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Ein letztes Mahl

Was auch immer sich im kleinen steirischen Dorf Gratwein zutrug – Melitta Knehs wusste davon.
Sie war siebenundfünfzig Jahre alt, glücklich und vermögend verwitwet und widmete ihre Zeit ihrer Spitzhündin namens Ella und den Dingen, die im Ort vor sich gingen.
Melitta hatte sich als große Aufdeckerin einen Namen in Gratwein gemacht, zumindest sah sie das so. Die übrigen Einwohner des Dorfes, etwa dreitausend an der Zahl, sahen die Sache anders: Für sie war diese Frau einfach eine Plage, der man aber besser nichts entgegensetzte, aus wirtschaftlichen Gründen.

Ihr vor Jahren verstorbener Mann, Oswald Knehs, war der Besitzer des größten Sägewerkes im Ort. Außerdem hatten ihm ein Gasthaus, ein Lebensmittelgeschäft und das örtliche Bordell gehört.
Er war dem Trunk nicht abgeneigt, und oft kam es zu unschönen Szenen im Hause Knehs, wenn Oswald nach ausgiebigen Touren durch seine beiden Gastronomiebetriebe auf allen Vieren in das eheliche Schlafzimmer zu schleichen versuchte.
Eines Tages ging im Dorf die Meldung vom plötzlichen Tod des vermögenden Mannes um. Es wurde hinter vorgehaltener Hand getuschelt, doch wagte niemand öffentlich darüber zu sprechen, zu groß war die Furcht, als Urheber einer Falschmeldung zu gelten. Darüber hinaus hatte sich Melitta Knehs nicht zu dem Vorfall geäußert. Sie schwieg eisern und machte nicht den Eindruck, über den Verlust des Mannes traurig zu sein, der ihr Treue bis in den Tod versprochen sowie angetrunken ein von ihr abgefasstes Testament unterfertigt hatte.

Einer der drei Gratweiner Polizeibeamten gab in bierseliger Runde am Tresen eines Gasthauses Details zum Besten: Melitta hatte ihren Gatten auf die Jagd begleitet, was ungewöhnlich für sie war, denn sie verabscheute das Töten von Lebewesen. Sie musste ihren Mann mit einem Rehbock oder einem großen Eber verwechselt haben, jedenfalls war der Mann tot.
Die an der Theke stehenden Gratweiner Trinker bedrängten den Polizisten, Details preiszugeben. Nachdem dieser zwei weitere Gläser Schnaps geleert und seine Dienstwaffe sicher auf einem Garderobenhaken verstaut hatte, fuhr er fort.
Beide hatten einläufige Schrotflinten dabeigehabt, doch seltsamerweise war Oswald mit zwei Wunden auf der Brust und einem Tannenzweig im Mund aufgefunden worden.
Plötzlich wurde es still im Gasthaus.
Selbstmord schied aus, also stand die Annahme im Raum, dass es sich um einen tragischen Jagdunfall gehandelt haben musste, so stellte es der Polizist dar.
Als einer der Gäste die Tatsache, dass zweimal aus einer einläufigen Flinte auf Oswald Knehs geschossen worden war, erwähnte, und ein weiterer Gast den Tannenzweig im Mund des Verblichenen anführte und vom Ritual der letzten Äsung sprach, da nahm der Ordnungshüter Haltung an, seine Waffe von der Garderobe ab und begab sich in die Mittagssonne, die jeden konsumierten Schnaps unbarmherzig bestraft.

Die Umstände des Todes von Oswald machten bald die Runde im Dorf, doch Melitta schwieg. Sie ordnete ihre Angelegenheiten, verkaufte erst das Sägewerk und dann das Gasthaus. Der Verkauf des Freudenhauses gestaltete sich einigermaßen schwierig, doch schließlich einigte sie sich mit der Frau, die sich in diesem Betrieb vom ersten Stock an die Bar im Erdgeschoss hochgearbeitet hatte. Dass diese Frau bei der Beerdigung ihres Chefs am lautesten geweint hatte, wurde in Gratwein als erfrischendes Detail in der ansonsten dunklen Causa gerne angenommen und eifrig weiterverbreitet.
Melitta schwieg, bis ihre Unschuld vom Grazer Gericht festgestellt wurde. Der Aufsichtsjäger aus dem Nachbarort Gratkorn war als Gutachter hinzugezogen worden und hatte festgestellt, dass Oswald Knehs seine Waffe ohne weiteres gegen die eigene Brust hätte richten können. Melitta wäre wahrscheinlich zu ihrem Mann geeilt und hätte die Flinte dabei verloren oder weggeworfen, und ein mit den Eckzähnen geschickter Eber hätte durchaus den Abzug betätigen können.
Der Richter starrte den Gutachter erst ungläubig an, dann blickte er liebevoll auf seine Armbanduhr, die rotgolden und neu in der Sonne glänzte, woraufhin er den Wildschweinen in Gratweins Wäldern erhöhte Gefährlichkeit attestierte und Melitta freisprach.

Diese machte sich sogleich daran, sich all der Dinge, die sich in Gratwein zugetragen hatten und um die sie sich aufgrund einer kurzzeitigen Liaison mit dem Gratkorner Aufsichtsjäger nicht hatte kümmern können, anzunehmen.
Da sie jedoch bald bemerkte, dass die Menschen, die sie auf der Straße ansprach, ihr mit einer Mischung aus Furcht und Abscheu begegneten, verlegte sie sich darauf, ihre Kommentare und Vermutungen über das Internet unter die Leute zu bringen.
Das ging naturgemäß schneller als die Belästigung von Menschen, zumal sie bei dieser nicht mit der Tür ins Haus fallen konnte, sondern erst ein Gespräch beginnen musste, dem sie den Anschein von Harmlosigkeit verlieh, um ihr Gegenüber nicht zu verschrecken und in die Flucht zu schlagen.
Ihre gewonnene Zeit investierte sie in Spaziergänge mit ihrer Spitzin Ella und dem Lernen für die Jagdprüfung. Sie hatte nämlich Gefallen an der Jagd gefunden, an den vielen Möglichkeiten, mit mehr als nur leeren Händen aus dem Wald zu kommen. Sie bestand die Prüfung mit Bravour, und auch beim Schießtest zeigte sie eine gute Leistung, obwohl sie zuvor laut eigenen Angaben erst ein einziges Mal  eine Waffe abgefeuert hatte.

Im sozialen Netzwerk, in dem sie ihre Meinungen, Ansichten und Unterstellungen verbreitete, befreundete sie sich virtuell auch mit Menschen, die nicht in Gratwein oder einem der umliegenden Dörfer wohnten. Sie geizte auch nicht mit Informationen über ihren sehr gehobenen Lebensstandard und lud auch etliche Fotos ihrer Villa hoch, die von einem parkähnlichen Grundstück eingesäumt war.
Sie erhielt etliche Nachrichten von Männern ihres Alters, doch beantwortete sie keine einzige, denn sie sah sich nunmehr als Solitär, wie der in Weißgold gefasste Brillant an ihrem Finger.
Dennoch war sie nicht einsam, denn sie hatte eine Haushälterin eingestellt. Sie hatte immer eine Haushaltshilfe haben wollen, doch die Furcht, dass ihr Mann sich dieser hätte körperlich nähern können, hatte sie darauf verzichten lassen.

Eines Tages läutete es am Eingangstor des Grundstückes, und da die Haushälterin gerade einkaufen war, öffnete Melitta das Tor und wies die Person, die draußen stand, an, zur Villa zu kommen.
Sie öffnete deren Türe und erstarrte. Vor ihr stand ein Mann von, wie sie schätzte, dreißig Jahren und bat sie um Geld. Sie wies ihn brüsk ab, doch der Mann, der sich als Clemens vorstellte, ließ sich nicht abwimmeln. Eloquent setzte er die inzwischen im Gesicht rot angelaufene Melitta Knehs davon in Kenntnis, dass er sehr wohl für das Geld arbeiten wollte. Den Rasen wollte er mähen, die Bäume und Sträucher in Form halten und den Gemüsegarten pflegen. Die Wörter, die er verwendete, ließen Melitta annehmen, dass es sich um einen Mann von höherem, wenn nicht gar hohem Bildungsgrad handelte.
Mit einer knappen Handbewegung gab sie Clemens zu verstehen, dass er ihr in ihre Bibliothek folgen sollte.
Sie tranken alten Cognac und unterhielten sich über das Anliegen des Mannes.
Da der Mann keine Bleibe hatte, gab die Hausherrin Anweisung, die am Rande des Grundstückes gelegene Jagdhütte des verblichenen Oswald Knehs so herzurichten, dass sie Clemens als Unterkunft genügen würde.
Da sich in der Hütte auch ein Raum befand, in welchem das erlegte Wild zerlegt wurde, gab es Wasser, einen Schlauch, mit dem er sich duschen konnte, und sogar über einen Abort verfügte sein neues Heim.

