Bisher auf verdichtet.at zu finden:




Seelentanz

Ist wirklich schon so viel Zeit vergangen?

Über meine plötzliche Verunsicherung und die regelmäßig wiederkehrenden Unvorhersehbarkeiten des Lebens staunend, setze ich mich an einen fein gedeckten Tisch am Meer und stelle fest, dass ich doch nicht vor allem gefeit bin, auch nach den vielen Jahren nicht.

Aber was wäre das Leben ohne neue Herausforderungen, mit denen wir wachsen können? Ohne seine permanente Wellenbewegung?

Fast ärgert es mich, dass ich mich so unvorbereitet in Sicherheit gewiegt hatte. Dass ich wieder einmal dachte, es wäre das Ziel, obwohl es nur eine Rast war.

Der Platz am Kopfende des Tisches ist für mich vorgesehen. Der besondere Moment verlangt nach einem gebührenden Fest mit außergewöhnlichen Gästen. So habe ich mir für heute etwas Originelles überlegt. Etwas, das mich dazu bringt, kurz innezuhalten und die gelebten Jahre mit ein wenig Abstand betrachtet noch einmal in Zeitlupe an mir vorüberziehen zu lassen. Um dann der Gegenwart, dem Hier und Jetzt und dem eigenen Selbst die verdiente Wertschätzung schenken zu können. Aus tiefster Seele und mit wachem Geist.

Für einen Abend lang die Zeit anhalten. Den Wellengang stoppen und den Wind einbremsen. Das Weiteratmen vergessen. Ausgewählte Lebensszenen einfrieren und mit veränderten Augen betrachten. Alle Fühler ausstrecken und auf Empfang stellen. Sich bereitmachen für die höchste Stufe der Berührbarkeit. Das Herzfeuer, das ein wärmendes Licht spendet, lichterloh brennen und knistern lassen. Bevor sich die Erde breitlächelnd weiterdreht.

Am Horizont tauchen sie auf. Noch sind ihre Erscheinungen miteinander verwoben, verschwimmen im gleißenden Sonnenlicht. Doch mit jedem Schritt in meine Richtung werden ihre Formen klarer, eindeutiger. Aus einem pastelligen Farbgemisch kristallisieren sich die Umrisse dreier Frauen heraus. Ihre langen Gewänder, vom Wind umspielt, berühren sich nur zufällig und verhüllen zuverlässig ihre Körper, sodass ich meine unruhig flackernden Augen auf das Wesentliche richten kann.

Vor Aufregung tanzt mein Herz, während ich die unkontrolliert zuckenden Füße tief in den Sand bohre, um sie zur Rast zu zwingen. Doch schon im nächsten Moment rüge ich mich dafür. Was ist so schlimm daran, dass meine Nervosität offensichtlich ist? Sie gehört zu mir. Ebenso wie meine Freude, meine Angst und meine Neugier auf den heutigen Abend. „Also lass sie zu“, ermahne ich mich, während ich mit zittrigen Händen die Champagnergläser fülle und mich dann erwartungsvoll aufrichte, um meine Gäste feierlich zu empfangen. Denn sie sind nur noch wenige Schritte von mir entfernt.

Eine Dame in Weiß, eine in Schwarz und die dritte in schillerndem Bunt. Ich kann direkt in ihre Augen sehen, die darauf brennen, mir schonungslos ihre Geschichten zu erzählen. Jede für sich ist mit Haut und Haar bereit, meine kaum noch zu bremsende Neugier zu stillen, die wie ein junges, umherspringendes Fohlen all meine Kraft in Anspruch nimmt, um sich zähmen zu lassen.

Höflich weise ich den Damen einen Platz an dem fürstlich gedeckten Tisch zu. Etwas zögerlich setzen sie sich. Mit Bedacht und sacht, anmutig lächelnd. Das Meer tönt ungewohnt sphärisch und unterstützt ein Fühlen anderer Welten. Seelenräume öffnen sich. Die Sonne, die bereits ihren Untergang vorbereitet, beschenkt uns mit einem magischen Licht, das sich bereitwillig von unseren Gläsern einfangen lässt. Mit einem vornehmen Kopfnicken prosten wir uns zu, nachdem jede einzelne Falte der langen Gewänder darauf bestand, sorgfältig glattgestrichen zu werden. Die anschließende Stille unterstreicht mit feiner, gerader Linie die Bedeutsamkeit unseres Zusammentreffens. Bietet noch kurz die Gelegenheit, frischen Atem zu holen, um dann ehrfürchtig die erste Seite in der Geschichte, die das Leben schrieb, aufzuschlagen und vorzutragen.

Und das Meer glitzert zauberhaft. Bringt sich in Position, um aufmerksam zu lauschen und in sich aufzusaugen. Seit Urzeiten daran gewöhnt, Geheimnisse für sich zu behalten.

Dann ist es endlich so weit, und das Abenteuer beginnt. Feinsinnig höre ich zu. Bewegungslos, fassungslos, beglückt, bestürzt. Bemüht, neben einer derart mächtigen Beeindruckung meinen Atem fließen zu lassen. Meine eigene Vergangenheit packt mich an den Schultern, krallt ihre Nägel in mein Fleisch und zieht mich erbarmungslos in ihren Bann.

Zunächst ergreift die Frau in Weiß das Wort. Mit ihr verbindet mich die kürzeste Zeit. Und dennoch kenne ich sie in- und auswendig. Wie ein oft gelesenes Buch, das nicht mehr überrascht. Jedes einzelne Detail, das sie in ihrem Monolog von innen nach außen kehrt, ist mir vertraut. Ihre Geschichte saugt mich an wie ein Schlupfloch im All, und ich muss an mich halten, um dem überirdisch starken Sog nicht nachzugeben, spüre ich doch unter ihren Füßen kein Fundament, keinen Boden, der ihr Halt geben könnte. Auch unter den schwersten Bedingungen, verzweifelt und mit aller Macht den verführerisch süßen Saft im Außen zu trinken, anstatt sich aus dem eigenen Selbst zu nähren, das ist lebensnotwendig für sie. Bis heute hat sie es nicht geschafft, einen festen Platz in ihrer Familie einzunehmen, was ihr die Basis für einen eigenen Weg stiehlt.

