Überraschungen am Heiligabend

Kira wälzt sich genüsslich im Schnee und läuft dann freudig weiter durch den Park. Unsere kleine Malteserhündin liebt ihre Gassi-Runden vor allem im Winter. Ungewohnt still ist es heute, am Nachmittag des Heiligabends. Ich treffe keinen einzigen Menschen im Park, nicht einmal Rudi, den Obdachlosen, der sonst immer um diese Zeit die Tauben füttert. Nur ein Jugendlicher schlurft beim Rückweg an mir vorbei, in ganz offensichtlich schlechter Laune: gerunzelte Stirn, finsterer Blick, verkniffener Mund. Ich muss an die Zeit denken, als ich in seinem Alter war und Weihnachten zuhause mit meinen Eltern und mit Tante Berta feierte. Vielleicht erwartet diesen missmutigen Jungen Ähnliches wie mich damals.

Heiligabend mit meinen Eltern, das wäre ja sehr schön gewesen, aber mit Tante Berta – tja, das war, gelinde gesagt, der Alptraum eines jeden Jugendlichen. Da gab es Tante Bertas Umarmungen, bei denen man in eine Wolke von Lavendelduft eingehüllt wurde, und ihre unangenehmen Fragen, von denen jene wie: „Erzähl mal, wie geht es dir in der Schule?“ oder „Jetzt mal ehrlich, Jonas, hast du schon eine Freundin?“, noch die harmloseren waren. Im fortgeschrittenen Weihnachtspunsch- und Eierlikörstadium erzählte sie dann langatmige Anekdoten, die niemanden interessierten, über die sie selbst sich jedoch köstlich amüsierte.

Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Viele Kilometer liegen zwischen Tante Berta und mir. Den Heiligabend verbringe ich seit Jahren ausschließlich mit meiner kleinen Familie, meiner Frau Klara und unserer Tochter Christie, die außerdem auch heute ihren neunten Geburtstag feiert. Meine Eltern werden wir morgen besuchen, und Tante Berta wird wie jedes Jahr kurz angerufen.

Ich biege mit Kira in die ruhige Straße, in der wir wohnen, und öffne wenig später die Wohnungstür. Kira läuft mir voraus durch den Vorraum Richtung Wohnzimmer. Ich ziehe meine Jacke aus und schnuppere in Erwartung des Duftes nach Tannenzweigen oder gar schon nach dem eines köstlichen Weihnachtsbratens. Doch ein völlig anderer Geruch als erwartet steigt mir in die Nase. Es riecht seltsam muffig, wie nach ungewaschener Kleidung.

Klara kommt aus der Küche zu mir, sie hat einen seltsam ratlosen Ausdruck in den Augen und rote Flecken im Gesicht. Die Flecken bekommt Klara immer, wenn etwas Unerwartetes, Stressiges passiert.

„Was ist los, Liebling?“, frage ich besorgt. „Ist etwas mit Christie?“

„Christie geht’s blendend. Sie unterhält sich im Wohnzimmer mit unserem Gast.“

„Mit unserem Gast? Aber wir haben doch niemanden eingeladen. Mit welchem Gast denn?“

Klara seufzt. „Mit Rudi, dem Obdachlosen. Du weißt schon, der Bärtige, der immer im Park die Vögel füttert. Christie hat ihn eingeladen. Sie sagte, dass du gemeint hast, es wäre für dich das Allerschönste, Weihnachten gemeinsam mit einsamen Menschen zu feiern.“

Ich bin sprachlos. Tief atme ich durch und gehe ins Wohnzimmer. Da sitzen eine strahlende Christie und ein verwahrloster Rudi auf dem Sofa. Kira liegt neben ihm und lässt sich von ihm streicheln. Christi springt auf und umarmt mich, und zugleich überfällt mich ein dankbarer Wortschwall von Rudi. Überschwänglich beteuert er, wie sehr er es zu schätzen wisse, eingeladen worden zu sein, und er bedanke sich sehr für die persönlichen Zeilen, die ihm meine Tochter gestern zu seiner größten Überraschung und Freude überreicht habe.