Clemens verrichtete die ihm aufgetragenen Arbeiten schnell und gründlich, sodass Melitta sehr zufrieden war und ihm jedes Monat eine kleine Prämie zukommen ließ. Er rauchte nicht, trank wenig und seine Freizeit verbrachte er damit, in schwarze Notizhefte zu schreiben. Jeden Sonntag durfte er in die Villa kommen, um sein Mittagsmahl einzunehmen.
Melitta genoss die Gespräche mit Clemens, der belesen war und über Malerei Bescheid wusste, so sehr, dass sie ihn an jedem Sonntag ein klein wenig mehr ins Herz schloss.
Melitta wollte unbedingt wissen, was Clemens in seine Notizbücher schrieb. Heimlich suchte sie nach diesen, doch hatte er sie so gut versteckt, dass sie neugierig bleiben musste.
Mit der Haushälterin verstand sich Clemens gut, und bald fragte diese Melitta, ob er nicht in eines der Gästezimmer übersiedeln könnte. Diese war außer sich vor Wut und beschied ihrer Angestellten in deutlichen Worten, dass in ihrer Villa niemals jemand einziehen würde, der nicht von ihrem Stand wäre. Die Haushälterin bat um Verzeihung, sie würde niemals wieder darauf zu sprechen kommen.

Dann fand Melitta die Notizbücher und las sie. Mit zitternden Händen legte sie sie in das Versteck zurück. Sie enthielten die Lebensgeschichte eines jungen Mannes, dessen Vater ihn verleugnet, aber dennoch großzügig unterstützt hatte. Seine Mutter hatte ihn alleine großgezogen, und als sie eine Stelle als Haushälterin bei der Witwe von Clemens Vater antrat, vereinten sich ihre Wege aufs Neue. Um seinen Vater rächen zu können, so schrieb Clemens, musste er Oswald Knehs Witwe aus dem Weg räumen.
Melitta eilte in die Bibliothek, wo der Waffenschrank stand, doch dieser war geöffnet und zwei einläufige Schrotflinten waren entnommen worden.
Sie wollte aus der Villa laufen, doch Clemens und seine Mutter versperrten ihr den Weg. Sie zwangen Melitta, mit ihnen in den Wald zu fahren, die Flinten nahmen sie mit.
Bevor sie zu der Stelle gelangten, an der Oswald Knehs sein Leben verloren hatte, brach Clemens einen Tannenzweig vom Baum und schob ihn Melitta in den Mund. Als letzte Äsung.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um |Inventarnummer: 25220




Steiermärkisches Kulturwürstchen

„Das geht sich alles aus“, dachte ich mir, als ich vor dem Grazer Landhaus stand, in dem der Landtag Steiermark seine Sitzungen abhält. „Natürlich ist dessen Zusammensetzung keine Idealbesetzung, aber eine Demokratie muss das aushalten.“
Ich zündete mir eine Zigarette an und blies den blauen Rauch weg von mir, als ich von hinten angerempelt wurde.
„Kannst du nicht aufpassen, du linke Bazille?“, rief der sichtlich verärgerte Mann mit der markanten Narbe auf der Wange, während er seinen azurfarbenen Schal, den er bei seiner Rempelei verloren hatte, vom Boden aufhob.
Ich entschuldigte mich sofort, denn ich hatte Angst, dass er mir auch eine Narbe verpassen würde.
„Schau dass du Meter gewinnst, du Würstchen!“, riet er mir. „Am besten, du gehst zum Griesplatz und isst dort dein Kebap!“

Ich war sprachlos. Wie konnte mich dieser Mann als Linken identifizieren? Bei einer weiteren Zigarette dachte ich darüber nach, und bald wusste ich es: Es war mein Schal!
Ich trug einen rot-schwarz gestreiften Schal, denn ich bin Fußballfan, doch diesem Menschen erschien ich wohl wie ein überzeugter Großkoalitionär, für ihn war ich also offensichtlich ein Linksradikaler. Ich erkannte, dass die blaue Farbe seines Schals wohl nicht dem Ausdruck seiner großen Liebe zu Italiens Fußball geschuldet war.
Die Erwähnung des Kebaps erklärte ich mir anfangs mit meiner Leibesfülle, die ein Hinweis auf den Genuss einer Vielzahl dieser Köstlichkeiten sein könnte; jedoch nur, wenn man mit meinen kulinarischen Vorlieben vertraut ist, was der Mann nicht sein konnte.

Ich ging eine Runde um das Landhaus und dachte darüber nach. Plötzlich stand die Erklärung für die Erwähnung des Griesplatzes und des Fast Foods vor meinen Augen.
Als junger Mensch musste er Furchtbares erlebt haben, das bewies die offenbar seit vielen Jahren verheilte Narbe auf seiner Wange. „Wahrscheinlich ist der arme Mensch mit etwas Scharfem wie einem Kebapmesser angegriffen und verletzt worden, während er in der Nacht in einem Lokal auf dem Griesplatz war“, dachte ich. „Vielleicht hält er aus diesem Grund nichts von Kebap.“
Diese Theorie hielt ich für glaubhaft.

Dass er mich Würstchen genannt hatte, ließ mich vermuten, dass er gerade an den Verzehr eines solchen gedacht hatte, als er mit mir zusammenstieß. Mit seinen glasigen Augen und dem leicht rötlichen Teint machte er auf mich den Eindruck, ein Mann zu sein, der einem fetttriefenden, mit Schweinefleisch, Speck und Zwiebeln gefüllten Darm selten abgeneigt war und mit Lammfleisch, Gemüse und Fladenbrot wenig anfangen konnte.
„In der Steiermark wird es nun ruppiger zugehen“, dachte ich mir.
„Dieser Herr ist der beste Beweis dafür. Solche Menschen werden von ihresgleichen dazu auserkoren, die neue sogenannte Elite zu spielen. Bis sie eben wieder abgewählt werden, nachdem sie sich am Trog sättigen konnten. Und was soll aus Kunst und Kultur werden? Lederhosengejodel und heimattümliche Dichtung statt gehobener Kultur? Aufsteirern und absahnen statt Dezenz und Integrität? Wir werden sehen.“

„Schau, dass du Meter gewinnst“, hat der Mann zu mir gesagt. Ich denke, dass viele und vieles in der Steiermark keine Meter mehr haben. Subventionen werden gekürzt oder gestrichen, einiges wird sich dann vielleicht nicht mehr ausgehen, doch eines wird sich ausgehen: Wir werden, während wir auf bessere Zeiten hoffen, hinschauen, und zwar ganz genau!

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 25100




(F)Eiernockerln mit grünem Salat

Jedes Jahr gibt es im April einen bestimmten Tag, an dem mir feierlich zumute ist und dem ich aus diesem Grund kulinarisch besonders huldige – mit Eiernockerln und grünem Salat.
So war es auch heuer wieder.
Ich besorgte beste Zutaten: Eier von den Hühnern meiner lieben Nachbarin, Mehl und Milch aus dem Bioladen und Butter von der Käserei meines Vertrauens. Ich scheute keine Kosten.
Dann machte ich mich an die mühevolle Zubereitung des Teiges. Zwar gilt das Erschaffen eines Teiges nicht unbedingt als die Königsdisziplin der kulinarischen Betätigung, doch für mich ist sie zumindest nahe dran.

Dennoch hat das Kneten des Teiges eine kontemplative Seite, für mich wenigstens.
Als ich das glatte Mehl Typ 480 in die Schüssel leerte und aufmerksam beobachtete, wie die digitale Anzeige der Küchenwaage unfehlbar immer mehr Gewicht angab, dachte ich an den Mann, zu dessen Ehren ich an diesem Tag kochte, und schon ersparte ich mir ein Gramm Salz. Er war ein Held gewesen, der unbeirrbar seinen Weg gegangen ist, bis zum bitteren Ende und ohne Rücksicht auf Verluste.
Ich wischte die Tränen weg, denn ich wollte die Speise nicht versalzen, und zwang mich, an etwas anderes zu denken.
Das gelang mir, als ich die Eier in die Schüssel schlug.

