte eine glasklare Ansage, begleitet von symphoniehaft-quasiorchestralen Anfangstakten, einer Hymne gleich:
„Ich kann sicher nicht mit meiner Cousine schlafen, obwohl ich gerne würde, aber ich trau mich nicht!“ (Geht oder ging es uns nicht allen insgeheim ein bißchen so? Spricht uns diese Stimme nicht direkt aus dem Herzen? Wollten wir nicht irgendwann einmal mit allem oder allen irgendwie ein bißchen schlafen oder so? Von den Nachbarn bis zum Hydranten bei der Bushaltestelle? Aber man traut sich nicht. Was würde dann die Nachbarin sagen … z. B.)
„Tante Ceccarelli hat einmal in Bologna Amore gehabt! … Wenn man dich fragt, wohin du gehst, sag nach Bologna. Wenn man dich fragt, wofür du stehst, sag für Amore … Amore!“

Was für ein Lied. Fieber hin, Schwindel her, ich war elektrisiert. Steil aufgeregt! Was für eine Band! Ich wußte nicht, wie mir geschah, damals im März anno domini 2015. Ich hatte keine Ahnung. NIENTE! Waren das die jungen Hosen? Waren das die frühen Ärzte? Ja, ich brauchte einen Arzt, und da kam er, und was für einer kam da durch den Äther daher – Marco Michael Wanda heilte mich. Ein Wanda-Heiler!!! Wie Rasputin beim Zarewitsch half mir AMORE zur Genesung. Kein Schmäh, echt jetzt. Ich war ein Spätberufener, andere hörten FM4 und waren daher schon längst Jüngerinnen oder Jünger des Herrn. Hörten das Evangelium nach Marco, also euangélion, die gute Nachricht, des Herrn. Wanda. Das da heißt: Liebe Deine Nächste, oder irgendwer anderer tut’s statt Dir! Und das ist in diesem Fall die Cousine. Habt keine Angst! Non abbiate pauro! (© Johannes Paul II.) Traut‘s Euch nur.

Der Rest ist Geschichte. Ich genas, fuhr durch die Lande und las aus meinem eigenen Evangelium, der Hin-Richtung. Und Marco und die Seinen taten das Ihre. Und ich wurde Teil einer Wanda-Bewegung, wandate in jener Zeit vom Spiritus Marco geheilt umher. Die ganze Platte wimmelte nur so von geistreichen Texten voller Liebe. Demut. Leidenschaft. Heißt Leiden und es lässt sich nicht vermeiden, dass die Wunde klafft. San Marco. Schließlich wurde ihm zu Ehren in Venedig ein Platz benannt. Eros und Thanatos. („…wenn du sagst, dass man davon sterben kann … genaaaauso wie die Flaschen von gestern …“) Mein insgeheimes Lieblingslied auf Amore ist jedoch „Denn niemand weiß, dass es uns überhaupt gegeben hat, Baby.“ Es ist wahr. So wahr.

Den Anfang des Liedes hab ich bis heute akustisch nie verstanden, und damit bin ich beileibe sicher nicht der Einzige, denn sogar am Booklet der CD steht da nur Kauderwelsch. Es is wuaascht. Weil: „Ich hab Zeit. Wir hab‘n sovüüü Zeit, Babe!!! Weil niemand weiß, dass es uns überhaupt gegeben hat.“ Ob S. Eminenz Marco damit Uns also Uns alle oder Uns also Uns zwei also Ihn und Sein Babe meint, bleibt dahingestellt und der Hermeneutik der Nachwelt anheimgestellt. Es is wuaascht. Der Refrain kracht in einer wehleidig-schmerzerfüllt paranormal hypermaskulinen Schmalzgewalt dahin, daß selbst eine zarte Natur wie ich darin seine revolverheldenhaft-latinlovermäßigen Nuancen freizulegen vermag. Schade nur, ja schade, daß dieses Goldstück bei den Wanderkonzerten gleichsam „mai“, also italienisch „nie“, gebracht wird.

Doch blättern wir weiter … Oktober 2015. Irgendein aufgeblasener Plattenhaberer mit nagelneuer Lederjacke, die ihm seine Mama geschenkt hatte und die er eine Woche zuvor gegen sein übliches Polyestersakko getauscht hatte, macht sich bei mir wichtig, er würde für sich eine Backstagekarte für das heute stattfindende Wandakonzert in der Arena haben. Aha. Da haben wir auch schon gleich das Problem. Die falschen Fans der richtigen Bands. So wie schon Nirvana sich ihre Fans nicht aussuchen konnten („he doesn‘t know, what it means …“ (in Bloom), doch der Vergleich kommt noch) müssen auch Wanda ihre Rechnungen zahlen und sich auch freuen, wenn Leute ihre Konzerte besuchen, die man sonst lieber nicht so gerne treffen würde.
Ich aber roch Lunte und fuhr hin, zückte mein Buch, schwafelte was von FM4 und kam auch schon gratis hinein. : ) Was ich erlebte, gehörte zum Besten, was ich bisher konzertant erlebt hatte. Ich hatte – sparsam wie ich bin – die CD immer noch nicht gekauft und daher ein paar Ersthörerlebnisse … „Ans, zwaa, drei, vier … Es ist so schön bei dir … … Bei dir, bei dir und bei dir …“, und er zeigte dabei auf die Ragazze mitten in der Masse!!! Ja, die Jünger um Don Marco und er selbst wußten um ihre Wirkung und darum, das Publikum zu beglücken.

Da wurde um „Schnaps“ gebettelt! Und wie! San Marco bodysurfte über die Köpfe hinweg, gleich hinüber zur Budl, krallte sich eine Bottle und soff sie halb leer. Sicher. Certo. Da mag auch nur Wasser drinnen gewesen sein. Aber konnte der Evangelist Marco Wasser in Schnaps verwandeln? Und übers Menschenmeer surfen? War ich Zeuge eines Wanders geworden? Egal. A-M-O-R-E!! Wie ein Vogelkundler frohlockte er zwischendurch immer wieder… A-A-A … Und alle taten es ihm gleich, wie damals im Kindergarten … A-a-a! … Und alle preßten, so wie damals. Nur da war kein Töpfchen! Da war nur: A-A-M-O-OOO-R-E. Und das nicht zu knapp. AMORE, ein neuer Urschrei, ein neues Mantra, ein neues Echo in den Hüften der Stadt! (Ups, das war jetzt ein bißchen Falco, der aber auch ein bißchen Pate stand für das Ganze als vormals gewesener junger Römer.)

Eingehüllt wurde das Ganze mit sehr vielen bunten und sich abwechselnden Lichtern, als ob die schönen Töne noch nicht genug gewesen wären. No! NIENTE. Nach dem Gig wurden noch bei einer Budl Platten und Devotionalien verkauft, so wie es sich bei anderen religiösen Stätten wie in Mariazell oder Assisi eben auch gehört, und ich wurde eines der Bandmitglieder himself ansichtig – Nein, nicht sua Eccellenza San Marco, das wäre Eminenza zu profan gewesen. Baciamano! Er schickte seinen quasianonymen Apostel namens Schlagzeuger, der dort vielerlei feilbot. Ich ging auf ihn zu, sagte zu ihm: Bist Du nicht auch von Wanda, und anders als damals Petrus stand er zu seinem Herrn: Ja, ich bin es. Gut, die Umstände waren auch wesentlich anders als damals … Und Marco ist auch kein Messias und auch nicht der Sohn Gottes, Verurteilung exklusive. Obwohl er manchmal ein bißchen so tut.

Denn, mich hat er letzten Mai dazu gebracht, nach Bologna zu pilgern. Denn wenn ich eh schon in Innsbruck bin, fahr ich doch gleich zum ersten Mal nach Trient weiter, bella, und geb mir dann gleich noch als Premiere Verona, bellissima, und als bombastische Krönung von allem, la Bomba: BOLOGNA!!! La Grassa. Ja, es war genauso, wie es im Hohelied des Marco gefühlt wird. Die Türme, die Graffiti-Mauern, die Arkadenbögen, die frischen Orangen, der Spirit von ewiger Jugend und Freiheit! Pfeif drauf und beiß in die Spaghetti! Ein Pärchen tanzte des Abends zum Kofferradiosound Charleston in einem Arkadenhof.

Und ich, ja ich pilgerte zu Tante Ceccarelli, die in Bologna AMORE gemacht hat. Ja, es gibt sie. Das Bethlehem des Austropop, die Grabeskirche des guten Lebensgefühls, die Geburtsstätte der Hymne von Freiheit und (unerfüllter) Liebe. Ein Fleisch, Wurst- und Käseladen in einer Seitengasse neben dem gigantomanischen Hauptplatz. Si, certo, der Marco komme immer mit seinen Eltern hierher, meinte die Tante, und viele Fans seien schon hergepilgert. Mannaggia! Verdammt! Ich habe es endgültig geschafft, dachte ich mir beim Foto mit Tante C., die mir noch ein Sackerl Kekse schenkte! Ich war im absoluten Wanda-Olymp gelandet, assolutamente. Wenn auch sonst (was weh tut!) kein Schwanz in Italien Wanda wirklich kannte, weil sie – che merda!!! – in tedesco singen. Amadeus schau oba!

Das lockere Pfeif-drauf-Gefühl, der Genuß an allem, das Zu-spät-Kommen und Zu-früh-Trinken (Kaffee, was sonst), ich stolperte tags drauf gleich vom Caféhaus in die Sonntagsmesse, denn bei so viel Wandalismus muß ein bißchen italienischer Urkatholizismus schon sein. Denn, und nun blättern wir nach vor zum eigentlichen Sinn des Textes, nämlich zum Konzert in Klagenfurt, er tut schon auch ein bißchen so als ob: Ja, Signore Marco umgibt sich mit der Aura des Religiösen. In einem Interview nannte er sich einmal Priester, Clown und Sänger der Erfolgsband Wanda. Und ja, er tut ein bisserl schamanisch.

Damals, in Klagenfurt, als ich in Villach wohnen mußte, weil wegen der Messe alles ausgebucht war, auf einem Wiesengelände neben dem Stadion, ein elendslanger Busweg vom Zentrum, und ein Pärchen, Kärntner und Italienerin (Achtung: AMORE!), was wohl u. a. der nahen Staatsgrenze zum gelobten Land geschuldet ist, das Pärchen, mich wegen meiner Einsamkeit ein wenig adoptierend für die geschätzten eineinhalb Konzertstunden, es gab Bier aus AMORE-Bechern, aber keine Gepäckkontrolle – NIENTE! Weshalb mein Schweizerjausenwurschtmesser auch wirklich wurscht war im Rucksack, es gab dafür aber Nieselregen und gratis Kronenzeitungs-(oder doch Ö3?)Pelerinen, ja, der Rock‘n‘Roll mußte schon viel aushalten und jede/r/s kann nun für sich selber entscheiden, wie das nun gemeint ist.

Meine wandakritische Mutter, die Herrn Marco despektierlich immer einen am Asphalt herumtanzenden Ringelwurm nannte, meinte im Vorfeld, daß etwas Regen einem echten Ringelwurmfan nichts ausmache! Ja, er war es, der Herr der Würmer.