Bevor ich zu Wort kommen kann, sagt Klara, die neben mich getreten ist und augenscheinlich ihre Fassung wiedergewonnen hat, freundlich: „Vor der Bescherung und dem Essen ziehen wir uns immer um. Komm, Rudi, ich zeige dir das Badezimmer. Jonas schenkt dir gerne Kleidung von sich, stimmt’s, Schatz? Ihr scheint dieselbe Größe zu haben.“

Und schon geht sie mit Rudi, der mir im Vorbeigehen auf die Schulter klopft, aus dem Wohnzimmer und Richtung Badezimmer.

„Christie“, sage ich leise zu meiner Tochter, „Was ist dir da bloß eingefallen? Du kannst doch nicht einfach wildfremde Leute zu uns einladen?“

„Aber heute ist Weihnachten und mein Geburtstag und Rudi ist so nett“, sagt sie. „Er freut sich so sehr, bei uns zu sein. Er ist ein Supergast. Und du hast ja zu mir gesagt, zu Weihnachten soll man besonders an die denken, die einsam sind, und dass es für dich das Allerschönste wäre, mit ihnen zu feiern.“

Das habe ich bestimmt nicht gesagt, will ich sagen, doch da fällt es mir ein. Vorgestern haben Christie und ich über Weihnachten geredet. Das heißt, Christie hat geredet, und ich habe zugehört, mit nur einem Ohr, weil ich gleichzeitig ein wichtiges Fußballmatch verfolgt habe. Dunkel erinnere ich mich, dass sie gesagt hat, wie schön es sei, dass sie am selben Tag wie das Christkind geboren ist, doch es sei auch etwas traurig, weil sie nie eine Geburtstagsparty haben könne, weil natürlich alle ihre Freundinnen Weihnachten mit ihren Familien zuhause feiern. Aber eigentlich könne sie ja diejenigen einladen, die zu Weihnachten allein wären. Und dann weiß ich noch, dass ein ungerechtfertigter Elfmeter gegeben wurde und ein ärgerliches Tor für die Gegenmannschaft gefallen ist, danach war wieder Christies Stimme an meinem Ohr:

„… wäre das nicht am allerschönsten?“ „Jaja, das wäre am allerschönsten“, habe ich geantwortet, obwohl ich den Anfang des Satzes nicht mitbekommen hatte, und Christie hat mich glücklich umarmt und ist in ihrem Zimmer verschwunden.

Ich seufze wieder, dann sage ich: „Gut, Christie, nun ist es so, wie es ist, machen wir also das Beste daraus. Feiern wir gemeinsam mit Rudi ein schönes Weihnachts- und Geburtstagsfest.“

Eine halbe Stunde später wähne ich mich in einer dieser Vorher-nachher-Serien, die Klara manchmal ansieht. Ein frisch geduschter, dezent parfümierter Rudi erscheint. Sein ungepflegter Bart ist abrasiert, das weiße, lockige Haar ist gekämmt. Mein schwarzer Rollkragenpulli und meine schwarze Lieblings-Jeans stehen ihm hervorragend. Er sieht um Jahre jünger aus.

Klara schenkt uns drei Gläser Sekt und einen Kindersekt für Christie ein.

Wir stoßen an und plaudern Belangloses. Dann erzählt Rudi aus seinem Leben. Er erzählt, dass er noch nicht lange obdachlos ist, dass er noch vor einem Jahr eine kleine Wohnung und einen Arbeitsplatz besessen hat, doch dann sei es schnell gegangen. Scheidung, Verlust der Arbeit. Die Exfrau bekam die Wohnung und die Sparbücher, und er, der Rudi, stand plötzlich mit nichts vor dem Nichts.

