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A Sentimental Journey

„In Regen kann’s zwieseln,
aber in Zwiesel kann’s nicht regnen“,
sagtest du dir.
Und wart glücklich zu zweit
auf eurer herbstlichen
Wanderung.

Von einer Bank zur nächsten
durch Wälder und Felder.
Gelb, schwarz und braun
bis zum abendlichen Wein.
Aber ansonsten verlor sich
jede Spur.

Hätte ich dich doch
früher gekannt.
Sagen wir:
Vor einem halben
Jahrhundert.
Mir ginge mein Herz
über
vor so viel Schönheit.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 24119




Mein Leben mit A.

Es waren zwei Figuren, die der eher naiven V., die ebenso sicher ihren Platz im Wiener kulturellen Leben zu verteidigen wusste, als auch A., die es eher verkrampft, aufsteigerisch dazu bringen wollte: der Drang über anderen stehen zu wollen, kulturell, intellektuell, moralisch. Nichts auslassen zu wollen: Kultur als eine Möglichkeit, das Leben ändern zu wollen. Ebenso nahbar wie andererseits unnahbar.

Ich hätte mich nicht mehr erinnern können, wann der Regen begonnen, noch, wann er wieder aufgehört hatte. Die Situation, die – historisch betrachtet – auch als Brautlauf betrachtet worden war: Sie zur Rechten, ich zur Linken. Ich den Regenschirm haltend, wortlos.

Das eigentlich Sonderbare war die Abwesenheit von wechselseitiger Aggression, also auf beiden Seiten, und vielleicht hätte ich die Sicht der anderen Person doch kennenlernen müssen.

Denn siehe, der Winter ist vorbei, die Regenzeit ist vorüber, ist vergangen.

Nicht einmal das genaue Aussehen ist ihm geblieben außer den dunklen Haaren, und als er später einmal ihr Gesicht auf einem Foto gesucht hat, ist er erschrocken, dass er nichts mehr finden konnte. Die erste nicht wahrgenommene Gelegenheit.

Was mir noch an ihr aufgefallen war seit unseren ersten Gesprächen: Sonnenbrille, ein neongelbes Kapuzenshirt und ein abgeschnittenes bonbonfarbenes Stück einer Gardine, das sie damals darunter getragen hat, gewissermaßen als Rock: „Ganz so irre dürfen Sie sie sich auch nicht vorstellen“, sagte ihre Mutter einmal, sie habe schon ein gewisses Niveau, und wenn sie in eine Aufführung geht, dann ist alles in bester Ordnung, dann ist sie äußerlich wahnsinnig gepflegt. Dazu kommt noch die Schönheit unbefangener Gespräche: Sie war darin Weltmeisterin.

War diesen Gesprächen aber nicht immer auch zu eigen, dass in ihnen vor allem die Langeweile erstarb, welche den Ich-Erzähler durch das Aufwerfen der Fragen und Gedanken, die sie immer und immer wieder vor sich hergetragen hatte, aber den anderen um sich herum verschwiegen hätte?

Belanglosigkeiten. Mit Belanglosigkeiten provozieren. Die Kunst, dass einem dies auch gelang.
Eigenartig, dass sich ein solches Entsetzen über Beiläufigkeiten manchmal wiederholen konnte. Theoriebildung auch über die am weitesten hergeholten Ereignisse:

Der Tiananmen-Jahrestag war vorgestern, darauf muss man aber auch erst mal kommen, und wenn die Chines/Innen vielleicht etwas mehr Glück gehabt hätten, so sagte es mir gestern wieder A., wer weiß, ob die Europäische Gemeinschaft nicht längst schon den Laden dichtgemacht hätte. China ist halt anders. Bei uns legitimiert sich die Macht der Politiker/Innen daraus, dass wir alle vier Jahre auf einen Zettel ein Kreuz zeichnen können, in China müssen die Politiker/Innen halt Leistung bringen, um ihre Legitimität zu bestätigen: Arbeitsplätze, Wirtschaftswachstum, Kindergartenplätze und so weiter. Ich finde diese Situation aber surreal. Denn obwohl sich viele Städte der Millionengrenze genähert haben, werden rasch Zweifel an ihrer Urbanität laut. Denn, wenn der/die geneigte Leser/in ebenfalls schon einmal in den Genuss eines Besuches westlicher Metropolen gekommen wäre, würde er/sie wahrscheinlich sehr schnell bemerken, wenn er/sie dort einmal gezielt nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden Ausschau hielt, dass letztere dann doch überwiegen dürften. Vielleicht hätte es ja etwas damit zu tun gehabt, es kann aber überhaupt nichts damit zu tun gehabt haben. Den Genuss des anderen stehlen, indem der Nichtgenuss des anderen genossen wird.