Als die Eiklar und die Dotter sich langsam mit dem Mehl vermischten, kam mir der Staat in den Sinn.
Das Mehl hatte für mich etwas Standhaftes, wahrscheinlich weil ich es vor den Eiern in die Schüssel gegeben hatte. Es war der von der hohen Schüsselwand beschützte Berg, der kräftigen Winden standhalten konnte, ohne Schaden zu nehmen. Die Dotter und Eiklar jedoch, die ihn langsam, zähflüssig und unerbittlich einkreisten, seinem Fundament die Luft nahmen, erinnerten mich an die Bedrohung, welcher der Berg ausgesetzt war. Die Eiklar zerrannen zu einer schleimigen Masse, die allerdings nicht für sich selbst stehen respektive rinnen konnte, denn da gab es noch die Dotter. Diese waren heil geblieben und thronten gleichsam auf den Eiklar, wie der Turm eines Unterseebootes.

Erst als ich die Dotter anstach und sie zerflossen, vereinten sie sich mit den Klar zu einer Einheit. Das erinnerte mich an die vielen kleinen und großen Skandale und Verbrechen, welche die Menschen oben mit jenen unten wieder gleich machten, denn plötzlich waren aus Lichtgestalten und Helden Schattenwesen und Gauner geworden.
Ich gab eine Prise Salz hinzu und würzte mit Muskatnuss. Ich hatte ein großes Päckchen Muskatnüsse in einem indischen Supermarkt gekauft. Ich kaufe dieses Würzmittel immer dort ein, denn so kann ich mir einbilden, einen kleinen Beitrag zur Wiedergutmachung zu leisten für die Verbrechen, die Europäer in den Anbaugebieten des Muskatnussbaumes verübt haben.
Ein verstorbener Spitzenkoch, mit welchem ich mich einige Male unterhalten durfte, hatte mich eines bierseligen Abends mit der Begeisterung für das Würzen mit Muskatnuss angesteckt, und seitdem setze ich sie gerne ein. Dieser Mann war es auch, der mir bei einem zufälligen Treffen auf einem bekannten Markt das Rezept für eine herrliche Cranberry-Orangen-Sauce verriet. Danke, Reinhard.

Ich salzte und begann den Teig zu kneten.
Wieder dachte ich an den Mann, zu dessen Gedenken ich die Eiernockerln zubereitete, und wieder stiegen mir Tränen in die Augen. Wie weit hätte er es bringen können? Wie viel Gutes hätte er noch bewirken können? Ich hatte ihn nie persönlich kennenlernen dürfen, er war lange vor meiner Zeit gestorben. Dennoch sah ich ihn vor mir, wie er das Land, das ihm bis in alle Ewigkeit zu gehören schien, formte, oft auch mit Druck, so wie ich meinen Teig.
Ich brachte Salzwasser zum Kochen und kochte darin den Teig mithilfe eines Nockerlsiebes und einer Teigkarte ein. Mit einem Kochlöffel rührte ich im Topf, um Klumpenbildung zu verhindern, und schon waren die Nockerln fertig.

In einer Pfanne schmolz ich Butter, schwenkte darin die Nockerln, salzte sie und schlug drei Eier hinein. Schon war das Mahl gerichtet.
Ich bereitete noch einen grünen Salat zu, mit bestem Kürbiskernöl, und war stolz auf meine kulinarische Leistung.
Eiernockerln mit grünem Salat war nämlich die Lieblingsspeise des Mannes, dessen Andenken ich an diesem Tag im April hochhalten wollte.
Ich wollte mich an den Tisch setzen und mit dem Verzehr der Köstlichkeit beginnen, als mein Telefon läutete. Nachdem das Gespräch geendet hatte, warf ich zufällig einen Blick auf das Display meines Mobiltelefons und erschrak.

Ich begann zu weinen und konnte das Gericht nicht anrühren. Ich nahm den Teller, lief nach draußen zum Zaun der Nachbarin und leerte die Nockerln in den für diese Zwecke bestimmten Teil des Hühnerauslaufes. Den Salat leerte ich auf unseren Komposthaufen.
Dann setzte ich mich wieder an den Tisch, aß ein Stück Brot und weinte abermals.
Ich hatte die Eiernockerln mit grünem Salat am zwanzigsten April zubereitet. Doch mein lieber Erbonkel Anselm, auf dessen Bauernhof ich heute lebe und dessen Leibspeise eben diese Nockerln waren, hat erst am einundzwanzigsten April Namenstag.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen |Inventarnummer: 25069




Dorfwind

Es ist eine emotional geführte Debatte im Gemeinderatssaal des kleinen Dorfes Gratwein. Sie hat, zum wiederholten Mal, das Thema Josef Huber zum Inhalt.
Huber ist fünfunddreißig Jahre alt und der örtliche Großbauer und Sonderling in Personalunion. Im Alter von dreiunddreißig Jahren hatte er den Hof von seinem Vater geerbt, nachdem dieser bei einem Jagdunfall verstorben war. Auch das Gemeinderatsmandat hat er von seinem Vater übernommen, wie auch dessen ukrainische Geliebte.
Oswald Heiner ist der Bürgermeister Gratweins. In seiner Jugend war er ein berüchtigter und erfolgreicher Hühnerdieb, doch nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt fand er auf den rechten Weg zurück und heuerte bei der Raiffeisenbank an.

Heiner richtet das Wort an Huber: „Josef, so geht das nicht! Dein Misthaufen verpestet die Luft in unserem schönen Dorf. Wie oft müssen wir dich noch auffordern, ihn endlich abzudecken?“
Josef Huber nimmt einen Schluck aus der Bierflasche, die er während jeder Sitzung, nebst einer Schnapsflasche, neben seinem Stuhl auf dem Boden stehen hat, und lässt seine Faust auf den Tisch krachen.
„Wie oft, Heiner, soll ich dir noch sagen, dass mein Misthaufen nicht stinkt? Falls du seinen Geruch wahrnehmen kannst, hast du dich ihm von der falschen Seite angenähert. Im Gegenwind riecht eben alles anders.“

Edeltraud Knehs ist die Vizebürgermeisterin. Vor ihrer alkoholbedingten Zwangspensionierung war sie als Lehrerin an der örtlichen Volksschule tätig.
Auch sie meldet sich zu Wort: „Es ist schier unglaublich, dass wir in jeder Sitzung über Hubers Mist debattieren! Dieser Mensch“, sie zeigt mit dem Finger auf Josef, „bringt Schande über unsere Gemeinde, olfaktorische Schande!“

Josef nimmt einen Schluck Schnaps, räuspert sich und sagt: „Ich soll Schande über Gratwein bringen? Ich? Denke bloß an deine Tochter! Die bringt Schande über uns!“
„Was meinst du damit?“, gibt Knehs zurück.
„Jeder im Ort weiß doch, was sie macht, deine Tochter! Erst steht sie an der Bar des Grazer Lokals, in dem sie arbeitet, und wenn sie mit den Männern genug gesprochen hat, geht sie mit ihnen in den ersten Stock.“

Edeltraud Knehs wird kreidebleich, doch sie erwidert mit fester Stimme: „Meine Tochter macht nichts Illegales. Sag, wie geht es deiner Russin? Obwohl sie ganze zehn Jahre jünger ist als du, hat sie es schon weit gebracht, weiß Gott! Erst war sie deine Stiefmutter, und heute liegt sie neben dir!“
„Sie ist Ukrainerin!“, ruft Huber, der ansonsten an Edeltrauds Worten nichts richtigzustellen hat.

Schmunzelnd meint Oswald Heiner: „Lassen wir das. Das führt doch zu nichts.“
„Da hast du recht!“, pflichtet Huber ihm bei.
„Dein verstorbener Vater hatte den Plan, den Misthaufen abzudecken, Josef. Warum greifst du dieses Vorhaben nicht auf?“, fährt Heiner fort. „Dann müssten die Kinder, die auf dem Weg zur Schule an deinem Hof vorbeigehen müssen, nicht mehr fürchten, in den Gegenwind zu geraten und dann im Klassenzimmer wie die Hinterlassenschaften deiner Kühe und Ferkel zu riechen.“
„Mein Vater hatte viele Pläne“, gibt Huber lakonisch zurück.
„Das wissen wir, Josef“, sagt Edeltraud Knehs. „Zum Beispiel den, dich zu enterben!“
„Das wollte er nicht!“, brüllt Huber und setzt die Bierflasche an.
„Doch, das wollte er!“, ruft Knehs. „Jeder im Ort weiß, dass dein Vater sämtlichen Wirtsleuten gesagt hat, dass sie dich nicht mehr anschreiben lassen sollen. Dass es das letzte Mal war, dass er deine Trinkschulden übernimmt, das hat er auch gesagt. Und dass du ein Säufer bist, der sein ganzes Geld verprasst, auch das hat er gesagt.“
„Das stimmt nicht!“, ruft Huber.
„Doch, das stimmt. Es stimmt übrigens auch, dass er dir deinen Sportwagen weggenommen hat. Bevor du ihn um die Ecke gebracht hast.“