Da war eine Vorband, die, wäre ich jetzt gemein, als Tocotronic-Epigonen vor Jahren durchgegangen wären, und, da ich jetzt nicht gemein bin, heutzutage durchaus als Tocotronic-Epigonen durchgegangen wären. Und dann kam, weil es ja doch Saisonende war und die Leute bei Laune gehalten werden mußten, gleich als Erstes BOLOGNA! Ein Kracher. Und mein Begleitpärchen, Er in der städtischen Verwaltung, Sie in einem technischen Büro, umklammerten sich und schrien sich die Seele aus dem Leibe. So wie ich mich umklammerte und mir die Seele aus dem Leibe schrie. Denn das waren wir uns, waren wir einander, waren wir Wanda schuldig, denn das hatten wir uns auch vorher schon gegenseitig versprochen: Daß wir uns die Seele aus dem Leibe schreien würden. Olle, olle miteinanda sing‘ ma heite fia de Wanda.

Daß mich kurz vor dem Konzert eine kurz hinter mir stehende, nennen wir sie neutral junge Dame, anpöbelte, ich solle mich bitte schleichen, weil ich ihr die Sicht verstellen würde, tat dem ganzen keinen Abbruch. Als ich meinte, ich (1,86 m) könne mich wegen ihr (ca. 1,66 m) nicht kleiner machen, ließ sie in ausgereiftem Kärntner Slang ein „ich sei ein festes Oaschloch“ auf mich los. Als sie sich dann an mir vorbeidrängte und mir weitere menschenzerstörende Blicke zuwarf, mußte ich ihr unbedingt als Frotzelei einen Kußmund schicken und – ganz im Zeichen von AMORE – ein Herzerl mit den Fingern bedeuten. Sie zischte mit zusammengekniffenen Augen nur zurück, ich solle sie gefälligst in Ruhe lassen usw. Mein Kärntner Adoptivbekannter meinte dazu nur, daß das aber gar nicht AMORE sei.

Womit wir wieder beim Problem von vorhin gelandet sind – Bands können sich ihre (zum Teil abartigen und widerwärtigen Fans) keineswegs aussuchen, weil sie von ihnen kommerziell abhängig sind. Und ein Gutteil dieser Leute, eine regelrechte Meute, versteht weder die Inhalte noch die Ursprünge der Musik, die sie gerade in beliebiger Manier nachgrölen. Gut möglich, daß, als S. E. M. M. Wanda zwischen zwei Songs meinte, es sei gut, Menschen wie uns zu sehen, in Zeiten wie diesen, die derart beschissen sind, einige viele am Schotterplatz nicht daran gedacht haben könnten, was Seine Geiligkeit uns damit sagen wollte, oh Herr. Gut möglich, daß sie kurz darauf zum Konzert eines Barden mit Sonnenbrillenpomade, kurzen Sängerknabenhosen (nein, nicht Angus Young) und einer Steißbein-(Bühnen-)Haltung gepilgert waren, um dessen Gedankenwelt zu bejubeln. Anything goes, in jede (Geschmacks-)Richtung.

Spätestens nach diesen Momenten muß einem klar sein, daß Wanda mittlerweile voll im Mainstream gelandet sind. Die Konzertbesucher sind „Normalos“, der Programmablauf ist vorhersehbar, wenn da nicht das explosive Charisma des Säulenheiligen der heimischen Musikunterwelt und die Unverwechselbarkeit, diese signifikante Genialität seiner Musik und seiner Texte wäre, die die meisten dort eh sicher nicht nicht verstanden haben, das unterstelle ich hiermit, dann wäre es ein Konzert gewesen, wie man es halt dann und wann irgendwo besucht.
Plus einer gewissen Wehmut meinerseits, weil etwa folgende Lieder von „Bussi“ beim Konzert nicht gebracht werden: „Nimm sie, wenn du glaubst, dass du‘s brauchst … besser so, also dass sie sich verrennt … … und weil ich in Bologna bin, hat ein neues Spielzeug seinen Reiz und alles and‘re keinen Sinn“ sowie „Andi und die spanischen Frauen“ - „du red’st, du red’st von spanischen Frauen, ja würd’st dich einmal nach Spanien trauen, … aber ich leb so viel wie du in einem Jahr an einem Tag … Andi, du brauchst an Schmäh …“.

Ersteres brachte Wanda in Nähe eines Anklanges eines unbestimmten Verdachtes der Frauenfeindlichkeit, was aber von Seiner Weisheit Marco Wanda umgehendst, erfolgreichst und schärfstens dementiert wurde, also kann da keine Spur von Frauenfeindlichkeit vorhanden sein, so der kritische und unabhängige und objektive und renommierte und anerkannte Wanda-Experte Prof. Michael M. Fitzthum einmal in einem Interview zur Causa. Allora. Nulla - Diesmal gab’s jedenfalls keine Chance, etwas von diesen Lilien der heimischen Sangeskunst zu hören.

Ganz zu schweigen von meinen Lieblingshits: „Bleib wo du warst!“ („Ich sauf keinen Schnaps, ich sauf einen Pistolenlauf, Babe, komm nicht zu spät nach Haus!“) und meinem absoluten Favourite „Sterne“: „Wo du auch warst, komm wieder heim, lass uns zu zweit unglücklich sein … … Da sind Sterne … Es brennt ein Licht in weiter Ferne … Da sind Stääärne … Stääärne … Stääärnnnäää-häää da sind Stärnäää!! Stärnäää! Dadudadududaaaa …“, die leider auch nicht gebracht wurden. In Letzterem wird der sogenannte Wanda-Vokal eeäää wieder aufs Allerschärfste strapaziert!

ALARM!! Das ist WANDALISMUS! Assolutamente. Ja, Wanda haben’s auch mit dem Mythos der Strizzis, der mafiösen Machos, der anarchistisch-zotigen Wilden, ich möchte gar nicht sagen, Bösen. Schnaps, Pistolen, Sex und ein bißchen italienisches Liebesgefühl, das ist das Rezept, mit dem Oberstrizzi Marco Arcangelo Michele Marchese di San Wanda unsere Seelen knackt. Unwiderruflich! Mit Texten besser als aus dem Bilderbuch! Wanda jonglieren mit Klischees und sind dabei selbst das allergrößte Klischee. Der akademisch gelernte Sprachkünstler ist da völlig unrasiert pointiert am Werk. Ja, man hat das Gefühl, dieser Mann trieft nur so vor Schweiß und Testosteron und Lebensinhalt, wenn er das, was er hoffentlich so meint, wie er es singt, ins Mikro hineinplärrt und röhrt, daß einem Hören und Segen vergehen.

Seine Mitstreiter, die meist etwas im (Bühnen-)Hintergrund stehen, verstehen das. „Laß den Thomas los, weil er versteht’s.“ Wenn er dezibelstark wie ein Jumbojet nach vorne plärrt: „Auseinander geh’n tut weh.“ Und uns damit allen aus der Seele brüllt. (Ich brauchte Ohropax plus Gehörkapseln.) M. M. Wanda und also die gleichnamige Band gehen bis ans (wohlkalkulierte) Limit und eine Schnapsnase weit darüber hinaus, wenn Signore Marco uns, also der Masse unter Ihm, mitteilt, daß sie, also the Gang, noch in derselben Nacht nach Dresden zum nächsten Gig weiterfahren werden. „Weiter, weiter!“ Keine Zeit zum Ausrauchen, das nenne ich Rock’n’Roll am/von der laufenden Band, da wird sich nichts geschenkt, höchstens eingeschenkt. Tourneealltag, München-Berlin-Wien, was so klingt wie der Häuserkauf beim DKT, ist hier die Roadshow am Puls der Fans, denn das Eisen will geschmiedet werden, und es wird gleich wieder eine neue CD geben, so frohlockt Er uns entgegen, denn die Herzen und also auch die Kasse wollen gefüllt werden wie die pulsierend-roten Paprikas in Sicilia. Das brennende Herz Marcos. Schnell noch eine ausgedrückt.

Und, dann, plötzlich, gibt uns Mr. AMORE; Sign. Marco Michael WANDA, wieder genau das, was wir brauchen. Er schmettert, nein, er winselt es geradewegs inbrünstigst-verklärt mit leidverzerrtem Antlitz wie das wilde Alphatier des Alpenrock mitten in die bouncende Masse hinein, er singt es zu allen und meint doch nur die Frauen: „Gib … Gib … Gib … Gib mir AMORE Babe … Bleib genau, wie du bist! Gib mir AMORE, Babe … Bleib genau, wie du bist!!“ Damit schenkt er uns allen selbstkritikgepeinigten Menschen und vor allem den medienvorbildleidgeprüften Damen der Schöpfung für ein paar Konzertmomente lang das Gefühl, zu existieren, zu sein und endlich zu genügen, sich selbst, Ihm, uns allen, dem Universum oder dem lieben Gott, eine psychologisch-psychedelische Du-bist-okay-ich bin-okay-Situation stellt sich ein, es ist alles gut, so wie es ist, da spielt eine hochsensible psychsoziale Intelligenz hinein, da ist Marco Mr. Wonder ganz Prediger, Therapeut, Seelenmasseur, Massenhypnotiseur … Er schenkt uns das neue NLP der absoluten Selbst- und Nächstenliebe.

Cazzo! Marco, sei grandissimo! Und das alles zur Ohrwurmwucht dieser Songs! Eine österreichische, sich periodisch zu Sein und Zeit mit etwas Kopf und ein bißchen Gefühl dahinventilierende Kolumnistin äußerte sich einmal zum Phänomen Wanda sinngemäß dahingehend, daß Herr Marco Michael Wanda „Satan“ sei und er sich auf paranormale Weise mit seinen Ohrwürmern Zugang zu unseren Seelen verschaffte. Ich glaube das absolute Gegenteil. S. E. Herr Marco Michael von Wanda ist ein Gesandter des Himmels, den der Heilige Stuhl bei uns eingeschleust hat. Ein verd®eckter Agent Roms gewissermaßen, der nicht nur ein Fremdenverkehrsbotschafter von Vatikan-Umgebung, sondern gleichsam ein apostolischer Konsul der absoluten und reinen göttlichen Liebe ist. Ja, wir haben es hier mit einem Erzbischof in Zivil zu tun, die abgefuckte Lederjacke und die halbangesudelten, sich auflösenden Leinenhosen sind nur eine Reminiszenz an den Immaterialismus eines Johannes des Täufers oder eines Franz von Assisi.

Da Marco Wanda nicht Gott sein kann, muß er also ein Gesandter Gottes sein. Er selbst sprach auch während des Konzertes davon, daß er so froh sei, daß der Pfarrer Wein verwende und nicht Wasser. Ein absolutes Indiz für seine göttliche Mission. Und was noch dafür spricht, ist seine quasi-vatikanische Diskretion: Er und seine Jünger tau(ch)ten gleichsam aus dem Nichts auf, und während man von irgendwelchen Semipromis sogar die Marke des Frühstücksaufstriches in der Gratiszeitung oder im Netz liest oder auf Wichtipedia jeden erdenklichen Quargel herausgoogeln kann, stößt man bei Wanda auf ein Vakuum – NIENTE!

