Es war damals im Sommer 2006. Ich hatte mich für den Spanischkurs an der Uni entschieden, obwohl meine Motivation dafür noch zu unterschwellig gewesen war. Schnell war auch die erste Stunde vorbei und wir wurden uns gegenseitig vorgestellt. Bei meinen nächsten Besuchen des ordentlich früh beginnenden Kurses sah ich auf der Bank rechts hinter mir eine Studentin, die mir sehr gefiel und zu der ich oft hinüberblickte. Damals hatte ich aber noch nicht den Mut, sie anzusprechen. Es vergingen ein, zwei Monate und die Spanischstunden waren mehr oder weniger dieselben.
Als der Kurs Mitte Mai früh anfing, setzte sich diese junge Frau unvermittelt neben mich, sagte, dass sie nicht in die nächste Stunde kommen könne und ich für sie dann mitschreiben solle. Mit dem Bleistift schrieb sie ihre E-Mail-Adresse auf mein Blatt und verabschiedete sich.
Was dann geschah, weiß ich leider nicht mehr so genau. Ich erinnere mich daran, dass ich ihr eine E-Mail, in der die Hausaufgaben standen, schickte, aber ich erinnere mich nicht mehr an das, was danach geschah.
Auf jeden Fall hätte ich diese junge Frau kennenlernen wollen, aber irgendetwas hielt mich davon ab, sie zu kontaktieren. Da ich mich in dem Kurs unwohl gefühlt hatte, meldete ich mich kurze Zeit danach ab. Ich sah die Studentin noch einmal an einem Abend vor dem Wohnheim, aber meine Blockade verschwand nicht.
Und dann denkst du dir: Wenn du schon einmal die E-Mail-Adresse hast – warum hast du ihr nicht geschrieben? War es Angst vor Zurückweisung? Schüchternheit? Auch heute weiß ich keine Antwort mehr.
Jahre vergingen, und obwohl ich mich später wieder an sie erinnerte, habe ich ihr nicht geschrieben.
Erst nach neun Jahren wieder eine schüchterne E-Mail. Ich erinnere mich noch daran, dass ich danach im Fernsehen eine Folge „Schätze der Welt – Erbe der Menschheit“ sah, als ich gespannt auf eine Antwort wartete.
Aber die Antwort blieb aus.
Später versuchte ich es erneut mit E-Mails, die nun ausführlicher geworden sind. Aber auch sie wurden nicht beantwortet.
Was ich zwischenzeitlich auch noch bemerkte, war, dass sich vieles von dem wiederholte, was ich neun Jahre davor erlebt hatte. Ich wusste, dass ich die Hobbys von damals nach dieser Zeit wieder aufnehmen musste, aber in einer besseren, intellektuelleren Form. Ein Beispiel waren die Western, die ich spät abends im Fernsehen sah und die mir guttaten. Am besten gefielen mir die klassischen US-Western, aber auch einige Italowestern. Ich nahm die Stimmung nun bewusster wahr, und auch die Landschaft und die Sonnenuntergänge, die ich mit denen aus der italienischen Landschaftsmalerei verglich.
Auch das Reisen nahm ich nach einer mehrjährigen Unterbrechung wieder auf. Wie beim Film nahm ich auch im Urlaub Eindrücke viel besser wahr und konnte mehr über die anderen Länder erfahren.
Aber am allermeisten hoffte ich darauf, dass sie sich bei mir melden würde und ich die Jahre, die mir verlorengegangen sind, mit ihr nochmals erleben könnte.
Also entwarf ich ein Szenario, in dem ich ihr etwas über mich und meine Motivation für den Spanischkurs schreiben wollte. Ich könnte auch anführen, dass es mir damals nicht so gut gefallen hat und dass ich – auch etwas überstürzt – den Kurs gewechselt habe. Danach würde ich ihr einen Rat geben, nämlich sich für Kultur zu interessieren, wenn sie es nicht ohnehin schon täte, und ihr von meinen Leseerfahrungen erzählen. Außerdem wollte ich ihr von meinen Vorlieben für Reiseländer – dies waren inzwischen der Ferne Osten und Griechenland geworden – berichten.
Und auf einmal merkte ich, dass sich inzwischen in mir etwas verändert hatte. Ich war viel achtsamer geworden. Es überraschte mich, dass mir diese Bekannte einmal unvermittelt zurückschrieb und dabei anmerkte, dass sie sich nicht mehr genau an diese Zeit erinnern könne, es aber schön sei, dass ich ihr so viele positive Gedanken entgegenbrachte. Sie könnte sich gut vorstellen, dass wir uns einmal in einer Eisdiele treffen.