Doch hat sie Erfolg damit, sich selbst nicht anzunehmen. So kann sie sich mit aller Kraft auf ihre Arbeit als Ärztin stürzen, ist ungemein fleißig, verfolgt ehrgeizig ihre Ziele und füttert die Seele mit verdienter Anerkennung. Kann allein das mit Glück erfüllen?

Sie ist gut, in dem was sie tut, zweifellos. Die Beste weit und breit. Es ist ihre besondere Spezialität, für ein wenig Halt alles zu geben. Sich im Außen feste Anker zu setzen, an denen auch der stärkste Sturm nicht rütteln kann. Nur hat sie auf ihrem Erfolgsweg den Kontakt zu ihrer Seele verloren, spürt nicht, dass ihr das Essen, das sie ihr reicht, nicht bekommt, weil es zu fett ist. Dass sie sich nach etwas ganz anderem sehnt. Denn die Qualität kommt aus Ich lebe! und nicht aus Ich muss!

Vor mir sitzt eine Frau, die vor lauter Pflichterfüllung nicht in die Lebendigkeit kommt und sich in der Fürsorge anderer verliert. Die sich nicht erlaubt, zu atmen und wichtig zu sein. Gefühlsregungen wie Freude oder Wut, die sich vor langer Zeit viel Mühe gaben, durch ihr schweres, gut gesichertes Lebenstor einzutreten, waren viel zu lästig, zogen und zerrten unerbittlich an ihrer starren Form und wurden längst in die Wüste verbannt. Ihr schönes, ebenmäßiges Gesicht durfte noch nie in voller Blüte stehen, zeigt sich regungslos und fahl. Ihre Lippen schmal und ohne Schwung, die Augen müde, ausdruckslos. Haben verlernt zu strahlen. Die Anstrengung, mit der sie jeden einzigen Tag lebt, steht ihr mitten ins Gesicht geschrieben. Ihr Vertrauen in die eigene Kraft wurde nie aus dem Dornröschenschlaf geholt, sodass sie sich im Beruf immer wieder neu beweisen muss. Bis zur körperlichen Erschöpfung.

Sie opfert sich bedingungslos auf, wird von anderen ausgelaugt und ausgenutzt. Wie an einer Weißwurst zutzeln sie an ihr, trinken eigennützig den fremden Lebenssaft, bedienen sich ungefragt und schamlos. Bis nur noch eine ausgetrocknete, poröse Hülle bleibt.

Und trotzdem kann sie das Schicksal nicht abwenden. Denn nur, wer sich selbst in seinem Wert spürt, kann dem anderen wahrhaft helfen. Nur so kann ich die unreflektierte, selbstzerstörende Anpassung abschütteln, kann ureigene Erfahrungen machen, handeln und daraus Kraft schöpfen. Grenzen setzen und eigene Bedürfnisse achten. Verantwortung für mich selbst ergreifen, um das Glück zu spüren. Meiner Seele begegnen und sie mit vitaminreicher Kost verwöhnen. Gesund bleiben. Seelisch wie körperlich.

Plötzlich überkommt mich ein Frösteln. Mir bleibt die Luft weg, meine Füße suchen den Boden. Ich muss kurz aufstehen, um sie wieder zu fühlen, drehe meinen Körper zum Meer und atme es ein. Erfrische mich daran, um mich nicht in meiner Berührbarkeit zu verlieren. Zu sehr bin ich mit der Frau in Weiß verwoben, zu sehr fühle ich wie sie. Das, was sie am Leben behindert, habe ich mit großer Anstrengung überwunden. Denn uns verbindet ein und derselbe Stamm. Unsere weit verzweigten Äste wachsen gar nicht fern voneinander, berühren sich manchmal sogar. Doch meine Wunden sind erst frisch verheilt. Ich muss sie in ihrer Gegenwart schützen, damit sie nicht wieder aufbrechen. Deshalb bin ich erleichtert, als sie aufsteht und leise geht.

Das Meer leckt mit salziger Zunge über den Strand, wobei es fast unseren Tisch berührt. Unmittelbar erweckt es den Anschein, als wolle es sich an unserem Gespräch, auf dessen Fortgang es brennt, beteiligen. Schließlich hat es auch eine Menge zu sagen. Dann kräuselt es die Lippen, schwappt kraftvoll zurück und entscheidet sich dafür, seiner Rolle als aufmerksamer Zuhörer treu zu bleiben. Für eine gute Weile beobachte ich sein Wellenspiel, das nur allmählich gleichmäßiger wird. Bis ein glatter See entsteht, dessen aufkeimendes Funkeln in der Tiefe verborgene Kräfte vermuten lässt. Erleichtert gestattete ich der von dort ausgehenden Ruhe, auch in mir Platz zu nehmen und sich verschwenderisch zu verströmen, sodass ich nach und nach meine ursprüngliche Fassung zurückerlange und mich, in energetischer Höchstform befindend, wieder meinen Gästen zuwenden kann.

Freundlich lächele ich ihnen zu und ermutige die Frau in schillerndem Bunt, das Wort zu ergreifen. Ihre Augen, die ebenso strahlen wie ihr Gewand, sind fest auf mich gerichtet. „Erzähl mir von dir!“, fordere ich sie ungeduldig auf, während ich aus den Augenwinkeln beobachte, wie die Frau in Weiß in etwa zwanzig Meter Entfernung im Sand Platz nimmt, den schmalen Rücken zu uns gewandt.