Sicher, wie Lilien blühen nur Lilien und war es nicht endlich an der Zeit, sich diese botanischen Metaphern ein für alle Mal abzugewöhnen?

Obwohl ich sie seit Längerem kannte, war unsere Nähe stets eine ambivalente – ich kann nicht dichten, das ist es. Und wenn ich diesen Raum noch einmal mit meinem inneren Auge betrachtete, dann ist mir dieser Moment immer noch so starr eingefroren da oben. Es erhob sich plötzlich ihre Stimme […] meine unbeschreiblich große Distanz zu diesem Menschen …

Sicherlich wäre es für seinen Charakter erbaulich gewesen, sich mit dem verschmutzten, seit dem letzten Winter vom Schimmelpilz befallenen hölzernen Klappgartentisch auseinanderzusetzen, aber nicht jetzt. Um 2:45 Uhr ein Taxi gerufen, zu Fuß nach Hause wäre jetzt nicht mehr möglich gewesen. [Auch eine Möglichkeit: der Dachboden; was früher hier passiert ist, interessiert keinen.]

Als wäre es das schon gewesen, sagte ich, bevor ich von ihr ging, dass ich nicht die Absicht gehabt hätte, hier meine Arbeit fortzusetzen, und irgendwann würde mir dies auch mit Sicherheit furchtbar leidtun, aber so weit sei ich gerade gefühlsmäßig noch nicht gekommen. Sie sollte das zu verstehen versuchen und ohne mich eine Lösung finden. Aber vielleicht wollte ich es ja gar nicht, so sehr hätte mich allein der Gedanke, dass meinem Gegenüber durch diese Bestrebungen alles zuwiderlaufen würde und sich der Graben zwischen uns beiden noch mehr auftun würde, aus meinen Tagträumen reißen müssen. Leider war diese Idee in meinem Kopf noch viel zu lebendig, als dass ich mich kurzfristig hätte davon losreißen können. Ich hoffte ja auch, endlich von dem Druck befreit zu sein, der sich jahrelang in meinem Inneren angestaut zu haben schien und den ich jetzt in einen gewaltigen Schlussakkord überführen wollte, gleichgültig, ob dessen Ergebnis gut oder schlecht ausfallen sollte. Wie in einem süßen Traum: Alles schien zu gelingen, du scheinst dich wohlzufühlen, du kannst dein Glück noch nicht fassen, bist aber dennoch ständig getrieben, eine Kleinigkeit erledigen zu müssen, bevor du dein Glück genießen darfst. Und dann ist es meistens auch schon wieder zu spät.

Ausbilden: Einen Menschen aus ihr machen, vielleicht war das mein Plan und sie auch dazu bringen, wo er sich nie sehen konnte: Verwirklichen all die hehren Gedanken, die er mit sich herumgetragen hatte …

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24070




Ein einziger hundert Jahre andauernder Sonntag

Begrüßenswerterweise hat er heute die Verwaltung der Bibliothek übernommen. Nicht so, dass er es ungern getan hätte, aber es war damals im Oktober noch sehr warm draußen und die Sonne schien und er hätte sich auch in anderen Teilen der Stadt aufhalten können. Es war der Sommer im Jahre 2008. Es waren Olympische Spiele in Peking und der Krieg um Südossetien. Wärmere Gedanken, als ich noch über die Dächer blicken konnte. Haus und Chaos sind ein Minimalpaar, oder etwa nicht?

