Ist wirklich schon so viel Zeit vergangen?
Über meine plötzliche Verunsicherung und die regelmäßig wiederkehrenden Unvorhersehbarkeiten des Lebens staunend, setze ich mich an einen fein gedeckten Tisch am Meer und stelle fest, dass ich doch nicht vor allem gefeit bin, auch nach den vielen Jahren nicht.
Aber was wäre das Leben ohne neue Herausforderungen, mit denen wir wachsen können? Ohne seine permanente Wellenbewegung?
Fast ärgert es mich, dass ich mich so unvorbereitet in Sicherheit gewiegt hatte. Dass ich wieder einmal dachte, es wäre das Ziel, obwohl es nur eine Rast war.
Der Platz am Kopfende des Tisches ist für mich vorgesehen. Der besondere Moment verlangt nach einem gebührenden Fest mit außergewöhnlichen Gästen. So habe ich mir für heute etwas Originelles überlegt. Etwas, das mich dazu bringt, kurz innezuhalten und die gelebten Jahre mit ein wenig Abstand betrachtet noch einmal in Zeitlupe an mir vorüberziehen zu lassen. Um dann der Gegenwart, dem Hier und Jetzt und dem eigenen Selbst die verdiente Wertschätzung schenken zu können. Aus tiefster Seele und mit wachem Geist.
Für einen Abend lang die Zeit anhalten. Den Wellengang stoppen und den Wind einbremsen. Das Weiteratmen vergessen. Ausgewählte Lebensszenen einfrieren und mit veränderten Augen betrachten. Alle Fühler ausstrecken und auf Empfang stellen. Sich bereitmachen für die höchste Stufe der Berührbarkeit. Das Herzfeuer, das ein wärmendes Licht spendet, lichterloh brennen und knistern lassen. Bevor sich die Erde breitlächelnd weiterdreht.
Am Horizont tauchen sie auf. Noch sind ihre Erscheinungen miteinander verwoben, verschwimmen im gleißenden Sonnenlicht. Doch mit jedem Schritt in meine Richtung werden ihre Formen klarer, eindeutiger. Aus einem pastelligen Farbgemisch kristallisieren sich die Umrisse dreier Frauen heraus. Ihre langen Gewänder, vom Wind umspielt, berühren sich nur zufällig und verhüllen zuverlässig ihre Körper, sodass ich meine unruhig flackernden Augen auf das Wesentliche richten kann.
Vor Aufregung tanzt mein Herz, während ich die unkontrolliert zuckenden Füße tief in den Sand bohre, um sie zur Rast zu zwingen. Doch schon im nächsten Moment rüge ich mich dafür. Was ist so schlimm daran, dass meine Nervosität offensichtlich ist? Sie gehört zu mir. Ebenso wie meine Freude, meine Angst und meine Neugier auf den heutigen Abend. „Also lass sie zu“, ermahne ich mich, während ich mit zittrigen Händen die Champagnergläser fülle und mich dann erwartungsvoll aufrichte, um meine Gäste feierlich zu empfangen. Denn sie sind nur noch wenige Schritte von mir entfernt.
Eine Dame in Weiß, eine in Schwarz und die dritte in schillerndem Bunt. Ich kann direkt in ihre Augen sehen, die darauf brennen, mir schonungslos ihre Geschichten zu erzählen. Jede für sich ist mit Haut und Haar bereit, meine kaum noch zu bremsende Neugier zu stillen, die wie ein junges, umherspringendes Fohlen all meine Kraft in Anspruch nimmt, um sich zähmen zu lassen.
Höflich weise ich den Damen einen Platz an dem fürstlich gedeckten Tisch zu. Etwas zögerlich setzen sie sich. Mit Bedacht und sacht, anmutig lächelnd. Das Meer tönt ungewohnt sphärisch und unterstützt ein Fühlen anderer Welten. Seelenräume öffnen sich. Die Sonne, die bereits ihren Untergang vorbereitet, beschenkt uns mit einem magischen Licht, das sich bereitwillig von unseren Gläsern einfangen lässt. Mit einem vornehmen Kopfnicken prosten wir uns zu, nachdem jede einzelne Falte der langen Gewänder darauf bestand, sorgfältig glattgestrichen zu werden. Die anschließende Stille unterstreicht mit feiner, gerader Linie die Bedeutsamkeit unseres Zusammentreffens. Bietet noch kurz die Gelegenheit, frischen Atem zu holen, um dann ehrfürchtig die erste Seite in der Geschichte, die das Leben schrieb, aufzuschlagen und vorzutragen.