Nach neun Jahren endlich wieder ein Treffen. Ich wusste gar noch nicht genau, worüber ich mit ihr hätte sprechen können, und für den Fall, dass ich in Verlegenheit geriete, überlegte ich schon vorher einige Stichworte. Es waren die bereits erwähnten Themen, aber ich wollte sie auch noch überraschen.
Das Treffen verlief noch schöner, als ich es erwartet hatte. Es überraschte mich doch sehr, dass sie so nachdenklich war und mir recht gab, dass es besser sei, Bücher zu lesen, auch wenn deren Handlung frei erfunden sei, als nur Tratsch weiterzugeben oder Stammtischgespräche über Politik zu führen. Sie erzählte außerdem, dass auch sie sich in dem Spanischkurs nicht wohlgefühlt und ihn im darauffolgenden Semester abgebrochen hatte. Die Jahre darauf waren vom Berufseinstieg geprägt – sehr viel Stress –, aber es gab auch schöne Momente, wie Urlaube.
Auch ich wollte noch darauf eingehen, was ich in den letzten neun Jahren getan hatte, und fasste zusammen, was ich gelernt hatte: „Es ist am wichtigsten, bewusster – auch auf die kleinen, zunächst unscheinbaren Dinge – zuzugehen. Wir lernen bald, nur das Große, Erhabene zu ehren, und wir schätzen andere, alltägliche Erfahrungen, die wir für trivial oder unbedeutend halten, klein und das möchte ich an einem Beispiel zeigen: Wie sehr gefielen mir die Spaziergänge im Hain, die Abende bei einem Film vor dem Fernseher oder auch nur ein Besuch in einem Café, aber vor neun Jahren habe ich das noch nicht so wahrgenommen und wollte lieber etwas Großes erleben. Eine Expedition, möglicherweise. Heute wäre ich glücklich, ich könnte einen Vormittag in der Kleinstadt flanieren und dabei ein paar Kuriositäten in den Schaufenstern entdecken oder mit einigen Menschen ins Gespräch kommen.“ Dabei unterbrach mich meine Gesprächspartnerin und sagte: „Genauso ging es mir auch. Aber ich habe relativ früh schon Erfahrungen gemacht, die mich glücklich gemacht haben – in meiner Arbeit als Pädagogin oder bei Spieleabenden. Da habe ich wirklich einige sehr schöne Stunden erlebt.“
„Eine andere Erfahrung, die ich gemacht habe, ist, dass sich doch vieles im Laufe der Jahre zum Besseren entwickelt hat. Es war doch meistens übertrieben, zu denken, dass mir doch nichts gelingt, wenn es nur etwas Zeit gebraucht hat, dass sich die Dinge geklärt haben.“ Sie erwiderte: „Das stimmt. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so gut deutsch spreche, aber mit der Zeit ist dies von alleine gekommen.“
„Ein Drittes wäre die Nostalgie. Wenn ich alte deutsche Filme aus den 1970er Jahren sehe, empfinde ich eine Sehnsucht nach der Mode und dem Design und möchte gerne wieder in einer Zeit leben, in der ich noch nicht geboren war. Aber es gibt ja zum Glück Schallplattenläden, die diese Sehnsucht etwas stillen können.“ „Oder Vintage-Läden“, warf sie ein. „Dort habe ich selbst schon einige schöne Sachen gefunden.“
Inzwischen fühlte ich dasselbe Behagen, das ich damals gespürt habe. Ich merkte, dass unser Gespräch nun zu einem Ende kommen würde, deshalb kam ich zu meiner Überraschung: „Da ich damals sehr schüchtern gewesen bin, dich aber immer toll fand, möchte ich mit dir etwas unternehmen, sozusagen etwas nachholen, was ich vor neun Jahren mit dir gerne getan hätte.“ „Und was wäre dies?“, fragte sie aufgeregt. „Ich hätte gerne mit dir einen Ausflug in eine andere Stadt gemacht. In keine Großstadt, sondern in eine der Nachbarstädte. Wenn ich mich damals mehr getraut hätte, wäre ich gerne mit dir nach Aschaffenburg gefahren, wir hätten die Stadt besichtigt und es uns in einem Park gemütlich gemacht. Bist du damit einverstanden, dass wir das nach neun Jahren nachholen?“
„Einverstanden!“, sagte sie, dabei spürte ich in ihrem Gesicht so etwas wie Herzenswärme.
Michael Bauer
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