„Ich lebe meinen größten Traum und leite eine Schule im Osten Afrikas“, beginnt die Frau in Bunt vorsichtig. „Die Bildung der Mädchen liegt mir ganz besonders am Herzen.“ Dabei verrät das Aufblitzen in ihren Augen, wie glücklich sie darüber ist. Erleichtert atme ich die angestaute Anspannung aus und sauge das Glück mit einem extrabreiten Strohhalm ein. Bis tief in meine Seele, die aufgeregt den festen, eisernen Mantel, der sich während der letzten Erzählung über sie legte, abwirft. Genüsslich streckt sie sich aus und beginnt dann, den neu gewonnenen Raum einnehmend, ausgelassen zu tanzen.
Bestätigt durch die positive Wirkung ihrer Worte, führt die Frau in Bunt ihren Bericht fort. „Nach einer abrupten Trennung von meinem Mann, die mir sehr zusetzte, weil sie alles Dagewesene umkehrte, wohnte ich zum ersten Mal allein und lernte in kleinen Schritten, dass die Verbindung zu mir selbst das Wichtigste im Leben ist. Das Einzige, das ich nicht verlieren kann. Ich erhielt einen befristeten Lehrauftrag an der Uni, der mich beruflich weiterbrachte, und unterrichtete danach drei Jahre an einer Deutschen Schule in Südafrika. Dort lernte ich eine junge Frau kennen, die mich in ihr Heimatdorf einlud. Und so ergab eins das andere.“

Die Frau in Schwarz blickt sie ein wenig verächtlich von der Seite an. Ich bemerke, wie sich ihre Fingernägel in ihrem hochgeschlossenen Gewand, das einem bereits beim bloßen Anblick die Luft zum Atmen nimmt, vergraben. Ihre Mundwinkel unverändert nach unten gezogen und die schmalen Strichlippen fest aufeinandergepresst, schnappt sie plötzlich panisch nach Luft, nachdem zuvor keineswegs zu beobachten war, dass sie überhaupt atmete. „Sie nimmt sich selbst nicht an. Ihr Atem ist gefangen und weiß nicht, wo er hingehört“, denke ich still bei mir. „Schlimmer noch, sie geht mit aller Kraft gegen sich selbst und vergiftet damit ihren Körper und ihre Seele. Das blockiert ihr Wachsen.“ Und die fröhlich tanzende Seele in mir wird massiv in ihre Schranken gewiesen, während die Frau in Schwarz bereits mit verbitterter Stimme weiterspricht. „Nicht jeder wird vom Leben mit derartig verlockenden Angeboten beschenkt“, bemerkt sie, ohne sich die Mühe zu machen, den aufflackernden Neid in sich zu unterdrücken.

„Das mag stimmen“, entgegnet die weiße Massai mit ruhiger Stimme und unbeirrbarem Blick. „Doch meine Geschenke konnte ich nur annehmen und verwirklichen, weil ich mich gut darauf vorbereitet hatte“, erklärt sie, ohne überheblich zu wirken. „Als ich nach meiner Trennung allein war, habe ich mir Zeit genommen, um mich mit mir selbst zu verbinden. Das war notwendig, damit sich die Tore für einen neuen Weg öffnen konnten.“

Die Frau in Schwarz horcht interessiert auf und fragt zaghaft nach: „Hattest du denn überhaupt keine Angst vor dem Alleinsein?“ Eine ungewohnt sanfte Nuance in ihrer Stimme verrät, dass sie vom Denken ins Fühlen wechselt, was ihr nur in seltenen Momenten gelingt. Ihre hoch angespannten Nerven beginnen zu zittern, bringen ihren gesamten Körper zum Beben, sodass sie sich kaum noch unter Kontrolle bringt. Sie schämt sich dafür und senkt den Blick, ist sie doch allzu ungeübt darin, das Innerste nach außen zu kehren.

Eigentlich ist sie die Meisterin der Selbstkontrolle. Ihre Gefühle hält sie seit Langem in einem inneren Hochsicherheitstrakt gefangen. Mit bleichen Gesichtern schlummern sie verkümmert und vernachlässigt im finstersten Areal ihrer inneren Räume. Einbetoniert. Fluchtversuche sinnlos.

Ihre Ängste sind oft nicht real. In alten Strukturen kann sie baden und entspannen wie in einem wohlig warmen, sprudelnden Whirlpool, hält krampfhaft an ihnen fest und begibt sich in selbstzerstörerische Abhängigkeiten. Weil sie sich klein fühlt und nur darauf bedacht ist, die Bedürfnisse anderer zu erfüllen, die sich an ihr festsaugen wie selbstsüchtige Zecken. Weil sie sich selbst regelmäßig übersieht, ausradiert wie einen ungenauen Bleistiftstrich. Nachdem ihr Mann sie einst verließ, hüpft sie übergangslos von einer Beziehung zur nächsten, in der sie wie ein armes Pflänzchen verkümmert, weil der Boden ausgetrocknet und nährstoffarm ist. Sie lebt ohne Kontakte, ohne Kinder und ohne Gefühle. Kommt nicht in ihre Kraft und Lebendigkeit. Kann weder am Leben teilhaben noch bei sich selbst sein.

Ich erschrecke vor dieser Frau, die mir erbarmungslos mit allen Zellen spiegelt, was aus mir geworden wäre, hätte ich mich vor Jahren an einer Weggabelung des Lebens anders entschieden. Ein eiskalter Schauer erfasst mich und gibt mir das Gefühl, dass eine ganze Kompanie rühriger Ameisen auf parallel angelegten Straßen mit gefrorenen Füßen über meinen Rücken krabbelt. Fließt unsere Lebensenergie doch durch ein- und dieselben Wurzeln in den gemeinsamen Stamm, der stolz unser weit verzweigtes Astwerk trägt. Auch wenn meine Zweige am entgegengesetzten Ende wachsen, so sind sie doch denen der Frau in Schwarz nicht unähnlich, ja in Teilen sogar mit ihnen identisch, eine gemeinsame Identität formend.