Und das Meer glitzert zauberhaft. Bringt sich in Position, um aufmerksam zu lauschen und in sich aufzusaugen. Seit Urzeiten daran gewöhnt, Geheimnisse für sich zu behalten.
Dann ist es endlich so weit, und das Abenteuer beginnt. Feinsinnig höre ich zu. Bewegungslos, fassungslos, beglückt, bestürzt. Bemüht, neben einer derart mächtigen Beeindruckung meinen Atem fließen zu lassen. Meine eigene Vergangenheit packt mich an den Schultern, krallt ihre Nägel in mein Fleisch und zieht mich erbarmungslos in ihren Bann.
Zunächst ergreift die Frau in Weiß das Wort. Mit ihr verbindet mich die kürzeste Zeit. Und dennoch kenne ich sie in- und auswendig. Wie ein oft gelesenes Buch, das nicht mehr überrascht. Jedes einzelne Detail, das sie in ihrem Monolog von innen nach außen kehrt, ist mir vertraut. Ihre Geschichte saugt mich an wie ein Schlupfloch im All, und ich muss an mich halten, um dem überirdisch starken Sog nicht nachzugeben, spüre ich doch unter ihren Füßen kein Fundament, keinen Boden, der ihr Halt geben könnte. Auch unter den schwersten Bedingungen, verzweifelt und mit aller Macht den verführerisch süßen Saft im Außen zu trinken, anstatt sich aus dem eigenen Selbst zu nähren, das ist lebensnotwendig für sie. Bis heute hat sie es nicht geschafft, einen festen Platz in ihrer Familie einzunehmen, was ihr die Basis für einen eigenen Weg stiehlt.
Doch hat sie Erfolg damit, sich selbst nicht anzunehmen. So kann sie sich mit aller Kraft auf ihre Arbeit als Ärztin stürzen, ist ungemein fleißig, verfolgt ehrgeizig ihre Ziele und füttert die Seele mit verdienter Anerkennung. Kann allein das mit Glück erfüllen?
Sie ist gut, in dem was sie tut, zweifellos. Die Beste weit und breit. Es ist ihre besondere Spezialität, für ein wenig Halt alles zu geben. Sich im Außen feste Anker zu setzen, an denen auch der stärkste Sturm nicht rütteln kann. Nur hat sie auf ihrem Erfolgsweg den Kontakt zu ihrer Seele verloren, spürt nicht, dass ihr das Essen, das sie ihr reicht, nicht bekommt, weil es zu fett ist. Dass sie sich nach etwas ganz anderem sehnt. Denn die Qualität kommt aus Ich lebe! und nicht aus Ich muss!
Vor mir sitzt eine Frau, die vor lauter Pflichterfüllung nicht in die Lebendigkeit kommt und sich in der Fürsorge anderer verliert. Die sich nicht erlaubt, zu atmen und wichtig zu sein. Gefühlsregungen wie Freude oder Wut, die sich vor langer Zeit viel Mühe gaben, durch ihr schweres, gut gesichertes Lebenstor einzutreten, waren viel zu lästig, zogen und zerrten unerbittlich an ihrer starren Form und wurden längst in die Wüste verbannt. Ihr schönes, ebenmäßiges Gesicht durfte noch nie in voller Blüte stehen, zeigt sich regungslos und fahl. Ihre Lippen schmal und ohne Schwung, die Augen müde, ausdruckslos. Haben verlernt zu strahlen. Die Anstrengung, mit der sie jeden einzigen Tag lebt, steht ihr mitten ins Gesicht geschrieben. Ihr Vertrauen in die eigene Kraft wurde nie aus dem Dornröschenschlaf geholt, sodass sie sich im Beruf immer wieder neu beweisen muss. Bis zur körperlichen Erschöpfung.
Sie opfert sich bedingungslos auf, wird von anderen ausgelaugt und ausgenutzt. Wie an einer Weißwurst zutzeln sie an ihr, trinken eigennützig den fremden Lebenssaft, bedienen sich ungefragt und schamlos. Bis nur noch eine ausgetrocknete, poröse Hülle bleibt.
Und trotzdem kann sie das Schicksal nicht abwenden. Denn nur, wer sich selbst in seinem Wert spürt, kann dem anderen wahrhaft helfen. Nur so kann ich die unreflektierte, selbstzerstörende Anpassung abschütteln, kann ureigene Erfahrungen machen, handeln und daraus Kraft schöpfen. Grenzen setzen und eigene Bedürfnisse achten. Verantwortung für mich selbst ergreifen, um das Glück zu spüren. Meiner Seele begegnen und sie mit vitaminreicher Kost verwöhnen. Gesund bleiben. Seelisch wie körperlich.