Außenpolitisch ist Erdogan längst

Es gibt von Zeit zu Zeit Vorkommnisse, die sind nicht einfach nur im Vorübergehen zu erklären, schon gar nicht, wenn man versucht, nur die einfachste Alltagssprache zu verwenden.

in anderen Sphären. Von der EU

Was damals gewesen ist: In einigen Tagen kann es anders werden.

hat sich der Autokrat verabschiedet.

Manchmal geht es ganz schnell. Eine Person, ein Gegenstand, an den man sich noch erinnern konnte, ist einfach weg. Von einem Tag auf den anderen.

Sie hat ihre Schuldigkeit getan, als ihr

Er fragte sich neuerlich, warum gerade er die letzten Tage nicht so zugebracht hat, wie er es eigentlich vorher geplant hatte.

der einstige Annäherungsprozess die

Nicht, dass er es wirklich gewollt hatte, aber das gewünschte Ergebnis seiner Planungen hatte sich nicht im Geringsten als tragfähig erwiesen, schlimmer noch: Die Unerfüllbarkeit seiner Vorstellungen hätte ihm von Anfang an bewusst sein sollen.

Ausrede dafür lieferte, seinen größten

In einer lauschigen Nacht traf ich damals eine junge Frau mit langen, lockigen Haaren. Sie trug eine Jeans mit Ledergürtel. Auch sie ist sehr schnell verschwunden.

Gegner, die Armee, zu entmachten.

Worin man sich doch auch noch getäuscht haben könnte. Vor allem dann, noch, auch wenn man gesehen hat, dass die Jahre anders verlaufen sind, damals. Und du sagtest doch, damals, ich könnte jederzeit zurückkehren.

Schon sind die Ziele größer, der Wunsch

Fünfzehn Jahre danach erinnerte ich mich an sie und machte eine Zeichnung, die ich ihr widmete.
Aber das ist zu wenig. Ich erinnerte mich, aber konnte mir nicht vorstellen, wer sie war.

nach Ausweitung seiner islamisch-konservativen

Leider kannte ich diese Person nicht. Ich hätte diese Person gerne kennengelernt. Oder ich hätte wenigstens ein Wort mit ihr gewechselt. Von woher das Wohlgefühl stammt, das ich von ihr bekommen habe, weiß ich nicht.

Herrschaft stärker.

Auch sie ist eine Verschwundene.

(News  38, 6.6.2015, S.19)

Es vergeht ein Tag wie der andere.
Nur das hat der eine Tag mit dem anderen gemeinsam.

Schnell hat man gemerkt, dass für diesen Traum
nicht war Raum, nicht war Zeit.

Es zerrinnen mir die Tage
meines geliebten Lebens
wie Sand.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 24048

 

 

 

 




Die schöne Unbekannte

Zum ersten Mal traf ich sie in der Bibliothek. Das war gleich nach Neujahr. Ich setzte mich neben sie und bemerkte, als sie ging, dass sie einen schönen gemusterten Schal trug.

Die erste Begegnung blieb folgenlos. Ich ging meinen Tagesgeschäften nach und beschäftigte mich mit anderen Dingen. Es war mir klar, dass ich nicht allein sein wollte und dass diese junge Frau mit dem gemusterten Schal eine gute Gelegenheit gewesen wäre, sich zu verlieben. Leider wusste ich über sie so gut wie nichts. Und dass ich so gut wie nichts über sie wusste, versetzte mich in einen sehr unangenehmen Zustand: Ich hoffte sehr darauf – so unwahrscheinlich es auch war – , dass ich sie wiedersehen und mich mit ihr austauschen könnte.

Eine dieser Gelegenheiten war eine Veranstaltung in einem Jugendzentrum, wo ich hoffte, sie wiedersehen zu können. Ich war schon voller Vorfreude auf dieses Treffen, aber leider war dieses Zentrum, von dem ich nie zuvor etwas gehört hatte, zu weit außerhalb der Stadt und ich kam nur bis zur Endstation der Straßenbahn. Von dort an ging ich am Abend einige Kilometer weit, aber das Jugendzentrum war, wie gesagt, nicht zu finden.

