Kategorie-Archiv: Harald Schoder

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Die Stadt der Anderen

Es sind zwei Hügel. Und auf diesen Hügeln liegen zwei Städte, die sich gegenseitig trotzig belauern, wer wohl die schönere, die höhere von beiden sei. Und Tag für Tag spielt die Sonne mit deren Eitelkeiten und der gegenseitigen Eifersucht, wenn sie morgens die eine Stadt im blendenden Glanz erstrahlen lässt und diese ihren breiten Schatten auf die andere wirft, deren Häuser ins Dunkel taucht. Aber zur Mittagszeit beginnt das Blatt sich zu wenden, beginnen sich die Schatten zu wenden und nun nimmt die andere ihrerseits Rache, auf gleiche Art und Weise.

Die Stadt jenseits ist immer die der Träume. Es ist immer die Stadt, in der man sich nicht befindet, nach der man sich sehnt, der Blick auf die Stadt gegenüber, der einem die Erfüllung dieser Sehnsucht verspricht, der einem vorgaukelt, in der Stadt hier am Verpassen von etwas zu sein.

Und trotzig blicke ich hinüber auf die andere Stadt, erstrahlt im Abendlicht der Sonne, in der ich dich verloren zu haben glaube. Natürlich, nochmals könnte ich die tausend Stufen die Senke hinab nehmen, die die beiden Städte trennt, und die tausend Stufen hinauf in die andere Stadt, wie ich es bereits zwei, drei Mal an diesem Tag hinter mich gebracht habe auf der Suche nach dir. Aber weniger das Stechen in der Lunge noch das Rasen meines Herzens hält mich davon ab, sondern vielmehr die Gewissheit, dass du jeweils in der anderen Stadt anzufinden bist, in der Stadt, in der ich gerade nicht bin.

Noch hallt er mir im Ohr, der intime Klang unseres Lachens, als wir frühmorgens die ersten Stufen in Angriff genommen haben, den festen Griff deiner eingehakten Hand an meinem Oberarm vermeine ich noch zu spüren, im Ab- und Aufstieg zu einem neuen gemeinsamen Abenteuer. Aber irgendwo da oben in einer der Städte bist du mir abhandengekommen, vielleicht in einer der schmalen, mäandernden Gassen, in deren Dunkel du selbst zu einem gestaltlosen Schatten geworden bist. Oder ist es im wuchtigen Dom geschehen, dass du in dem blendenden Lichtwechsel der aus der Kuppel einfallenden Sonnenstrahlen und der Finsternis unter den barocken Bogengängen meinem Blickfeld entschwunden bist? Oder doch in der spielerischen Anlage des Parks mit seinen von Palmen gesäumten bis zum Horizont reichenden Wegen, mit den rauschenden, die Sicht verschleiernden Fontänen seiner Brunnen, in dessen Weitläufigkeit du dich verloren hast? Zu spät, viel zu spät habe ich ihn erst wahrgenommen, den Griff meiner Hand ins Leere, die die deine noch zu umfassen glaubte, sie doch gerade noch so fest gespürte hatte.

Aber so sehr mir auch die Glieder schmerzen, ich mir schmerzhaft den Augenblick in Erinnerung zu rufen versuche, als sich unsere Wege getrennt haben, wo ich dich verloren haben könnte inmitten dieser zwei Städte, während ich an dieser Balustrade eines Parkplatzes lehne, der mir den Blick auf beide Hügel, auf beide Städte erlaubt, auf der Suche nach dem verlorenen Ausgangspunkt führen doch alle meine Gedanken auf ein einziges Ereignis viel weiter zurück: an den Sonntagnachmittag vor einigen Wochen in einem verwaisten Museum unserer fernen, verregneten Heimatstadt, als unsere vermeintlich so sorgfältig aufgebauten Gemeinsamkeiten beim Anblick eines einzigen Bildes mit einem Schlag wort- und sprachlos zersplittert sind.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 15112

Kein Knoblauch

Abendliches Sippentreffen einer italienischen Familie, und ich erstmals dazu eingeladen, als Fremder, welch eine Ehre.

Hoch der Preis dafür, dass ich in die Kochtöpfe von Tante Rosetta blicken darf, hoch wie Zwiebel schneiden, Sellerie und Karotten, und auch den Speck in Würfel, nicht zu klein und nicht zu groß, eine Anweisung von Tante Rosetta jagt die andere. Und geduldig und präzise beantwortet sie all meine Fragen nach der Zubereitung des perfekten ragù alla bolognese, nur die letzte weist sie mit Entrüstung und aller Entschiedenheit zurück:

„Knoblauch? Niemals!“

Und mit einem hastigen Kreuzschlagen über der Brust bringt sie nochmals zum Ausdruck, wie teuflisch mein Ansinnen doch gewesen ist, sodass meine Lippen für die nächsten zwei Stunden versiegelt bleiben und ich gehorsam wie ein Messdiener die Sauce zu ihrer Vollendung rühre.

„Hervorragend“, entfährt mir am Tisch mit der ganzen italienischen Sippe, allein als ich mit der Gabel den ersten Stich in die dampfenden tagliatelle alla bolognese tätige und der Duft mir unwiderstehlich in die Nase steigt.