Marco Michael Wanda wurde nicht geboren, er hat also keinen Anfang und kein Ende, er hat keine Freundin, er fährt nicht auf Urlaub, er lebt keine wilden Exzesse (Kurt Cobain oder Marcos erklärte Vorbilder Jim Morrison und Falco lassen grüßen, obwohl unser Geiland in Klagen-Furt am Ende selbst zur Fender greift und die Anfangsakkorde von „Smells like Teen Spirit“ auf uns nach Rock-Erlösung hungernde Seelen herniederprasseln läßt. Ist er’s oder ist er’s nicht? Die Reinkarnation des Kurt D. C. als die austriakische Fleischwerdung des amerikanischen Grungegenies? Hier tippe ich eindeutig auf NIENTE!, denn Seine Lässigkeit K. Cobain himself sträubte sich tatsächlich in jeder Faser gegen den Mainstream und demolierte als Unterpfand dessen auch fast jedesmal erfolgreichst die Bühne samt Kameras und am Ende sich selbst. Also eindeutig: Nulla! und er ist, obwohl er ja nie geboren wurde, definitiv schon älter als 27, also auch kein potentielles Mitglied des Club 27 mehr.
Da Marco Michele di Vanda daher auch nicht mehr wirklich menschlicher Natur ist und seine Bandmitglieder ebenso wenig, könnte also doch wieder eine (zumindest halb-)göttliche Provenienz in Betracht gezogen werden.
Zweifel daran? NIENTE! Tanti auguri è grazie per tutto, BUSSI, WANDA!!!

P.S.: Am Tag nach dem Konzert fuhr ich – wohin sonst – nach Italien. Altösterreich. Trieste. Auch eine Premiere. È la testa piena di Wanda.

Ad personam: Serenissimo Elmar Mayer-Baldasseroni, dessen Roman „Die Hinrichtung“ als FM4-„Buch des Jahres“ tituliert wurde und der dann und wann das Land, urbi et orbi und also v. a. sich selbst mit seinen Texten segnet, befand sich im Frühling 2019 auf Einladung der österreichischen Gesellschaft für Literatur in der kontemplativen, vorösterlichen Stille des Latiums, um am Landsitz der Familie Colonna u.a. über die Lautstärke von Marco „Che“ Gue Wanda, dem bärtigen Rebellen der musikalischen Ontologie der Nichtigkeit allen Seins jen- und diesseits der Alpen sowie dessen Zugang zu Eros, Thanatos und Pathos eremitisch-meditativ zu kontemplieren.

Elmar Mayer-Baldasseroni
https://elmarmayerbaldasseroni.wordpress.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 19099

(Auf Wunsch des Autors wurde bei diesem Text auf manche Lektoratskorrektur verzichtet und der Text großteils im Original belassen.)

Da hilft auch Selbstreflexion nicht

Ein Verriss von Olga Flors aktuellem feministisch sein wollenden Roman Klartraum.

„Du, sagt sie, ich bin zurückgetreten von dieser Liebe!, doch sie glaubt sich selbst schon lang nicht mehr.“ – Was sich Protagonistin P gegen Ende von Olga Flors Neuling Klartraum eingesteht, hat die Erzählerin, die mit der Hauptfigur verschmilzt, an diesem Punkt der Geschichte bereits gefühlte hundert Male sich und ihrem Publikum eingestanden. Es liegt die Vermutung nahe, dass in diesem Werk bewusst Aggression gegen ebenjene Frauenfigur geschürt wird, deren Selbstmitleid und scheinbar aufgeklärt-feministische Selbstbetrachtung sich 281 Seiten lang im Kreis drehen.

Liebe, Selbsthass, Trennung und so

Die Geschichte der ansonsten namenlosen Protagonistin P und ihres Antagonisten A ist so banal, wie es nur vorstellbar ist: Die beiden haben eine leidenschaftliche Affäre auf Kosten anderer oder eine durch Außenumstände eingeschränkte Liebesbeziehung neben ihren jeweiligen lieblos gewordenen eheartigen Beziehungen – je nach erzähltem Zeitpunkt und psychischer Verfassung der höchst beteiligten Interpretin. Beide haben Kinder, die sie als Rechtfertigung für das Verbleiben in der Ehe vorschieben, und sie sind sich zumindest oberflächlich einig, dass nicht mehr aus dieser Beziehung werden kann, die aus Zweifeln genauso besteht wie aus heftiger Verliebtheit und abgrundtiefer Leidenschaft. Der Kampf zwischen Vernunft und Gefühl wird immer weiter, immer wieder, einzeln und gemeinsam, ausgetragen – ohne zufriedenstellende Lösung. Die Protagonistin hasst sich dafür, dass sie, wie sie sich selbst eingesteht, undankbar ihrem verständnisvollen Ehepartner gegenüber ist und sich nicht willentlich von A entlieben kann, aber sie schafft immer aufs Neue die Selbstrechtfertigung durch Romantisierung. Nicht hauptsächlich der Betrug an den ‚Anderen‘ macht ihr zu schaffen, sondern ihre eigene Unterwerfung unter A in der gefühlten Hauptbeziehung, schließlich ist dieser nicht nur emotional unnahbar, sondern auch noch am Finanzmarkt tätig. Nach mehreren Krisen kommt es schließlich zum Bruch, nachdem A beschließt, dass er P nicht geben kann, was sie zu brauchen angibt: nur ein bisschen Verlässlichkeit und offene Kommunikation – Sicherheit in der Unsicherheit. Zum Trennungsmoment an einer Vierfachkreuzung wandern Ps Gedanken so wieder-holend und schleifenartig zurück, dass die hartnäckige Leserin die Verzweiflung und Ausweglosigkeit der Frauenfigur am Leseerlebnis authentisch miterleben kann.

Kitsch im Denken und Schreiben

P, die schon der (Eigen-)Bezeichnung nach symbolisch für alle Frauen in einer ähnlichen Lebenssituation stehen muss, schreibt nun Abschiedsbriefe und Abschiedsnachrichten, macht sich Abschiedsgedanken. Inhalt und Form sind nicht voneinander zu trennen, wenn P zur Feder oder in die Tasten greift und „ich“ und „sie“ und Höflichkeitsformen und Anreden des Lesepublikums aufeinanderprasseln. Episodisch und sprunghaft tröstet diese durchaus mutige und psychologisch realistische Komposition fast über die inhaltlichen Schwierigkeiten und den oft kitschigen Gedankenstil hinweg, der (immerhin passend, da P zumindest teilweise auch als Erzählerin vermutet werden kann) auch als Schreibstil die ganze Erzählung flutet – aber eben nur fast.

Es kann vermutet werden, dass die Flachheit des Erzählten beabsichtigt ist, zumal sich selbst die Hauptfigur der Klischees ihres Lebens bewusst ist. Überhaupt ist dieser Frau so einiges klar: die Heuchelei ihres Handelns, die symbolische Unterwerfung unter ihren Partner, die Aussichtslosigkeit ihrer Gedanken, deren mangelndes Fortschreiten, ihre unterlegene Ratio. Es ist ein Hadern mit ‚weiblichen‘ Schwächen, mit der gefühlten Unmöglichkeit der Vereinbarung von anerzogenen Geschlechterrollen mit feministischen Selbstansprüchen. Leider bestätigt die Erzählung selbst im Hadern ebenjene Stereotype, da jede Möglichkeit des Triumphs des Verstandes in diesem ungleichen Kampf bei der Frauenfigur bereits aufgehoben ist, sobald sie zum wiederholten Mal angedacht wird, und indem Antagonist A selbst in seiner verletzlichsten Phase noch kalt und berechnend erscheinen muss.

Weil die Erzählinstanz, sofern sie überhaupt von P unterschieden werden kann, sich in der erlebten Rede dauerhaft wohlfühlt, übernimmt sie auch die Denkweise der pseudo-emanzipierten Protagonistin und greift gerne zu allzu kitschigen Formulierungen, die – wie bei P – als authentischer präsentiert werden als die sich selbst zeitweise sehr gekünstelt auferlegte Rationalität: „[…] sie ist mit sich selbst beschäftigt und mit der Frage, warum die Liebe in ihrer pursten Form (keine Forderungen, keine Sicherheiten, keine Assets, nur Nähe und Öffnung) so weh tun muss, und vor allem: warum ihr?“

Metafiktion ist nicht immer die Lösung

Wie Figur und Erzählerin ist auch die Geschichte mit sich selbst beschäftigt: Die mittlerweile im Literaturbetrieb Mainstream gewordene Selbstreflexivität – also die Anregung zum Nachdenken über den Text bzw. das literarische Schreiben selbst – greift der Roman bereitwillig auf, was im Fall der eigentümlichen Erzählhaltung durchaus gelingt, wenn die Leser_innen gezwungen werden, die Klammerung an eine gesicherte Erzählinstanz aufzugeben. Bei der intendierten Spiegelung der Leseerwartungen auf der inhaltlichen Ebene sieht das anders aus, weil der wohl auch auf struktureller Ebene gemachte Versuch, Klischees durch ihre Hervorholung gerade nicht zu bedienen, scheitert. Gesteht man zu, dass eine gekünstelte Nebenhandlung sowie fehl am Platz wirkende Einschübe zum Weltgeschehen die typischen Elemente von Romanen ironisieren, ist spätestens die in einem bemühten Exkurs auf die Spitze getriebene Ökonomisierung des Schreibens zu viel des Guten. Die kritisierte Ökonomie scheint letztlich aufseiten der Vernunft zu stehen – eine weitere Sympathielenkung zugunsten der Emotion in diesem davon schon inhaltlich überladenen Werk.

Klartraum. Jung und Jung, Herbst 2017, 281 Seiten

Emil Eva Rosina
Erstveröffentlichung in ZEITGENOSSIN, Ausgabe 03/18

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 19088

 

An den Rändern des Universums

Ein Leseerlebnis mit Karl Lubomirskis Gedichtband „Unbewohnbares Rot“
(Löcker Verlag, Wien, 2019, ISBN 978-3-85409-961-1)

Es gibt viele Wege, die einen zur Lektüre eines Buches führen können. Alle haben etwas Rätselhaftes an sich, das wir uns nicht immer erklären können. Was zieht uns vom ersten Moment an? Was erregt die Aufmerksamkeit, die Neugierde? Einer dieser Wege führt über den Titel.

Karl Lubomirski wählt für seinen neuen Gedichtband den Titel „Unbewohnbares Rot“.
Das machte mich sofort neugierig, auch wenn das unbewohnbare Rot nicht sofort eingängig war. Aber Rot ist immerhin die normative Signalfarbe. Eine unbewohnbare Farbe ist aufs erste Lesen oder Hören ein unhandlicher Wortklotz. Ich habe eine Abneigung gegen die bar-Worte, noch dazu mit der negativen Vorsilbe un-! Uncharmant wie unleistbares Wohnen. weil sie immer eine Notlösung sind, eine Ungenauigkeit, um die sich jemand nicht genügend bemüht zu haben scheint. Ich habe die Gewohnheit, immer alles sofort umzudrehen und auf den Kopf zu stellen. Bewohnbares Rot. Weiß, schwarz – wäre das eine bessere Variante? Und überhaupt, was soll das, ein Wohnen in einer Farbe? Unbewohnbar – bewohnbar, das geht noch, aber was ist das Gegenteil von Rot?

Warum meint er, uns mit einem solchen sperrigen Wortkonglomerat wie un-be-wohn-bar anziehen zu können?
Aber das alles sind widerläufige Gedanken vor dem Lesen. Ungefähr so wichtig wie das Um- und Umdrehen des Buches oder das Blättern darin.

