Rapunzel

Im finstern Wald,
da wohnt ein altes Weib
mit einem schönen Garten.
Und wenn’s im Frühjahr nicht zu kalt,
hat sie dort Zwiebel und Salat.
Sonst braucht man von ihr nichts erwarten.
Das eine sag ich euch.

Einmal, da stiehlt der Nachbar ihr
ein wenig von dem grünen Zeuch.
Sein Pech, die Alte war schon munter,
als in den Beeten er herumgezischt,
mit einem Messer.
Da hat sie ihn erwischt.
Hätt’ er’s im Geschäft gekauft,
wär’s für ihn besser.

Die Alte aber, und ich will nicht lügen,
fordert für diese Tat das erste Kind,
sollt’ er mit seiner Frau einmal eins kriegen.

Die Wahrheit lässt sich nicht verbiegen,
warum nicht gar!
Das Schicksal will’s,
schon übers Jahr geschieht’s,
dass diese eine Tochter kriegen.

Die Zeit verrinnt, der Alten Wille
ward durchgesetzt.
In ihrem Garten wächst jetzt Dille.
Die Eltern waren bass entsetzt.

Die Greisin sperrt das junge Wurm,
weil’s ihr zu schön,
in einen Turm.

Da kam, nach einer guten Weil,
ein Prinz vorbei.
Der hört das Mädchen singen,
und denkt, der müsst ich mal ein Blümchen bringen.

Da sieht er, wie ’ne alte Frau,
emporklettert an diesem Bau,
hinauf zu jener schönen Maid,
so flink und rasch, es is’ ’ne Freud.
Und wisst ihr auch, wie dies geschah?
Entlang an ihrem langen Haar!

Der Prinz, kaum ist er noch zu halten,
und, wie er’s gehört hat von der Alten,
he, du, ich will dich ja nicht drängen,
ruft er hinauf,
lass doch dein Haar mal runterhängen.

Nur leider bleibt die Zeit nicht stecken,
ich sag euch, es ist zum Verrecken!
Nix da, mir zieht’s die Augen ausernand’,
schon winkt sie ab mit einer Hand.
Heut wird’s nichts mehr, ich bitt’ dich, geh!
Und was du willst, das weiß ich eh!

Das ist wirklich unerträglich!
Hinaufklettern scheint echt unmöglich.
Doch was ihn so irre stiert,
die hat sich glatt die Haar rasiert!

Und zu sich selber sagt der Prinz,
du bist verrückt, du spinnst!
Dann jammert er, zum Herzerweichen,
da bleibt mir nur noch eins, mich schleichen.
Und sein Blick erhebt vom Boden
sich enttäuscht zu ihr nach oben.
Mit der Glatze und dem Schopf!
Was bin ich für ein armer Tropf!
Jetzt ist wirklich alles hin,
Das gibt’s ja nicht! ’Ne Punkerin!

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow| Inventarnummer: 25120




Übers Geld

Wie wir wissen, ist das Geld
echt nicht alles auf der Welt.
Aber dessen angesichts,
ohne Geld ist alles nichts.

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

www.verdichtet.at | Kategorie: Kleinode – nicht nur an die Freude | Inventarnummer: 25119




Archiv Mai 2025

24.5.25: Norbert Johannes Prenner: In die Rente
24.5.25: Michael Bauer: Le vrai amour³
24.5.25: Johannes Tosin: Elefant
24.5.25: Norbert Johannes Prenner: Der große Wohltäter
24.5.25: Johannes Tosin: Schneewittchen
18.5.25: Norbert Johannes Prenner: Jonny and Maggie
18.5.25: Verena Tretter: Christas Comeback
18.5.25: Norbert Johannes Prenner: Wacht auf, wacht auf!
18.5.25: Johannes Tosin: Zettel
18.5.25: Michael Bauer: Blockade
18.5.25: Johannes Tosin: Sand unter den Hufen
11.5.25: Frank Joussen: Vom Lesen und vom Sterben
11.5.25: Dario Schrittweise: Die geschenkte Zeit
11.5.25: Johannes Tosin: Zwischen Hölle und Himmel
11.5.25: Johannes Tosin: Ausblick
3.5.25: Michael Timoschek: Steiermärkisches Kulturwürstchen
3.5.25: Johannes Tosin: Der Himmel ist leer
3.5.25: Johannes Tosin: Rüsselkäfer