„Er ist bei einem Jagdunfall gestorben“, sagt Huber mit ruhiger Stimme. „Das hat auch die polizeiliche Untersuchung ergeben.“
„Das wurde festgestellt, ja, und zwar von deinem Vetter, der damals der Postenkommandant der Gratweiner Polizei war. Aber wie erklärst du dir, dass dein Vater zwei Einschusslöcher in der Brust hatte?“
„Woher soll ich wissen, was sich zugetragen hat?“
„Du warst an diesem Tag ebenfalls in eurem Jagdrevier. Ich habe dich nämlich gesehen, als ich Pilze sammeln war. Du hast eine einläufige Schrotflinte dabeigehabt. Plötzlich fielen zwei Schüsse, dann bist du aus dem Wald gelaufen.“
„Das ist eine Lüge, Edeltraud!“, ruft Josef.
„Nein, das stimmt. Sag, Josef, hast du deinen alten Herren beim ersten Schuss nicht richtig getroffen? Oder wolltest du sowieso auf Nummer sicher gehen und hast deshalb nachgeladen?“
„Das sind sehr schwere Anschuldigungen, Edeltraud“, sagt Oswald Heiner.
„Im ganzen Dorf weiß man doch, dass Josef Huber seinen Vater umgebracht hat, Oswald“, gibt Knehs zurück. „Gut, er wurde nicht belangt, und der Fall geschlossen, aber wir alle wissen, was sich wirklich abgespielt hat.“
„Das ist eine Lüge!“, wiederholt Huber.
„Zwei Dinge würden mich interessieren, Josef“, bohrt Knehs nach. „Hast du deinem Alten einen Tannenzweig in den Mund gesteckt, sozusagen als letzte Äsung? Und war es schwer, sich an deinen Vater anzuschleichen? Ich meine, deine übliche Schnapsfahne riecht man etliche Meter gegen den Wind. Hast du dich im Gegenwind angeschlichen?“

„Das reicht jetzt!“, ruft der Bürgermeister.
„Genau!“, pflichtet Huber ihm bei.
„Ja, lassen wir das”, sagt Edeltraud Knehs. „Wenden wir uns wieder den aktuellen Schwierigkeiten mit dem Gemeindebürger Huber zu. Also, Josef, was gedenkst du gegen den Ungeruch, der von deinem Hof ausgeht, zu unternehmen?“
„Gar nichts!“, ruft Huber trotzig.
„Das habe ich mir schon gedacht“, sagt er Bürgermeister. „Die Erfahrung hat gezeigt, dass du uneinsichtig bist. Aus diesem Grund habe ich Vorkehrungen getroffen.“
Er nimmt eine Mappe aus seiner Aktentasche und überreicht sie Josef.
„Was ist das?“, fragt dieser.
„Das ist der beim Land Steiermark eingereichte und bereits bewilligte Plan zur Errichtung einer automatischen Gegenwindanlage, um den Gestank deines Misthaufens auf deinem Hof zu halten.“

Huber sieht sich den Plan an. Sein Blick wird immer ungläubiger, und er benötigt drei Züge aus der Schnapsflasche, bevor er seine Sprache wiederfindet.
„Das also wollt ihr mir antun“, stammelt er. „Ein riesiges Gebläse, das die Luft zurück auf meinen Hof bläst.“
„Die Luft und den Duft, den natürlich auch“, sagt Edeltraud Knehs süffisant.
„Die Sache hat aber einen Haken“, meint Josef.
„Welchen denn?“, fragt Oswald.
„Damit das Gebläse seine volle Wirkung entfalten kann, müsste es auf meinem Grundstück aufgestellt werden. Und das werde ich, wie ihr euch denken könnt, nicht gestatten!“
„Da liegst du falsch, Josef. Das Gebläse ist so stark, dass es neben dem Gehsteig positioniert werden kann, also auf dem Grundbesitz der Marktgemeinde“, sagt Edeltraud.
„Du wirst von diesem Wunderwerk der Technik begeistert sein, Josef“, sagt Heiner. „Es verfügt sogar über einen Sensor, der die Ventilatoren nur dann aktiviert, wenn der Wind aus der Richtung kommt, in der dein Misthaufen steht. Der Wind, den wir erzeugen, wird also dafür sorgen, dass du auf deinem Hof stets von guter Landluft umgeben bist.“

Da springt Josef Huber auf, leert seine Bierflasche, wirft sie an die Wand des Sitzungssaales, nimmt einen Schluck Schnaps und ruft: „Wenn ihr diesen Plan in die Tat umsetzt, verkaufe ich meinen Hof! Und nicht bloß das, ich verlasse Gratwein!“
„Dann sorge dafür, dass dein Misthaufen keinen Gestank verbreitet!“, ruft der Bürgermeister.
Josef verlässt den Saal und überlegt beim Hinausgehen, welche Dimensionen das Loch in seinem Wald haben müsste, der in einem Wasserschutzgebiet gelegen ist.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Perfidee |Inventarnummer: 19101




Einer für die Autos, einer für das Gasthaus

Die Gabe, ein Verbrechen aufzuklären, war Albin Breitschwengler wahrlich nicht in die Wiege gelegt worden, ein in Schnaps getunkter Schnuller sehr wohl.
Als einziger Sohn von Heinrich und Aloisia Breitschwengler war Albin zu einem Dasein als Knecht bestimmt worden.
„Der Bub wird Knecht“, hatte Aloisia stets gesagt. „Da braucht er seinen Kopf bloß, um das Futter für die Hühner nicht mit dem für die Schweine zu verwechseln.“

Der Schnaps war Albins ständiger Begleiter, vom Säuglingsalter an.
In der Volksschule des kleinen steirischen Dorfes Modriach tat er sich dementsprechend leicht; wenigstens in den Wiederholungsjahren, deren er vier absolvierte.
Er musste schwer auf dem Hof seiner Familie arbeiten, stets beobachtet von den Habichtsaugen seines Vaters, und oftmals gemaßregelt von den Bärentatzen seiner Mutter, wenn er etwas falsch oder nicht schnell genug gemacht hatte.

Die Hauptschule schloss er in sechs Jahren ab und nach dem Ableisten des Präsenzdienstes übernahm er den Hof seiner Eltern.
Er sorgte gut für das Vieh, und nachdem er sein Tagwerk verrichtet hatte, gab er sich der wohltuenden Wirkung des Mostes, des Bieres und schließlich des Selbstgebrannten hin, stets in dieser Reihenfolge.
Eine Frau fand er nicht, wenigstens keine, die länger als zwei Wochen bei ihm geblieben wäre. Die meisten seiner Liebschaften verließen ihn mit Worten wie „gefährlicher Irrer“, „haltloser Säufer“ und „verkommenes Subjekt“.

In Modriach galt Albin Breitschwengler als Sonderling, dem man besser nicht zu nahe kam.
Die Jagdprüfung hatte er nie bestanden. Er hatte zwar viermal versucht, den Schein zu erhalten, doch nachdem er es nicht fertiggebracht hatte, die Prüfung zu bestehen, beschloss er, ein Jäger ohne Berechtigung zur Jagd zu werden.
Albin war ein erfolgreicher Jäger.
Er hatte sechs Flinten und vier Büchsen von seinem Vater übernommen und übte das Schießen auf seinem Hof. Die dort zahlreich vorkommenden Ratten dezimierte er in kurzer Zeit, und bald stand ihm der Sinn nach größerer Beute.
Nachdem er zwölf Stück von ebendieser erlegt hatte, stellte er, am nächsten Tag und wieder nüchtern, fest, dass er seine Eier künftig im Kaufhaus würde erstehen müssen. Er beschloss, nicht mehr auf seinem Hof zu jagen, sondern in die Wälder zu gehen, die Modriach umgaben.

Es dauerte nicht lange, da hatte er eine stattliche Anzahl an Abschüssen vorzuweisen: drei Habichte, einen Uhu, zwei Katzen und einen im Wald frei herumlaufenden Schäferhund.
Auf den Hund hätte er besser nicht angelegt, denn am Tag nach dessen Abschuss kam der Besitzer des Tieres auf Albins Hof und verlangte eine hohe Entschädigung.
„Du hast meinen Hund erschossen, Breitschwengler!“, brüllte er.
„Dein Köter hat gewildert“, versuchte sich Albin aus der Affäre zu ziehen.
„Der Einzige, der in Modriach wildert, bist du, Albin!“
„Was kann ich tun, um dir deinen Verlust zu ersetzen?“, fragte Albin, dem der Sinn nach einer raschen Erledigung der Angelegenheit stand.
Der Hundehalter nannte eine Summe, und Breitschwengler willigte ein. Die Aussicht, wegen Wilderei und unerlaubtem Waffenbesitz vor Gericht gestellt und möglicherweise zu einer Gefängnisstrafe verurteilt zu werden, ließ ihm das Zahlen einer Entschädigung als das kleinere Übel erscheinen.