Du kannst fragen so viel du willst, Karl Lubomirski wird es dir nicht sagen. Wie ein „Knocking on Heavens Door“ und Aufstampfen mit den Füßen. So wie dort kannst du dir die Stirn blutig schlagen. Kein Klappentext, kein Vor- oder Nachwort gibt dir einen Anhalt. Das ist sicher seine Absicht und nicht den mageren Finanzen von Poesieverlegern geschuldet. Er will uns wohin führen. Nur, wohin? Also muss ich mich einlassen. Lesen und immer wieder lesen im unbewohnbaren Rot. Ich kann jetzt schon sagen: Es macht glücklich und glücklicher bei jedem Wiederlesen. Der Inhalt übertrifft das Geheimnis des Titels, der übrigens in keinem Gedicht vorkommt. Eine Spurenlegung mit Fährtensuche?
Er unterteilt auf 92 Seiten die Gedichte in vier Kapitel. Nein, zu viel gesagt, er bringt uns mit Überschriften auf den Weg, verlockt uns und lockt. Ja, aber wohin? An die Ränder des Universums und in die eigene Mitte.

Der in seinem Leben durch viele Weltgegenden gereiste Karl Lubomirski ist als Lyriker ein Seelenwanderer durch die Geschichte des Humanismus und ein Verteidiger der Kunst gegen die Wüsten des Kommentars. Mit seinem Dichterfreund und Universalgelehrten GeorgeSteiner lässt sich sagen: „Das Gedicht kommt vor der Auslegung. Das Gedicht ist, der Kommentar bedeutet.“
Fast eine Binsenwahrheit, aber es so klar auszusprechen und es subjektiv zu benutzen, ist für mich die einzige Art, mich K.L. zu nähern. Die vier Kapitel heißen:

Suche
Die Pforte
Duldungen
Wem

Ich werde jetzt ein Wort zurücknehmen: Inhalt.

Ich will nur noch dem Gewicht eines Gedichts nachsinnen, gleichgültig, ob es drei Worte hat oder über eine Seite geht. Nie kommt er mit Pauken und Trompeten daher, sondern eher mit einem Saitenklang einer Harfe oder dem Hauch einer Schilfrohrflöte. Aber wenn sich der Leser der Wucht seiner feinen Worte hingibt, verstärken sie sich zu Symphonien, die über Berge und Wüsten dahinbrausen, wenn man sich auf sie einlässt, sie in sich einlässt. Vor mir taucht das Bild einer Biene auf, die auf einer Blume nach Nektar sucht. Wie schwer wiegt das Gewicht einer Biene, wenn sie im Kelch verschwindet? Nur die Schwingung des Stängels wird es dir verraten. Und doch wissen wir, dass es ohne die Arbeit der Bienen keine Natur und keine Menschen gäbe. Eine übergroße Verantwortung. Der fast vergessene tschechische Dichter Ivan Blatný  hat einmal ein Gebet-Gedicht für die Erlösung der Bienen geschrieben. Brüder im Geiste – das Gewicht der Bienen und die Wärme zwischen den Schneeglöckchen.
Es ist kein Wunder, dass Lubomirski bei vielen unterschiedlichen Menschen Glocken zum Klingen bringt. Seine Gedichte sind bisher in 29 Sprachen übersetzt.

 

SCHÄRFERE KONTUREN
Es war ein Leben auf Probe
Weltkrieg, Notlösung
Auschwitz
viel Ferne, Fremde, Schmerz
Versagen, Beschränkung
Hoffen
den Sinn von allem
zu verstehen
der den Ozean erschuf
hat auch dich erschaffen
vielleicht
ist es zwischen zwei Schneeglöckchen
wärmer

 

UND DOCH
ist Gott
woraus auch Liebe ist
nur größer

 

DAVID
David schützte nur ein Kiesel
dieser Kiesel aber
war Gott

 

IN DEN BERGEN des Glücks
entspringen die Quellen des Leids

 

JESUS
Schön ist
dich unter uns zu wissen
unerkannt

 

VIELLEICHT IST die Allmacht Gottes
zu sein
und
nicht zu sein
wann
und wem
ER will

 

CHRISTUS vielleicht
wieder vom Kreuz nehmen
seine Wunden waschen
nähen, salben
ihn ankleiden
um Vergebung bitten
sich zu ihm unter den Baum setzen
zuhören
und fragen
wo er so lang gewesen

 

MACH DEINEN FRIEDEN mit der Welt
umarm den Baum
eh er Kreuz wird
leg dich nicht weg
das tun die anderen
die nie mehr nach dir suchen

 

Nicht bloß in Geschichte und Politik, sondern im Alltagsleben werden Probleme ja nicht gelöst, sondern ignoriert, bis andere, noch größere Probleme sie von der Tagesordnung verdrängen. So gesehen sind Lubomirskis Gedichte poetische Metaphern für das Vergehen der Zeit, die alle menschlichen Bemühungen unterläuft.

Die obigen Gedichte des Kapitels „Duldungen“ spenden Trost, ob sie nun Gott, Jesus, Christus oder David ansprechen. Der Dichter stellt ihnen menschliche Fragen, er appelliert an Christus, den Mensch gewordenen Gottessohn, als Mensch, macht sie nicht größer als sich selbst und hat vielleicht deswegen Fragen, die jeder stellen kann und bekommt Antworten mit menschlichem Angesicht. Ich, als nicht gläubiger Mensch, kann sie annehmen und in mich aufnehmen, Tag für Tag das Bild mit mir herumtragen, dass Jesus immer unter uns ist, wenn auch unerkannt. Also müsste man immer so handeln, als wäre er unter uns und in den anderen gegenwärtig. Das ist die eigentliche Sensation, die permanente Revolution des Christentums, wenn man den Jesus des Lubomirski beim Wort nimmt.
„Edle Einfalt und stille Größe“: Winckelmanns berühmte Formel fällt mir zu Lubomirski ein, dessen Gedichte unspektakulär daherkommen und sich gerade deshalb mit Widerhaken im Bewusstsein der Leser festsetzen.

Unter der Überschrift DIE PFORTE kommen die 21 Gedichte daher wie ein weiser und wissender Reisebegleiter durch die ganze Welt. Aber keiner wie von einer Agentur für Spaß und Abenteuer, Kreuzfahrtsversprechungen von Völlerei und falscher Freiheit.
Kreta, Apennin, Griechenland, Ägais, Zypern, Bosporus, Ligurien, Buchara, Karthago, Kilimandscharo. Er führt überall hin. In die Geschichte und Politik, in die Tageslagen und in die Natur. Aber immer zu den Menschen zurück und zu dir selbst. Er hat diese Meere und Bergketten selbst oft durchfurcht. Und wir bekommen daraus Diamanten und Rubine geschenkt.

 

DU
Du warst im Ozean der Menschen
mein Seepferdchen
dann Meer
und sein Refrain

Einen Tag vorher
habe ich gehofft
eine Stunde vorher
eine Minute vorher
habe ich gehofft
und seither hoffe ich
dass alles nicht wahr sei …
die Weltarche, das Sintflut-Leben
und kein Ararat
oder doch

 

ALLES WAR MIR KRETA
alles Labyrinth
aus deiner Augenhelle
führte kein Königskind

 

Texte, die reichen, um einem demnächst Achtzigjährigen, einem philosophisch, geschichtlich und ästhetisch Denkendem zu folgen. Wohin? An die Ränder der Universums, durch es hindurch zum Leser zurück. Dabei spielt das biologische Alter keine Rolle. Vielleicht sollte es unerwähnt bleiben. Aber mir persönlich ist es wichtig, immer wieder die alterslose Frische und Jugend der Gedichte zu genießen. Es kommt eben auf etwas anderes an: die Fähigkeit der ständigen Neuerschaffung und die Unvergänglichkeit der Kunst. Wer Lubomirski in sein Leben einlässt, wird nicht mehr so leicht verzweifeln und versinken in all den angesagten Katastrophenbildern. Ein Ankerplatz der Hoffnung.

Für mich ist er einer der modernsten lebenden Dichter. Modern, was heißt das schon – ein Dichter, den unsere Zeit gerade braucht. Mit einem Spürsinn, der sich so frei bewegt durch die abendländische Schriftkultur wie kaum ein anderer.

Lubomirski ist Spross einer uralten Fürstenfamilie, als Polen-Litauen eine mitteleuropäische Großmacht war und deren Mitglieder seither immer eine Rolle in Politik und Kultur spielten.
Aber man kann nicht die Geschichte Ost- und Mitteleuropas studieren, ohne über den Namen Lubomirski zu stolpern, ohne (er will es sicher nicht – und ich auch nicht) die genealogische Karte auszuspielen. Das wäre viel zu kurz gefasst und würde seinen persönlichen Verdiensten und Errungenschaften nicht gerecht. Aber dem nachzusinnen, das wird doch erlaubt sein.

Dazu gehört auch sein Vermögen, weit entfernte Lebens- und Wissensbereiche zusammenzudenken. Und das oft in einer Kürze und Prägnanz, so wie in einem Wassertropfen das ganze Meer enthalten ist, in einem Kristall das ganze Erdinnere.

Nicht einmal das Cover gibt ein eindeutiges Rot wieder. Rosa, Pink, Dunkellila, dazwischen Weiß in scharfen Dreiecken und Trapezen. Ihre Spitzen stechen ins Auge, wo sie zusammentreffen. Kein Rot einer Rose oder eines Klatschmohns, so wie wir die Farbe kennen. Oder in einer Staatsfahne. Vielleicht denkt noch jemand an die geschürzten Lippen einer Marilyn Monroe.

Wenn ich nichts, gar nichts, von Karl Lubomirski gehört und nichts von ihm gelesen hätte und nur dieses eine Gedicht bekommen hätte, würde ich ihn noch mehr lieben.

 

WEINE NICHT
such die Glockengärten auf
in deiner Stadt
eh sie verstummen

 

Ich lebe und schreibe gerade im Wiener Bezirk Wieden nahe an der Paulanerkirche. Ihre barocken Glocken klingen zu mir herüber, im Viereck der Karlskirche, St. Elisabeth und der Heiligen Thekla. Allein für ein Wort wie GLOCKENGÄRTEN müssen wir den Dichter lieben und ihn dankbar herzen. Was schwingt da alles mit an Klängen und Bildern! Eine Wolke, ein Regenbogen, ein Kosmos. Ich sehe alte Stadtansichten von Wien und stelle mir Panoramen des Karl Lubomirski von Innsbruck und Mailand vor. Wer immer das liest, hört je sein eigenes Moskau, Prag, Köln oder Krakau. Die „Schwalben von Krakau“, ein Gedicht aus einem früheren Gedichtband, sind lange, liebgewordene Begleiter geworden. Höchste Poesie und Zeitgeschichte in einem Tropfen von Poesie. Jeder kann die Schwalben hören und erahnen, wenn die Mädchen die letzten Himbeeren sammeln, kurz vor der Katastrophe.
Danach wird es keine Mädchen und ihre Liebsten mehr geben, keine Schwalben und keine Himbeeren.

 

DIE SCHWALBEN
Die Schwalben fliegen in
Krakau nicht höher
aber die Mädchen
pflücken ihren Liebsten
noch Himbeeren

Aus „Propyläen der Nacht“, Gedichte 1960 – 2000, Edition Atelier
Wie viele Geschichtsbücher muss ein Mensch lesen, um diese Tragik zu verstehen?