Von den blauen Bergen kommen wir

Ach, was für eine schöne Zeit!
Das begreifen wir erst heut.
Wie auch immer, viel’ Skandale
prägten viel zu oft die Male.
Hat Cartoonisten reich gemacht,
Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

Was wirklich war, das übertrifft
der künstlerische Zeichenstift
in spitzer Reproduktion.
Und wahr ist’s doch, na und, wenn schon?

Wer auf der sel’gen, uns’rer Insel,
in den Achtzigern gelebt,
vom „Alles super ist“-Gewinsel
weiß, man hat nach Höherem gestrebt.

Soziale Sicherheit und Wohlstand
prägten lange Zeit das Land,
bis, weg’n der Defizite,
dies mit einem Mal verschwand.

Beschäftigungsrekorde weg, Neurosen!
Düst’re Arbeitsmarktprognosen.
Der Schuldenstand im Praktischen, normativ,
die Kraft des Faktischen.
Ach, was für eine schöne Zeit!
Willkommen in der Wirklichkeit.

Loyalitätsbedingt dem Alten
muss man den Staat nun neu gestalten.
Es stampft und dampft, die nicht ganz vife
Populär-Lokomotive.

Von Krisen zeigt das Land, geprägt, sich
liberal sozial zersägt.
Die grüne Au wird zum Konflikt,
das Land zur Skandalrepublik.

Waluliso predigt mahnend
Frieden!, weil schon Unheil ahnend.

Den Wein, den panscht der Winzer listig,
ihn trinkt kein Mensch mehr, weil er mistig.
Ein Reiter sitzt am hohen Ross
Und rüttelt stark am Opfermythos.

Ein neuer Geist irrt jetzt umher.
Den alten Weg, den gibt’s nicht mehr.
Zunehmend wird man jetzt globaler,
medial und digitaler.

Der Privatisierung heller Schein
dringt in die Politik hinein.
Medien stören Prominente
im intimen Ambiente.
Skandale nehmen ihren Lauf,
der Journalismus deckt sie auf.
Das Budget wird immer dünner,
jedoch das Parlament wird grüner.

Alles frönt dem Hedonismus,
der Yuppie zählt zum Organismus
erfolgsgewohnter Börsianer.
Die Hofreitschul’ zeigt Lipizzaner.
Alles happy, alles da,
weil I am from Austria.

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25118

 

 

 

CARTOON EINFÜGEN




In die Rente

Was soll ich euch am besten sagen,
ein Leben lang muss man sich plagen
bis dass man in die Rente kann.
Egal, ob Frau oder ob Mann.

Wenn ich euch sag,
ich arbeit wie ein Pferd bei Tag
und an der Kassa bis zur Nacht,
so dass mir oft die Schwarte kracht.
Und danach steh ich am Ofen,
Nachtmahl kochen, und dann pofen.
Schuften, bis man nimmer kann.
Wann fängt endlich Leben an?
Da war, nach Reinkarnation,
ich ein Kamel wohl lange schon!

Politiker sind feine Leut’.
Hab’n die kein Geld im Säckel heut,
fällt ihnen nichts and’res ein,
als: Ihr müsst’s länger fleißig sein.
Als läg bei uns allen der Grund,
als wär’n wir schuld am Schuldenschlund.
Drum, Rentenalter rasch anheben.
Was haben wir dann noch vom Leben?

So haben sich über die Zeit
ganz falsche Zahl’n von selbst verbreit’.
Was machen die paar Jahr’ schon aus?
Dafür kommt wieder Geld ins Haus.

