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Mein Land

Mein Land ist nicht auf diesem Boden.
Es liegt über den Gipfeln, über den höchsten Wolken.
Ich bin sein einziger Bewohner.
Die Winde sind schnell.
Wenn ich weiter steige, lebe ich in der ewigen Nacht.
Und ich benötige keine Luft, weil ich nicht atme.

Der Blick über Klagenfurt bis nach Lipizach am 6. Juli 2022

Der Blick über Klagenfurt bis nach Lipizach am 6. Juli 2022

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 23018

Wie Herr Zeitlos die Zeit wiederfand

Vor nicht allzu langer Zeit, da erzählte man sich von einem Land, in dem es alles im Überfluss gab.

Es gab so viele Bananen, dass die Äste von Früchten schwer beladen bis zum Erdboden hinabhingen. Die Bäume beschwerten sich mit Klagemienen, weil sie die Last nicht mehr tragen konnten. Da ihr Wehklagen tagein und tagaus unerträglich schrill durch das ganze Land tönte, fingen die Leute an, die Bananen in den Himmel zu werfen, wo sie zu lauter Monden wurden und schon bald so zahlreich am Himmel standen wie die Sterne.
Es gab so viel Papier, dass man sich angewöhnte, nur einen Buchstaben auf ein Blatt zu schreiben, weshalb die Bücher so dick wurden wie alte Burgmauern.
Und es gab so viele Autos, dass man sie in einer riesig langen Kette, die bis zum entferntesten Planeten des Weltalls reichte, eines nach dem anderen zusammenschweißte. So konnte man ein- und aussteigen, wo man wollte, und sich im gesamten Universum fortbewegen.

Von allem gab es mehr als genug in diesem Land. Nur eines gab es nicht: ZEIT!

In den riesigen Lagerhallen der Zeitfabriken standen abertausende von leeren Säcken, die einst bis oben hin gefüllt waren mit genug Zeit und nun schlaff zusammenfielen. Es gab einfach zu viele Menschen in diesem Land, die mit Zeit versorgt werden mussten.
„Es wird höchste Zeit, dass wir uns um eine bessere Zeitproduktion kümmern!“, mahnten die einen.
„Dazu fehlt uns die Zeit“, erkannten die anderen.
Quer durch das Land, wohin man auch kam, fehlte die Zeit an allen Ecken und Enden. Einige sehr kluge Menschen waren bereits auf der Suche nach ihr: „Zeieiit! Wo biist du?“, riefen sie laut und eindringlich. Vielleicht gab es irgendwo noch geheime Vorräte? Doch hinter Mauern sahen sie kleine, grässliche Zeitmonster lauern, vollgefressen mit den letzten Resten an Zeit, die sie noch finden konnten.

Zweifellos! Die ganze Zeit war verbraucht. Und das wurde langsam zu einem echten Problem.
Die Kinder des Landes hatten plötzlich keine Zeit mehr, Kind zu sein. Und die Eltern fanden keine Zeit mehr, sich um ihre Kinder zu kümmern, weshalb sie sie gleich nach der Geburt in Erziehungsanstalten brachten. Niemand nahm sich mehr die Zeit, ganze Sätze zu sprechen. So warfen sich die Menschen im Vorbeigehen nur noch Buchstaben zu. Sie hatten keine Zeit mehr, einander anzusehen, oder zu fragen: „Wie geht es dir?“
Auch zum Altwerden fehlte die Zeit. Die Alten starben allmählich aus, und es lebten nur noch junge Leute im Land.
Aus Zeitnot vergaßen sie sogar, an besondere Zeiten im Jahr zu denken. „Geburtstagsfeiern kosten zu viel Zeit“, hörte man die Menschen reden. „Weihnachten? Nein, Weihnachten fällt dieses Jahr aus. Keine Zeit!“

In diesem armen, trostlosen Land lebte Herr Zeitlos. Er stand ständig unter Druck, hetzte ziellos von hier nach da und hatte nie die Zeit anzuhalten. Seine Zunge, die ihm vor lauter Erschöpfung ständig zum Hals heraushing, wurde so groß und schwer, dass sie schließlich bis zu seinem Bauchnabel hinunterreichte.
Herr Zeitlos hatte aus Mangel an Zeit das Nachdenken verlernt. „Das Essen raubt mir meine Zeit!“, verkündete er empört. Deshalb hörte er auf damit und wurde so dünn wie ein Strich. Weil er keine Zeit mehr zum Schlafen fand, war er nur noch mürrisch und schlecht gelaunt.
Und das tägliche Waschen? Das war ihm zu zeitaufwändig. Darum sprang er schließlich aus Zeitnot in den Ozean und durchschwamm ihn, bis es nicht mehr weiterging. Wie gut, dass die Haie überhaupt keine Zeit hatten, ihn zu fressen!

So kam es, dass Herr Zeitlos, als er den Ozean zum wiederholten Male unbeschadet verlassen hatte, sich eines Tages auf einer fernen Insel wiederfand. Zwei Zeitgeister bewachten mit strengem Blick den Zutritt durch ein stattliches Tor, das so groß und fest war wie eine Burg und etwas sehr Kostbares hinter sich vermuten ließ.
Herr Zeitlos, der in gewohnter Eile unterwegs war, rannte an den Geistern vorbei und sprang mit einem Satz über das Tor hinweg. Da er nur ein Strich in der Landschaft war, hatten sie ihn nicht kommen sehen. „Hinterher!“, brüllten sie wütend. „Ein Zeitloser! Schnell, einfangen!“ Doch ehe sie bis drei zählen konnten, war der raketenschnelle Herr Zeitlos – ach du liebe Zeit! – gegen das Ausgangstor der Insel geprallt, stürzte zu Boden und versank für Stunden in eine Ohnmacht. Wie war es möglich, für etwas derart Nutzloses seine Zeit zu verschwenden? Und wieso war sie plötzlich da, die Zeit?

„Ich habe keine Zeit!“, schrie Herr Zeitlos, aus seiner Ohnmacht erwacht, die Zeitgeister ungeduldig an, die unbekümmert neben ihm saßen. „Haben die Gruselköpfe zu viel Zeit?“, dachte er noch, als er schon im Begriff war, wie gewohnt loszulaufen, doch dann spürte er die Ketten. „Was für eine Unverschämtheit!“, zeterte Herr Zeitlos wenig zimperlich, „Bindet mich gefälligst los! Mir läuft die Zeit davon!“ Unruhige Wellen durchzuckten wie Stromschläge seinen zeitlos jugendlichen Körper.
Die Geister amüsierten sich köstlich. „Keine Panik!“, beschwichtigten sie ihn und grinsten. „Zeit gibt es hier mehr als genug.“
„Äh, wie? In welcher Zeit lebt ihr?“, rätselte Herr Zeitlos verwirrt. „War ich mit einer Zeitmaschine unterwegs?“ Und gleich einen Atemzug später fiel ihm auf, dass er seit langer Zeit wieder einmal Zeit zum Nachdenken hatte.