Als ich sie zum zweiten Mal traf, ging sie im Sommer mit einer Sonnenbrille die Stiegen in der Universitätsbibliothek hinauf. Ich hätte sie ansprechen können. Aber es bot sich mir keine Gelegenheit.

Ich hatte eigentlich gar nicht mehr damit gerechnet, sie wiederzusehen und war mir im ersten Moment auch noch nicht sicher, ob es sich um die selbe Person handelte, die ich schon zu Beginn des Jahres gesehen hatte.

Dieses zweite Mal des Sehens war für mich schon etwas vager. Ich verspürte nicht mehr das große Bedürfnis, dieser Person näherzukommen, aber dennoch war wieder etwas mit mir geschehen, das mich in seinen Bann zog.

Es vergingen einige Jahre und die Frau geriet in Vergessenheit. Ich weiß nicht, was es ausgelöst hat, aber eines Tages ergriff mich plötzlich die Erinnerung an diese Person sehr stark. Zwar konnte ich nur erahnen, dass sie Michaela hieß und Pädagogik studierte. Auch an ihre warmen Worte „Auf Wiedersehen und einen schönen Tag dir noch!“ erinnerte ich mich. Zu dieser Zeit lebte ich schon in einer anderen Stadt und war ihr entfernter. Entfernter noch als an diesem Tag im Jänner, als ich das Jugendzentrum suchte. Wenn es doch irgendwie möglich gewesen wäre, ihr von mir etwas zukommen zu lassen. Einen Liebesbrief oder ein Geschenk. Oder ihr einen Gefallen tun.

Mich ergriff die innere Leere. Und es gab nichts, womit diese Leere auszufüllen gewesen wäre. Ich übte mich im Zen.

Eines Tages streifte ich wieder durch die Stadt und ich hatte die vage Hoffnung auf eine ähnliche, aber neue Begegnung dieser Art. Nach einigen Minuten des Umherflanierens sah ich den Eingang eines indischen Restaurants. Da mich die exotische Speisekarte sehr reizte, trat ich ein und bestellte mir ein Curry. Die Gedanken an Michaela würden stärker, und als ich das Essen serviert bekam, merkte ich anfangs noch nicht, wie stark das Vindaloo gewürzt war. Ich nahm einen Bissen und noch einen Bissen. Dann ergriff mich die Schärfe und ich war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. Ich kämpfte mit mir, da es mir schwindlig wurde, und mir schnürte es die Kehle zu. Mir tränten die Augen und die Außenwelt wurde immer verschwommener.

In diesem Moment sah ich Michaela noch einmal in der Bibliothek, diesmal in einem Sommerkleid und mit einem Strohhut. Sie sah mich lange an, dann begann sie zu lächeln.
Nach einer Weile, die sich für mich wie eine Ewigkeit angefühlt hat, sagte sie:

„Schön, dass du die ganze Zeit an mich gedacht hast.“ Und verschwand.

Natürlich war der letzte Teil meiner Geschichte erfunden und das Erlebnis im indischen Restaurant hat es nie gegeben. Dennoch – soweit es mir noch möglich ist – möchte ich die Erinnerung an Michaela festhalten. Ihr sei diese Erzählung gewidmet.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24034

 




Ohne germanistisches Gespür

„Warum haben Sie nicht Theologie studiert?“, fragte der Therapeut, selbst studierter Theologe, den Germanisten. Dem Germanisten war die Herablassung des Therapeuten zuwider. Wie konnte er dessen Studienwahl nicht nur nicht würdigen, sondern als Fehler verstehen?
Aber lassen wir es, uns über einen Menschen zu ärgern, der alles andere außerhalb des eigenen Horizonts geringschätzt, und gönnen wir ihm das Gefühl, sich stolz wie der Hahn auf dem Misthaufen zu fühlen. Denn daran gibt es nichts zu rütteln: Er ist halt ein Banause.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 23191