Zwar nicht bei uns, vielleicht bei denen,
Dienstwagen bloß zu erwähnen.
Fahren froh durchs ganze Land,
krieg’n zehnfach mehr auf ihre Hand,
als man sonst für die Arbeit kriegt.
Möglich, dass man uns belügt?

Die Idee aus schlauen Köpfen,
Rentner wären leicht zu schröpfen!
Im Wissen, wo die Mäuse nisten,
den Zaster hol von Pensionisten.

Ich hab einmal einen gekannt,
für alle sei der stets gerannt.
Nachdem er sagt, auch für die Kleinen,
bin ich erwacht. Es ist zum Weinen.

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

www.verdichtet.at | Kategorie: Perfidee | Inventarnummer: 25117




Der Deutschtrainer

Ihr Leut’, ich habe einen schweren Stand!
Kommen Fremde in unser Land,
lern’ ich ihnen erst Manieren
und danach das Diskutieren.

Am Anfang steht zunächst das Grüßen,
weil das alle können müssen.
In der Nacht oder bei Tage,
gegrüßt muss werden, keine Frage.

Ich höre, wie ihr bei euch grüßt,
Salam Alaikum, weil ihr müsst.
Guten Morgen heißt sabach,
hört man, seid ihr morgens wach.
Ist man fremd, dann sagt man Sie,
Servus sagt man, kenn ich die.

Oh Gott, sagt man, geht etwas schief,
Allah ruft ihr, wenn was schlecht lief.

Es suchen Schutz beim Himmelvater
Weltliche nicht nur, auch Pater.
Trotzdem kommt man ziemlich schnell
in den Himmel oder d’Höll.

Jetzt steh’n wir hier in der Künetten
und müssen uns mit Deutsch abgfretten.
Zuerst einmal das Alphabet,
dann schau’n wir, ob das eh schon geht.

Schwarz und gelb, das sind die Wespen.
Dunkelblau hernach die Zwetschken.
Schweine braten heißt hier grillen,
seit Neuestem heißt Nichtstun chillen.

Joggen meint, man ist gelaufen,
shoppen tut man statt einkaufen.
Ist was fertig, sagt man gar,
da wirst deppert! Wirklich wahr.

Bei euch färbt man die Haar’ mit Henna,
stirbt man, kommt man in die Dschenna.
Wenn ich von euch nun einer bin,
sagt Achmed, und ich wäre hin,
kriegte ich, bei euch im Himmel,
siebzehn Frau’n und einen Schimmel.
Da tät’ ich sagen, eine reicht,
und ohne Schimmel kann ich leicht.
Siebzehn Frauen! Muss schon bitten!
And’re Länder, and’re Sitten.

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 25116




Der große Wohltäter

Gestern trug man ihn zu Grabe, ohne große Ehren.
Und nicht am Willen lag es, ihm sie zu verwehren.
Im Stillen ward’ er, hierorts, leis’ zu Grab getragen.
Ein großer Mann, das darf man wahrlich über diesen sagen.

Erfinder war er keiner, und auch kein Weltverbesserer,
so einfach war er, herzensgut, und sonst auch kein Besessener.
Sein Wunsch, alles ins rechte Licht zu rücken.
Es lag ihm fern, womöglich alle zu beglücken.

War’s angebracht, hielt er den Mund und hielt auch keine Reden.
Kein unnütz’ Wort, es lag ihm mehr am Geben.
Hat nichts entworfen oder gar erfunden,
wollt’ gern der andern heimlich’ Wunsch ergründen.

Nie war sein Ding, über and’re zu bestimmen.
Er wollte nie zu hohe Berge selbst erklimmen.
Nahm weder teil an Treffen noch Konferenzen,
und nie versetzte er den Stein an fremden Grenzen.

Hat lieber geschwiegen, als selber große Reden zu halten.
Nie von sich reden machen, nichts zwischen ihm und andern spalten.
Kein Reporter musst’ ihn je besuchen.
Kein Kommentator wegen ihm Termine buchen.
Nur ein einzig’ Mal hat man von ihm vernommen,
sei er, der gold’nen Hochzeit wegen, in ein Wochenblatt gekommen.