Plötzlich überkommt mich ein Frösteln. Mir bleibt die Luft weg, meine Füße suchen den Boden. Ich muss kurz aufstehen, um sie wieder zu fühlen, drehe meinen Körper zum Meer und atme es ein. Erfrische mich daran, um mich nicht in meiner Berührbarkeit zu verlieren. Zu sehr bin ich mit der Frau in Weiß verwoben, zu sehr fühle ich wie sie. Das, was sie am Leben behindert, habe ich mit großer Anstrengung überwunden. Denn uns verbindet ein und derselbe Stamm. Unsere weit verzweigten Äste wachsen gar nicht fern voneinander, berühren sich manchmal sogar. Doch meine Wunden sind erst frisch verheilt. Ich muss sie in ihrer Gegenwart schützen, damit sie nicht wieder aufbrechen. Deshalb bin ich erleichtert, als sie aufsteht und leise geht.
Das Meer leckt mit salziger Zunge über den Strand, wobei es fast unseren Tisch berührt. Unmittelbar erweckt es den Anschein, als wolle es sich an unserem Gespräch, auf dessen Fortgang es brennt, beteiligen. Schließlich hat es auch eine Menge zu sagen. Dann kräuselt es die Lippen, schwappt kraftvoll zurück und entscheidet sich dafür, seiner Rolle als aufmerksamer Zuhörer treu zu bleiben. Für eine gute Weile beobachte ich sein Wellenspiel, das nur allmählich gleichmäßiger wird. Bis ein glatter See entsteht, dessen aufkeimendes Funkeln in der Tiefe verborgene Kräfte vermuten lässt. Erleichtert gestattete ich der von dort ausgehenden Ruhe, auch in mir Platz zu nehmen und sich verschwenderisch zu verströmen, sodass ich nach und nach meine ursprüngliche Fassung zurückerlange und mich, in energetischer Höchstform befindend, wieder meinen Gästen zuwenden kann.
Freundlich lächele ich ihnen zu und ermutige die Frau in schillerndem Bunt, das Wort zu ergreifen. Ihre Augen, die ebenso strahlen wie ihr Gewand, sind fest auf mich gerichtet. „Erzähl mir von dir!“, fordere ich sie ungeduldig auf, während ich aus den Augenwinkeln beobachte, wie die Frau in Weiß in etwa zwanzig Meter Entfernung im Sand Platz nimmt, den schmalen Rücken zu uns gewandt.
„Ich lebe meinen größten Traum und leite eine Schule im Osten Afrikas“, beginnt die Frau in Bunt vorsichtig. „Die Bildung der Mädchen liegt mir ganz besonders am Herzen.“ Dabei verrät das Aufblitzen in ihren Augen, wie glücklich sie darüber ist. Erleichtert atme ich die angestaute Anspannung aus und sauge das Glück mit einem extrabreiten Strohhalm ein. Bis tief in meine Seele, die aufgeregt den festen, eisernen Mantel, der sich während der letzten Erzählung über sie legte, abwirft. Genüsslich streckt sie sich aus und beginnt dann, den neu gewonnenen Raum einnehmend, ausgelassen zu tanzen.
Bestätigt durch die positive Wirkung ihrer Worte, führt die Frau in Bunt ihren Bericht fort. „Nach einer abrupten Trennung von meinem Mann, die mir sehr zusetzte, weil sie alles Dagewesene umkehrte, wohnte ich zum ersten Mal allein und lernte in kleinen Schritten, dass die Verbindung zu mir selbst das Wichtigste im Leben ist. Das Einzige, das ich nicht verlieren kann. Ich erhielt einen befristeten Lehrauftrag an der Uni, der mich beruflich weiterbrachte, und unterrichtete danach drei Jahre an einer Deutschen Schule in Südafrika. Dort lernte ich eine junge Frau kennen, die mich in ihr Heimatdorf einlud. Und so ergab eins das andere.“
Die Frau in Schwarz blickt sie ein wenig verächtlich von der Seite an. Ich bemerke, wie sich ihre Fingernägel in ihrem hochgeschlossenen Gewand, das einem bereits beim bloßen Anblick die Luft zum Atmen nimmt, vergraben. Ihre Mundwinkel unverändert nach unten gezogen und die schmalen Strichlippen fest aufeinandergepresst, schnappt sie plötzlich panisch nach Luft, nachdem zuvor keineswegs zu beobachten war, dass sie überhaupt atmete. „Sie nimmt sich selbst nicht an. Ihr Atem ist gefangen und weiß nicht, wo er hingehört“, denke ich still bei mir. „Schlimmer noch, sie geht mit aller Kraft gegen sich selbst und vergiftet damit ihren Körper und ihre Seele. Das blockiert ihr Wachsen.“ Und die fröhlich tanzende Seele in mir wird massiv in ihre Schranken gewiesen, während die Frau in Schwarz bereits mit verbitterter Stimme weiterspricht. „Nicht jeder wird vom Leben mit derartig verlockenden Angeboten beschenkt“, bemerkt sie, ohne sich die Mühe zu machen, den aufflackernden Neid in sich zu unterdrücken.
