An einem Sommertag, beim Durchqueren eines Parkes, überfällt sie mich wieder. Unerwartet wie immer. Heute wortwörtlich aus heiterem Himmel. Nach Luft ringend lasse ich mich auf die nächstbeste Bank sinken, nehme unscharf wahr, dass eine kleine, schmale Gestalt im linken Eck der Bank sitzt.
Ich atme so laut und regelmäßig wie mir möglich ein und aus, während ich panisch in meiner Handtasche meine Pillendose suche, als ich eine helle Kinderstimme links von mir fragen höre:
„Warum schnaufst du denn so komisch?“
Endlich finde ich die Dose, öffne sie mit zitternden Händen, entnehme zwei der Pillen und schlucke sie.
„Schenkst du mir auch so ein rosarotes Zuckerl?“ Schon wieder diese Kinderstimme.
Ich trinke meine kleine Wasserflasche in großen Schlucken leer, schaffe es dann, zu murmeln:
„Nein, das sind nämlich Medikamente – keine Zuckerl.“
„Bist du krank? Was hast du denn?“
„Möchtest du nicht spielen gehen?“, frage ich matt und deute mit meinem Kopf vage zu dem eingezäunten Kinderspielplatz gleich gegenüber der Bank, auf der das Kind und ich sitzen.
Es antwortet fröhlich: „Doch! Später dann.“
Ich ringe nach Luft. Wann wirken endlich die Tabletten?!
„Was hast du denn für eine Krankheit?“
„Angst“, höre ich mich nun tatsächlich ungewollt antworten, und denke, dass ‚Panikattacke‘ ein unmögliches, ein hässliches Wort ist, ein Wort, das ein Kind wohl nicht verstehen würde.
Schweigen nun im linken Bank-Eck. Dann rückt das Kind näher zu mir. Sehr nahe. Aus den Augenwinkeln sehe ich lange hellblonde Haarsträhnen, ein blaugeblümtes Kleid.
„Du hast bestimmt keine Schatzkiste bei dir, stimmt’s?“, flüstert es neben mir.
Warum quält mich ausgerechnet jetzt, in meinem miserablen Zustand, dieses nervige Kind mit lästigen Fragen?
„Hast du eine Schatzkiste in deiner Tasche?“, insistiert das Mädchen.
Erschöpft schüttle ich meinen Kopf.
„Siehst du!“, ruft es triumphierend. „Darum hast du Angst! Weil du keine Schatzkiste mithast!“
„Schau!“ Ich sehe, wie das Mädchen einen bunten Rucksack auf ihren Schoß nimmt, darin herumkramt und etwas herausnimmt. Dann hält sie mir direkt eine kleine Holzkiste vors Gesicht.
„Das ist meine Schatzkiste.“ Feierlich öffnet sie die Kiste. Ich sehe blaue Knöpfe darin. „Das sind Knöpfe von Mamis Kleid. Das Kleid hat meine Mami am allerliebsten angezogen, als ich noch in ihrem Bauch drinnen war. Meine Mami und ich haben alle Knöpfe runtergeschnitten und in die Schatzkiste gelegt. Es sind 15 Knöpfe. Mami hat gesagt, jeder von den Knöpfen ist ein Sim- Simbol dafür, wie lieb sie mich hat. Wenn ich traurig bin oder Angst habe, soll ich die Knöpfe anschauen und angreifen, dann werde ich keine Angst mehr haben und nicht mehr traurig sein. Das hat Mami gesagt.“
Zum Glück wirken die Tabletten endlich. Ich fühle mich etwas besser.
„Eine schöne Idee von deiner Mami“, sage ich.
„Ja! Und weißt du, ich habe noch andere Schatzkisten von meiner Mami zuhause. Eine mit Briefen von ihr. Die kann ich aber noch nicht lesen. Und eine mit Fotos. Und eine mit Muscheln vom Strand –“
„Deine Mami hat dich sehr lieb. Du hast großes Glück“, stoppe ich erschöpft ihren Redeschwall.