„Nimm dir Zeit und gehe ein zweites Mal über unsere Insel!“, vernahm Herr Zeitlos die Anweisung der Zeitgeister, die sorglos über ihm schwebten. Sie ließen ihn angekettet ziehen, so dass er, von ihnen geführt, nur langsam vorankam und sehr zeitintensiv wahrnehmen konnte, was ihn umgab.
„Dass man die Menschen aber auch immer zu ihrem Glück zwingen muss“, hörte man den einen Geist noch verständnislos zum anderen sagen, bevor er auf einer Wiese landete, um ein kleines Nickerchen zu machen.

Herr Zeitlos blickte sich unsicher um. „Soll ich jetzt die Zeit totschlagen?“, fragte er sich. Doch kaum waren seine Worte verhallt, da fühlte er schon den magischen Sog, der ihn antrieb, aufzustehen und weiterzugehen. Und dann kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Auf der Insel gab es Unmengen an Zeit! Überall Zeit, wohin man auch schaute.
Sie hing wie Blätter an den Bäumen, thronte wie Blüten auf Blumenstängeln und lag wie Ziegeln auf den Dächern. Aus den Erdspalten quoll sie hervor, die Zeit, selbst die Wolken am Himmel waren voll davon und hingen schwer bepackt herab.
„Meine Güte, so viel Zeit auf einem Fleck!“, staunte Herr Zeitlos und gaffte nach allen Seiten. Noch nie in seinem Leben hatte er so viel Zeit gesehen. Und noch nie in seinem Leben hatte er so viel Zeit gehabt, genau hinzusehen. Man konnte sich in diesem Zeitschlaraffenland frei bedienen, sich die Taschen mit Zeit vollstopfen. Man konnte davon nehmen, so viel man brauchte und so viel man tragen konnte.

„Ich bin im Paradies!“, schrie Herr Zeitlos euphorisch, pflückte die Zeit, warf sie hoch in die Luft, tanzte und sprang. Im nächsten Moment fing er sich wieder und wurde nachdenklich. „Oh weh! So viel Zeit kann einem ja richtig Angst einjagen!“ Immerhin hatte er jetzt genug Zeit, seine Fesseln zu lösen.
Er sah sich um wie jemand, der etwas Verbotenes im Schilde führt, hielt kurz inne, blickte noch ein letztes Mal zu den friedlich schnarchenden Zeitgeistern, nahm dann all seinen Mut zusammen und stopfte sich die Taschen voll mit Zeit. Gierig nahm er sich so viel davon, wie er nur kriegen konnte. Als er auch noch den Bauchnabel und die Nasenlöcher mit Zeit ausgefüllt hatte, nahm er seine Beine in die Hand, lief davon wie ein gewöhnlicher Dieb und schwamm durch den Ozean zurück nach Hause.
Dort angekommen, machte er alle Truhen und Körbe randvoll mit der erbeuteten Zeit. „Das dürfte für eine Weile reichen“, sprach er erleichtert zu sich, „vielleicht sogar, bis ich sterbe.“

Und plötzlich hatte er alle Zeit der Welt!
Zeit, in der Nase zu bohren.
Zeit, mit dem Finger im Sand zu malen.
Zeit, mit den Augen Wolkenspaziergänge zu machen.
Er hatte sogar so viel Zeit, dass er sie auch mal eine Weile sinnlos verstreichen lassen konnte. Doch trotzdem fehlte noch etwas, damit es bis in die Fingerspitzen kribbeln konnte. Etwas, das sein Herz zum Hüpfen brachte.

„Die reine Zeitverschwendung!“, dachte Herr Zeitlos, als er gerade dabei war, ziellos aus dem Fenster zu sehen, denn so ganz hatte er sich noch nicht an den Luxus gewöhnt, auch dafür genügend Zeit zu haben. Er beobachtete die Menschen, wie sie vor seinem Haus gestresst auf und ab liefen, den Blick abwesend in die Ferne gerichtet, gehetzt und getrieben wie ein gejagtes Reh.
Und er sah sich selbst, wie er noch vor kurzer Zeit genau wie sie die Straßen entlanggerannt war, dicht gefolgt von der Zeit und immer auf der Hut davor, von ihr überholt zu werden. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Natürlich!

Wie sollte er mit all seiner kostbaren Zeit glücklich werden, wenn er der Einzige im Land war, der großzügig darüber verfügen konnte? „Ich werde allen Menschen in diesem Land Zeit schenken“, beschloss Herr Zeitlos. „Nur so können wir besseren Zeiten entgegensehen.“
Und kurzerhand packte er viele kleine Päckchen voll mit Zeit. Er umwickelte sie mit Goldfolie, damit jeder sofort erkennen konnte, wie kostbar sie waren. Dann stellte er sich damit auf den größten und belebtesten Platz des Landes und pries sie an: „Zeit! Ich verschenke Zeit! Kostenlos kostbare Zeit!“
„Ach du liebe Zeit!“, dachten die wenigen Menschen, die, obwohl sie in großer Eile waren, Herrn Zeitlos bemerkten. Sie waren zunächst skeptisch, tuschelten miteinander und näherten sich nur vorsichtig, so wie man sich eben verhält, wenn jemand etwas ganz und gar Ungewöhnliches tut. Doch dann wurden sie neugierig. Und als die Ersten begannen, ein goldenes Geschenk anzunehmen und sich über dessen Inhalt klar wurden, verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer, und die Menschen strömten in Scharen herbei.

„Zeit! In den Päckchen ist Zeit!“ – „Was, Zeit? Die fehlt mir schon so lange!“ – „Endlich! Ich hatte schon geglaubt, wir müssten ohne sie weiterleben!“ –  „Verpackte Zeit? In Zeiten wie diesen?“ – „Dann lasst uns keine Zeit verlieren!“
Und in kürzester Zeit wurde Herr Zeitlos zu einem Helden seiner Zeit. Von nun an hatten alle Menschen im ganzen Land genug Zeit. Und wenn die Päckchen verbraucht waren, wusste man, wo man Nachschub bekam. Kurz gesagt, konnte sich niemand mehr bis zu seinem Lebensende über Zeitnot beklagen.
Da gab es sie plötzlich wieder, die längst in Vergessenheit geratenen Zeitgenossen, Menschen, die einem die Zeit raubten, Zeitlöcher, Zeitmaschinen und die Gezeiten, Zeitfüller, Zeitzonen und Zeitraffer, die Zeitmesser und Zeitverschwender … Und alles hatte wieder seine Zeit.