„Tja“, sagt Rudi, „mit den Frauen hatte ich nie Glück. Nur eine hat es gegeben“, seine Augen leuchten sehnsüchtig auf, „eine, die wäre die Richtige für mich gewesen. Betty. Wir sind in dieselbe Volksschule gegangen. Jeden Tag habe ich ihr die Schultasche getragen und ihr in der Pause einen Kakao gebracht. Betty hat mir gesagt, was ich für sie machen soll, und ich habe ihre Wünsche erfüllt. Das brauche ich, eine Frau, die den Ton angibt, mich aber nicht ausnutzt.“

„Und wo ist Betty jetzt?“, fragt Christie.

„Das weiß ich nicht, Kind, die Stadt ist groß. Vor ungefähr zwei Jahren habe ich sie zufällig am Bahnhof getroffen. Mit ihrem Mann. Sie hat mich angesehen, hat den Kopf geschüttelt und gesagt: „Du siehst nicht gut aus, Rudolf Knopf. Da stimmt etwas nicht in deinem Leben. Achte besser auf dich.“ Dann war sie wieder weg, sie und ihr Mann sind in einen Zug gestiegen.“ Rudi seufzt.

Da klopft es plötzlich laut an der Wohnungstür. Alarmiert sehen Klara und ich uns an, dann schauen wir beide zu Christie.

„Christie“, sage ich, „hast du noch jemanden eingeladen?“

Christie lächelt mich lieb an. Es klopft wieder, und Klara geht in den Vorraum zur Tür. Kurz darauf ist eine laute Frauenstimme zu hören.

„Danke für die Einladung, Frau Nachbarin, die Ihre Tochter mir überreicht hat. Freut mich außerordentlich. Sie wissen ja, dass ich allein bin, und allein sein ist grad am Heiligabend nicht schön.“

Es ist eindeutig Elsbeth Hasenschreck, die nebenan wohnt. Seitdem vor einem Jahr ihr Mann gestorben ist und vor allem seit ihrer Knieoperation im Sommer braucht sie des Öfteren unsere Hilfe. Klara erledigt Besorgungen für sie, und ich habe erst kürzlich etwas bei ihr montiert, und war froh, als ich damit fertig war, denn Elsbeth Hasenschreck spricht immer im unangenehmen Befehlston, sogar ihr ‚Danke schön‘ klingt wie eine Zurechtweisung.

Anklagend sehe ich zu Christie und schüttle leicht den Kopf. Warum lädt meine Tochter ausgerechnet die herrische Elsbeth ein?

Da bemerke ich, dass Rudi, plötzlich blass im Gesicht, aufgeregt aufgesprungen ist, und sich seine Wangen purpurrot verfärben, als Elsbeth Hasenschreck auf Krücken das Wohnzimmer betritt.
Stumm sehen sich die beiden an. Rudi lässt sich ins Sofa sinken und greift nach seinem Sektglas.

„Das würde ich bleiben lassen, Rudolf Knopf. Das Trinken hat dir nie gutgetan“, sagt unsere Nachbarin streng.

„Du hast recht, Betty“, sagt Rudi und stellt das Glas sofort wieder auf den Tisch.

Erstaunt sehen Klara, Christie und ich von einem zum anderen.

„Ist Frau Hasenschreck die Betty, von der du uns vorhin erzählt hast?“, kombiniert meine Tochter klug und hüpft aufgeregt auf dem Sofa. „Die, der du immer die Schultasche getragen hast und in der Pause Kakao gebracht hast? Die, die du am Bahnhof getroffen hast?“

Rudi nickt. Er wirkt nach wie vor fassungslos.

„Was erzählst du meinen Nachbarn für Unsinnigkeiten, Rudolf Knopf?“, fragt Elsbeth Hasenschreck streng. „Und überhaupt, warum bist du hier? Wer hat das arrangiert?“

„Ich, ich“, ruft Christie übermütig, „ich war das! Weil heute Weihnachten ist – und mein Geburtstag!“

„Jetzt ist mir alles klar“, flüstert Rudi, und lässt sich ins Sofa sinken. „Du bist das Christkind, Christie.“