„Das mag stimmen“, entgegnet die weiße Massai mit ruhiger Stimme und unbeirrbarem Blick. „Doch meine Geschenke konnte ich nur annehmen und verwirklichen, weil ich mich gut darauf vorbereitet hatte“, erklärt sie, ohne überheblich zu wirken. „Als ich nach meiner Trennung allein war, habe ich mir Zeit genommen, um mich mit mir selbst zu verbinden. Das war notwendig, damit sich die Tore für einen neuen Weg öffnen konnten.“
Die Frau in Schwarz horcht interessiert auf und fragt zaghaft nach: „Hattest du denn überhaupt keine Angst vor dem Alleinsein?“ Eine ungewohnt sanfte Nuance in ihrer Stimme verrät, dass sie vom Denken ins Fühlen wechselt, was ihr nur in seltenen Momenten gelingt. Ihre hoch angespannten Nerven beginnen zu zittern, bringen ihren gesamten Körper zum Beben, sodass sie sich kaum noch unter Kontrolle bringt. Sie schämt sich dafür und senkt den Blick, ist sie doch allzu ungeübt darin, das Innerste nach außen zu kehren.
Eigentlich ist sie die Meisterin der Selbstkontrolle. Ihre Gefühle hält sie seit Langem in einem inneren Hochsicherheitstrakt gefangen. Mit bleichen Gesichtern schlummern sie verkümmert und vernachlässigt im finstersten Areal ihrer inneren Räume. Einbetoniert. Fluchtversuche sinnlos.
Ihre Ängste sind oft nicht real. In alten Strukturen kann sie baden und entspannen wie in einem wohlig warmen, sprudelnden Whirlpool, hält krampfhaft an ihnen fest und begibt sich in selbstzerstörerische Abhängigkeiten. Weil sie sich klein fühlt und nur darauf bedacht ist, die Bedürfnisse anderer zu erfüllen, die sich an ihr festsaugen wie selbstsüchtige Zecken. Weil sie sich selbst regelmäßig übersieht, ausradiert wie einen ungenauen Bleistiftstrich. Nachdem ihr Mann sie einst verließ, hüpft sie übergangslos von einer Beziehung zur nächsten, in der sie wie ein armes Pflänzchen verkümmert, weil der Boden ausgetrocknet und nährstoffarm ist. Sie lebt ohne Kontakte, ohne Kinder und ohne Gefühle. Kommt nicht in ihre Kraft und Lebendigkeit. Kann weder am Leben teilhaben noch bei sich selbst sein.
Ich erschrecke vor dieser Frau, die mir erbarmungslos mit allen Zellen spiegelt, was aus mir geworden wäre, hätte ich mich vor Jahren an einer Weggabelung des Lebens anders entschieden. Ein eiskalter Schauer erfasst mich und gibt mir das Gefühl, dass eine ganze Kompanie rühriger Ameisen auf parallel angelegten Straßen mit gefrorenen Füßen über meinen Rücken krabbelt. Fließt unsere Lebensenergie doch durch ein- und dieselben Wurzeln in den gemeinsamen Stamm, der stolz unser weit verzweigtes Astwerk trägt. Auch wenn meine Zweige am entgegengesetzten Ende wachsen, so sind sie doch denen der Frau in Schwarz nicht unähnlich, ja in Teilen sogar mit ihnen identisch, eine gemeinsame Identität formend.