Doch da man sie einst schmerzlich vermisst hatte, die Zeit, blieb sie stets ein kostbares Gut. Und jeder war glücklich darüber, dass er mit denen, deren Herz im gleichen Takt wie das eigene schlug, endlich ausreichend Zeit verbringen konnte, so glücklich, dass all der Überfluss im Land überflüssig wurde.
Wie gut, dass man nun genug Zeit hatte, alles, was zu viel war, über die gesamte Welt gleichmäßig zu verteilen! Der ganze Erdball hüpfte vor Freude. Fast hätte er mit diesem gewaltigen Ruck die Zeit durcheinandergebracht …
Nur die Bananen warf man auch weiterhin in den Himmel, weil sie dort oben so schön strahlten. Und ihr Licht erhellte die Nacht. Für alle Zeit.

Ersterscheinung in:
Schubladengeschichten 2, Eine Anthologie der Textgemeinschaft,
Verlag epubli, Berlin 2019.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 22104

Ag

Sie war nicht, wie sie schien. Die Stadt aus Silber und Licht war eine andere. Sie war die aus Dunkelheit und Unrat.

Wie konntest du dich nur so täuschen? Weil man sieht, was man sehen will, nicht? Die Hoffnung sucht immer fettes Futter. Die Stadt sollte sein, wie du sie am liebsten hättest. Von Weitem leuchtete sie. Damit zog sie dich an. Du durchquertest die Wüste, warst durstig und hungrig, und da erschien sie am Horizont. Du nähertest dich ihr, und die Stadt blieb. Sie war keine Lichtspiegelung, sie war real. Du konntest deine Freude mit niemandem teilen, weil du allein in deinem Geländewagen saßt, mit vielen Kanistern Benzin. Vor fünfzig Jahren wärst du vielleicht noch auf einem Kamel gesessen, ja, kann gut sein, doch diese Zeiten sind vorüber. Du fuhrst in die Stadt hinein, alle paar Meter wurde sie dunkler. Als du deinen Wagen abstelltest, gab es keine Straßenbeleuchtung mehr.

Besonders merkwürdig war, dass du niemanden verstehen konntest. Wie beim Turmbau zu Babel, wo jeder seine eigene Sprache hatte. Dort wird es wohl deshalb gewesen sein, weil viele ausländische Arbeitskräfte angereist waren.

Hoffentlich werden sie meine Währung akzeptieren, dachtest du. Du brauchtest ja einen Schlafplatz. Du sahst dich um. Seltsam, dachtest du, kein Hotel, keine Pension. Es muss doch Bedarf an Übernachtungsmöglichkeiten herrschen. Was tun denn all die Leute auf der Straße? Es kann ja nicht sein, dass jeder hier einen Wohnsitz hat. Dir fielen auch keine Lokale auf, keine Cafés, keine Bars, keine Restaurants. Keine Geselligkeit, keine Möglichkeit, seinen Durst und seinen Hunger zu stillen. Das konnte doch nicht sein!

Welch seltsame Stadt war das hier? Die Kennzeichen der Autos, Lkws und Motorräder waren auch alle unterschiedlich. Hier war anscheinend niemand heimisch. Gesetzt den Fall, überlegtest du, die Stadt hätte mich bewusst angelockt wie eine fleischfressende Pflanze, wobei ich dann das fleischige Opfer wäre, was hätte sie dann vor? Hinter dem Licht war nur noch Dunkelheit. Hier wirkte die Stadt wie ein riesiges Grab.
Manche Männer, Frauen und Kinder sprachen dich an, in flehendem Ton. Gelegentlich zeigten sie Fotos von ihnen wichtigen Menschen. Auch ohne die Sprachen zu verstehen, war dir klar, dass diese Menschen abgängig waren. So abgängig, dass sie geradezu von der Oberfläche verschwunden waren? Ist gut möglich, dachtest du. Wie soll ich wissen, wo jemand ist, überlegtest du, ich bin doch fremd hier? Und nicht nur etwas fremd, sondern völlig fremd. Kann man hier überhaupt ein normales Leben führen? Sicherlich nicht leicht, und wenn, wäre es ein low life, ein Leben, das niemand will.

Bin ich seit fünftausendsechshundert Kilometern unterwegs, um hier zu landen?, dachtest du. Nein, ganz bestimmt nicht! Nur, ganz am Anfang, also außen war diese Stadt ja wirklich jene aus Licht und silbrig glänzenden Oberflächen. Die Stadt lud ein, sie zu betreten. Um realistisch zu bleiben, musste man in Betracht ziehen, dass diese Stadt die einzige im Umkreis von zirka tausend Kilometern war. Sehr außergewöhnlich war jedoch, dass diese Stadt weder in einer elektronischen Landkarte noch in einer aus Papier eingetragen war.

Wie hieß sie überhaupt?, dachtest du. Nirgendwo stand ihr Name. Hätte dich jetzt jemand gefragt, wo du bist, was hättest du antworten sollen? Ich bin in der Stadt, die keinen Namen trägt, wäre die korrekte Antwort gewesen.
Hätte der Fragensteller dir nicht geglaubt und hättest du ihm die Koordinaten deines Standortes, dieser Stadt, durchgegeben, was hätte er auf seinem Bildschirm gesehen? Er hätte Wüste gesehen und sonst nichts, nicht einmal eine Oase, nichts außer Wüste. Du überlegtest noch einmal, wie du hier sein konntest, und in dir stieg der Gedanke hoch, dass du möglicherweise gestorben warst, und hier fand dein Leben danach statt, dein Nicht-Leben. Das klang sogar recht plausibel, fandst du. Doch du verspürtest Durst und hattest Hunger, was bedeutete, dass du noch über deinen Körper verfügtest. Also war es wahrscheinlich, dass du noch am Leben warst, am Leben vor dem Tod.
Müde warst du übrigens nicht, du standst wohl unter Adrenalin. Viele der Bewohner dieser Stadt wirkten bedrohlich. Wenn du dich einfach irgendwohin gelegt hättest, hättest du damit rechnen müssen, zumindest ausgeraubt zu werden. Oder jemand hätte dich über den Fluss geschickt, der von deinem Leben zu deinem Tod führte.

Du beschlossest, diese Stadt zu verlassen, und gingst dorthin zurück, wo du annahmst, deinen Geländewagen abgestellt zu haben. Doch die Stadt war zu groß, es waren zu viele Straßen und Plätze. Und dann war da noch etwas: Diese Stadt wirkte, als hätte sie sich verändert, nicht nur an einer Seite gestaucht und an einer anderen verlängert, sondern als wäre sie tatsächlich eine andere geworden. Du setztest dich einfach irgendwo auf den Bürgersteig. Wie geht es weiter?, fragtest du dich, worauf die Antwort war: keine Ahnung.
Du sahst dein Smartphone an. Kein Empfang. Das passt ins Bild, dachtest du. Die Zeitanzeige auf dem Smartphone lief, 16 Uhr, 17 Uhr bis 24 Uhr, dann wieder 1 Uhr und so fort. Auf deiner Armbanduhr überholte der lange immer wieder den kurzen Zeiger.