Er änderte sein Jagdverhalten und legte fortan auf Rehe, Wildschweine und Feldhasen an.
Im Dorf wussten alle, natürlich auch die Jagdpächter, dass Albin unerlaubterweise in den Revieren um Modriach ausging, doch zogen sie ihn nicht zur Verantwortung, wenigstens nicht offiziell.
Wurde er dabei beobachtet, wie er ein Reh oder Wildschwein auf seinen Hof schaffte, folgten sie ihm dorthin. Da er seine Beute mit einer Scheibtruhe abtransportieren musste, denn er hatte die Fahrprüfung nie bestanden und besaß keinen Geländewagen, konnten sich seine Verfolger Zeit lassen. Sie warteten ab, bis er die Tiere zerlegt hatte, dann verschafften sie sich Zutritt zu seinem Haus und nahmen das ihnen rechtmäßig zustehende Fleisch an sich.

Albin beobachtete die anderen Jäger oft bei der Ausübung des Weidwerks und lernte dabei viel über Waffen und amouröse Verstrickungen von angeblich glücklich verheirateten Menschen aus dem Dorf.
Eines Tages ereignete sich ein Jagdunfall, der Modriach erschütterte.
Johann Ranftl, der Besitzer des örtlichen Sägewerks, war in seinem Jagdrevier tot aufgefunden worden, mit zwei Einschusslöchern in seiner Brust.
Da der Tote der reichste Mann im Ort gewesen war, wurden die Umstände seines verfrühten Ablebens vom Kommandanten des Modriacher Polizeipostens höchstselbst untersucht.
Unter der Bevölkerung fand dieser Umstand breite Zustimmung, schließlich handelte es sich bei dem Polizisten um Johann Ranftls Bruder.
Drei Tage später war die Untersuchung beendet und der Tod Ranftls als tragischer Unfall eingestuft.
Dass diese Amtshandlung die letzte des Postenkommandanten sein würde, konnte niemand ahnen. Er war im Testament seines Bruders als der Alleinerbe des Sägewerks eingesetzt worden und quittierte den Polizeidienst nur wenige Minuten nach der Verlesung dieses letzten Willens.
Johann Ranftls Sohn Max ging leer aus. Er war ein weithin bekannter Frauenheld und Autonarr, der das Geld seines Vaters verprasst, ansonsten aber nicht viel geleistet hatte.

Albin Breitschwengler gab sich nicht mit der Version eines Unfalls zufrieden. Er vermutete, dass Johann Ranftl Opfer eines Verbrechens geworden war. Er hatte keine Beweise für seine Theorie, doch nahm er sich vor, die männlichen Mitglieder der Familie Ranftl zu beobachten. Da diese allesamt begeisterte Jäger waren, begab Albin sich täglich in das familieneigene Jagdrevier der Ranftls und legte sich, nur mit einem Feldstecher bewaffnet, auf die Lauer.
Der nunmehrige Besitzer des Sägewerks verhielt sich weidgerecht, wie Albin erkannte.
Max Ranftl hingegen ging oft in merklich angetrunkenem Zustand auf die Jagd. Er zielte schlecht und traf viele Tiere nicht gut, doch verzichtete er auf die Nachsuche und überließ das verwundete Wild seinem Schicksal.
In Modriach machte das Gerücht die Runde, dass Johann Ranftl mit einem Tannenzweig im Mund aufgefunden worden war. Der neue Postenkommandant bestätigte dies, doch schrieb er diesen Umstand dem Zufall zu. Den Fall neu aufzurollen, lehnte er ohne Angabe von Gründen ab.

Albin Breitschwenglers kriminalistischer Instinkt war geweckt.
Er schwor dem Schnaps ab und trank nach dem Aufstehen bloß einen halben Liter Most. Er versorgte das Vieh, verrichtete die notwendigsten Tätigkeiten auf seinem Hof und begab sich dann in das Revier der Ranftls.
Er beobachtete Max Ranftl besonders genau und notierte sich die Waffen, die dieser verwendete.
Nach sechs Monaten war sich Albin Breitschwengler sicher, wie der alte Ranftl zu Tode und der Tannenzweig in seinen Mund gekommen war.
Der Zufall wollte es, dass in der Modriacher Mehrzweckhalle ein großes Fest der Freiwilligen Feuerwehr stattfand.

Albin beschloss hinzugehen, denn alle wichtigen Menschen des Ortes sollten dort versammelt sein. Er zog seinen besten Steireranzug an, kämmte sich die Haare und ging zur Halle.
Als er sie betrat, ging ein Raunen durch die Menge. Die Menschen starrten ihn an, wie Menschen vom Land ansonsten bloß ein modernes Kunstwerk anzustarren pflegen.
Albin setzte sich an einen freien Tisch, bestellte sich ein großes Bier und wartete, bis die Blasmusik ihre Darbietung beendet hatte.
Dann hielt der Bürgermeister eine kurze Ansprache und bat um eine Schweigeminute für den verstorbenen Johann Ranftl.
Nachdem diese geendet hatte, erhob sich Albin Breitschwengler und rief in den Saal: „Es wundert mich nicht, dass der junge Ranftl die Schweigeminute für seinen Vater damit verbracht hat, einer Dorfpomeranze ins Dekolletee zu schielen!“

Der Bürgermeister blickte Albin erstaunt an und sagte: „Na da schau einer an! Der Herr Breitschwengler beehrt uns ausnahmsweise mit seiner Anwesenheit und hat uns auch noch etwas mitzuteilen.“
Die Menschen im Saal brachen in schallendes Gelächter aus, bloß Max Ranftl lachte nicht, sondern bedachte Albin mit hasserfüllten Blicken.
„Hast du uns etwas zu sagen, Albin?“, fuhr der Bürgermeister fort.
„Ja!“, rief Breitschwengler. „Der alte Ranftl wurde ermordet, und sein Mörder befindet sich unter euch, heute und in dieser Mehrzweckhalle!“

Im Saal wurde es still.
„Der junge Ranftl hat seinen Alten um die Ecke gebracht!“, rief Albin.
„Das ist eine Lüge!“, brüllte Max Ranftl.
„Ist es nicht!“, brüllte Breitschwengler zurück. Er wandte sich an die im Saal versammelten Menschen. „Ich erzähle euch, wie es war. Ihr alle wisst, dass Ranftl junior ein Säufer und ein Nichtsnutz ist. Sein Vater hat ihn, wie ihr auch wisst, enterbt. Drei Tage, bevor er von seinem eigen Fleisch und Blut erlegt wurde, war er im Gasthaus.“
„Dort war er doch oft!“, rief Max.
„Ja, das stimmt. Aber sein letzter Besuch in diesem Gasthaus hatte einen anderen Zweck als Bier zu trinken. Der Wirt hat mir nämlich erzählt, was Johann in seinem Lokal wollte.“
„Wo hast du den Wirt denn getroffen, Breitschwengler?“, rief Max Ranftl. „Alle wissen doch, dass du deinen Hof bloß zum Wildern in fremden Revieren verlässt!“
Albin schmunzelte. „Ich habe ihn im Wald getroffen.“
Alle lachten.
„Er hat mir erzählt“, fuhr Albin fort, „dass Johann die Trinkschulden seines Sohnes beglichen und gesagt hat, dass es das letzte Mal war, dass er das gemacht hat. Er hat dem Wirt klargemacht, dass er seinem feinen Herrn Sohn den Geldhahn zugedreht und ihn sogar enterbt hat, weil der Bub ein Nichtsnutz ist, der das ganze Geld verprasst. Er hat mir auch erzählt, dass er ihm die Autos weggenommen hat.“

Max Ranftl saß mit hochrotem Kopf da, sagte jedoch nichts dazu.
„Drei Tage später hat der junge den alten Ranftl in die ewigen Jagdgründe geschickt, und das ausgerechnet in dessen eigenem Revier! Ihr alle wisst, dass der Alte zwei Einschusslöcher in der Brust hatte. Das war bei Gott kein Unfall!“
„Es war ein Unfall!“, rief Max Ranftl.
„Woher willst du das denn wissen?“, gab Albin zurück.
„Ich hatte meine Flinte gesichert, und trotzdem hat sich ein-“ Max hielt inne. An seinen weit aufgerissenen Augen erkannten alle im Saal, dass er sich verplappert hatte.
„Also warst du doch bei deinem Vater, als es passiert ist“, stellte Albin fest.
„Ja, war ich“, stammelte Max Ranftl.
„Und wie hat es sich zugetragen, dass dein Vater zwei Löcher in seiner Brust hatte?“, bohrte Albin nach.