Nach einer längeren Pause, in der jede ihren eigenen Gedanken nachhängt, greift die weiße Massai die von der Frau in Schwarz zuletzt gestellte Frage auf, die noch wie eine Feder in der kühlen Abendluft über uns schwebt. „Natürlich hatte ich Angst“, gesteht sie, „übermächtige Angst sogar. Nur blieb mir in der Situation damals nichts anderes übrig, als die Kraft in mir zu suchen, um die Angst zu überwinden.“
Die Frau in Schwarz erhebt sich. Mit bloßem Auge erkenne ich, dass das Blut in ihren Adern überschäumend aufkocht. Es fällt ihr ungemein schwer, die Käfigtür zu ihren Gefühlen, die wie wild gewordene Schlangen giftig züngelnd den Kopf heben, verschlossen zu halten. „Dann war deine Angst nicht annähernd so groß wie meine. Oder glaubst du, dass deine exotische Wegvariante die bessere ist?“
Der Zorn funkelt aus ihren Augen. Und ein kleines bisschen Genugtuung breitet sich wie ein warmer Sommerregen in ihr aus, hat sie es doch gerade zum ersten Mal geschafft, die Wut nicht gegen sich selbst zu richten. „Was unterscheidet uns denn voneinander? Du hast es im richtigen Moment geschafft, deine Angst zu besiegen. Doch sie ist längst wieder da! Nun isst du dich an deiner ständigen Suche nach dem Besonderen satt und bist, ohne es zu bemerken, jeden Tag dabei, deine Sehnsüchte durch das, was sich außerhalb von dir ereignet, zu erfüllen. Doch tief in deinem Herzen wünschst du dir nichts mehr, als dass deine Seele so bunt schillert wie dein kitschiges Kleid!“
Mit diesen Worten wendet sie sich von uns ab, entledigt sich ihres mächtigen, viel zu eng und zu hoch geschnürten Gewandes und springt kraftvoll in das salzige Nass, das sie weit bis zum Horizont fortträgt und für uns nur noch stecknadelkopfgroß herausblitzen lässt.
Nur wenige Wellenbewegungen später sehe ich, wie die Frau in Weiß aus ihrer Starre herausbricht und ebenfalls in das fast schwarz gefärbte Meer eintaucht, das kurz davor ist, mit dem Dunkel der Nacht eins zu werden. Die weiße Massai blickt mich mit ernsten Augen an und beginnt, unruhig auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen. Ich spüre den starken Sog, den das Meer auch auf sie ausübt. Das unbändige Verlangen, es den anderen beiden gleichzutun, um im Meer wieder mit ihnen zu verschmelzen, erfasst ihren gesamten Körper und lässt sich nicht länger deckeln. In der Gestalt hunderter kleiner Zungen saugen sich die Wellen an ihr fest und ziehen sie ganz sanft zu sich heran. Bis sie sich in den Fluten auflöst.
Zurück bleibe ich. Der einsame, feste Fels in der Brandung. An den Seiten leicht ausgehöhlt, doch in der Mitte stabil. In mir brummen und surren die Worte dieses fantastischen Abends. Wie Musik klingen sie nach. Hinterlassen Spuren in mir, die begriffen werden wollen, damit sie fest ausgetreten und zu sicheren Wegen werden können.
Mit beiden Füßen stehe ich fest auf dem Boden. Die Energie fließt frei durch mich hindurch, macht mich lebendig und offen für den Kontakt mit meiner Seele. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf meinen Atem, der mir inneren Freiraum schenkt, meinen Platz und damit Raum im Leben einnehmen lässt. Auf seinem Weg durch meinen Körper nimmt er alle Gefühle auf in seinen Strom, damit sie gelebt werden können. Vielleicht muss man erst einen Teil von sich verlieren, um ihn dann wiederzufinden.
Ich erfahre, handle und entscheide, habe einen offenen und ehrlichen Weg gewählt, in Freiheit und Unabhängigkeit. Ich habe gelernt, Beziehungen einzugehen, ohne mich selbst zu verlieren. Mit schmerzlichen und glückvollen Wegstrecken.
Doch das Lernen geht weiter, es ist nur eine Rast, nicht das Ziel. Mir scheint, dass die Tage wertvoller geworden sind. In goldenes Licht getunkt, in dem die Seele wohnt und ruht.
Besonnen richte ich meinen Blick auf das endlose, bezaubernde Meer. Den Ursprung allen Lebens. Beobachte staunend meine Seele, die zum Rhythmus der Wellen tanzt. Die sich kristallklar und zart schimmernd ihre Bühne erobert. Sich in die Seelen der drei Frauen ebenso bindet wie in das Funkeln des Meeres. Atemberaubend schön.
Gefühle wie Rache und Strafe sind ihr unbekannt. Zu einfach. Zu menschlich. Deshalb habe ich Nachsicht mit mir selbst. Mit all meinen Um- und Irrwegen, die mich zu der geformt haben, die ich heute bin.
Denn die Seele bewertet nicht und verzeiht alles.
Claudia Lüer
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