Rötliche und weißgelbe Lichter hinter den ÖBB-Lärmschutzwänden mit Vögeln in der Nacht des 24. August 2022 in Krumpendorf

Rötliche und weißgelbe Lichter hinter den ÖBB-Lärmschutzwänden mit Vögeln in der Nacht des 24. August 2022 in Krumpendorf

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 22101

Zu Luft

Ich schau dich an und seh dich nicht.
Warum?
Weil du zu Luft geworden bist, darum.
Es bricht mir das Herz, dass du verschwunden bist, aber was kann ich tun?
Nichts kann ich tun.

Die weit entfernte Sonne

Die weit entfernte Sonne

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 22085

Der Heiler

„Durch die Energieübertragung geht es mir richtig gut“, erklärt der Heiler den weiß
gekleideten Seminarteilnehmern, auch er in Weiß gewandet. „Ich bin sehr
froh. Ich kann Ihnen diese Behandlung wärmstens empfehlen. Gern führe
ich sie bei Ihnen durch.“ Die Seminarteilnehmer blicken interessiert. „Und dann ist da noch eine Sache“, fährt der Heiler fort und nimmt seine Brille ab, „auf die kann ich nun verzichten.“

Der alte Trick, der Klassiker. Dass er Kontaktlinsen trägt, sieht man ja nicht.

DOKUMENTARFILM - Das Phänomen der Heilung

DOKUMENTARFILM - Das Phänomen der Heilung

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 22086

Roboterbetreuerin bei amazon

Bei amazon gibt es ja auch die Stelle des Roboterbetreuers. Sie oder er, eher eine Frau wegen mehr Empathie, tritt wahrscheinlich in Aktion, wenn ein Roboter in seiner Pause missmutig oder niedergeschlagen ein Wurstbrot kaut. Dann macht die Roboterbetreuerin Witze, bis dieser Roboter lacht. Ha-ha-ha. Job vorübergehend erledigt.

Der unentschlossene Roboter

Der unentschlossene Roboter

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 22027

Der neue Engel

Ich hänge in der Felswand. Ich kann nicht weiter hinauf klettern, und ich schaffe es nicht hinunter. Mein einziger Ausweg ist die Luft. Aber wenn ich jetzt einen Schritt in sie machte, würde ich abstürzen. Also warte ich, bis eine Wolke knapp unter mir erscheint. Ich springe und lande auf ihr. Sie trägt mich. Es geht Richtung Osten. Ich sehe ins Tal, das zirka zweitausendsiebenhundert Meter entfernt ist. Ich weiß nicht, wann ich wieder Erde unter meinen Füßen spüren werde. Dafür ist es hier auf der Wolke sehr bequem. Eine Zeitlang werde ich auf ihr bleiben, notgedrungen, doch eigentlich auch sehr gern.

Der Pyramidenkogel über den Wolken im Dezember

Der Pyramidenkogel über den Wolken im Dezember

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 22006

VR

Vielleicht ist es ganz anders,
war es nie so, wie du dachtest.

Lebt jeder in seiner eigenen Welt,
die nichts mit der eines anderen zu tun hat.

Und wenn du jemanden umarmst und küsst,
ist das nur haptisches Empfinden einer virtuellen Realität.

Die weiße Brücke

Die weiße Brücke

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 21116

Der elektronische Wanderer

Landschaften, die es nicht gibt,
Städte aus dem Computer,
wo möchtest du sein, Wanderer,
und wo bist du?
Du tauchst durch den Pazifik
und legst Hongkong in Schutt und Asche,
aber nur im Videospiel,
in dem du stirbst, wenn es beendet ist,
und auferstehst, wenn es neu gestartet wird.

Zwei kurze Treppen in Krumpendorf im Mai

Zwei kurze Treppen in Krumpendorf im Mai

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 21091

Hale-Bopp oder: Die Chance seines Lebens

Es war die Zeit, als ich mich in der Schule für Katharina interessierte. Ich war damals in der neunten Klasse, die Mädchen waren verrückt nach Boygroups wie den Backstreet Boys, die Tamagotchis eroberten die Pausenhöfe, die ersten Handys kamen auf den Markt (vom Smartphone konnte man noch nicht einmal träumen), man bezahlte noch mit Schilling und es bahnte sich mit dem Internet eine Revolution an, die wir zunächst skeptisch sahen. Vieles, was uns heute selbstverständlich erscheint, war damals noch nicht so. Wir schreiben, der geneigte Leser mag es schon geahnt haben, das Jahr 1997. Da sich Erinnerungen im Nachhinein immer stärker von der erlebten Wirklichkeit unterscheiden, möchte ich hier doch versuchen, zumindest das Gröbste der Wahrheit getreu zu erzählen und hin und wieder etwas zu erfinden, um die Geschichte ein wenig spannender zu machen.

  1. Die Aufbruchstimmung.

Wenn es eine Zeit gab, die einen gewissen Vorgeschmack auf die Zukunft geben sollte, dann diese. Ich fieberte dem neuen Jahrtausend entgegen und dachte noch, dass wir 2001 eine Odyssee im Weltall erleben und 2010 Kontakt aufnehmen würden. Von dem Kometen erhoffte ich mir einen Auftakt gewissermaßen für die Zukunft und irgendwann würden ja die Ufos landen. Aber warum war ich damals so darauf erpicht, in Kontakt mit Außerirdischen zu kommen? Na ja, das Leben schien mit fünfzehn sich doch allmählich in seinem Alltagstrott einzupendeln. Sah man von den ersten Discobesuchen und Tanzkursen ab. Und wie gesagt, dass Jahr 2000 war zum Greifen nahe, aber dennoch eine jahrzehntealte Utopie. Ich kann mich noch gut an die alten Fernsehdokus und Zeitschriftenbeiträge erinnern, die fliegende, atombetriebene Autos, schwimmende Städte oder ganze unterirdische Zivilisationen auf dem Mars voraussahen.

  1. Die Sache mit Katharina.

Wie bereits erwähnt, begann damals mein Interesse für Katharina. Wie es zunächst in diesem Alter ist, eher beiläufig, aber dann spürte ich, dass, jedes Mal wenn ich sie auf dem Pausenhof oder dem Gang vor unserer Schule sah, mir das Herz zu klopfen anfing. Ich heimlich meinen Blick von ihr abwendete und ich bei Gott nicht gewagt hätte, sie anzusprechen. Und wie ich es damals aushielt, eine unerwiderte Liebe, die sich damals zweifelsohne anbahnte, zu überstehen, weiß ich nicht mehr. Ich versuchte jedenfalls Wege, dies zu kompensieren. Aber ich wollte ihr auf jeden Fall nicht imponieren, so viel weiß ich im Nachhinein. Vielmehr suchte ich mir Gebiete, in denen sie keine Rolle spielte und versuchte auch des Öfteren, sie zu vergessen oder die Liebe zu ihr zu leugnen.