Nach einer längeren Pause, in der jede ihren eigenen Gedanken nachhängt, greift die weiße Massai die von der Frau in Schwarz zuletzt gestellte Frage auf, die noch wie eine Feder in der kühlen Abendluft über uns schwebt. „Natürlich hatte ich Angst“, gesteht sie, „übermächtige Angst sogar. Nur blieb mir in der Situation damals nichts anderes übrig, als die Kraft in mir zu suchen, um die Angst zu überwinden.“

Die Frau in Schwarz erhebt sich. Mit bloßem Auge erkenne ich, dass das Blut in ihren Adern überschäumend aufkocht. Es fällt ihr ungemein schwer, die Käfigtür zu ihren Gefühlen, die wie wild gewordene Schlangen giftig züngelnd den Kopf heben, verschlossen zu halten. „Dann war deine Angst nicht annähernd so groß wie meine. Oder glaubst du, dass deine exotische Wegvariante die bessere ist?“

Der Zorn funkelt aus ihren Augen. Und ein kleines bisschen Genugtuung breitet sich wie ein warmer Sommerregen in ihr aus, hat sie es doch gerade zum ersten Mal geschafft, die Wut nicht gegen sich selbst zu richten. „Was unterscheidet uns denn voneinander? Du hast es im richtigen Moment geschafft, deine Angst zu besiegen. Doch sie ist längst wieder da! Nun isst du dich an deiner ständigen Suche nach dem Besonderen satt und bist, ohne es zu bemerken, jeden Tag dabei, deine Sehnsüchte durch das, was sich außerhalb von dir ereignet, zu erfüllen. Doch tief in deinem Herzen wünschst du dir nichts mehr, als dass deine Seele so bunt schillert wie dein kitschiges Kleid!“

Mit diesen Worten wendet sie sich von uns ab, entledigt sich ihres mächtigen, viel zu eng und zu hoch geschnürten Gewandes und springt kraftvoll in das salzige Nass, das sie weit bis zum Horizont fortträgt und für uns nur noch stecknadelkopfgroß herausblitzen lässt.

Nur wenige Wellenbewegungen später sehe ich, wie die Frau in Weiß aus ihrer Starre herausbricht und ebenfalls in das fast schwarz gefärbte Meer eintaucht, das kurz davor ist, mit dem Dunkel der Nacht eins zu werden. Die weiße Massai blickt mich mit ernsten Augen an und beginnt, unruhig auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen. Ich spüre den starken Sog, den das Meer auch auf sie ausübt. Das unbändige Verlangen, es den anderen beiden gleichzutun, um im Meer wieder mit ihnen zu verschmelzen, erfasst ihren gesamten Körper und lässt sich nicht länger deckeln. In der Gestalt hunderter kleiner Zungen saugen sich die Wellen an ihr fest und ziehen sie ganz sanft zu sich heran. Bis sie sich in den Fluten auflöst.

Zurück bleibe ich. Der einsame, feste Fels in der Brandung. An den Seiten leicht ausgehöhlt, doch in der Mitte stabil. In mir brummen und surren die Worte dieses fantastischen Abends. Wie Musik klingen sie nach. Hinterlassen Spuren in mir, die begriffen werden wollen, damit sie fest ausgetreten und zu sicheren Wegen werden können.

Mit beiden Füßen stehe ich fest auf dem Boden. Die Energie fließt frei durch mich hindurch, macht mich lebendig und offen für den Kontakt mit meiner Seele. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf meinen Atem, der mir inneren Freiraum schenkt, meinen Platz und damit Raum im Leben einnehmen lässt. Auf seinem Weg durch meinen Körper nimmt er alle Gefühle auf in seinen Strom, damit sie gelebt werden können. Vielleicht muss man erst einen Teil von sich verlieren, um ihn dann wiederzufinden.

Ich erfahre, handle und entscheide, habe einen offenen und ehrlichen Weg gewählt, in Freiheit und Unabhängigkeit. Ich habe gelernt, Beziehungen einzugehen, ohne mich selbst zu verlieren. Mit schmerzlichen und glückvollen Wegstrecken.

Doch das Lernen geht weiter, es ist nur eine Rast, nicht das Ziel. Mir scheint, dass die Tage wertvoller geworden sind. In goldenes Licht getunkt, in dem die Seele wohnt und ruht.

Besonnen richte ich meinen Blick auf das endlose, bezaubernde Meer. Den Ursprung allen Lebens. Beobachte staunend meine Seele, die zum Rhythmus der Wellen tanzt. Die sich kristallklar und zart schimmernd ihre Bühne erobert. Sich in die Seelen der drei Frauen ebenso bindet wie in das Funkeln des Meeres. Atemberaubend schön.

Gefühle wie Rache und Strafe sind ihr unbekannt. Zu einfach. Zu menschlich. Deshalb habe ich Nachsicht mit mir selbst. Mit all meinen Um- und Irrwegen, die mich zu der geformt haben, die ich heute bin.