„Ja!“, lacht das Mädchen glücklich.
Dann schaut sie mich aus großen grünen Augen ernst an.
„Hat deine Mami dich denn nicht lieb? Hast du kein großes Glück? Hast du keine Schatzkisten von ihr bekommen?“
Ungewollt drängen sich in mir blitzartig hässliche Szenen von früher – Schläge, Streit, lieblose Blicke und Worte – auf. Ich schüttle den Kopf.
„Hast du überhaupt von irgendjemandem eine Schatzkiste bekommen?“, ruft das Mädchen nun entsetzt.
„Nein“, sage ich. Und bevor ich erklären kann, dass das kein Problem für mich ist, kommt eine junge, blonde Frau schimpfend auf die Kleine neben mir zu: „Ronja, was fällt dir ein! Mache das nie wieder! Ich habe dich auf dem Spielplatz gesucht! Du kannst doch nicht einfach weglaufen!“
„Aber ich bin doch nicht weggelaufen! Ich bin hier gesessen“, verteidigt sich das Mädchen.
Die blonde Frau seufzt, sagt dann: „Ach, komm – wir gehen jetzt einkaufen und besprechen das unterwegs.“
„Ja, aber warte – gleich – ich muss noch ganz schnell etwas machen!“, springt das Kind auf und läuft auf den Spielplatz.
„Beeile dich, Ronja!“, ruft ihr die Frau nach.
„Jaa -a!“
Nochmals seufzend setzt sich die junge Frau auf die Bank neben mich, schweigt. Endlich spüre ich die volle Wirkung der Tabletten, ich fühle mich ruhiger innerlich. Es ist nur mehr der übliche diffuse Angstrest, der nie verschwindet, der immer da ist, in mir.
Ich bin imstande, zu sagen: „Ihre Tochter hat so liebevoll von Ihnen gesprochen, mir eine Schatzkiste gezeigt – “
„Ronja ist nicht meine Tochter“, unterbricht mich die Frau.
„Ach –“, sage ich verwirrt.
„Meine Schwester ist vor knapp einem halben Jahr gestorben. An Darmkrebs. Seitdem lebt ihre Kleine bei mir. Ronjas Vater hat sich vertschüsst, als sie noch nicht mal geboren war.“
Ich kann nichts sagen, muss das eben Gehörte erst verarbeiten.
Und da läuft Ronja mit roten Wangen auf uns zu, ihr bunter Rucksack hüpft auf ihrem Rücken auf und ab, in ihrer rechten Hand hält sie eine grüne Jausenbox.
„Okay, Ronja, dann gehen wir jetzt endlich“, sagt die junge Frau, steht auf, nickt mir zu und geht den Kiesweg voraus.
Ronja stellt sich dicht vor mich und legt mir die grüne Box auf den Schoß.
„Für dich!“, sagt sie feierlich. „Das ist deine Schatzkiste. Damit du keine Angst mehr hast. Ich habe echt schöne Sachen auf dem Spielplatz gefunden. Obwohl ich nur so wenig Zeit zum Suchen hatte.“
Sie winkt mir vergnügt zu und läuft ihrer Tante nach.
„Danke, Ronja!“, rufe ich ihr nach, gerührt und perplex. „Ich freue mich! Sehr!“
Sie dreht sich noch einmal zu mir um, strahlt übers ganze Gesicht. Dann greift sie nach der Hand ihrer Tante, und ich sehe ihnen nach, bis sie aus meinem Sichtfeld verschwunden sind, die beiden, Hand in Hand, die Kleine hüpfend und plappernd, immer wieder zu ihrer Tante aufsehend. Meine Hände liegen auf meiner grünen Schatzkiste. Keine Spur von Angst ist mehr in mir.
Claudia Dvoracek-Iby
www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 25191