  1. Was sonst noch wichtig war.

In der Schule fingen wir an, in Geschichte die Neuzeit durchzunehmen. Also Antike und Mittelalter hatten wir schon durch, Renaissance und Barock auch und wir waren bei der Aufklärung und der Französischen Revolution angelangt. Dies war das Zeitalter der Vernunft, auf der unsere ganze heutige Welt aufbaut, so erklärten es uns jedenfalls die Lehrer. Es gab die ersten Diskussionen und ich begann mich zu politisieren. Das Erwachsensein hatte schüchtern begonnen hervorzukriechen. Im Englischunterricht entdeckten wir die Songs der Beatles und der Doors und die Vorfreude auf die erste Französischstunde im nächsten Jahr überdeckte doch die Langeweile, die sich über den alltäglichen Schulbetrieb legte wie eine Staubschicht.

  1. Was das Ganze miteinander zu tun hatte (I).

Wie gesagt, wir haben jetzt drei Handlungsstränge. Aber wie wird daraus eine Geschichte. Klar, Katharina und ich trafen uns in der Schule, in der wir begannen, erwachsen zu werden. Jedenfalls bemerkte ich, wie Katharina heimlich rauchte und sich damenhafter kleidete. Über die Zukunft und die Raumfahrt fiel in der Schule kein Wort. Und doch war es mein Leib- und Magenthema. Ich hätte – da bin ich mir sicher – in einem Schulfach „Raumfahrt und Astronomie“ eine glatte Eins bekommen. Aber für die Lehrer, wie auch für die meisten Mitschüler schien es, dass das Leben am bequemsten sei, wenn es auch in hundert Jahren noch vor sich hinplätscherte.

  1. Die Aufbruchstimmung (II).

Meinen Wissensdurst konnte ich damals natürlich nicht angemessen stillen. In die Universitätsbibliothek traute ich mich nicht. Das Internet hat mich abgeschreckt, in der ersten Stunde in der Schule, als ich vor dem PC saß und nichts fand. Und der Computer zweimal abgestürzt ist, ob der langen Ladezeit. „Internet? Nein, danke! So was mach ich nie wieder“, blaffte ich zum Lehrer. Und dann blieb da nur das Fernsehen. Da sah ich ein paar interessante Dokus, jedoch nicht bis zum Schluss, denn die Schule war damals wichtiger. Aber ich wusste es, wenn ich Hale-Bopp nicht beobachten könnte, war es das letzte Mal für eine sehr, sehr lange Zeit. Mein Plan, den Kometen zu beobachten, war geboren.

  1. Was sonst noch wichtig war (II).

Ein anderes Hobby von mir war Geschichte. Klar, wird ja der ein oder andere sagen, ist ja auch sehr spannend. Aber mich interessierte auch, ob irgendwelche dunklen Mächte im Spiel waren. Ob das Mittelalter wirklich so finster war, wie es uns die Lehrer weismachen wollten und der Philosoph Seneca, immerhin der Erzieher Kaiser Neros, wirklich so weise. Und solche Dokus liefen ja sogar auf den Öffentlich-Rechtlichen. „Universum“, „Schliemanns Erben“ und wie sie alle hießen. Schließlich war ja damals alles, was auf ORF lief, höchstwissenschaftlich legitimiert, dachte ich jedenfalls.

  1. Die Sache mit Katharina (II).

Natürlich merkte ich, dass mir Katharina auch in meiner Zukunftsbegeisterung immer ähnlicher wurde. So kam sie einmal ganz in Schwarz und auch mit einem schwarzen Lippenstift in die Schule. Da langsam die Spannung mit Hale-Bopp begann, dachte ich, es könnte am Kometen liegen, dass sie sich so verändert hat. Und ich merkte, dass sich Katharina als Einzige in der Klasse ebenfalls für den Kometen interessierte – aber aus einem ganz anderen Grund. Wie immer, ich war zu schüchtern, um mit ihr zu sprechen, und hätte wahrscheinlich ihr Gelächter kaum ausgehalten, wäre rot angelaufen, beim Versuch, ein paar Worte zu finden. Aber ich fand Katharina wenigstens rätselhaft und dies war ein Rätsel, das ich bis in seine letzten Einzelheiten ergründen wollte.

  1. Die Aufbruchstimmung (III).

In diesen Wochen entwickelte ich mich immer mehr zu dem, was man später einen Nerd nennen sollte, jedenfalls von meinen Interessen. Ich dachte, dass die Zukunft besser werden wird, und hoffte auf die Technik, auf Computer und Roboter. Und aus irgendeinem Grund dachte ich, dass der Komet Hale-Bopp ein Fanal sein würde. Jedenfalls begann ich damit, in den Nächten, statt zu schlafen, mit kleineren Ausflügen im Haus. Ich bewaffnete mich mit einer Taschenlampe und hoffte, niemanden zu wecken. Wenn mir das gelingen würde, würde es mir vielleicht leichter fallen, mich für mehrere Stunden zu einem Platz, möglicherweise zu einer Lichtung im Wald zu begeben, um den Kometen ungestört zu beobachten. Jedenfalls musste ich mit den Übungen anfangen, um mich Schritt für Schritt vorzutasten.

  1. Erste Schwierigkeiten.

Wie gesagt, wenn man in seinem Zeitplan sein wollte, musste man es rechtzeitig schaffen, um unbemerkt an einen geschützten Ort zu kommen, um in aller Ruhe den Kometen zu beobachten. Und es geschah, dass es doch leichter wurde, als gedacht, eine Lichtung in der Nähe meines Hauses zu finden, auf der ich Hale-Bopp beobachten könnte. Dazu kam ich mehrmals vom Schulweg ab und nahm eine Standpauke meiner Eltern in Kauf, die von mir eine Erklärung wollten, warum ich so spät nach Hause kam. Ich erzählte, ich hätte den Bus verpasst, und war in diesem Moment so glaubhaft, meiner Willensstärke sei Dank, dass es mir die Eltern abkauften und mich in Ruhe ließen. Aber trotzdem bekam ich von jetzt an ein mulmiges Gefühl. Was war, wenn ich jemanden im Schlaf aufweckte? Oder meine Eltern in mein Zimmer mit dem leeren Bett kamen und die Polizei riefen? Ich war auf nichts vorbereitet und doch drängte mich die Zeit, denn ich hatte nur noch wenige Monate, um in den Genuss des Kometen zu kommen.