Denn die Seele bewertet nicht und verzeiht alles.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 25130




Neues Licht

Im Erträumen von neuen Räumen
hast du die Liebe neu erdacht,
die in den Spuren deiner Worte
in meinem Herzen sich entfacht.
Und das Erlebte, dicht an dicht,
reinkarniert im neuen Licht.
Dehnt sich aus über Zukunftsgelände
und macht es vertraut, bis zum Ende.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: Kleinode – nicht nur an die Freude |Inventarnummer: 25096




Auszeit

Ihre Begegnung war flüchtig, nahezu beiläufig. Schlicht, unspektakulär, und doch auf einer Seelenebene, die eine ganz besondere Tiefe erspüren lässt. Wie selbstverständlich trafen sie sich, als hätten sie sich verabredet. Um sich noch ein einziges Mal in die Augen zu sehen. Vielleicht ein letztes Mal. Nichts deutete auf eine belanglose Zufälligkeit hin. Vielmehr schien es lange geplant und doch unerwartet, vertraut und doch fremd, verbindend und doch trennend zu sein.

Für einen Moment stand die Zeit still. Als hätte jemand die Zeiger ihrer Armbanduhren festgehalten, um Schicksal zu spielen, während sich ihre Herzen einmal von innen nach außen kehrten und in sonst verborgene Tiefen blicken ließen.

Im Vorbeigehen treffen sich ihre Blicke, die eine Geschichte erzählen, Gelebtes und Ungelebtes preisgeben. Ein Lächeln, noch zurückhaltend. Erstmal abwarten. Prüfen, ob es sich in Vertrautes vortasten, Wärme verbreiten kann. Bewegungen in Zeitlupe. Innehalten. Den Moment einfangen und für immer festhalten. Vertrauten Duft einatmen. Erinnerungen wachrufen. Die vollen Lippen, leicht vorgeschoben, nicht zu viel, gerade richtig. Sinnlichkeit wecken. Der linke Mundwinkel ein kleines Stück höher als der rechte. Sein Gesicht, auch mit den Spuren des Alters, immer noch schön. Falten, die von dem Leben erzählen, das vergangen ist, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen haben. Von zwanzig langen Jahren. Fragen schießen wie Blitze durch ihren Kopf. Träumst du immer noch die gleichen Träume? Welcher Mensch steht dir so nah, dass er dich verletzen darf? Wie sehen deine Kinder aus? Was bewegt dich? Denkst du manchmal noch an uns?

Dann fliegen ihre Gedanken in diese längst vergangene Zeit, die – in ein schwarzweißes Gewand gehüllt – vor ihr steht, unverfroren anklopft, um ihr noch einmal einen kurzen Besuch abzustatten. Sie möchte eindringlich daran erinnern, dass es noch etwas gibt, das erst zur Ruhe kommt, wenn es noch einmal Beachtung findet, um mit Haut und Haar durchdrungen zu werden. Bis es sich kompromisslos einfügt, aufhört zu strampeln, in Freiheit losgelassen und ein akzeptierter Teil ihrer ganz persönlichen Geschichte werden kann.

Schlagartig wurde ihr die Dringlichkeit, den Finger in ihre tiefste Wunde legen zu müssen, bewusst. Den Schmerz noch einmal auszuhalten, ihm direkt in die Augen zu sehen, um ihn zu besänftigen. Damit sie die Zügel in der Hand halten konnte, nicht er, und endlich ihren Frieden finden würde.

Es war eine besondere Liebe, die sie damals verband. Sie kam nicht urplötzlich aus dem Nichts, um mit Macht einzuschlagen und dann monatelang den Verstand zu rauben. Vielmehr loderte ihr Feuer auf kleiner Flamme, dafür beständig, verlässlich und in einem kräftigen Rotorange, das ein solides Fundament formte und bis in die Wurzeln wärmte.

Sie kannten sich aus Kindheitstagen, und ihre Liebe war von Anfang an ganz selbstverständlich da. Stark und unanfechtbar hüllte sie ein, schützte, versicherte und schweißte nah und vertraut zusammen. Sie war Gesetz. Man musste nicht viele Worte davon machen. Sie verströmte ihren ureigenen Duft, der sie auf mystische Weise heiligsprach und unverwundbar machte. Ein Geschenk des Lebens.

Vielleicht hatten sie diese Kostbarkeit verkannt, waren zu gleichgültig und unachtsam mit ihrem wertvollen Schatz umgegangen. Hatten der Selbstverständlichkeit, die nach und nach den Glanz raubte, immer den Vortritt gelassen. Vielleicht waren sie zu jung, zu ausgehungert für eine Liebe in dieser Schlichtheit und Eleganz. Denn es kam der Tag, an dem sich das Band zwischen ihnen lockerte, weil es eine andere Beschaffenheit annahm. Jeder hatte eigene Pläne und spürte auf eine selbstbezogene, kompromisslose Art die Lust auf das Leben. Sie breitete sich aus, im Bauch, im Herzen, strömte unaufhaltsam in jede Faser und ließ unbändige Kräfte wachsen, bis das Band zwischen ihnen dünn und porös wurde, weil jeder mit Macht in eine andere Richtung zog.

So trennten sich ein erstes Mal ihre Wege. Auch wenn es schmerzte, war es notwendig. Es war wie ein innerer Ruf, dem ungefragt Folge zu leisten war und der kein Zögern zuließ. Vielleicht war ihre Liebe zu alltäglich für diesen Schritt in die Mitte des Farbkreises, auf der Suche nach sich selbst und nach seinen eigenen Grenzen. Bereit, Kostbarkeiten leichtfertig aufzugeben für einen Sprung in ein Blütenmeer, um mit allen Sinnen zu entdecken und aufzusaugen, was Leben ist. Abenteuerlich hochschießende Flammen wurden interessanter als kleinere, in Beständigkeit flackernde.