Ich vermute, dass er auch immer Babylon mitdenkt. Hatte Babel Glockentürme? Wahrscheinlich nicht, die Historiker schreiben nichts davon, aber der Dichter hätte sie trotzdem gehört. Vom Tod zur Vernichtung bis zur Auferstehung. Daher darf ich sagen, er tröstet, beschenkt und bereichert.

 

TOSKANISCHE VESPER
Blausamtene Tagesflügel
Säbelstimmen der Schwalben
Zypressen, Mönche
wilde Eber
letzte heilige Äpfel am Baum
müde Hornissen
wache Fasane
Musikgelage in heiligen Gräbern
beim Flötenspiel etruskischer Gäste tief in den Hügeln
wo alte Vulkane
mit Erdbebenhänden
um Dörfer würfeln

 

VOR DER JADEPFORTE KNIEN
hinter der die Menschenwege aufrecht stehen
wie Tafeln im Archiv der Schritte

 

Aber dann ist gleich wieder alles anders.
Von der Trauer in die Hoffnung gestürzt, und immer wieder umgekehrt.
Frisch und unterhaltend. Erkenntnisse, keine festen, aber wie die Geheimnisse der Steine von Rosetta. Wir wollen davon nur noch mehr. Ein Wort mehr von Lubomirski könnte uns erlösen.

 

GIB ACHT
das Amulett an deinem Hals
lockt auch Barrakudas

 

Wie in jedem Lyrikband lässt uns Lubomirski an seinen Selbstreflexionen teilnehmen, an seinem Blick auf die Rolle des Künstlers. Immer kritisch und doch selbstbehauptend.

 

KÜNSTLER
Sind anders
haben die Welt nicht im Griff
sie sind harmlos, arm
hoch über schattigem Riff
von wo man Ewigkeit sieht

 

P.S: Diesen Text, mein persönliches Nachsinnen über sein Buch, kommentierte Karl Lubomirski mit einem Gedicht:

DICHTER
Unscheinbar
wie Nachtigallen
singen sie
im Dickicht der Gedanken

 

Wien, am 28.4.19

Veröffentlicht in:
Der literarische Zaunkönig - die Zeitschrift der Erika Mitterer Gesellschaft,
Ausgabe 2/2019

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 19082

abseits der wunder

Rezension
Conny Hannes Meyer: abseits der wunder. Ein Gedicht
Verlag Bibliothek der Provinz, ISBN: 978-3-902416-98-8

Es muss etwas passiert sein, etwas Schreckliches, eine Katastrophe. Die Welt ist zerstört und unbehaust, ein Schlachthof, die Menschen sind unmenschlich, ein Abschaum wie aus Rattenlöchern, die Sonne ist gefesselt, der Himmel vergittert und flirrend von Fleischfliegen. Ein Mensch wandert durch diesen Trümmerhaufen und schleudert seinen stummen Hass gegen die verschlossenen Türen. Das hohle Tock-Tock des Einbeinsoldaten mit Krückstock schallt durch die versifften Hinterhöfe. Da kehrt einer zurück aus der Apokalypse in eine unerträgliche Gegenwart. Das große Morden ist gerade erst vorüber. Er ist jung und voll Hass auf alles Althergebrachte. Dieses Ich ist aber keineswegs stumm, wie es von sich behauptet, sondern wortgewaltig, wortgewalttätig.

„friedlich hinter bunten butzenscheiben
niedlichen wachsfigurenkrippen
bauernkrügen steinmadonnen elfenbeinkönigen
eisernen streitkolben lederpeitschen reiterpistolen
krummschwertern brustpanzern kettenringhemden dolchen (...)
grünspanige totschlägerorden metzgermedaillen
mordauszeichnungen mit staatswappen
die deckt kein seidenfächer zu
keine gesangsvereinsfahne
zinnerne würfelbecher damenkämme aus japan und zigeunerketten (...)
auf grünem biedermeierstuhl steht steif
die abschiedsbriefkassette
im sanften holztruhmoder weihrauchruch verrostet
und das habt ihr uns hinterlassen
'zinnsoldaten und massenmord
negerpuppen und rassenhass (.)“

So sieht die Welt des Heimkehrers aus. Aber anders als der Borchardt‘sche Beckmann hadert er nicht mit der Welt und mit Gott, sondern nennt die Schuldigen beim Namen, nennt die, die in die Katastrophe geführt haben und danach nichts davon wissen wollen, nichts einsehen und nicht bereuen, weitermachen und so tun, als wäre nichts geschehen.

Anders als Beckmann, den sogar das Wasser, in das er geht, wieder ausspuckt (Gott will seinen Selbstmord nicht annehmen), den seine frühere Geliebte vor die Tür setzt (ein Einbeiniger ist kein Mann), wehleidig und jammernd nicht in die Gesellschaft zurückfindet, will der Rückkehrer des Gedichts einen Neuanfang mit Kehraus, setzt seine Jugend, seine Kraft und seinen Erkenntniswillen gegen die ressentimentgeladene und weinselige Nachkriegsbarbarei. Er will sein Leben in die Hand nehmen; Lehrlingsausbildung und Studium sind dem elternlosen Nobody verschlossen, er versucht sich als Bauhilfsarbeiter, Textilvertreter, Konsumneuling, Politadept, Armeerekrut. Wegzugehen aus diesem Land, weit weg, irgendwohin auch nur eine Flucht, erkennt er trotz aller Versuchungen, feig wie die der Alten. Er durchschaut die Scheinwelten- und Alternativen und rettet sein kleines Leben in die Phantasie, ins Kino, ins Tanz- und Rausch- und Sportvergnügen. Es wird ihm klar, dass er da überall fehl am Platz ist.

„bleibe allein
alle lachen ich lache mit
aber ich bin nicht froh
alle singen ich singe mit
aber es klingt nicht richtig (...)
gummiwülste auf der zunge
so geh ich zurück
weiß
jetzt habe ich mich entschieden
entschieden
statt zu jammern zu handeln (...)
ab heute will ich misstrauisch sein
fragen und lernen wie nie (.)

Der Heimkehrer ist noch nicht angekommen, aber er hat ein Ziel gefunden.

„eine Zeit kommt
mit kammerkonzerten wilden fragen und gebeugtsein über bücher
voll wissenwollen bildgalerien
taumelnde farben formen ernste gespräche
und das irdische paradies findet noch nicht statt (...)
und keine fahne wird aufgezogen
keine jubelhymne angestimmt aber
die dummheit wird zum todfeind erklärt und
die unwissenheit zur schande (...)
dass die asche der ermordeten verbrannten nicht schreit
und die gekreuzigten nicht immer wieder
immer wieder an das kreuz geschlagen werden
der bombenangstflut wird ein damm gesetzt
und dem schicksal ein denkmal:
hier ruht es
denn wir
wir sind an seine stelle getreten (.)

Das 57-Seiten-Gedicht ist ein langer, großer, wilder Aufschrei, Trommelwirbel, Marschgedröhn mit der Tock-tock-Untermalung des Einbeinigen und der kratzenden Geige des ausgehungerten Hinterhofsängers, sich überstürzende Wort- und Bildexplosionen, eine Symphonie von Feuerwerksraketen, Kaskaden von verräterischen Kleinbürgeraccessoires in tollkühner Zusammenstellung – das Heimkehrer-Ich registriert und zertrümmert alles, voll Hass und Abscheu, aber ohne jemals des Wunsch nach einer anderen Welt aus den Augen zu verlieren mit einem angemessenen Platz darin für sich selbst, bis er ihn gefunden glaubt – im Lernen, Kennenlernen und Nichtvergessen. Dieser Platz wird für den Rest des Lebens das Theater sein. Das ist der Ort, „wo er mitlacht und singt und alles richtig klingen wird“.

Der Entwicklungsroman ist schon lange als Genre eingeführt, ein Entwicklungsgedicht, der Werdegang eines Ich in Gedichtform ein modernes Wagnis, das C.H. Meyer gelungen ist, mit schonungsloser Offenlegung der Nachkriegs- und Wiederaufbaugesellschaft. Übertragbar aber auf jede Epoche, in der die nachstürmende Jugend etwas Neues will, ihren Platz sucht und den alten Moder zerreißt.

Wien, März 2011

Veronika Seyr
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But something whispers to my mind … Emily Brontë (1818-1848) zum 200sten Geburtstag am 30. Juli

Es sind wohl für eine «gerechte» Beurteilung keine guten Voraussetzungen, wenn man – oder besser, hier: frau – gerade einmal 30 Jahre lebt und nur einen großen Roman hinterlässt. (Wobei es, gemäß Verlegerbrief, ein knapp beendetes zweites Manuskript gab, das jedoch nie aufgefunden wurde.) Bekannt ist überdies ein 1846 gedruckter Sammelband unter dem (männlichen) Pseudonym Currer, Ellis, and Acton Bell mit Gedichten auch zweier Schwestern, die eine älter, die andere jünger.

Die drei Brontë-Schwestern empfanden sich mit dem vorwiegend malenden Bruder nicht zuletzt durch die äußeren Lebensumstände – von den identischen Verhältnissen im elterlichen Pfarrhaus im Norden Englands (Yorkshire) mit einem ebenfalls als Verfasser tätigen Reverend-Vater und einer einfühlsamen Tante als Mutterersatz über eine lang anhaltende, an Holzfiguren sich entzündende Phantasiewelt bis zum Sitzen für (Gruppen-)Bildnisse – zumindest bis nach der Pubertät als eine enge Gemeinschaft. So wie, stets aufs Neue herausgearbeitet, dies Gemeinsame auch späterhin in ihren literarischen Werken im Vordergrund gestanden haben soll.

Was sich aber, sieht oder besser: liest man genauer hin, inhaltlich als etwas arg summarisch und, nimmt man einige Äußerungen (gerade der ältesten über die mittlere, eben Emily) hinzu, durchaus als etwas arg eingeschränkt herausstellt. Gleichwohl blieb inklusive des frühen, rasch aufeinander folgenden Ablebens fast aller Geschwister reichlich Stoff für mehr oder minder einfühlsame Hypothesen, die nicht zuletzt zwischen 1943 und 2016 in phantasievollen Filmen einen Niederschlag fanden, und an mehr oder minder gehaltvollen Thesen, deren Wahrheitsgehalt offen, wenn nicht fragwürdig bleibt. Noch bewunderte Virginia Woolf die Leistungen, die aus nicht mehr Lebenserfahrung entstanden, als das Haus eines achtbaren Geistlichen betreten durfte. Solchen Standpunkten lässt sich auch dank wachsendem Dokumentationsmaterial widersprechen, in diesem Fall etwa, indem sich eine erhebliche Bildung außer Haus und der Auslandsaufenthalt in einem Erziehungsheim in Brüssel mit nachfolgendem Plan einer eigenen Schule festhalten lässt.