Max blickte nervös um sich. „Es haben sich eben zwei Schüsse gleichzeitig gelöst, na und?“, sagte er trotzig. „Ich verwende eben eine doppelläufige Flinte.“
„Nein, mein Herr, das tust du nicht!“, rief Breitschwengler. „Ich habe dich monatelang bei der Jagd beobachtet. Du verwendest ausschließlich einläufige Flinten!“
„Das ist eine Lüge!“, rief Max.
„Nein, das ist eine Tatsache.“ Albin ging zur Mitte des Saales und sagte: „Es war so: Du wolltest deinen Vater zur Rede stellen, weil er dir die Autos weggenommen hat, und weil er dich im Gasthaus auf das Trockene gesetzt hat. Das wolltest du dir nicht gefallen lassen. Dein Vater hat dir gesagt, dass er seine Maßnahmen nicht zurücknehmen wird, und da hast du abgedrückt. Und um auf Nummer sicher zu gehen, hast du nachgeladen und ein zweites Mal auf ihn geschossen!“
Max Ranftl schluchzte.
„Das Beste kommt aber noch“, fuhr Breitschwengler fort. „Dann hast du einen Tannenzweig genommen und deinem Alten, sozusagen als letzte Äsung, in den Mund gestopft. Das war bestimmt das erste Mal, dass du in eurem Jagdrevier einen Tannenzweig verwenden musstest. Üblicherweise laufen deine Beutetiere ja angeschossen in das Dickicht, wo du sie verenden lässt!“

Der Postenkommandant erhob sich von seinem Stuhl und fragte Max Ranftl: „Stimmt das?“
„Ja, es stimmt“, sagte Max mit tränenerstickter Stimme.
Der Polizist ging zu Ranftl, packte ihn am Oberarm und sagte: „Komm Max, gehen wir!“
Der Ball war vor der Zeit zu Ende.
Einige der Anwesenden warfen Albin Breitschwengler anerkennende Blicke zu, ein paar Menschen klopften ihm beim Verlassen der Mehrzweckhalle sogar auf die Schulter.
Wieder auf seinem Hof, öffnete Albin eine neue Flasche Schnaps und befreite seine Jagdwaffen vom Staub, der sich auf diese gelegt hatte.
„Ab morgen vernachlässige ich euch nicht mehr“, murmelte er.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um |Inventarnummer: 19081




So war es eben

Am Morgen des achten November 2014 verließ Egon Pichler sein Haus am Rande eines Dorfes namens Gratwein. Es war kalt und der Wind wehte eisig, dennoch setzte sich Egon unter einen Apfelbaum auf seinem weitläufigen Grundstück. Vor genau einem Jahr war seine Ehefrau im Alter von dreiundachtzig Jahren gestorben. Karla, so hatte sie geheißen, war sieben Jahre jünger gewesen als er.

Den Besuch an ihrem Grab hatte er bereits am Vortag hinter sich gebracht. Seine Tochter Helene hatte ihn dorthin gefahren. Er hatte einen Strauß rote Rosen auf die Grabplatte gelegt und mit Helene über die beiden Toten gesprochen, die im Grab lagen. Neben seiner Frau ruhte sein Sohn Heinrich, dessen Leben im Alter von neununddreißig Jahren geendet hatte.

Helene hatte ihrem Vater ein schweres, in weiches Tuch gehülltes und mit festem Garn verschnürtes Bündel ausgehändigt.
„Das ist alles, was ich von Heinrich habe. Ich habe es über die Jahre aufbewahrt, damit es nicht in Vergessenheit gerät; und auch um ihn nicht zu vergessen“, hatte sie gesagt.
„Warum hast du es mir nicht schon früher gegeben?“, hatte Egon gefragt. Verständnislosigkeit hatte in seinem Blick gelegen.
„Weißt du, ich habe lange Zeit mit mir gerungen, ob ich dir und Mutter das zumuten kann.“
„Aber natürlich hättest du es uns zumuten können! Ich verstehe nicht, warum du so lange damit gewartet hast. Nun ist Karla tot und hat nichts mehr davon!“
„Ich denke, so ist es besser. Was Heinrich hinterlassen hat, hätte ihr bestimmt das Herz gebrochen, glaube mir.“
„Worum handelt es sich denn?“
Helene, Heinrichs Schwester, hatte plötzlich Tränen in den Augen.
„Einfach um die Wahrheit. Um nichts anderes als die Wahrheit.“
„Ich verstehe“, hatte er gesagt.
Seine Tochter hatte den Tonfall in seiner Stimme bemerkt. Es war der für ihn typische, mit dem er auf ebenso unangenehme wie unabänderliche Tatsachen zu reagieren pflegte.

Nachdem er von seiner Tochter wieder nach Hause gebracht worden war, hatte er das Bündel geöffnet und zu lesen begonnen, was sein Sohn geschrieben und dessen Schwester chronologisch geordnet hatte.
Er hatte mit dem Ende begonnen, mit dem letzten Blatt Papier, das von Heinrich beschrieben worden war. Es war der Abschiedsbrief seines Sohnes. Er war an Helene adressiert und ihr wurde darin freigestellt, ihn ihre Eltern lesen zu lassen.

Heinrich Pichler war im Alter von neununddreißig Jahren gestorben. Ein Unglück unter Alkoholeinfluss, hatte es geheißen, ein unglückliches Ausrutschen, ein tiefer Fall und vorbei war es. Heinrichs Mutter Karla hatte eine Weile an dieser Version gezweifelt. Ihr war die Not, unter der ihr Sohn gelitten hatte, durchaus bewusst gewesen und sie hatte den Verdacht, dass er keinem Unfall zum Opfer gefallen war. Nach einer gewissen Zeit jedoch hatte sie ihrer Tochter gerne Glauben geschenkt, die nie auch nur ein Jota von der Version eines Unfalls abgerückt war. Auf diese Weise konnte sie den Verlust ihres Erstgeborenen leichter verkraften.
Egon Pichler, der nie ein besonders gutes Verhältnis zu Heinrich gehabt hatte, war sich über all die Jahrzehnte nicht sicher gewesen, ob es ein Unfall gewesen war. Jedenfalls hatte er den Tod seines Sohnes als unveränderliche Tatsache akzeptiert und im hintersten Winkel seines Gehirns abgespeichert. Selten nur hatte er die Erinnerung an sein Kind daraus hervorgeholt und vor sein geistiges Auge geführt.
Diese Erinnerung war bald nach Heinrichs Tod verblasst.

Sein zweites Kind, Helene, hatte ihm vom Tage ihrer Geburt an näher gestanden, als sein Sohn dies je vermocht hätte.
In der Schule war sie strebsam gewesen, hatte danach Klavier studiert und dank der Beziehungen ihres Ehemannes eine einigermaßen respektable Karriere als Pianistin gemacht.
Heinrich hatte zwei Klassen wiederholen müssen, sein Studium abgebrochen und sich in Wien als Schriftsteller versucht.
Zeit seines Lebens waren ihm Ruhm und Erfolg versagt geblieben, erst nach seinem Tod hatte sein Werk ein wenig Anerkennung erfahren.
Für Egon Pichler war das nur allzu verständlich gewesen.
„Was Helene an Kunst erschafft, wird Heinrich in fünf Leben nicht zustande bringen!“, hatte er oft zu seiner Frau gesagt.
„Ja, leider“, hatte diese geantwortet.
„Welche Stücke sie spielen kann, und in welcher Perfektion – das ist allerhand! Sie wird eine große Karriere machen, da bin ich mir sicher!“
In der Tat hatte sie eine große Karriere gemacht, aus Gratweiner Sicht.

In kleinen Dörfern zählt es mehr, wenn ein Mensch aus der Mitte der Dorfgemeinschaft ein von einem anderen Menschen komponiertes Musikstück exakt zu spielen vermag, als wenn ein Mensch kraft seiner Kreativität ein noch nie dagewesenes Werk erschafft. Ersteres ist für Dorfmenschen sowohl leichter nachvollziehbar als auch nachprüfbar.
So war es auch bei Heinrich und Helene Pichler gewesen.