Très chic

In der Modeabteilung eines Einkaufszentrums sah ich eine Verkäuferin. Außerordentlich elegant gekleidet, in einem braunen Blazer, einem Oberteil in Leopardenfelloptik und einer schwarzen Lederjeans. Als ich sie auf die schöne Hose ansprach, streckte sie ihr Bein aus und bedankte sich. Als sie sich wieder umgedreht hatte, wünschte ich ihr noch alles Gute.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen | Inventarnummer: 23189




Toffee für Katharina

Mir fällt noch einmal die Zeit ein, damals, als Gastschüler in einem südeuropäischen Land. Am Anfang war alles aufregend und da war das erste Erblicken von Katharina, der Schwester meines Schulkollegen, das in mir Gefallen auslöste. Am Anfang konnte ich meine Gefühle gar noch nicht so recht einordnen.

Am ersten Tag traf ich sie mit der Familie vor dem Fernseher, als sie mir ein Eis anbot.

Als wir an einem anderen Tag einen Spaziergang unternahmen, war sie wieder dabei. Sie ging natürlich an letzter Stelle hinter den Männern. Wonach wir suchten, weiß ich nicht mehr. Wir bogen in eine Seitenstraße ein und ich erinnere mich noch an den Moment, an dem ich einen alten, roten Kleinwagen am Straßenrand sah. Mein Blick blieb für ein paar Sekunden an dem Fahrzeug hängen, doch dann drehte ich mich um und sah die junge Frau hinter mir.

Ich nahm wahr, dass sie ein gemustertes Top, in das ihre Sonnenbrille geklemmt war, trug, dazu eine schöne rote Jeanshose. In diesem Moment bekam ich eine Gänsehaut. Danach drehte ich mich wieder um und alles war wieder beim Alten.

An zwei weitere Erlebnisse mit ihr erinnere ich mich: Als sie sich neben mich setzte und mit mir die Scheiben einer Wassermelone genüsslich aufaß. An einem anderen Tag am Ende des Aufenthalts feierte sie ihren 20. Geburtstag und bekam eine Halskette mit einem Herz geschenkt. Ich erinnere mich auch an ihren angenehm festen Händedruck.

Natürlich sind diese Erinnerungen wenig, und was hätte ich gegen mein Verlangen tun können, dieser jungen Frau zumindest etwas Freundliches entgegenzubringen. Rückblickend hätte ich ihr ein kleines Geschenk gekauft: ein Andenken, ein Buch, eine Süßigkeit. Wenigstens etwas.

Natürlich hätte ich niemandem verraten können, was ich in diesem Moment erlebt hatte. Damals war ich natürlich auch noch zu jung, um mich ihr nähern zu können. Und jede weitere Kontaktaufnahme konnte durch Verwandte vereitelt werden.

Jahre vergingen und ich wusste nichts mehr von ihr, außer, dass ich mich gelegentlich an sie erinnerte.

Auch dachte ich an die Süßigkeit, die ich Katharina schenken hätte wollen.

Viele Jahre danach fand ich eine gleichnamige Person im Internet, der ich den an sie adressierten Brief schickte. Wenn es schon nicht die Katharina von damals war, so doch eine andere Person und immerhin hat mein Sehnen etwas in Bewegung gesetzt. Aber ich konnte die versprochenen Süßigkeiten natürlich nicht verschicken.
Nach kurzer Überlegung baute ich eine Flaschenpost, in der ich die Süßigkeiten verstaute und auf eine weite Reise schickte.

Einige Monate erreichte mich tatsächlich eine Antwort. Darin stand, dass meine Flaschenpost bei einer unbekannten Person angelangt sei. Sie wisse natürlich nicht, warum ich die Flaschenpost verschickt hatte, war aber dennoch glücklich über das Geschenk.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 23171




Der Mann, der sein Butterbrot nicht aufaß. Ein Kurzkrimi

Schon eine Woche zuvor, als noch Licht gebrannt hat, oben, im schwarzgewordenen Betonneubau. Die Nacht rauschte und einige vergrabene Gedanken flackerten klammheimlich zum Mond, dem einen. Über dem lieben langen Tag lag nun ein Schatten und deine Wünsche auf den Lippen, die dich aus dem Innersten durchstiegen, glucksten heraus aus dem Fenster. Eulenschlau dachtest du die halbe Nacht in irgendeiner Logik, die das Ganze aber zu ernst machen würde.