Besonders bekannt wurden, bei uns, zwei ihrer Bücher, Jane Eyre von Charlotte und Wuthering Heights von Emily, jeweils eine Mischung aus frühromantischer Empfindung und gesellschaftlicher Realistik. Bei Wuthering Heights, 1847 wieder als von Ellis Bell verfasst und erst posthum 1850 unter eigenem Namen herausgegeben, in mehrfacher deutscher Übersetzung als (Die) Sturmhöhe erschienen, ist der Titel trotz der Bezeichnung eines zentralen Ansitzes Programmansage: Es geht zutiefst um leidenschaftliche Gefühle und ihre nicht ausbleibenden Auswirkungen. Ein Mitglied der Gentry bringt von einer Reise ein Waisenkind mit, das trotz ungebärdigen Wesens zum bevorzugten Sohn wird, in den sich, vollkommen erwidert, die Tochter des Hauses vernarrt. Was in der Familie zu erheblichem Missvergnügen und, nach des Oberhaupts Tod, zu starken Gegenmaßnahmen, zur Trennung und zur bitteren indes örtlich nahen Verheiratung von Catherine führt.
Das Unglück nimmt seinen Lauf, als der Findling Heathcliff nach einigen Jahren als gemachter Mann zurückkehrt und sich nun in schockierender Weise als Rabauke ohne Manieren manisch-obsessiv dem finanziellen und menschlichen Ruin aller vor Ort Verbliebenen widmet, in den er die nachfolgende Generation mit einbezieht. Nach dem Triumph im allseitigen Elend lebt er nur noch im Bann seiner heißen, bereits bald verstorbenen Liebe bis hin in den Untergang im (shakespearehaften) Wahn. Was jedoch ein knapp geschildertes, deshalb umso überraschenderes glückliches Ende in dem allein überlebenden jungen Paar ermöglicht.
Berichtet wird, in schriftstellerischer Hinsicht zugleich spannend wie bewunderungswürdig, aus einer zweifachen Perspektive: einer Rahmengeschichte und der sämtliche Ereignisse abhandelnden Erzählung durch die Haushälterin, infolge der mehrfach in die Gegenwart mündenden Erinnerung trotz der (scheinbaren) Kontinuität eine vielfache Verschränkung von Personen, Ereignissen, Reaktionen und feinnervig durchleuchteten Beweggründen.

Zu diesem Roman gehört unbedingt die Rezeptionsgeschichte dazu, weil sie seinen Wert mitbestimmt. Da sind die Zeitgenossen, die zwischen Faszination und Bedenken schwanken; der Mode entsprechende, starke, die gesamte Handlung bestimmende und sensitiv entfaltete Gefühle stehen dem Herausarbeiten einer in ihrem Wirken geradezu abstoßenden, wie die Kritik monierte, amoralischen Hauptperson mit vielfältig konkretisiertem negativen Heldengestus gegenüber. Kritische Äußerungen Charlottes – die die Schwester als eigensinnig bis leicht tyrannisch (bzw. a solitude-loving raven, no gentle dove) beschrieb – führten gemeinsam mit dem Blick auf die zweifellos in das Geschehen unmittelbar miteinbezogene autobiographische Landschaft, einer feuchten stürmisch-windigen Moorgegend, zu die Mystifizierung nur anheizenden Versuchen, des Romans Hauptfigur mit der Autorin enger zu verbinden.

Die Gewalt der sich allein am Fortgang der Geschichte ausrichtenden psychologischen Studie, in der theoretisierende Erklärungen fehlen, allenfalls dann und wann durch leicht altklug anmutende Bemerkungen ersetzt, blieb in der kompromisslosen Darstellung erst späteren Lesern zugänglich. Sodass der Roman schließlich als eines der wichtigsten literarischen Zeugnisse der vorviktorianischen Epoche, gar als Teil der englischen «Klassik» bewertet wurde und wird.

Die feministischen Würdigungen konnten – vor dem Hintergrund einer weiteren schwesterlichen Charakterisierung, die Emily stärker als ein Mann, einfacher als ein Kind empfand – nicht ausbleiben; noch einmal Virginia Woolf: Nur Jane Austen und (…) Emily Brontë (…) schrieben wie Frauen schreiben, nicht wie Männer schreiben, (…) setzen nur sie allein sich völlig über die unaufhörlichen Ermahnungen des ewigen Pädagogen hinweg – schreibe dies, denke jenes. (…) Man muß etwas von einer Aufrührerin haben, um sich zu sagen: (…) Die Literatur steht allen offen. Nicht zuletzt von dieser Warte aus folgten über die Jahrzehnte – bis hin zu Elfriede Jelinek – mehr oder minder freie Adaptionen des Stoffs und wiederum zahlreiche Verfilmungen, zuletzt in Irland 2011 durch die Regisseurin Andrea Arnold, und zusätzlich der Song von Kate Bush 1978 mit mindestens sechs späteren Adaptionen.

Versuchen wir bei all diesen Transkriptionen, Umformungen, Umwandlungen uns aufgrund einiger Porträts durch ihren Bruder ein Bild Emilys aus anderer Perspektive zu machen. Da ist die häufige abgebildete, traditionelle Büste im Profil: ein schmales Gesicht mit auffallend hoher Stirn, geradlinig langer, keineswegs überlanger Nase, abgesetztem schmallippigen Mund, weich zum Hals überleitendem Kinn, das volle dunkle Haar kompakt auf die rasch sich senkenden Schultern herabfallend – und, im weißlichen, nur stellenweise «Farbe» annehmenden Inkarnat-Ton des Pastells speziell auffallend die dunkelbraunen Augen unter geraden kurzen Brauen, insbesondere Träger des Ausdrucks: in die Welt blickend, studierend-nachdenklich und zugleich ebenso stark auf das Innere der Person bezogen. Ein früheres Bild, zusammen mit den Schwestern, erfasst, fast frontal, eher mädchenhafte Züge, die «halbe» Strenge verliert sich, der Mund wirkt weicher und der Augenausdruck heller, die etwas größer angegebene Figur bleibt schmal, wodurch, wenn Emily in einem dritten Beispiel ein Buch mit langgliedrigen Händen vor die Brust hält, die Kontur fast silhouettenhaft geschlossen wirkt.

Auch wenn, im deutschsprachigen Raum, der eine, jedoch umwälzende Roman sicherlich die Bedeutung Emily Brontës «ausmacht», erscheinen ihr literarisches Gewicht und ihr literarischer Verdienst in den angloamerikanischen Ländern mindestens gleich groß bezüglich ihrer Gedichte, die, sehe ich es richtig, bei nur wenigen Übersetzungen hierzulande eher unbekannt blieben. 74 an der Zahl, naturgemäß in verschiedener Kürze oder Länge, schrieb man ihr zu, ein sehr respektables Opus also, partiell bis 1850 von Charlotte, 1908 als Gesamtedition herausgegeben.
Emily empfand sehr stark ihre inspiration, für sie eine die Phantasie übersteigende Vorstellungskraft, die sie sogar personalisiert zu sehen vermochte. Der Inhalt der Poems orientiert sich erneut oft an der heimatlichen landschaftlichen Umgebung: I know not how it falls on me, / This summer evening, hushed and lone; / Yet the faint wind comes soothingly / With something of an olden tone. Hochsensibel erfasste Stimmungen rufen auf zu Meditationen über das Leben, in denen die Lyrikerin insbesondere die Endlichkeit besingt. It will not shine again: / Its sad course is done; / I have seen the last ray wane / Of the cold, bright sun. Sie ist stets präsent wie – auch – die Romanfiguren früh, was heißt etwa im eigenen Alter der Autorin, die Erde wieder verlassen.

Was macht das (mein) Dasein aus? Emily Brontë gibt in ihrer Biografie und in ihrem Werk eine überraschend(e) klare Antwort: Der Wert besteht darin, das jeweils individuelle Leben in seinem singulären Lauf anzunehmen. Damit ist kein Laissez-faire, kein simples Es-drauf-ankommen-Lassen gemeint, sondern ein Akzeptieren, was «es» mit sich bringt und dieses «es» nicht nur ernst zu nehmen, sondern in der Annahme voll auszuloten, mehr noch: ein volles Auskosten.
In dieser Fülle relativiert sich die Zeit: Nicht ein möglichst langes Leben (wie heute häufig bis hin zu den Anti-Aging-Versprechen) ist anzustreben, sondern ein zutiefst, genauer: in der Tiefe erfülltes Leben. There is not room for Death / Nor atom that his might could render void / Since thou art Being and Breath / And what thou art may never be destroyed. Erfüllt bedeutet dabei buchstäblich in der gesamten Bandbreite, die es bereithält, in der wach erlebten Spannweite von innen und außen, von Himmel und Erde, von Gefühlen und Realität(en). Dazu gehört Mut: No Coward Soul is Mine, heißt der Anfang ihres wohl letzten Gedichts.

Just in den Tagen, in denen dieser Essay entstand, macht eine neue Studie in Fachkreisen Aufsehen, die dank vieler Belege mit der These aufräumt, die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit sei mit dem Alter von 30 Jahren abgeschlossen. Wenn sich die nunmehr (gemäß Poppers Methodik) falsifizierte These gleichwohl bis dato als gültig «hielt», wirft das immerhin ein, wenn man will: sehr positives, Schlaglicht auf Emilys Erdenleben, zu dessen Länge auch diejenige anderer Künstler (allen voran Schubert mit knapp 32 Jahren) hinzugedacht werden muss. Und, rufe ich mir die zahlreichen Äußerungen von und über Emily auf, zeigt sich das eindeutige Bild eines Menschen mit hohem Selbstbewusstsein, genauer: einer Frau, die sich in beeindruckendem Maß des eigen-artigen Selbst bewusst war. Das gilt ungebrochen bis zu ihren letzten Tagen, als eine Krankheit ausbricht, die mit der Verunreinigung des Wassers in unmittelbarer Friedhofsnähe in Verbindung gebracht oder/und als Tuberkulose diagnostiziert wurde.

Entscheidend bleibt Emilys Verweigerung von Arzt und Medizin. In diesem Sinn lautet die erste Strophe des genannten Gedichts: No Coward Soul is Mine / No trembler in the world's storm-troubled sphere / I see Heaven's glories shine / And Faith shines equal arming me from Fear … Und nicht von ungefähr wünschte sich die große amerikanische Lyrikerin Emily Dickinson diese Zeilen bei ihrer Beerdigung 1886, ebenfalls ein Hinweis auf die starke Wirkung, die bis heute anhält: Das Pfarrhaus in Haworth ist ein aus aller Welt vielbesuchtes Museum der Brontë-Schwestern.

(Verwendet wurden Die Sturmhöhe, übersetzt von Grete Rambach, Frankfurt/Main 1975 insel tb 141 und verschiedene Gedichteditionen, auch im Internet verfügbar. Die Zitate Virginia Woolfs stammen aus: Ein eigenes Zimmer, übersetzt von Heidi Zernig, Fischer tb 50906, Frankfurt/Main 2005, S. 70 und 74/75; das engl. Original 1929.)