„Das stimmt, Rudi. Christie ist tatsächlich unser Christkind“, sagt Klara stolz. „Ihr Geburtstermin wäre ja erst Mitte Jänner gewesen, aber Christie kam ausgerechnet am Heiligabend zur Welt.“

„Wie auch immer“, sagt Elsbeth Hasenschreck, „Alles Gute zum Geburtstag, Kind!“

Und an mich gewandt: „Jonas, jetzt nehmen Sie mir doch endlich meine schwere Tasche ab, bevor ich zusammenbreche. Es sind Geschenke drin, die legen Sie unter den Christbaum.“

„Apropos Geschenke“, sagt Klara, „ich finde, es ist höchste Zeit für die Bescherung, was meinst du, Christie?“

„Jaaa!!“

Beim Essen nach der Bescherung werden wir Zeugen eines echten Weihnachtswunders und einer rührenden Liebesgeschichte. Rudi und Betty wirken so vertraut miteinander, als ob sie ihr Leben lang jeden Tag zusammengewesen wären. Als unsere Nachbarin erfährt, dass Rudi seit gut einem Jahr keine Unterkunft hat, sagt sie resolut:

„Damit ist es jetzt vorbei, Rudolf Knopf. Ab sofort wohnst du bei mir. Ich habe Platz genug und brauche dringend jemanden, der meine Einkäufe erledigt und mir im Haushalt behilflich ist. Freie Kost und Logis für deine Hilfe. Bist du einverstanden?“

Rudolf schweigt und räuspert sich ein paar Mal.

„Ja, natürlich, Betty, furchtbar gerne, danke, ich – ich bin einverstanden“, stottert er, und seine Augen glitzern und strahlen heller als die Weihnachtslichter am Baum.

Es ist ein fröhlicher, schöner Abend mit Rudi und Betty. Gegen zwanzig Uhr wollen sich die beiden verabschieden, und wir begleiten sie in den Vorraum.  Rudi bedankt sich zum wiederholten Mal bei Klara, Christie und mir, als Kira plötzlich die Eingangstür anbellt. Ein paar Momente später läutet es anhaltend draußen an der Tür.

„Christie?!“, mir schwant Böses. „Hast du noch jemanden eingeladen?“

Christies strahlendes Gesicht erklärt alles. Und dann geschieht ein fliegender Wechsel. Rudi und Betty verlassen unsere Wohnung und eine mir sehr vertraute Person betritt diese, einen großen Rollkoffer hinter sich herziehend. Christie und Klara werden geherzt und geküsst, dann hüllt mich eine vertraute Wolke von Lavendelduft ein. Es ist tatsächlich Tante Berta.

„Na endlich sehen wir uns wieder, mein Junge“, hält sie mich fest umarmt. „So lange habe ich auf eine Einladung gewartet! Aber nun ist sie ja, noch dazu auf so reizende Art und Weise, durch eure liebe Christie, gekommen. Da konnte ich natürlich nicht nein sagen, heute Morgen habe ich mich in den Zug gesetzt – und ja, ehe du mich fragst, ich habe Zeit und kann einige Tage bei euch bleiben!“

Mir verschlägt es die Stimme, ich höre Klara herzlich antworten, wie sehr sie sich über ihren Besuch freue. Dann hakt sich Tante Berta bei mir unter, schleift und trägt mich beinahe mit sich ins Wohnzimmer zum Sofa.

Zufrieden lässt sie sich mit mir darauf nieder und sagt:

„So, mein Junge, jetzt schenke mir mal einen kleinen Eierlikör ein, und dann erzähle mir in Ruhe. Wie geht’s Christie in der Schule? Und wie läuft’s denn so in deiner Firma? Und sag mal, bist du noch immer so verrückt nach Fußball?“

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 23188

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Ein Gedanke zu „Überraschungen am Heiligabend

  1. Mag. Robert Müller

    Ja, eine sehr schöne, menschlich angekommene Geschichte. Ein bisserl dick aufgetragen, aber als langjähriger Werbekaufmann weiß ich, dass das sein muss, damit was im Gedächtnis zurückbleibt.

    Antworten

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