Neun Stunden später krachte regennass der Briefträger in das Haus und der schlaftötende Lärm machte mir deutlich, dass auch aus diesem Morgen ein Tag werden würde. Und zeitweilig hatte es ja so ausgesehen, dass dieser ganze Mummenschanz seine Daseinsberechtigung gehabt hätte mit einer Sprache, die das Ganze noch zusammenhalten sollte: Da lag sie nun, die Papierantwort auf die letzten Briefe von mir. Meine Augen begannen sich über deinen Brief herzumachen. Ich begann, meine Butterstulle anzubeißen, nebenbei öffnete ich das Salzfass und strich eine Prise heraus:

Einen Haufen Unsinn schreiben, den ich dir zum Lesen ausborgen werde: Aus meinen Worten spricht das ichgewordene Erzählen, das Erzweifeln nach dem Sinn, das Herausgraben der Wahrheit, das Abschälen des Schönen. Ach, und was war denn mit dir?

Deine zittrige Handschrift in dem Wutbrief, der deshalb seine Adresse knapp verfehlt hat. Doch ich hatte Glück. Glück, das ein anderer in dieser Situation nicht hatte. Unsere Nachbarin hatte unmittelbar nach dessen Lektüre gestern einen Nervenzusammenbruch und ist an den Rosinen erstickt, die sie dabei geknabbert hat.

Was dich beinahe überführt hätte: Das Durchstreichen deines Namens in der Liste. Die Graphitspur deines HB-Bleistiftes, einem Kardiogramm ähnlich, das auf ebenso eindeutige Weise dir zugeordnet werden könnte wie ein Fingerabdruck der rechten Hand.

Ein Messer ist keine Kneifzange, das sollte man als Erwachsener gelernt haben. Etwas, das da war, ließ sich nicht einfach aus der Welt schaffen, indem man es wegbrüllte. Die Zeilen, die dir nicht in den Sinn gekommen wären, hättest du zu deinem Leben das hinzugenommen, was auch ohne deinen Ehrgeiz zu erreichen gewesen wäre.

Du aber, du über den Bierkrug Gebeugter, dir fehlt es. Du kannst nicht den vertagten Tag heute, der nicht blau zu werden droht, in den ersten Abendstunden mit einer Flucht retten, die genauso schön zu sein verspricht wie die stille Anwesenheit des anderen. Gierte es dich zu mir hin? Du hast es in der Hand: das schönere Leben oder das verbrauchte Irgendetwas. Du armseliger, was dir dein Alter noch versüßt, sind zerstobene Erinnerungen und der Krimskrams, ohne den das Leben nicht geht: Schmerztabletten, Ausweis, Geldbörse, Erdnüsse, Schlüsselanhänger. Was dir dein achtunddreißigjähriges Leben beschert hat. Jeden Tag die gleichen Sonnenaufgänge und -untergänge in deiner Wohnung. Die leeren Worthülsen. Der Aktenstapel und Guten-Tag-Herr-Kollege-Alltag. Genauso wie sich die anderen Gleichaltrigen in der Zwischenzeit in ihrem Leben eingerichtet haben. Ein jedes Kind hat, glaube ich zumindest, einmal in seinem Leben gut malen können. Wie der Alltag jenen Idealen standhält von außen, dass immer noch alles so unzulänglich ist, nachdem ich seit dreiundvierzig Jahre lang das Licht der Welt erblickt habe. Die Zwischenzeit unseres Sehens, unseres Daseins und das alles unter dem blaugrauen Himmel. Gäbe es keine Zeit. Hätte es doch nie eine Zeit gegeben!