Martin Stankowski
www.stankowski.info

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Am größten ist aber die Liebe

1. Korinther 13:13

(Über Wassilij Pawlowitsch Axjonow,* 20.8.1932 in Kazan, +2009 in Santa Monica, und seine Mutter Jewgenia Ginsburg
20.8.17 Geschichte zu schreiben begonnen, an seinem 85. Geburtstag (Zufall?) bis zum 22.8. 2017,
Kirill Serebrennikow, Regisseur, Jude, schwul, in St. Petersburg verhaftet.
Verhaftete Bücher - Vorgänger: Dr. Schiwago von Pasternak, Leben und Schicksal von Wassilij Grossmann, Archipel Gulag von Solschenizyn, Ermordung von Meyerhold und Michoils und vielen anderen)

Jewgenia Ginsburg und Pavel Axjonow feiern gerade den vierten Geburtstag ihres Sohnes Wassilij auf der Datscha bei Kasan. Der 20. August 1937 ist ein warmer Sommertag, aber der Wind schickt schon einen kalten Hauch aus der Steppe von jenseits der Wolga herüber. Jewgenia hat Ferien vom Pädagogischen Institut, Pavel, der Parteiarbeiter, bekommt eine Woche Urlaub. Wie alle Datschen in den Vororten besaß das Holzhäuschen am Steilufer einen kleinen Garten, in dem Jewgenias Schwiegereltern Paradeiser, Gurken, Bohnen, Karotten, Kraut Kartoffeln und Kräuter zogen. In einer Ecke hinter dem Schuppen wuchs ein zerzauster Vogelbeerbaum. Für mehr war nicht Platz in dem Zehn-Quadatmeter-Gärtchen. In der schönen Ecke der Stube hingen eine Ikone und das ewige Licht, die Mutter trug in ihrem Gebetbuch ein Stalin-Bild, das sie so küsste wie die Ikonen. Sie hielten eine Ziege, drei Hühner und einen zugelaufenen Straßenhund, den Pawlik. Pawlik war von Anfang an Wassilijs Beschützer und Gefährte gewesen. Wasjas großer Bruder, scherzten die Erwachsenen, oder seine njanja, die Kinderfrau. Er wird einmal ein Puschkin, weil der hatte ja auch seine „nounou“, die Ariana Rodionowna. Pawlik benahm sich so wie eine Hundemutter gegenüber ihren Jungen. Schon neben dem Säugling saß er stundenlang und bewachte seinen Schlaf. Als Wassilij laufen lernte, stupste der Hund ihn an, wenn er umfiel, leckte er ihm das Gesicht, wenn er weinte, begleitete ihn auf Schritt und Tritt durch das Gärtchen und war für jedes Spiel zu haben.
Wenn die Eltern das Kind durch die Wolga-Auen ausführten, lief der Hund in treuer Ergebenheit hinter ihnen her, Pawliks Familie. Er selbst war Waise, und Straßenjungen hatten ihm mit einem Stein das Auge eingeschossen.
Auch lahmte er ein bisschen auf dem linken Hinterbein, die Schwanzhaare waren abgebrannt und wuchsen nicht nach.

Genia und Pawel waren beide glühende Kommunisten und Aktivisten in der Partei, Pawel sogar im Stadtkomitee für Wasserwirtschaft angestellt.
Trotzdem konnten sie es nicht lassen, den Hund insgeheim Batjuschka - Väterchen zu nennen, kicherten dabei und meinten damit Stalin. Pawliks eines Auge war gelb, und unter seiner Schnauze stand ein buschiger Schnurrbart. Er war, gelinde gesagt, hässlich wie eine Sturmnacht. Aber treuer und liebevoller als Pawlik konnte niemand sein. Er ist wie unsere Partei, flüsterten die Eltern, wenn sie allein waren.
Wenige Tage nach Wassilijs Geburtstag werden beide Eltern von der Staatssicherheit verhaftet. Jewgenia wird wegen „trotzkistischer Umtriebe“ zu zehn Jahren Gulag verurteilt und zu anschließender ewiger Verbannung; vom Vater verliert sich sofort jede Spur, er ist im stalinistischen Räderwerk zermahlen worden. Der Vierjährige kommt zuerst nach Kostroma in ein Heim für Kinder von Volksverrätern, später können ihn die Großeltern zu sich nach Kasan holen. Nach fast zwölf Jahren, 1948, gelingt es Jewegnia, den Sohn in ihr Verbannungsgebiet von Magadan im äußersten Osten der Sowjetunion nachzuholen. Ihr erster Sohn war während der 900-tägigen Belagerung in Leningrad verhungert. Als die Mutter bei der Ankunft ihres überlebenden Sohnes zu weinen anfing, flüstert er ihr zu: „Weine nicht vor denen.“

So beschreibt sie später die Wiedersehensszene in ihrem Erinnerungsbuch „Gratwanderung“. Wassilij bleibt zwei Jahre bei ihr, beendet die Schule und geht dann zum Medizinstudium nach Kasan. 1949 setzt Stalin die Verhaftungswelle gegen jüdische Ärzte in Gang, Genia, die inzwischen im Lager einen deutschen Arzt geheiratet hat, gerät in den letzten Stalin‘schen Wahn, der erst durch dessen Tod im März 1953 beendet wird. Als die Staatssicherheit die Mutter verhaften will, stellt sich der Siebzehnjährige vor die Schergen und sagt:
„Ich habe schon mit vier Jahren weder Vater noch Mutter gehabt, und jetzt, wo es mir endlich gelungen ist, meine Mutter wiederzufinden, wollt ihr sie mir wegnehmen.“ Die Mutter wird abgeführt, aber der KGB-Oberst, dem die Worte mitgeteilt worden waren, lässt die Mutter frei.
Der Oberst zu Jewgenia Ginsburg:
„Ein erstaunlicher Junge, Ihr Sohn. Ich habe auch so einen, in diesem Alter. Aber ich weiß nicht, ob er für seinen Vater in der Situation dasselbe tun würde. Schauen Sie, so hat jedes Unglück auch seine gute Seite. Jetzt wissen Sie wenigstens, wie sehr Ihr Sohn Sie liebt.“

In ihrem ersten Erinnerungsband „Marschroute eines Lebens“ beschreibt sie diese Szene.
1955 wird sie von Chruschtschow rehabilitiert und darf nach achtzehn Jahren ihren Verbannungsort verlassen. Für Heinrich Böll, der sie in Moskau besucht, ist sie „ein weiblicher Hiob, ein Lazarus, ein Odysseus auf den Irrfahrten zwischen einigen Höllen und einigen hingetupften Himmeln“.  Er schreibt das Vorwort für die „Gratwanderungen“, das kurz nach ihrem Tod bei Mondadori erscheint. Über den Besuch ihres Sohnes in Magadan schreibt sie:
„Ich bekam Herzklopfen vor freudiger Erregung, als er in der ersten Nacht begann, mir Gedichte vorzutragen, die für mich in all den Lagerjahren Leben, Sterben und wieder Leben bedeutet hatten. Wie für mich war auch für ihn die Poesie der Schutz vor den Härten der Realität. Die Poesie war seine Art, Widerstand zu leisten. Bei diesem ersten nächtlichen Gespräch waren Blok, Pasternak, die Achmatowa dabei. Und ich freute mich, dass ich im Überfluss von dem besaß, was er von mir bekommen wollte.“
Und der Sohn zu seiner Mutter:
„Jetzt begreife ich, was das heißt: eine Mutter ... Ich begreife zum ersten Mal … eine Mutter … das ist vor allem Selbstlosigkeit. Und dann … und dann noch dieses: Ihr kannst du deine Lieblingsgedichte aufsagen, und wenn du steckenbleibst, setzt sie fort, wo du aufgehört hast.“

Seine Mutter und der deutsche Arzt Anton Walter überredeten ihn, Medizin zu studieren, weil sie beobachtet hatten, dass Ärzte im Gulag eher überlebten als andere Menschen. Sie dachten weit voraus in seine Zukunft, konnten sich aber für den Sohn eine Welt ohne Lager gar nicht vorstellen. Ganz knapp vor Stalins Tod im März 1953 wurde er als Sohn von „Volksschädlingen“ von der Uni Kasan relegiert. An der zweitältesten Universität Russlands hatten schon der Graf Lew Nikolajewitsch Tolstoj und ein gewisser Uljanow studiert, der wegen revolutionärer Umtriebe rausgeworfen worden war.

Später darf Axjonow in Leningrad zu Ende studieren und wird für zwei Jahre Arzt. Aber die Literatur lässt ihn nicht los. Er nützt das kurze kulturelle Tauwetter unter Chruschtschow und holt die ganze westliche Literatur nach: Kafka, Faulkner, Hemingway, Robbe-Grillet. Dann beginnt er selbst Erzählungen zu schreiben, sie werden gedruckt, und er wird zum neuen Jugendidol. Er benutzt den Slang der Jugend, lässt seine Helden gammeln, durch die Welt ziehen und huldigt westlichen Moden. Er ist der sowjetische Beatnik der 60er-Jahre, repräsentierte wie kein anderer das Lebensgefühl der Jugend, er war beliebt und populär wie sonst nur noch Jewtuschenkos Lyrik. Dann bekommt er Schwierigkeiten wegen seiner „bourgeoisen Haltungen“ und wird aufgefordert, sich nicht dem „entarteten Typus der Jugend“ zu widmen. Er kommt aber glimpflicher davon als sein Chefredakteur bei „Junost“ (Die Jugend) Valentin Katajew, der abgesetzt und nach Nowosibirsk strafversetzt wird, damit er „das echte Sowjetleben kennenlernt“.

1968 erscheint sein erster ernstzunehmender Roman „Brandwunde“ (Oschog), was man übersetzen müsste, wie es sich anfühlt, in brennender Haut zu stecken.
Während der Okkupation der CSSR verirrt sich ein sowjetischer Panzer nach Italien und bleibt im Touristenverkehr stecken. „Bösartiges Gesudel“ schreibt die Korrespondentin der Literaturnaja Gazeta aus Prag.

Dann wird es ruhiger um Axjonow, bis er 1978 mit anderen Autoren wie Andrej Bitow, Fazil Iskander und Viktor Jerofejew den Literatur-Almanach Metropol im Samizdat herausbringt, der in der Sowjetunion verboten, im Westen nachgedruckt wird. Jetzt geht es Schlag auf Schlag: Ausschluss aus dem Schriftstellerverband und dem Verband der Filmschaffenden, zuerst Ausreiseverbot nach Cannes, um Andrej Tarkowskis „Stalker“ zu begleiten, dessen Drehbuch Axjonow geschrieben hatte, dann Ausweisung und Aberkennung der Staatsbürgerschaft. Am Flughafen entdecken die KGBler eine Bibel in seinem Reisegepäck, die sie ihm abnehmen wollen. Seine Frau kann die Staatsschützer überzeugen, dass von der Ausfuhr einer Bibel keine Gefahr für den Sowjetstaat ausgeht. So dürfen sie sie behalten und sie liegt seither im Regal in Santa Monica. „Der religiöse Mensch weiß, dass er glaubt. Der Marxist glaubt, dass er weiß. Das ist das Unglück der Marxisten.“

Im ersten Exil-Roman „Die Insel Krim“ rechnet er mit der Sowjetunion ab. Die Halbinsel trennt sich 1920 vom Festland ab und beschließt, weiterzuleben wie im alten Russland, ohne die bolschewistische Zäsur. Die Insulaner leben lange gut, reich, glücklich und gottgläubig, bis sie alles verspielen. Sie wollen alles haben, auch eine Ideologie wie das große Nachbarland. Eine kleine Gruppe von Intellektuellen putscht und führt den Bolschewismus ein. So kommt der Terror auf die Krim und vernichtet alle. Eine erschreckend weitsichtige Zukunftsvision. Die Annexion der Krim durch Putin im März 2014 hat der 2009 verstorbene Axjonow nicht mehr erlebt.