„Natürlich“, erwidert Tante Rosetta mit dem Selbstbewusstsein eines ganzen Stammbaums von Tanten, die dieses Rezept über die letzten zweihundert Jahre hinweg bis zur Perfektion getrieben haben. Aber sie kann es nicht lassen, nochmals fährt ihr gestreckter Zeigefinger spitz auf mich zu:

„Und kein Knoblauch!“

Und jetzt, am stillen Zusammenzucken des Onkels, an seinem weidwunden Blick, und an der angestrengten Teilnahmslosigkeit des Rests der Sippe kann ich sie mir zusammenreimen, die Geschichte mit Tante Rosetta und dem Knoblauch:

Nämlich dass der Onkel in den frühen Ehejahren ein ansehnlicher Mann gewesen ist und sein Beruf als fahrender Gemüsehändler ihn so mancher Versuchung ausgesetzt hat, so sehr auch Tante Rosetta mit Argusaugen über ihn wachte, über die Blicke wachte, die ihm das eine oder andere kecke Mädchen  bisweilen zuwarf, und besonders, mit welcher Art von Blicken er diese erwiderte, denn sie kannte ihren Luigi, so teilnahmslos er auch in die Luft gucken mochte.

Und so kam es, dass Rosetta eines Nachts mit dem untrüglichen Gefühl aufwachte, dass etwas nicht stimmte. Nicht, dass an diesem Tag etwas Ungewöhnliches vorgefallen wäre, wie üblich war er abends mit seinem Kleinlaster von seiner Tour zurückgekehrt, abgearbeitet und müde, und wortlos und müde hatte er das Nachtmahl in sich hineingeschaufelt, um anschließend todmüde ins eheliche Bett und in den wohlverdienten Schlaf zu fallen, nicht viel anders als sonst. Und trotzdem konnte die gute Rosetta keine Ruhe finden, grübelte und grübelte an der Seite ihres sanft schnarchenden Ehemanns, zerbrach sich den Kopf über die kleinste an diesem Tag vorgefallene Kleinigkeit, die kleinste Abweichung.

Bis ihr mit einem Schlag bewusst wurde, was nicht stimmte: der Geruch, der dem leisen Schnarchen ihres Gatten an ihrer Seite entströmte.

Und so kam es, wie es kommen musste, nämlich dass früh am nächsten Morgen, bei Sonnenaufgang, als der Onkel gerade seinen Kleinlaster mit den Gemüsekisten belud, wie aus heiterem Himmel seine Rosetta auf einmal vor ihm stand, resolut die Fäuste in die Hüften gestemmt, und ihm einen einzigen Satz entgegenschleuderte:

„Die Entscheidung liegt ganz bei dir, Luigi: entweder die bolognese mit oder ohne Knoblauch!“

Und auf der Stelle war dem Onkel klar gewesen, dass seine Rosetta Bescheid wusste, und zwar über alles, über sein allwöchentliches Techtelmechtel im Nachbardorf, mit dieser auf blond gefärbten Bianca, über die Rosetta schon immer geäußert hatte, dass sie nichts als eine donnaccia wäre, eine vulgäre Schlampe, so scheckig wie sie lachte, wie ein Pferd, so wie sie ihre üppigen Brüste aus der viel zu großzügigen Bluse geradezu herausplatzen ließ, unverschämt und vulgär, und aller Wahrscheinlichkeit nach sogar so vulgär, dass sie nicht einmal davor zurückschreckte, Knoblauch in die bolognese zu schütten. Und ebenso glasklar war ihm, dass er nicht beides haben konnte, einmal bolognese mit Knoblauch und einmal ohne, sondern dass seine werte Gattin ihn bei falscher Wahl ohne Federlesen aus dem Haus werfen würde, aus ihrem Haus, seine Kleider hinterher in den Staub der Straße, und dass er dann auf der nackten Ladefläche seines Kleinlasters schlafen konnte wie ein vernachlässigter Hund.

Und deshalb fällt es mir so gar nicht schwer mir auszumalen, wie schnell er den Schwanz eingezogen hat, dass er schleunigst zurück in die Gefilde des treuen, hingebungsvollen Ehemanns gerudert ist, dass er dieses Nachbardorf in Zukunft gemieden hat wie die Pest, auch wenn er dort immer gute Geschäfte gemacht hatte, neue Dörfer hat er sich von nun an gesucht. Und dass von nun an die Tante Rosetta ihn in der Hand gehabt hat, über all die Jahre hinweg, für ein Leben lang, bolognese für bolognese.

Die ganze Geschichte vor Augen senke auch ich jetzt gleich dem Rest der Sippe schuldbewusst meinen Kopf vor ihrem stechenden Blick und vertiefe mich ganz in die Pasta. Ja doch, liebe Tante Rosetta, nur zu gut habe ich dich verstanden, fürs Leben habe ich etwas gelernt:

Kein Knoblauch, oder besser gesagt, Knoblauch nur dann, wenn ein Gericht ihn wirklich verlangt, und auch dann nur, wenn ansonsten keine Gefahren lauern.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 15100