  1. Was sonst noch wichtig war (III).

Der Schultrott ging seinen Gang. Auf dem Pausenhof erzählte ich von Hale-Bopp, doch die anderen schien es nicht zu interessieren. Natürlich hoffte ich, wenn ich in Anwesenheit der Freundinnen Katharinas darüber sprach, dass sie es ihr in irgendeiner Form weitererzählten, aber es war lediglich eine Hypothese von mir, dass sie sich ebenfalls für den Kometen interessieren könnte. Aber es gab keine Zwischenfälle. Weder positive noch negative. Und das war für mich in irgendeiner Form gut, in irgendeiner Form auch schlecht: Ich war weit und breit der Einzige, der sich für Astronomie interessierte, und hatte keinen Gesprächspartner, mit dem ich mich austauschen, Wissen teilen oder Irrtümer bereinigen konnte.

  1. Was mich eigentlich antrieb.

Der geneigte Leser könnte es schon erahnt haben: Natürlich ging es mir nicht darum, eine romantische Nacht zu verbringen. Gott bewahre, das war das Letzte, woran ich denken konnte. Vielmehr wuchs in mir die Hoffnung, Hale-Bopp könnte ein Codewort für den Erstkontakt sein. Die unheimliche Begegnung der dritten Art. Zu der nur wenige Zugang hätten. Alles schien möglich in diesen Tagen. Und ich musste vorbereitet sein. Natürlich wusste ich nicht das Geringste von Außerirdischen, und die Bilder aus Science-Fiction-Filmen kamen mir zu reißerisch und zu verlogen vor. Ich wusste lediglich, dass, wer die Einstein’sche Zeitdilatation überwinden könnte, unserer Zivilisation mindestens um einige Tausend Jahre voraus sein musste. Und solch große Zahlen bereiteten mir immer einen gewissen Schwindel, der mich letztendlich auch davon abhielt, weiter den Gedanken zu verfolgen, denn der Schwindel riss mich ins Bodenlose.

  1. Was das Mittelalter damit zu tun hatte.

Immer interessanter wurde mir der Gedanke, dass es einige Jahrhunderte des Mittelalters nicht gegeben haben könnte. Man spricht auch vom „Erfundenen Mittelalter“. Die Gelehrten der Renaissance waren darin recht erfinderisch. Das Mittelalter sollte als Antithese zur vernunftorientierten Neuzeit werden und die Erinnerung daran sollte den Menschen Angst machen. Ich aber glaubte seit einiger Zeit nicht mehr daran. Wer weiß denn schon, dass die Hexenverbrennung keine Erfindung des Mittelalters, sondern erst der Neuzeit war und erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts beendet wurde? „Der Schlaf der Vernunft produziert Ungeheuer“ wusste schon einst Goya zu sagen und ich glaubte, da war auch ein Kern Wahrheit dran. Hat nicht jedes Aufklärerisch-Rationale seine dunklen Nachtseiten? Und ist die scheinbare Unvernunft nicht im Grunde logischer, als sie auf den ersten Blick erscheint? Bei meiner Beschäftigung mit dem Mittelalter waren mir besonders die Leistungen der Mystiker aufgefallen. Gab es nicht ein geheimes Wissen, an das ich auf diese Weise gelangen könnte? Aber ich wusste nur keinen Weg, und wie gesagt, wir schreiben das Jahr 1997, die Wikipedia gab es noch nicht und ich hattest sonst keine Quellen für mein Wissen.

  1. Der Tag rückt näher.

Ich hatte den 15. März  als den Tag auserkoren, an dem ich Hale-Bopp beobachten wollte. Es waren das die sogenannten „Iden des März“, der Tag, an dem Cäsar ermordet wurde. Solche Zahlen hatten für mich etwas Heiliges: Die ganze Weltgeschichte hat sich an einem Tag entschieden, wo sonst vielleicht hundert Jahre lang Stillstand geherrscht hätte. Vielleicht wäre unsere Welt heute eine andere, hätte es solche Tage nicht gegeben. Aber was würde ich an diesem Tag sonst noch tun? Würde ich etwas Bestimmtes tragen, vielleicht einen selbstgebastelten Raumanzug? Ich hatte noch wenige Ideen, aber wusste: In ein paar Wochen würde der Tag anbrechen.

  1. Was andernorts geschah.

Sie langweilte sich im Unterricht. Obwohl es ihr leicht in der Schule fiel, sie gute Noten hatte und wegen ihres sozialen Engagements von den Lehrern gelobt wurde – es schien irgendwie ein trüber Schatten auf ihrer Seele zu liegen. Schon als sie einmal an einem Wandertag kollabierte, wussten die anderen Mitschüler, dass sie verletzlich war, in einer sonst so perfekten Verpackung. Anfang des Jahres 1997 begann sie, sich für Goth Rock und die Gruftie-Kultur zu interessieren. Ihre latente Angst vor dem Tod, die Beklemmung, obwohl sie ansonsten ihr Leben im Griff hatte. Und das Leben als Goth schien ihr in irgendeiner Form einen Sinn, einen Aufschrei ihres seelischen Leidens zu geben. Sicher, sie begann sich auch für Mystery zu interessieren. Verfolgte gebannt „Akte X“, die dunklen Fälle der CIA. Aber in erster Linie reizte sie die Ästhetik. Das Morbide, Zombiehafte. Sie begann sich in diesen Tagen den Tod lebhaft vorzustellen und erfuhr, dass der Komet Hale-Bopp, der in diesem Jahr zu sehen war, ihr die Chance auf Erlösung gab. Zumindest war es ein Zeichen. Ob es ein gutes oder schlechtes war, konnte sie beim besten Willen nicht sagen. Aber ebenfalls wie der Ich-Erzähler schmiedete sie einen Plan, was sie in der Nacht tun könnte, in der sie Hale-Bopp am Himmel sehen würde.