Sie hatten sich nichts vorzuwerfen. Denn nur wer sich von der Fülle betören lässt, hat wieder ein Auge für das Gänseblümchen am Wegesrand, das gerade durch seine Schlichtheit berührt und mit seiner Blüte auch für längere Zeit Freude schenkt. Was ist daran falsch, der eigenen Stimme zu folgen? Zu experimentieren, zu kosten, zu genießen und nach drei Schritten voran auch mal wieder vier Schritte zurückzugehen? Das ist Leben! Und wie tragisch wäre es doch, am Ende dazustehen und sich eingestehen zu müssen, dass die Suppe zu fad schmeckt, weil nicht die gesamte Palette des Gewürzspektrums zum Einsatz kam.

Nun, sie hatten beides. Jeder ging seinen eigenen Weg, der ihnen eine Gewürzvielfalt bot, und suchte gleichzeitig die urvertraute Nähe, die in dem jeweils anderen zu finden war. Sicherheit und Altbewährtes wirkten ausgleichend zum unvorhersehbar unruhigen Wellengang.

Es war wie ein unaufhaltsamer Sog, der sie immer wieder zusammenführte. Anfangs in Form von Briefen. Unverfängliche, formelle Geburtstagsgrüße oder Urlaubskarten, die zeigten, dass man immer noch an den anderen dachte. Kurz, aber regelmäßig bemühten sie sich damit um das Wahren einer Freundschaft, die durch die Entfernung wieder mehr Wertschätzung und Qualität erfuhr. Die Frequenz dieser schriftlichen Kontakte wurde mit der Zeit dichter, der Inhalt immer intimer. Sie begannen, sich ihre Sorgen und Nöte mitzuteilen, sodass ihre Briefe schon bald zu einem verlässlichen Rettungsanker heranreiften, den man herbeisehnte, brauchte, wie die Luft zum Atmen, und ohne den man eines Tages nicht mehr sein wollte. Sie behüteten ihn, wie einen kostbaren Schatz, pflegten und schätzten ihn. Und die Distanz wickelte ihn in ein Papier von besonderem Glanz, das auf eine unerschütterliche Weise seine Unfehlbarkeit unterstrich.

Die Treffen, die den Briefen folgten, waren eine selbstverständliche Weiterführung ihrer Beziehung, eine unscheinbare Steigerung an Intensität, die es nicht zu hinterfragen galt. Sie waren der nächste Schritt in eine richtige Richtung, die natürlicherweise Sinn ergab. Im Nachhinein betrachtet, lief es sogar von Anfang an darauf hinaus, und es schien, als dienten all die zaghaft formulierten Zeilen einzig und allein dazu, eine neue Ebene der Berührung und des Gesprächs von Angesicht zu Angesicht Realität werden zu lassen.

Von nun an trafen sie sich in jedem Sommer. Es war wie ein regelmäßig wiederkehrender Urlaub am gleichen Ort, den man in- und auswendig kannte und gewohnheitsgemäß jedes Jahr wieder aufsuchte, weil man sich auf genau das freute, was einen dort erwartete. Den Salat Nizza in der Pizzeria am Kirchplatz mit genau dem Dressing, das man lieben gelernt hatte und wonach sich die sensibilisierten Geschmackszellen seit Wochen so sehr sehnten. Alle Details hatten sich in die Sinne gebrannt und wollten wieder belebt werden. Die stumpfe Gewohnheit schien in ihnen eine ungeahnte Quelle an Lebendigkeit zum Sprudeln zu bringen, die einen ganzen Schwarm Schmetterlinge in ein aufgeregtes Flattern versetzen konnte, was ein unbändiges Glücksgefühl verströmte.

Jedes Jahr zur gleichen Zeit lebten sie eine Auszeit von ihrem Leben, das sie bis zum Anschlag überreizte, forderte und jegliches Fühlen in ihnen lahmlegte. Sie ließen die Zeit stillstehen, genossen Momente der Ruhe und Muße, während sie in einer schillernd bunten Seifenblase innig beisammen waren, redeten, schwiegen, liebten und lebten. Körper und Seele wurden reingewaschen von allen Belastungen, die Zellen erneuert und Grenzen im Denken und Fühlen aufgehoben. Es war wie ein Paradies, in dem das Gänseblümchen durch eine Vielzahl anderer Blütenschönheiten seine höchste Stufe der Veredelung erfuhr.

Ein zeitlich befristetes Paradies jedoch, von dem man sich jedes Mal, wenn der Sommer sein Ende fand, wieder verabschieden musste. Doch überraschenderweise war es niemals mit Schmerz verbunden. Vielleicht mit einer kleinen Prise Wehmut, die aber durch ihre Schnelllebigkeit kaum Gewicht erhielt. Denn schon nach kurzer Zeit hatte sich in vielerlei Hinsicht ein gewisser Grad an Sättigung eingestellt. Man war ausgefüllt mit Glück, hatte genug Ruhe und Zweisamkeit getankt, den Blick wieder für das Wesentliche geschärft und war bereit für einen neuen Farbanstrich. Es erinnerte an eine reife Frucht, die dankbar darüber war, endlich gepflückt zu werden, bevor sie schonungslos vom Baum fiel, um aufzuplatzen und dann keine Beachtung mehr zu finden. Und die Schmetterlinge fielen wieder in einen Dornröschenschlaf.

Ihr Abschied voneinander verlief in den meisten Fällen wortlos und karg. Wie ein zu kurz geratener Haarschnitt. Eine schnelle Umarmung, eine flüchtige Berührung, während die Körper bereits halb abgewandt waren. In ihren Augen formten sich schon die Bilder dessen, was sie in ihrem für kurze Zeit auf Standby geschalteten Leben erwartete. Das puristische Verabschiedungsritual stand in keinem Verhältnis zu ihrem lebendig symbiotischen Beisammensein der vorausgegangenen Wochen. Fast vermittelte es den Eindruck, als wollten sie voreinander fliehen, um sich voller Freude und Lust dem Kontrastprogramm auf dem anderen Kanal zuzuwenden. Als müssten sie sich gewaltsam und möglichst unbeschadet aus ihrer gegenseitigen Anziehung befreien, sich wegreißen von dem, was vor einer Sekunde noch als eine lebenserhaltende Maßnahme definiert war. Weil es außerhalb der Seifenblase plötzlich an Bedeutung verlor. Oder aber, weil es gerade dort erst bedeutungsvoll wurde, mehr als sie es sich eingestehen wollten. Und mehr als sie in dieser Episode, die das Leben für sie schrieb, zulassen konnten, weil es alles auf links gekrempelt hätte, was so wunderbar perfekt und schnörkellos eingerichtet war.