Diesen Umstand hatte Heinrich in seinem Abschiedsbrief sehr wohl angeführt, jedoch ohne Neid auf seine Schwester oder Vorwürfe an seine Eltern. ‚So war es eben‘, hatte der entsprechende Absatz im Brief geendet.
Nachdem er diesen zu Ende gelesen hatte, war Egon Pichler in seine Küche gegangen, um sich Gin einzugießen. Das Glas neben sich, hatte er die Kurzgeschichten gelesen, die sein Sohn kurz vor seinem Tod verfasst hatte. Sie waren allesamt düster und, wie die Handschrift erkennen ließ, in angetrunkenem Zustand geschrieben worden. Sie handelten von Todesahnungen und von Verlust, jedoch legten sie nicht offen, worin Heinrichs erlittener Verlust bestanden hatte.
Egon hatte versucht sich vorzustellen, wessen sein Sohn verlustig gegangen war, doch keine Person oder Sache war ihm in den Sinn gekommen.
Nach dem Abendessen hatte er Heinrichs Texte weitergelesen.
Er war bald dahintergekommen, dass sie, je älter sie waren, desto lebensbejahender und voller Hoffnung auf eine gute Zukunft geschrieben worden waren.
In vielen Erzählungen hatte Egon Pichler sich und seine verstorbene Ehefrau erkannt, auch wenn sein Sohn seine Eltern niemals mit ihren wirklichen Namen erwähnt und sie auch nie an den Pranger gestellt hatte. Er hatte zwar sehr wohl Begebenheiten aus seiner Jugend angeführt, doch hatte er stets so formuliert, dass seine Verwandten deswegen nicht hätten böse sein können.
Die frühesten Texte seines Sohnes hatte Egon nur überflogen, denn es war bereits spät und er war müde.
Am nächsten Morgen las er auch diese. Sie waren ungelenk geschrieben, hatten keine klare Botschaft und bereiteten Egon keine große Freude beim Lesen.
Er war auf dem Gebiet der Literatur wenig bewandert, hatte nie viele Bücher gelesen, und nur selten die von seinem Sohn verfassten Texte. Dennoch war es ihm unmöglich, eine gewisse literarische Qualität zu negieren, vor allem in den Werken aus Heinrichs mittlerer Schaffensperiode, also jenen, die nach seinen dilettantischen frühen Werken entstanden waren.

Er las diese Texte ein zweites Mal und erkannte, dass sich zwischen den Zeilen einiges verbarg, was ihm bei der ersten Lektüre entgangen war. Das, was darin verborgen war und ihm nun mitgeteilt wurde, führte Egon vor Augen, wie wenig er seinen Sohn gekannt hatte. Er erfuhr, wer Heinrich Pichler wirklich, was für ein Mensch sein Sohn gewesen war.
Er schämte sich.
Er fand viele Parallelen zu sich selbst, was Gedanken, Gefühle und Handlungen anging. Er hätte in den entsprechenden Situationen auf die selbe Weise gedacht, gefühlt und gehandelt wie die jeweiligen Personen in den Kurzgeschichten, hinter welchen sich, wie er erkannt hatte, niemand anderer als sein Sohn Heinrich verbarg.

Er wurde sich einer Tatsache schmerzlich bewusst: Nämlich der, dass er sich mit Heinrich zwar unterhalten hatte, dies sogar oft, doch niemals mit ihm gesprochen hatte. Er hatte ihn in beinahe jedem Gespräch spüren lassen, dass er im Gegensatz zu seiner Schwester die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllte, jedoch ohne dies offen auszusprechen. Das wäre auch nicht notwendig gewesen, Heinrich hatte auch so verstanden, dass er weniger wert war als Helene, wie Egon einigen von Heinrichs Texten entnehmen konnte.
Sein Sohn hatte auf die selbe Art und Weise reagiert wie viele junge Männer in einer ähnlichen Situation. Er hatte es, wann immer das möglich war, vermieden, mit seinem Vater über Dinge zu sprechen, die nicht Wetter, Sport oder Politik betrafen. Egon Pichler war das nicht entgangen, doch hatte er einfach keine Lust gehabt, etwas daran zu ändern.

Das Telefon klingelte, Helene war am anderen Ende der Leitung.
„Wie geht es dir, Papa? Hast du Heinrichs Texte gelesen?“
„Ja, Helene, das habe ich. Einige sind wirklich gut.“
„Hast du schon alle gelesen?“
„Ja.“
„Was sagst du zu seinem Brief?“, fragte sie.
„Ich habe immer gewusst, dass er sich etwas angetan hat. Der Brief ist nur der Beweis, dass ich recht hatte.“
„Und seine Kurzgeschichten?“
„Nun.“ Egon Pichler zögerte. „Er hatte recht, in vielerlei Hinsicht.“
„Ja, das hatte er wohl. Siehst du ihn nun mit anderen Augen?“
„Ich sehe ihn zum ersten Mal so, wie er wirklich war. Also ja, ich sehe ihn mit anderen Augen.“
„Dann hat es etwas gebracht, dass ich dir die Texte gegeben habe.“

Egon Pichler saß unter seinem Apfelbaum und dachte erst an seine Ehefrau Karla und dann an seinen Sohn Heinrich. Nach etwa dreißig Minuten seufzte er „So war es eben“ und ging in sein großes einsames Haus zurück.
Er stieg auf den Dachboden und kramte in einer verstaubten Kiste. Darin hatte seine Frau die wenigen Literaturzeitschriften, die Texte ihres Sohnes abgedruckt hatten, verwahrt. Er zog sie heraus, wischte den Staub mit dem Ärmel seines Pullovers ab und ging mit den Heften unter dem Arm ins Wohnzimmer. Dort las er jene Kurzgeschichten von Heinrich, die von den Redaktionen für veröffentlichungswürdig befunden worden waren. Sie gefielen ihm gut, weit besser als vor vielen Jahren, als er sie das erste und bis zu diesem Tag einzige Mal gelesen hatte.
Er ging mit den Magazinen wieder auf den Dachboden, doch brachte er es nicht fertig, sie in die staubige Kiste zurückzulegen. So schuf er Platz auf seinem Nachttisch. Auf die frei gewordene Fläche legte er die Zeitschriften mit Heinrichs Beiträgen.
Dadurch war er seinem Sohn näher, als er es zu dessen Lebzeiten je gewesen war.

An sechzehnten Dezember schloss Egon Pichler seine Augen für immer.
Er hatte seinen Tod kommen sehen und entsprechende Vorkehrungen getroffen.
Als seine Tochter das Schlafzimmer ihrer Eltern betrat, fiel ihr sogleich der niedrige Stapel Magazine auf, der auf dem Tisch neben dem Bett lag. Darauf lagen, in ein Tuch eingewickelt, Heinrichs Texte, die sie ihrem Vater gegeben hatte, und auf dem Bündel ein Blatt Papier.
‘Liebe Helene!’, stand darauf. ‘Ich bitte dich um einen Gefallen: Lass in den Stein des Grabes, in dem ich mit Karla und Heinrich ruhen werde, folgende Worte einarbeiten: ‘So war es eben.’ Danke! Papa’

Leider ist es oftmals eben so, dass Nähe erst dann Eingang in das Leben eines Menschen findet, wenn ein anderes Leben bereits zu Ende gegangen ist.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary |Inventarnummer: 18131




Verkalkt

Es sind wohl wahre Worte, die F. Scott Fitzgerald geschrieben hat, als er Folgendes zu Papier brachte: ‘Mit achtzehn sind unsere Überzeugungen Berge, von denen wir herunterschauen; mit fünfundvierzig sind es Höhlen, in denen wir uns verstecken.’

Die Hellsicht dieses Satzes verblüfft mich, denn sein Schöpfer pflegte eine Lebensführung, welche meiner nicht unähnlich ist, und ich weiß, wie schwer es ist, einen so wahren Satz zu formulieren.
Nun, Mr. Fitzgerald, Sie hatten recht, wie auch mit Ihrer These, dass man eine Kurzgeschichte ohne Weiteres mit dem Glas in der Hand schreiben kann. Prost!

Meine Freundin, sie ist fünfundvierzig, ich noch nicht, ist eine Frau von festen Überzeugungen, welche mit meinem Lebenswandel hin und wieder kollidieren. Sie ist der Ansicht, dass unser Badezimmer jeden Freitag geputzt zu werden hat, was mir letzte Woche einfach nicht gelingen konnte.
„Michael, die Kalkflecken auf den Armaturen, die wohl nur von Spritzwasser herrühren können, sind mir ein Dorn im Auge!“, konstatierte sie, und ihr strenger Blick ließ mich vermuten, dass es mit dem vorehelichen Vollzug an diesem Abend nichts werden würde.