  1. Erste Schwierigkeiten (II).

Ich wusste, dass ein längeres Verschwinden geplant sein wollte. Mein Alptraum wäre es gewesen, wenn meine Eltern die Polizei gerufen hätten. Andererseits – wenn ich tatsächlich Kontakt aufnehmen würde, wäre mir das auch schon egal. Aber irgendein komisches Gefühl zwang mich dazu, auch einen Plan B zu entwerfen, falls Plan A nicht aufging. Es hätte ja eine Riesenenttäuschung werden können und dann wäre der Erstkontakt nicht eingetreten. Und für den Fall, dass mir die Aliens feindlich gesonnen sein würden, konnte ich nichts machen. Das war Risiko. Es gab keine Laserschwerter wie in Star Wars. Denn das war Mittelalter. Und Star Wars war im Grunde Mittelalter, nur wurde es in die Zukunft verlegt. Ob die Außerirdischen schon irgendetwas von uns wussten? Schließlich hatten wir Erdlinge ja die „Goldene Schallplatte“ auf der Voyager-1-Sonde in den Weltraum geschickt. Oder die Außerirdischen beobachteten uns schon seit Jahrtausenden und waren auf alles vorbereitet. Vielleicht waren sie auch außerordentlich begabt und konnten in Sekundenschnelle unsere Sprache lernen. In Science-Fiction-Filmen sieht man ja immer diese Echsenmenschen, die „kleinen grünen Männchen“. Aber das stimmt nicht. Weil es ja auch ein Paradoxon ist. Eine Zivilisation, die uns so haushoch überlegen ist, aber dann so primitiv ist, das konnte einfach nicht stimmen.

  1. Und dann wären wir wieder beim Mittelalter.

In der Schule lernten wir über das Mittelalter relativ wenig. Unsere Lehrer bewunderten die alten Römer und Griechen, die als Erste, ja, als Allererste das Licht erblickt und die große Antwort gefunden hatten. Auf alle Fragen des Lebens. Ich war in dieser Zeit sehr misstrauisch. Hatte nicht alles, was auf den ersten Blick perfekt zu sein schien, einen Haken? Wie wurden denn Frauen, Sklaven und Nichtgriechen im antiken Griechenland behandelt? Eben. Und entstanden nicht die ersten Universitäten im dunklen Mittelalter? Hatten nicht die Literatur und die Theologie eine erste Blüte? Aber das lernten wir in der Schule natürlich nicht. Das vermittelten uns Filme, Romane und Fernsehdokus. Und mehr und mehr lernte ich zu kombinieren. Es gibt ja bekanntlich mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als es sich die Schulweisheit je erträumen wird.

  1. Wenn ich doch nicht so oft an Katharina denken möchte.

Katharina und ich, wir beide, waren im selben Monat geboren. Und ich wusste, dass Mann und Frau, die zur selben Zeit am selben Ort geboren wurden, früher mal ein glückliches Ehepaar gewesen sein könnten – jedenfalls in einem anderen Leben. Einmal fiel mir auf, dass Katharina im Religionsunterricht von der Wiedergeburt sprach. Mich machte das perplex. Dass jemand, der so makellos im Unterricht war, so düstere Gedanken haben könnte. Aber ich hätte ihr nicht helfen können. Denn ich war ein introvertierter Nerd und obendrein auch noch in sie ein bisschen verliebt. Dennoch machte es mich auf irgendeine  seltsame Art und Weise glücklich, dass sie solche tiefsinnigen Gedanken hatte.

  1. Ein Plan war drauf und dran zu gelingen.

Ich bereitete mich in den folgenden Tagen immer stärker auf den Tag vor, an dem ich Hale-Bopp beobachten würde. Für meine Abwesenheit im Bett lieh ich mir eine aufblasbare Gummipuppe aus, die ein Schulfreund von mir unter waghalsigen Umständen aus einem Sex-Shop mitgehen hatte lassen. Dafür gab ich ihm im Austausch meine ganzen Sammelkarten. Die Taschenlampe hatte ich schon und für den Weg zu meiner Lichtung hatte ich ein Waldstück ausgesucht, das über einen Trampelpfad recht gut zu erreichen war. Ich brauchte nur noch ein Kostüm. Zuerst überlegte ich eine Zeit lang, ob es mir gelänge, wie ein Außerirdischer auszusehen. Auch ein Mittelalterkostüm in Form einer Rüstung hatte ich auf dem Plan. Zum Schluss machte ich eine Kombination aus beiden– also ich machte mir aus Alufolie einen Umhang. Da ich Star Wars doch immer sehr mochte und es in gewisser Weise auch eine Kombination aus Science-Fiction und Mittelalter darstellte, bastelte ich mir ein Laserschwert. Ich suchte nur noch nach einem Ort in unserem Haus, wo ich das ganze möglichst unauffällig verstecken könnte. Und ich fand einen Platz hinter einem Regal im Keller, an das man nur schwer herankommen konnte.

  1. Jemand anderes schmiedete auch einen Plan.

Katharina hatte sich vorgenommen, Mitte März den Kometen Hale-Bopp anzusehen. Am besten um Mitternacht und auf einem Friedhof. Da ihre Eltern relativ antiautoritär eingestellt waren, hatte sie kaum Schwierigkeiten, diesen Plan zu verwirklichen. Jedenfalls fast. Da man ihr am nächsten Schultag etwas anmerken könnte, dass sie die Nacht woanders als in ihrem Bett verbracht hatte, brauchte sie ein verdammt gutes Gegenmittel gegen die Müdigkeit. Sie versuchte es mit etwas Make-up, das sie am nächsten Tag auftragen könnte, und kaufte sich vorher einen 5-Liter-Wasserkanister, den sie austrinken würde, um den müden Eindruck zu verbergen. Wenn alles gutginge, könnte die Nacht, die sie alleine auf dem Friedhof verbringen würde, ein Fanal sein. Ein Aufbruch in eine andere bessere Welt. Oder auch der Weltuntergang. Wie bei den Dinosauriern. Und nach dem Untergang fängt ja bekanntlich die neue Zeitrechnung an. Die Erlösung, oder wie immer man auch das nennen möchte.

  1. Was in der Schule stattfand.

Auch an den anderen Mitschülern war es inzwischen nicht spurlos vorbeigegangen, dass zwei ihrer Mitschüler Pläne schmiedeten. Das war zum einen der Plan des Ich-Erzählers mit der Alufolie und der Gummipuppe. Das war auch das seltsame Verhalten Katharinas in ihrem Freundinnenkreis. Was sie nur ständig von Weltuntergang und „Ragnarök“, „Armageddon“ und so faselte. Irgendjemand hatte vielleicht mitbekommen, dass gerade diese zwei Schüler anders waren, und es wurde schon getuschelt, ob sie vielleicht auf irgendeine Art miteinander Kontakt hätten. Auffällig war, dass jeder auf seine Art sich verändert hatte. Die eine mit immer morbideren Vorstellungen von Erlösung und Aufbruch. Der andere redete von Erstkontakt und Begegnungen der dritten Art. Einen Zusammenhang mit Hale-Bopp konnte keiner erkennen, wer weiß, vielleicht hatten die anderen auch gar nicht gewusst, was Hale-Bopp ist oder dass es 1997 wieder einen Transit gab. Viel hätte nicht gefehlt und Katharina und mir hätte eine Einbestellung zum Schulpsychologen gedroht, aber glücklicherweise hatte jeder seine Pläne für den fünfzehnten März für sich behalten können.

