Christas letztes Spotlight: Aus dem Leben einer depressiven Christbaumkugel

Gruppenleitung:
„Schönen guten Abend und herzlich willkommen in unserer Selbsthilfegruppe für benachteiligte Weihnachtsdekorationen. Bitte hören Sie aufmerksam zu und wichtig: Bitte werten Sie nicht. Auch das geringste Anliegen hat ein Recht darauf, gehört zu werden …“

Christa:
„Hallo, mein Name ist Christa und als Christbaumkugel fühle ich mich massiv benachteiligt. Jahr für Jahr erlebe ich dasselbe Drama: Von Jänner bis November kümmert sich keiner um dich und plötzlich wirst du aus deinem gewohnten Umfeld gerissen, man steckt dir einen Haken durch die Öse und du wirst wahllos an einen Baum gehängt – glänzend, prall und nackt!

Und dann hängst du da und alle gaffen … besonders der wollene Wichtel hinten links, der, der immer in seinen Bart murmelt und seine Zipfelmütze nicht im Griff hat. Alle Versuche, mich dem zu entziehen, mündeten bisher im Nichts und meine Beschwerde an die Obrigkeit wurde maximal strahlend belächelt. Es würde mich sogar wundern, wenn der Blasengel an der Baumspitze mein Ansinnen überhaupt registriert hätte. Und hier steckt das Problem, meine Lieben – tief in den unausgesprochenen Hierarchien weihnachtlichen Baumgehänges! Und nur, dass wir uns richtig verstehen: Der Baum fängt immer an der Spitze an zu stinken:

Keiner schert sich um die Standard-Deko! Wie sehr man sich auch bemüht, drall und prall aus dem Deko-Körbchen hervorzustechen – prominent platziert und entsprechend gewürdigt werden immer nur die anderen. Unsereins darf sich lediglich als Lückenfüller verstehen, um die Deko-Löcher am Baum zu stopfen. Auch die althergebrachte Diskussion über Glas, Plastik, Keramik und Holz schwingt hier latent Hintergrund. Die traumatisierenden Auswirkungen dieses selektiven Verhaltens will ich gar nicht näher erwähnen, das würde hier definitiv den Rahmen sprengen.

Wie man sich sicher vorstellen kann, mache ich mir als überzeugte Plastik-Anhängerin nicht allzu viel aus diesen natürlichen Materialien – sollen sie doch gehen in ihren Birkenstocks, Tannennadeln rauchen und über die Gleichstellung aller Dekoartikel philosophieren, am Ende des Tages glaubt es ihnen eh keiner und sobald die Kerzen am Baum brennen, ducken sie sich und die Forderung nach freier Platzwahl am Weihnachtsbaum weicht dem sicheren Hafen, glücklicherweise weit genug vom Feuer entfernt zu hängen – Feiglinge sind das, allesamt!

Ich steh da mehr auf handfeste Künstlichkeit, das hält für die Ewigkeit und auch die Enkel Ihrer Enkel werden sich definitiv noch daran erfreuen!

Grundsätzlich halte ich ja viel von Nachhaltigkeit – auch ich bin schon zum zweiten Mal inkarniert! Das heißt, bevor ich als Christbaumkugel wiedergeboren wurde, war ich ein waschechtes Plastiksackerl. Ich hing in einem Shop, draußen leuchtete eine Reklametafel in fluoreszierenden Rot-Tönen und wenn die Menschen gingen, hatten sie meist einen recht freudvollen Gesichtsausdruck. Als ich auserwählt wurde, füllte man mich mit konischen Formen, Batterien und anderen undefinierbaren Gegenständen und vollbepackt mit guten Sachen, die das Leben schöner machen, ging es dann nach Hause, in meine neue Welt. Man packte mich von unten und ich entleerte meinen Inhalt dienstbeflissen auf den Küchentisch – danach fehlt mir jede Erinnerung.

Am Ende dieses Lebens wurde ich als Müllsack weiterverwendet und artgerecht recycelt. Das ist wahre Wertschätzung, meine Lieben, man will gebraucht werden, denn im Lebenszyklus eines Kunststoffgegenstands bleibt einem sonst nur die Flucht ins Meer.

Als Christbaumkugel ist das eher dürftig. Mittlerweile bin ich so deprimiert, dass ich schon überlege, mich an Heiligabend mit der Hinterseite heimlich etwas nach rechts zu biegen, um mich in der Hitze des Gefechts von der Kerze neben mir bewusst ansengen zu lassen. Meinen Wert werden sie nach diesem Akt der Selbstaufgabe zwar trotzdem nicht erkennen, aber vielleicht werde ich ja als eines jener Produkte wiedergeboren, die man jeden Tag braucht, weil sie so gut in der Hand liegen – als Plastik-Kochlöffel beispielsweise.

Aber mein letztes Weihnachtsfest will ich mit Würde und absoluter Hingabe begehen: Ich will den zarten Tönen der Blockflöte zu „Alle Jahre wieder“ lauschen, mich darüber amüsieren, wie Onkel Hans zu späterer Stunde die Feinmotorik und dann auch das Sprechen verlernt, wie die Kinder nach der Bescherung heulen, weil eines mehr bekommen hat als das andere und wie sich Tante Sabine mit der Oma zofft, weil sie eigentlich auf Frauen steht. Sie hat ja schon was, diese besinnliche Zeit – nicht wahr?

Doch lauschen Sie, mein Einsatz naht … In diesem Sinne – frohes Fest, the show must go on!

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 23161

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