So hätte es problemlos weitergehen können, noch viele lange Sommer. Jedes Jahr zur gleichen Zeit die Repeat-Taste drücken und immer wieder das gleiche Programm abspulen lassen. Doch ein unvorhersehbares, einschneidendes Ereignis beendete ihre traumhaften Auszeiten abrupt, noch bevor Ermüdung oder Abnutzung die Chance bekommen hatten, sich auf leisen Sohlen zur Tür hereinzuschleichen.

Das Schicksal zeigte kein Erbarmen und schlug ihnen mit geballter Faust mitten ins Gesicht. Ein ungeborenes Kind zu verlieren, zählt wohl zu den härtesten Prüfungen im Leben einer Frau. Manch eine zerbricht daran. Geburt und Tod – die entscheidenden Momente des Lebens – geschehen gleichzeitig. Das Herz zerreißt, der Körper rebelliert, schmerzt und versteht nicht, was da passiert. Jede Zelle trauert und will nicht loslassen. Die eigene, bisher unbekannte Angst vor dem Sterben erscheint zum Greifen nah.

Sie fühlte, wie ein Teil von ihr mitstarb und für immer fortging. Sie war bereit, auch den anderen Teil zu geben, für einen einzigen, kostbaren Moment mit ihrem Kind. Die unstillbare Sehnsucht danach, es in ihren Armen zu wiegen, zerfraß ihre Sinne und raubte ihr den Verstand. Die Leere in ihrem Bauch war unerträglich. Sie wollte niemandem begegnen, der über Alltägliches berichtete. Sie wollte ungestört sein mit ihren Gedanken an ihr Kind. Manchmal verhielt sie sich so, als wäre es noch in ihrem Bauch. Das Herz konnte nicht folgen und wurde vom Verstand im Stich gelassen.

Sie war allein mit ihrer Trauer, denn er hatte Aufgaben und Pflichten, musste seine Rolle spielen in dem Film fernab ihrer gemeinsamen Zeit. Sie vermisste es, von ihm gehalten zu sein. Allein eine Berührung hätte genügt, um in diesen bitteren Stunden ein wenig Trost zu spenden. Sie sehnte sich danach, gemeinsam zu trauern, dem schrecklichen Schmerz den Raum zu geben, der ihm gebührte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so verletzbar und schutzlos gefühlt und so unverstanden vom Rest der Welt.

Doch sie musste akzeptieren, dass die Trauer ihre Wege trennte. So nah sie ihr Kind noch vor einiger Zeit zusammengebracht hatte, so weit entfernt fühlte sie sich jetzt. Sie war allein mit ihren unberechenbaren Gefühlsschwankungen, Ängsten und Zweifeln, die dieser riesengroße Verlust in ihr auslöste. Mit Macht überfiel sie eine unbändige Einsamkeit, und ihr trauerndes Herz schlotterte.

Viel Zeit musste ins Land gehen, bis sie begriff, dass ihr nichts anderes übrig blieb. Ein weiteres Mal trennten sich ihre Wege, und sie wusste, dass es endgültig war, auch wenn ihr Herz noch damit haderte. Doch das Erlebte hatte über ihre gemeinsame Zeit einen dunklen Schatten geworfen, der sich auch in ihrer Seele spiegelte und Tag für Tag wie ein schwerer Stein auf ihr lastete. Auch wenn sie längst eine andere geworden war. Sie war einer schweren Aufgabe er-wachsen, und die Flügelschläge wurden allmählich leichter. Mehr als jemals zuvor war sie imstande, sich auf sich selbst zu besinnen, an sich zu glauben und aus sich heraus Kraft zu schöpfen. Die harte Arbeit aus der Krise heraus leitete noch weitere Umbrüche ein. Sie war im Fluss und wurde vom Leben getragen, was ihr genug Vertrauen schenkte, um wieder hoffnungsvoll in die Zukunft blicken zu können.

Dann prallten sie aufeinander, diese verschiedenen Leben, um endlich heil und ganz zu werden. Sie waren es müde, so zu tun, als gäbe es den anderen nicht; gehörten sie doch beide konkurrenzlos in den Fluss des Lebens.

Sie hatte die Wahl, stehen zu bleiben, um ihm stundenlang ihre Geschichten zu erzählen, die einen Band in ihrer gemeinsamen Buchreihe des Lebens gefüllt hätten. An das gemeinsame Stück Weg anzuknüpfen, eine Brücke zu bauen hin zu vertrauter Nähe, nach all der Zeit. Ausbaufähig. Doch wozu? Ihre Geschichte war abgelebt. Eine Fortsetzung gab es nicht. Es wäre ein hilfloser Versuch gewesen, die verstrichenen Jahre außer Acht zu lassen, so zu tun, als hätte es danach nichts mehr gegeben.

Tiefe Traurigkeit beschlich schlagartig ihr Herz. Weil sich die Uhr nun mal nicht zurückdrehen lässt. Selbst damals hatte sie nicht so sehr damit gehadert wie in diesem Moment. „Schau! Ich möchte dir meinen größten Lebensschatz vorstellen. Das Beste, das ich jemals vollbracht habe“, wollte sie sagen, als ihr Blick zu ihren beiden Kindern wanderte, die fünf Meter entfernt mit seinem kleinen Hund spielten. „Es könnten unsere sein“, hätte sie dann noch angefügt, in der Hoffnung, dass sie der Klang ihrer Stimmen einander näherbringen würde.