Verzweifelt ob dieser Tatsache, griff ich, ich gestehe dies, zu einer Lüge, um keine Not leiden zu müssen.
„Maria“, sagte ich, „ich habe das Bad gestern geputzt. Während du in der Fabrik am Fließband standest, um das Geld für unsere Lebensmittel zu verdienen, habe ich vier Stunden lang geputzt.“ Ich setzte meinen treuherzigsten Hundeblick auf und fuhr fort: „Ich weiß natürlich, dass es dir höchst unrecht ist, wenn ich das Badezimmer bereits am Donnerstag auf Hochglanz bringe, doch gestern überkam mich ein Anfall von Reinlichkeit. Danach war ich verschwitzt und habe geduscht, damit ich nicht übel rieche, wenn du nach Hause kommst, und dabei sind die Flecken wohl entstanden.“

Sie sah mich entgeistert an, dann sagte sie schroff: „Michael, für die Lebensmittel, die du konsumierst, kommt immer noch deine Frau Mama auf. Von meinem Geld kaufst du bloß Bier, und das in Unmengen. Außerdem“, nun wurde sie laut, „was faselst du von Donnerstag? Heute ist Samstag!“

In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich einen Tag verloren hatte. Ich lief zum Kühlschrank und leerte eine Flasche Bier in fünf Zügen. Dann sagte ich zu Maria: „Ich kläre die Sache auf und bin in dreißig Minuten zurück.“
In meinem Stammlokal fragte ich den Wirt, der wirklich so heißt: „Stief, sag, mein Alter, wie viel habe ich in den letzten Tagen getrunken?“
„Mehr als du bezahlen konntest, mein Alter“, lautete Stiefs Antwort. „Soll ich dir sagen, wie viele Biere du hast anschreiben lassen?“
„Nein, nicht heute“, gab ich zurück und dachte instinktiv an meine Freundin und deren Gehaltskonto.

Zerknirscht ging ich nach Hause, wo ein Badezimmer auf mich wartete, das nagelneu nicht besser ausgesehen hatte. Um weitere Misshelligkeiten mit Maria zu vermeiden, ließ ich mir ein armaturschonendes Bad ohne Schaum ein und legte mich dann zu ihr ins Bett.
Meine zarten Annäherungsversuche ließ sie zwar ins Leere laufen, doch als ich ihr von der ihrem Kontostand bevorstehenden Rechnung in meinem Stammlokal erzählte, begann sie doch noch zu stöhnen.

Michael Timoschek
Erstveröffentlichung in der Schweizer Zeitschrift „Bierglaslyrik“, Ausgabe 33, Februar 2016

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 17154




Der Jägermeister

für Erna Raminger

Peter Schröll ist der örtliche Jäger von Modriach, einem winzigen Dorf in der Steiermark. Diese Bezeichnung verdient er tatsächlich, denn er ist der einzige Jäger der Ortschaft, in der nicht einmal dreihundert Menschen leben.

Das Leben dort ist dementsprechend rustikal. Kontrolle von oben gibt es in ebenso geringem Maße wie vonseiten des Staates, denn der Pfarrer und der Polizist sind meistens an der Theke des Wirtshauses Zum Krug anzutreffen, das ihrem Vater gehört.

Schröll arbeitet nicht mehr. Nach einer Erbschaft hat er seinen Job als Zimmermann an den Nagel gehängt und ist nur noch Jäger, sogar einer mit eigenem Revier.
In diesem hat er bereits etliche Tiere erlegt, einen Rehbock zum Beispiel, oder einen Habicht und drei Schäferhunde. Mit den Wildschweinen jedoch hat er Probleme. Diese intelligenten Tiere lassen sich von Schröll einfach nicht erschießen. Dabei hat er schon fast alles probiert. Köder in Form von Futter haben die Wildsäue ebenso ignoriert wie Pheromone, die er überall im Revier ausgebracht hat.

In seiner Verzweiflung beginnt er, mit einer höheren Dosis Zielwasser zu experimentieren. Zielwasser nennt man in der Steiermark den Schnaps, der den Jäger davon abhalten soll, bei der Schussabgabe zu zittern – es sorgt also dafür, dass der Weidmann stets ausreichend Alkohol im Blut hat.

Drei Wochen nachdem Schröll angefangen hat, mehr Obstler zu sich zu nehmen als die übliche Flasche pro Tag, zeigt sich das Wildschwein. Es handelt sich um einen riesigen Keiler, der sich gut an der Wand von Schrölls Bibliothek machen würde, denn außer einem schmalen Regal, in dem Kataloge von Jagdwaffenherstellern liegen, befindet sich in diesem Raum bloß ein abgetretener Teppich.

Er legt an, seine Hand ist ruhig dank der Extradosis Zielwasser, drückt ab und es macht Peng.
Zwei Sekunden später macht es noch einmal Peng.
Schröll erschrickt und geht in Deckung. Da er keine Schmerzen hat, folgert er jagdmesserscharf, dass der Keiler, so wie er selbst, wohl immer noch zu wenig Zielwasser intus hat, um zu treffen.

Erleichtert schießt Schröll zum Spaß noch einmal in die Richtung der Wildsau, doch antwortet diese nicht mit einem zweiten Schuss, sondern, so folgert Schröll, wirft ihre Flasche Zielwasser gegen einen Baum, denn er vernimmt das Geräusch von zerbrechendem Glas. Das Wildschwein, so weiß er jetzt, ist böse, weil es den Jäger nicht mit dem ersten Schuss erlegt hat.

Er nimmt einen großen Schluck Zielwasser und schläft auf dem Hochstand ein.
Als er aufwacht und nach Hause fahren will, muss Schröll zu seinem Ärger feststellen, dass die Wildsau seinen Geländewagen zerschossen hat. Den rechten Vorderreifen und die Windschutzscheibe hat sie getroffen.

Michael Timoschek
Erstveröffentlichung in der Schweizer Zeitschrift „Bierglaslyrik“, Ausgabe 31, September 2015

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 17158




Ein Skandal!

Vor einigen Tagen, und das ist die Wahrheit, erfuhr ich, dass der Besitzer und ehemalige Wirt meines Stammlokals in der schönen Steiermark sein Anwesen an die Gemeinde, auf deren Hoheitsgebiet es liegt, verkaufen möchte, wird oder muss. Diese wird das altehrwürdige Gebäude abtragen, um Platz für den angeblich dringend benötigten Ausbau der nebenan gelegenen Volksschule zu schaffen.

Augenblicklich blutete mir das Herz, und selbst nach ein paar Gläsern Bier trat keine Besserung ein.
Ich habe jedoch auch Verständnis dafür, dass auf diesem heiligen Boden, auf dem schon meine und die Eltern meiner Freunde an der Bar gestanden hatten, Schulkinder unterrichtet werden. Sie haben sogar exakt an diesem Platz ausgebildet zu werden, denn wo, wenn nicht hier, können sie lernen, was man im Leben braucht und wissen muss.

Die Kinder, von welchen einige entstanden sein mögen, nachdem ihre Eltern dieses Lokal besucht hatten, werden von der einstigen Schönheit der ehemaligen Herrentoilette erfahren, die mit einer wahren Unzahl an äußerst freizügigen Darstellungen ausgekleidet war, welche vom Wirt in regelmäßigen Abständen erneuert werden mussten. Ich selbst war einmal ertappt worden, als ich ein Poster von der Wand zu lösen versuchte und wurde dafür ausgelacht. Dabei wollte ich es doch bloß meiner Frau Mama zeigen, zur Untermauerung meiner Beschwerden über die Pornografie auf diesem stillen Ort.

Die Buben werden sich der Aura dieser Weihestätte der Adoleszenz nicht entziehen können und in der letzten Reihe sitzen, während die Mädchen in der ersten Reihe Platz nehmen werden. Von einer Lehrkraft gefragt, warum das so zu sein hätte, werden sie im Chor antworten, dass die Eitelkeit in der ersten Reihe sitzt, um gesehen zu werden, die Intelligenz aber in der letzten, um zu sehen.

Sie werden fühlen, dass es besser ist, zum Wirt an die Bar zu kommen, als auf sein Erscheinen an ihrem Tisch zu warten, und auch, dass man für einen Toast, den man am Folgeabend serviert bekommt, gefälligst dankbar zu sein hat. Es gibt schließlich Menschen auf dieser Welt, welchen vom Wirt kein Toast hingestellt wird. Dieses Erlernen der vorauseilenden Dankbarkeit wird die Kids noch weit bringen in ihren Leben. Wer fühlt, dass es immer besser ist, danke zu sagen und ansonsten still zu sein, wird sich nie mit wirklichen großen Problemen herumschlagen müssen, wie zu großer Verantwortung, zu langen Arbeitszeiten oder der Anhebung des Spitzensteuersatzes.

Diese Kinder werden nach Absolvierung der Volksschule in ihrem Benehmen geschliffene und beinahe vollkommene Barbesucher sein, auch wenn sie dann noch ein paar Jahre warten sollten mit dem Vollsein.
Und ich? Ich werde dann noch immer weinen …

Michael Timoschek
Erstveröffentlichung in der Schweizer Zeitschrift „Bierglaslyrik“, Ausgabe 32, November 2015

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 17157