Vor Bewund’rung steh’n wir, ehrfurchtsvoll beseelt,
an dieser Bahre hier und hör’n, was man von ihm erzählt.
Ein Mann, der vieles unterlassen hat, bei Gott, jedoch nicht lahm,
weil er vor lauter Pflichterfüllung zu gar nichts and’rem kam.

Da war seine Familie, die Kinder und der Garten.
Bäume pflanzen, Steuern zahl’n, auf bess’re Zeiten warten.
Nur selten war Gelegenheit, ein Gläschen Wein zu trinken,
nach der Arbeit, die getan. Die Sonne schon im Sinken.

Vielleicht deshalb ein großer Mann, ein Vorbild für die Jungen?
Eher von anno dazumal, hätt’ man ein Lied auf ihn gesungen.
Was soll auf seinem Denkmal stehn? Dem Wohltäter der Menschheit?
Der niemanden gequält, verletzt oder vielleicht gelangweilt.
Heut reicht es kaum zum Denkmal hin, was wird denn so erwartet?
Der Mann, der war zu gut, zu brav, ja, beinah schon entartet.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25115




Der Wirrer

„Alles vergebens!“, brüllt der Wirrer in die Stille der Nacht. „Es hat keinen Sinn mehr! Ich bin eine Null, ein Nichts, ein Niemand! Ich mache Schluss! Jetzt! Sofort! Ende! Finito!“

Anne und Jan, beide soeben im Begriff einzuschlafen, schrecken hoch und lauschen dem verzweifelten Monolog ihres Wohnungsnachbarn. Anne knipst das Licht an und flüstert: „Sollen wir die Rettung rufen? Nicht, dass der Ernst macht mit einem Suizi – …“

„Ich kann nicht mehr! Ich will nicht mehr!“, schreit der Wirrer nebenan.

Jan steht auf und schlüpft in seine Hose. „Ich klopfe mal bei ihm an.“

„Aber es ist doch schon nach Mitternacht“, sagt Anne, doch Jan geht kommentarlos aus der Wohnung.

„Und? Was war? Hat er dir geöffnet?“, fragt sie gespannt, als er sich kurze Zeit später wieder ins Bett legt und das Licht ausschaltet.

„Ja, einen Türspalt. Als ich ihm erklärte, dass wir uns Sorgen um ihn machen, hat er irgendetwas von einer höchst komplizierten Arbeit gestottert, die ihm seit Monaten den Schlaf raubt und über die er sich vorhin leider lautstark geärgert hat. Er lässt sich bei dir entschuldigen, hat nicht geahnt, dass die Mauern im Haus so dünnwandig sind.“

„Der Wirrer und Arbeit?!“, schüttelt Anne, hellwach und aufrecht im Dunkeln in ihrem Bett sitzend, den Kopf. „Nie im Leben – der arbeitet doch nichts! Ich frage mich echt, wie er sich die teure Miete leisten kann. – Oder hast du ihn jemals in den drei Monaten, seit er hier wohnt, untertags außer Haus gehen sehen? Aber stell dir vor, was mir die Fuchs vom dritten Stock erzählt hat. Als sie gestern gegen vier Uhr früh mit ihrem inkontinenten Hund rausmusste, ist draußen der Wirrer an ihr vorbeigehastet und hat laut Schimpfwörter und Zahlen vor sich hingebrabbelt. Die Fuchs hat er nicht mal registriert. Also mit dem stimmt etwas ganz und gar nicht.“

Jan gähnt. „Er ist halt ein Eigenbrötler. Einer von vielen. Nicht unser Problem, Anne.“