Doch die höhere Macht, die Schicksal spielte, ließ die Zeiger ihrer Armbanduhren los, und die Zeit lief unaufhaltsam weiter. Erbarmungslos. So beließen sie es dabei, nur ihre Herzen sprechen zu lassen, und bemerkten erstaunt das feine, dünne Band, das immer noch zwischen ihnen bestand. Wahrscheinlich über das Leben hinaus.

Dann ging ein jeder seines Weges, ohne sich noch einmal umzudrehen. Darüber staunend, welche Tiefen des Herzens auch eine längst zu Ende gelebte Liebe spüren lassen kann, wenn der Moment dafür gekommen ist. Doch die Weggabelung, vor der sie einst standen, lag längst hinter ihnen. Damals hatte sie sich für einen eigenen Weg entschieden. Ohne ihn. Und zum ersten Mal konnte sie sich, ohne innerlich zerrissen zu sein, eingestehen, dass es gut war.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 25079

 




Vergänglichkeit

Leben … so schwer ohne dich
Träume … so leer ohne dich
Jahre … in Licht gehüllt so dicht gefüllt mit dir
Gedanken … hängen fest an dir
verdrängen Worte hin zu dir
und der Verstand kann nicht fassen
weil Konturen verblassen
denn das Jahr legt einen Schleier über dein Gesicht
doch das Herz … der Spuren so voll
von dir, so tief in mir, das Bände spricht
weiß, du wirst mich nie verlassen

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 25070




Sehnsuchtsvoll

So oft hab ich dein Haar geküsst
die raue Wange zart gestrichen
Und dächt, wenn ich’s nicht besser wüsst
du wärst grad durchs Haus geschlichen

Leis folg ich deiner Blütenspur
betrink mich an vertrautem Duft
Lausch deinem Klang in Raum und Flur
und wieg mich sanft im Tanz der Luft
bis meine Angst gewichen

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: Kleinode – nicht nur an die Freude |Inventarnummer: 25052




Weihnacht

In dieser Zeit funkelnder Besinnlichkeit,
da der Zauber der Nacht
den Himmel noch schwärzer macht,
und in der Weite dunkelnder Unendlichkeit
kaltherzig und glasklar
dir die Endlichkeit entgegenlacht,
ist die innere Einkehr elementar.
Und als Komplementär zur Fülle
die Stille eine schützende Hülle.

Hörst du das leise Knistern in der Luft,
das geheimnisumwobene Wispern?
Das surrende Schwingen sanften Flügelschlags,
das sich auch des Tags nicht verliert
und unbemerkt fein im Schein heller Kerzen
deine Sinne stimuliert?

Dann ist Weihnacht, nur dann.
Engelsgleich ihr Gesang, samtweich.
Und unendlich reich
ihr fast vergessener, ureigener Klang.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 24188




Dialektik im Trauern

Ein Herbstgedicht

Herbstlaub.
Farbenfroh und leicht, fällt
erstmals
ohne dich auf die Welt.

Nebel.
Grau in Grau und schwer, steigt
empor.
Deckt feig meine Sehnsucht.

Rascheln.
Lautstark und schrill, wenn ich
im Laub
deine Worte finden will.
(… die mir so fehlen.)

Mein Herz.
Schmerzensvoll und leer, schweigt.
Tobt still.
Nur Erinnerung bleibt.

Astwerk.
Melancholisch kahl, friert
schutzlos.
Giert nach deiner Blätterhand.

Ein Lichtstrahl.
Hell, euphorisch, warm. Bricht
tröstend
durchs Himmelsgesicht.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24181




Für mein Kind: Zurück zu den Wurzeln gemeinsam mit dir

Zeit fliegt vorbei.
Manchmal brems ich sie ein,
sehe dich an
und erschreck,
weil ich mich bis ins Detail
an dir spiegeln kann.
Ich entdeck
Spuren meiner Vergangenheit
in deinem Gesicht,
rück in dein Licht,
und wir gehen ein Stück
auf der Zeitschnur zurück.
Dann färbt dein Lachen
vergilbte Bilder in Schwarz-Weiß
leuchtend bunt,
und wir staunen leis.
Lassen darauf Glücksraketen
starten, halten die Hand
und warten gebannt
im Moment der Magie,
wenn sie den Himmel
in ein Farbenmeer tunken
und Endorphinfunken
in unsere Zukunft sprühen.
Sehen sie verglühen und fächern uns,
zufrieden lächelnd, Luft zu,
liebesgefüllt.
Nichts fehlt.
Lassen dann beseelt
die Zeit weiterziehen.

Claudia Lüer
aus dem Gedichtband „Barfuß durch  dein Herz“

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 24177




Für einen letzten Moment

Was würd ich geben
für einen letzten Moment mit dir.
Der all mein Streben
und Tun lenkt, mich kostbar beschenkt
und bis zum Ende fortblüht in mir.
Der in meinem Herzen Feuer fängt
und – bis wir uns wiedersehen
und die Wunder der Liebe geschehen –
meinen Schmerz ausschwemmt.
Wie all das, was mich am Weiterleben hemmt.

Was würd ich geben
für ein allerletztes Wort von dir.
Das all mein Erleben
verdichtet, von uns berichtet
und bis zum Ende fortklingt in mir.
Das meine Seele wärmt und belichtet
und wohlig gebettet in deinen sanften Klang,
der ganz leise, auf vertraute Weise so oft für mich sang,
in mir den richtigen Ton anstimmt
und meine tiefsten Ängste nimmt.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorien: hardly secret diary | Inventarnummer: 24129