Sieh es dir heute noch an, zweiundzwanzig Jahre später. Das Getane einiger weniger Stunden, das über dich noch immer einen so langen Schatten wirft. Hereinbrach in unsere Welt, als ich nur aufgrund deiner Fiktionen Deutsch zu lernen begann und du eventuell meine Ergebnisse brauchtest, um ernst genommen zu werden als Mensch. Du kamst herein damals, schon nach einer Weile und meine Sinne waren mit etwas ganz anderem beschäftigt. Die vergehende, vergangene Zeit. Mir kam die Gewissheit, dass die Welt ihre ganze tausendjährige Existenz nur für diesen einen Moment ausgehalten hat. Das andere, vormals laut Niedergeschriebene: Ich gierte noch nach allem. Wie Perlen die Erfahrungen auf eine Kette reihen, ich gierte nach der Welt, nach dem Leben.

Armut, äußere, die ich als Bereicherung verstand von meinem Für-sich-Sein, und es waren immer die Nächte und das andere Sein der Nacht. Du konntest es, ich meine nicht, wofür man dir Geld in die Hand drücken konnte, du konntest dich noch frei artikulieren: Ein Baum war für dich ein Baum, ein Haus war für dich ein Haus. Manche Ziele waren noch klar und unverrückbar.

Sieh dich doch an! Dir, dem, der so oft keine Worte benötigt und dem, der doch noch einfache Worte findet, wo anderen längst Zweifel gekommen wären, dir würde ich sagen, dass das Leben mehr ist als das in seine scheinbare Ordnung Gebrachte. Wenn alles auf Deutsch gelesen werden müsste, müsste das hier ein Deutschlehrbuch sein! Man gibt seinen Fingern keine Namen, sondern ist jemand, der die in der Postmoderne abgeschnittenen Zungen sammelt. Polyphonie. Bewusstsein, dass sich auch die letzten Gewissheiten in Staub reden ließen.

Warum nicht jeder Mensch dazu verpflichtet wäre, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben? Genauso wie er Ausweis, Steuerkarten und Ähnliches besitzen würde. Nicht nur die, die es schlussendlich taten: die großen Menschen und wer sonst auch immer den ganzen Alltag gemacht hat, den stummen, den gehassten, den gewohnten.

Als der Singsang noch anderen überlassen war: Erzählgöttinnen, Zornesgöttinnen. Sprache, unsere Achillesverse imitierte tatsächlich noch Geräusche: Vögel, Donner, menschliche Stimmen. Geräusche: Schritte. Ausdruck, sprachlicher Ausdruck in irgendwelchen Farben. Du kannst es nicht beschreiben wie damals noch, 1998. Farben, die immer noch dieselben sind. Manche Wörter, die sich nicht mehr als dieselben identifizieren lassen und dazwischen das Ganze.

Wie viel Farbe das Leben heute noch lässt. Du hättest dir selbst gegenüber konsequenter sein müssen und genau das Gegenteil davon ist der Fall geworden. Du in den Erscheinungen Vertiefter. Du unter Sternenzelten Behüteter. Schon die alten Griechen pflegten ja bekanntlich zu behaupten, Rettung und Schutz für das Ganze sei demnach nur zu bekommen, wenn die Sprache auch schön sei. Was mir der heutige, zugegebene sehr warme und sonnige Tag versprochen hat am Morgen. Vergangen ist seitdem dieser Akt meines Lebens: besser für dich, besser für uns. Das innewohnende Produktive dieser Zeilen: Trost für vieles, Trost für alles!

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23125




Pfauenfeder

Du gingst vor mir
ich sah nur hinter dir

die beiden Pfauenfedern
an deinen Ohrringen

Du gingst vor mir
ich sah nur hinter dir

die grüne Hose
aus weichem Cordsamt

Du gingst vor mir
ich sah nur hinter dir

die Bewegung deiner Füße
in den Stiefeln aus Leder

Du gingst vor mir
ich sah nur hinter dir

Ich hätte dich gern angesprochen
und gesagt
dass du mir gefällst

Ich ging hinter dir
du gingst vor mir

Ich hoffe dich erreichen meine Worte
auf die ein
oder andere Weise

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 23137