  1. Eine ganz besondere Nacht.

Den vierzehnten März neunzehnhundertsiebenundneunzig behalte ich aus mehreren Gründen in guter Erinnerung. Erstens war es ein Tag, in dem ich in der Schule komplett abwesend schien und mir auch einen Tadel vom Lehrer einhandelte. Andererseits kann ich den Nachmittag und den Einbruch der Nacht noch minutiös schildern: Nachdem ich die Hausaufgaben gemacht hatte und mir wieder bei den Geschichtsaufgaben aufgefallen war, dass nur die Geschichte der Mächtigen erzählt wird und nicht die der einfachen Leute, fing ich an, mich an meinen Plan zu machen: Ich holte den selbstgebastelten Raumanzug mitsamt dem Laserschwert hinter dem Regal aus dem Keller hervor. Ich blies die Gummipuppe auf und stülpte ihr den Pyjama über, versteckte sie aber noch für die erste Zeit. Meine Eltern riefen mich zum Abendessen und wollten heute besonders deutlich wissen, was wir in der Schule durchnähmen, schließlich sei der Schulstoff doch hochinteressant. Ich versuchte die Eltern abzuwimmeln und täuschte Normalität vor. Was immer dann schwierig ist, wenn natürlich keine Normalität vorliegt. Nach dem Abendessen stellte ich meinen Wecker. Ich wollte punktgenau um Mitternacht auf meiner Lichtung sein. Zuvor wollte ich mir noch ein Nickerchen genehmigen.

  1. Was das eine mit dem anderen zu tun hat.

Punktgenau um Mitternacht fand sich auch Katharina auf dem Friedhof ein. Sie hatte ihren Discman dabei und hörte Gothic Rock. Zudem hatte sie auch eine Flasche Wein, denn sie wollte sich Mut antrinken. Es dauerte eine gefühlte kleine Ewigkeit, bis sie den Kometen zu sehen begann. Doch innerlich hatte sie sich schon auf alles eingestellt. Donner, Schwefelgestank. Einen unfassbaren Lärm. Explosionen. Jene Nacht aber schien friedlicher zu sein, als sie angenommen hatte. Sie erblickte den Kometen mit seinem Schweif aus Staub und Gas. Obwohl sie doch sehr enttäuscht war, gefiel ihr die Anmut des Kometen. Sie wusste, dass sie weiterleben musste und dass es nur einen Alltag geben wird. Der Traum vom Kometen war für sie geplatzt und in ein paar Stunden würde sie wieder in ihr altes Leben zurückfinden. Demgegenüber gab es aber noch eine andere Katharina. Die gleichzeitig auf einer abgelegenen Lichtung eine Person, komplett in glänzende Silberfolie verpackt, mit einem Laserschwert bewaffnet tanzen sah. War es ein Alien? Angst kroch in ihr hoch. Hatte der Komet Hale-Bopp doch seine Bedeutung? Die Person in dem Aluanzug kam immer näher. „Verdammt, wenn dieser Alien doch etwas im Schilde führt. Und nur alles wegen Hale-Bopp.“ Doch in diesem Moment erinnerte sie sich, dass sie sich doch auf dem Friedhof befand und nicht auf der besagten Lichtung. Von dem Mann im Aluanzug keine Spur mehr, jedoch sah sie ein paar Fledermäuse umherfliegen. Sie schaute auf das Etikett ihres Weines. Der war dann doch eine Spur zu stark gewesen. Erleichtert schlief sie ihren restlichen Rausch auf einem Grab aus und war glücklich ob der Begegnung mit dem Außerirdischen.

  1. Was der Ich-Erzähler tatsächlich gemacht hat.

In jener Nacht stand auch der Ich-Erzähler auf, vollführte, wie beschrieben, auf der Wiese ein paar Tänze und erblickte plötzlich ein Ufo. Ein silbrigglänzender Außerirdischer kam heraus und sprach in der Menschensprache. „Willkommen. Das der Erstkontakt es ist. Wir in Frieden kommen.“ „Wer seid ihr?“, frug ich. „Wir vom Planeten Plörbul kommen. Wir die Erkenntnis für auch haben.“ Plötzlich merkte ich aber, dass mir der Erstkontakt mit Katharina wichtiger wäre. Dummerweise hatte ich ja eine Vorahnung, was sie heute machen könnte – aber es war ja lediglich eine Vorahnung, sonst nichts. Ich merkte, wie sehr ich mich nach dem Kuss eines Toten oder eines Zombies sehnte. Es war ja schließlich die Nacht des Kometen Hale-Bopp. Aber ich wurde nicht geküsst. Auch nicht gebissen. Da machte es auf einmal einen lauten Knall. Ich wachte auf. Die Gummipuppe war geplatzt und ich hatte die ganze Nacht in meinem Zimmer verträumt. Auf der Lichtung war ich nicht und auch das Treffen mit den Außerirdischen war nicht real. Aber dafür war ich glücklich. Ich hatte ja über den Umweg des Traumes meinen Erstkontakt gehabt. Aber der Kuss einer toten Person oder der eines Grufties wäre mir lieber gewesen. Dennoch merkte ich, dass ich jetzt ein größeres Probleme hatte: Ich musste die Aluverkleidung und die Reste der Gummipuppe verschwinden lassen. Also stopfte ich die Folie und die Gummipuppenreste in meinen Schulranzen in der Hoffnung, sie am nächsten Tag entsorgen zu können. Kein Problem für mich. Ich versuchte mich schlafend zu stellen, um am nächsten Tag in die Schule zu kommen.

  1. Wie alles miteinander zusammenhängt.

Der Schultag war gewohnt langweilig. Katharina sah ganz normal aus. Aber nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick konnte der Kenner sehen, dass sie die Nacht durchgemacht hatte. Vielleicht bemerkten das auch die Lehrer, doch sie drückten bei ihr ob ihrer guten Leistungen manchmal ein Auge zu. Vielleicht trauten sie ihr das aber auch nicht zu und es blieb unbemerkt. Egal, was genau Katharina getan hatte, wusste ich nicht. Ich hatte eine Ahnung, aber auch nicht mehr. In der Pause schlich ich mich dann zu den Mülltonnen, denn ich wollte dort die Gummipuppe und die Alufolie loswerden. Als ich den schweren Deckel hochhievte, kam plötzlich Katharina in die Nähe. Sie verschwand hinter der Mülltonne und  musste sich übergeben. Als sie wieder hervorkam, war ich baff. In diesem Moment erkannte sie, dass ich die Alufolie und die Reste der Gummipuppe loswerden wollte. Sie sagte: „War eine spannende Nacht.“ „Für dich auch?“, fragte ich. Dann kramte sie ihren schwarzen Lippenstift aus der Tasche und malte mir einen schwarzen Kussmund auf den Arm.

Michael Bauer

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