Aber wie mussten die Worte seiner Mutter in ihm gebrannt haben, mit denen sie das Aufzeichnen ihrer Lebenserinnerungen begründet:
„Ich habe mich bemüht, alles im Gedächtnis zu bewahren, in der Hoffnung, es eines Tages jenen guten Menschen erzählen zu können, jenen echten Kommunisten, die mich irgendwann gewiss, ganz gewiss anhören werden.“

Diese guten Kommunisten haben ihn gerade aus dem Land geworfen.
So hat sie den Sohn „in brennender Haut“ zurückgelassen und mit seinem eigenen Ratschlag: Weine nicht vor denen.

20.8. 2017, an Axjonows 85. Geburtstag

Veronika Seyr
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Vielleicht in 200 bis 300 Jahren

„Von einem Druck des Romans kann keine Rede sein, nicht früher als vielleicht in 200 bis 300 Jahren.“ Diese Prognose für das Erscheinen seines Romans bekam der russische Schriftsteller Wassilij Semjonowitsch Grossman 1961 von dem ZK-Sekretär für Kultur Suslow im Jahr 1962 gestellt. Grossman hatte ein monumentales Buch über den Zweiten Weltkrieg geschrieben, in dessen Zentrum die Schlacht um Stalingrad und die Wende im Verlauf des Krieges stehen. Er hat fast zwanzig Jahre daran geschrieben, die gesamte Kriegszeit verbrachte er als Reporter der Armee-Zeitung „Roter Stern“ an den Fronten. Er erlebte die Niederlagen im Westen zu Beginn der Invasion, die Schlachten um Moskau und Kursk, die fünf Monate des Kampfes blieb er in Stalingrad, und auch bei der Rückeroberung Weißrusslands, des Baltikums und beim Einmarsch in Berlin war er dabei.

Der studierte Chemiker, 1905 als Jossif Solomonowitsch im westukrainischen Berditschew geboren, schrieb vor dem Krieg Romane und Erzählungen, ganz entsprechend der vorgegebenen Linie des Sozialistischen Realismus; er zeichnete das Leben der sowjetischen Arbeiter beim Aufbau des Sozialismus nach. Gorki wurde auf ihn aufmerksam und führte den jungen Kollegen ins Literaturleben ein. Damit konnte er seine Arbeit in den Gruben von Donezk verlassen, ging nach Moskau, wurde veröffentlicht und hatte mit mehreren Erzählungs-Bänden und vielen Artikeln großen Erfolg. Den Großen Terror überlebt er angeblich unbeschadet, leiblich. Seine Frau Olga wird verhaftet, sein Sohn stirbt bei vormilitärischen Übungen, seine Mutter kommt im Getto von Berditschew ums Leben, so wie auch die anderen zwanzig- bis dreißigtausend jüdischen Bewohner. 1944 schreibt er als erster Augenzeuge detaillierte Berichte über die Vernichtungslager von Maidanek und Treblinka. Sie werden auch für den Nürnberger Prozess als Unterlagen für die Anklage herangezogen und im Wortlaut vorgelesen.
Aber Grosssman war auch nicht blind gegenüber der anderen Seite des Terrors. Gleich nach der Anklage Chruschtschows gegen Stalin begann er mit der Sammlung der Schicksale der im Großen Terror vernichteten Sowjetbürger. Das umfangreiche „Schwarzbuch“ wurde aber knapp vor seinem Erscheinen eingestampft und erschien nie.

Die Verhaftung eines Romans ist die höchste Auszeichnung, die die Staatsmacht einem künstlerischen Werk verleihen kann. Die Dichtung wird der Wahrheit gleichgestellt, die Erfindungen des Schriftstellers dem Verrat von Staatsgeheimnissen. Die Staatsmacht empfindet Angst vor erdachten Figuren und den Gedanken eines Autors, selbst wenn sich diese nicht in Druckseiten mit Massenauflage verwandelt haben, sondern im Schreibtisch des Schriftstellers oder in denen der Geheimdienstler ruhen bleiben.

Das Schicksal dieses Buches ist einzigartig und lässt sich in jeder einzelnen Etappe nachvollziehen. Grossman übergibt 1962 das Manuskript von eintausend Seiten der regimekonformen Literaturzeitschrift „Znamja“. Chefredakteur Wadim Koschewnikow liest es und reicht es an seine Stellvertreter Ljudmila Skorino und Alexander Kriwizki weiter. Sie erkennen die Explosionskraft des Buches und sind entsetzt. Auch nach dem XX. und XXII. Parteitag und dem Chruschtschow‘schen Tauwetters durfte man nicht so weit gehen wie Grossman: Sein Bild der sowjetischen Gesellschaft war zu schrecklich und vor allem zu wahrheitsgetreu. Gemeinsam beschließen sie die Denunziation und liefern das Buch an den KGB weiter. Dank dieser namentlich bekannten Handlager erscheinen kurz danach bei Grossman zwei Männer in Zivil, die sich als Major und Hauptmann des KGB ausweisen. Sie zeigen den Befehl zur Hausdurchsuchung vor und verlangen von ihm die Herausgabe aller Exemplare.

Sie nehmen nicht nur die maschingeschriebenen Kopien mit, sondern auch die Entwürfe und bei den Stenotypistinnen und Maschinistinnen die Farbbänder und die Blätter des Durchschlagpapiers, von denen man „gegen das Licht etwas hätte entziffern können“. Sein Monumentalwerk schien für immer vernichtet. Der Autor wurde nicht verhaftet, es blieb ihm das Schicksal von Mandelstam, Babel, Bulgakow, Chlebnikow und Antonow erspart, aber er erkrankte kurz danach an Krebs und starb drei Jahre später, nur neunundfünfzigjährig.
Was hatte die Erstleser von „Snamja“ und jene im KGB so erschreckt? Um die Beschlagnahme eines Manuskripts eines bekannten Schriftstellers zu beschließen, musste man es fürchten und hassen wie die Pest.

„Leben und Schicksal“ erforscht die sowjetische Realität am Höhepunkt ihrer Geschichte, im Kampf um Stalingrad. Gleichzeitig ist hier die schwerste Niederlage der Roten Armee, die bis zur Wolga zurückgewichen war, mit dem überragenden Sieg über den Feind dargestellt. Stalingrad als die größte Hoffnung auf den Untergang des Nazismus und die Einsicht, dass es keinen Triumph der Demokratie geben wird. Grossman erlaubt uns, tiefe Einblicke in den Erkenntnisprozess einer großen Anzahl von Personen nachzuvollziehen.

Zwischen Rassen- und Klassen-Fanatismus besteht kein grundsätzlicher Unterschied. Ein erstaunliches Paradox: Gerade in Stalingrad wird offenbar, dass die Regime, die einander bekämpften, endgültig wie Spiegelbilder einander ähnlich waren. Grossmann begeht das schlimmste Verbrechen, er dringt sogar ins Hinterland des Hinterlandes ein und stellt Gulags und Konzentrationslager einander gegenüber. Nach seinen Erfahrungen mit dem Stalinismus kommt Grossman persönlich zu christlich anmutenden Folgerungen, die er wie ein Evangelium in den Mund des inhaftierten Popen Ikonnikow legt:
„Wenn das Gute nicht in der Natur, nicht in den Predigten der Propheten, nicht in den Lehren der großen Soziologen und Volksführer und nicht in der Ethik der Philosophen liegt, wo dann? - Es liegt in den Herzen der einfachen Menschen, in der Nächstenliebe. (…)
Die Geschichte der Menschheit ist nicht die des Kampfes zwischen Gut und Böse, sondern die des Kampfes zwischen dem sogenannten Guten und jenem Körnchen Menschlichkeit. Wenn selbst unter den heutigen Bedingungen das Menschliche im Menschen nicht abgetötet werden kann, dann wird das Böse niemals den Sieg davontragen.“ (Leben und Schicksal, S. 341)

Auch daran wird deutlich, dass sich Grossman niemand Geringeren als Lew Tolstoj zum Vorbild genommen hat. Wie in „Krieg und Frieden“ gruppiert er die Menschen – es sind bei ihm an die zweihundert auf Hunderten Schauplätzen – in mehreren Familien. Im Zentrum steht die weitverzweigte Familie des sowjetischen Atomphysikers Viktor Pawlowitsch Strum und der angeheirateten Schaposchnikows. Strum gelingt der Durchbruch zu den entscheidenden Erkenntnissen und damit der sowjetischen Wissenschaft der Anschluss an die westliche Physik. Gerade als Strum den Stalin-Preis und die Glückwunschtelegramme von Einstein und Fermi erwartet, gerät er in den Strudel des Stalin‘schen Antisemitismus. Er sieht sich umgeben von einer Heerschar von Speichelleckern, Heuchlern, Karrieristen und Antisemiten. Er, der immer nur der sowjetischen Wissenschaft gedient hat, wird ins Gefängnis geworfen mit der Anklage nach dem berüchtigten Artikel 58 / Absätze 10 und 8 wegen antisowjetischer Agitation und terroristischer Tätigkeit. Ein Urteil, das seit dem Großen Terror von 1937 an viele Hunderttausende von Sowjetbürgern in die Lager gebracht hatte. Oder gleich in den Tod in der Lubjanka oder auf den Transporten.

Der Viktor P. Strum im Roman wird noch einmal entlassen, weil man sein Gehirn zur Glorie der sowjetischen Wissenschaft noch brauchen konnte. Aber der jüdisch geborene, sowjetisch sozialisierte Schriftsteller Grossman selbst wird nie wieder loskommen von der Judenvernichtung durch die Nazis und der Verfolgung durch Stalin.
Ein enger Freund schreibt später, er hatte damit seinen Knacks weg. Seine strenge, heilige, lichtbringende, sowjetische Kathedrale Stalin war eingestürzt.

Pasternaks Dr. Schiwago und Solschenizyns Archipel Gulag lösten gewaltige Skandale aus und hatten für die Autoren schwerwiegende Folgen. Pasternak starb nur zwei Jahre später an gebrochenem Herzen, Solschenizyn wurde des Landes verwiesen. Aber die Romane, so wichtig und aufklärerisch sie auch waren, bedeuteten Kinderspiele im Vergleich zu Leben und Schicksal. Sie waren für das Zentralkomitee und die Geheimdienste viel weniger gefährlich als Grossmans Buch. Es greift alle Probleme des Stalinismus offen auf und an, stellt die Verbrechen ungeschönt dar, alle in der Partei, in der Armee und sogar das proletarische Volk selbst, das gar nicht so glorreich ist, sondern auch arbeitsscheu, versoffen, devot und kriecherisch, ein Volk von Tätern und Opfern, nicht klar getrennt, sondern oft beides in einer Person. Bei allen Parallelen, die er sonst zwischen den Diktaturen zieht, ist das der große Unterschied zum anderen Totalitarismus, den Grossman herausstellt.
Das muss ihm bewusst gewesen sein, als er sein Manuskript der „Snamja“ übergab.
Er muss gewusst haben, dass man ihm das nicht durchgehen lassen wird.

Später geschah doch noch ein Wunder, nachdem das Manuskript von „Leben und Schicksal“ zwanzig Jahre lang in Haft gesessen war. Grossman hatte damals zwei Exemplare seines Manuskripts bei Freunden in Moskau verstecken können, die auf geheimen Wegen in den Westen gelangten, übersetzt und veröffentlicht wurden, das russische Original zuerst 1980 in einem Exil-Verlag in Lausanne, deutsch 1987 bei Ullstein.

26.8.17

Veronika Seyr
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