„Aber er könnte ein Problem für uns werden, Jan!“, gerät Anne in Fahrt. „Hör zu: Die alte Kozmann vom ersten Stock hat mitgekriegt, dass er sich täglich Essen liefern lässt. Das ist doch nicht normal! Der Wirrer ist sicher noch keine fünfzig und nicht bettlägerig. Auch der Pecker vom Erdgeschoß findet ihn äußerst dubios. Er hat ihn einige Male gesehen, als er unten seine Post aus dem Briefkasten holte. Immer machte der Wirrer einen sehr ungepflegten und äußerst nervösen Eindruck, hat er gesagt. Weißt du, was die Kozmann, der Pecker und ich vermuten? – Dass der Wirrer direkt von der Psychiatrie ausgerechnet in unser Haus eingezogen ist. Wir sollten etwas unternehmen, bevor etwas Schlimmes passiert. Was meinst du, Jan?“

Jan schnarcht leise.

Drei Tage später, als Anne mit Einkäufen bepackt das Haus betritt, kommt ihr der Wirrer entgegen, und Anne fällt vor Überraschung eine Tasche aus der Hand. Der Wirrer trägt nämlich einen eleganten hellen Anzug und eine Krawatte. Er ist rasiert, und sogar sein strubbliges Haar wirkt geordneter als sonst.

„Guten Tag“, nickt er freundlich, als er, lässig an ihr vorbeigehend, das Haus verlässt, und diesmal ist Anne diejenige, die nicht grüßt, so perplex ist sie von der Wirrer-Verwandlung.

Die Hausmeisterin, Frau Sauer, wäscht gerade schnaufend die Stufen des Stiegenhauses.

„Frau Sauer, sagen Sie, haben Sie soeben den Herrn Wirrer gesehen?“, fragt Anne.

Die Hausmeisterin wischt sich den Schweiß von der Stirn und verdreht vielsagend die Augen.

„Und ob! Er war ja auch nicht zu übersehen, unser feiner Herr Wirrer!“ Und Anne und die Hausmeisterin schütteln zuerst synchron ihre Köpfe, bevor sie sie aufgeregt flüsternd zueinander neigen.

„Die Sauer und ich vermuten eine massive Persönlichkeitsstörung“, überfällt Anne Jan, als sie ihm abends die Wohnungstür öffnet.

„Wer ist die Sauer? Und wer die massive Persönlichkeitsstörung?“, seufzt Jan müde. „Lass mich doch bitte erst mal reinkommen.“

Und während Anne die verblüffende Metamorphose ihres Nachbarn schildert, lässt sich Jan aufs Sofa fallen, schenkt sich ein großzügiges Glas Wein ein und schaltet den Fernseher ein.

„Die Sauer, du und ich – wir drei werden morgen den Wirrer aufsuchen und ein ernstes Wort mit ihm reden. Weißt du, ich fühle mich nicht mehr sicher, seit er neben uns – “

„Das gibt’s doch nicht! Schau, Anne, das ist doch –“

Jan zeigt auf den Bildschirm. Anne schaut hin und traut ihren Augen nicht. Da sitzt doch tatsächlich der Wirrer vis-à-vis von Max Redeweis, einem der bekanntesten Moderatoren des Landes. Mittendrin in einem Live-Interview. Max Redeweis gratuliert soeben ehrfürchtig Herrn Dr. Dr. Georg Wirrer dazu, den Code eines mathematischen Rätsels, an welchem renommierte Experten jahrelang gescheitert sind, geknackt zu haben. Auf die Bitte des Moderators hin erläutert der Wirrer seinen Code-Knack-Prozess, wobei Anne und Jan schon zu Beginn geistig aussteigen müssen. Als Max Redeweis danach den Wirrer diskret über sein Privatleben befragt, erzählt der Wirrer, dass er geschieden und vor wenigen Monaten umgezogen sei. Und dann schaut und spricht er plötzlich Anne und Jan direkt aus dem Fernseher an:

„Falls meine Nachbarn mich jetzt zufällig sehen, möchte ich mich in aller Form für mein unmögliches Verhalten entschuldigen. Wenn ich einem mathematischen Problem auf der Spur bin, befinde ich mich wie im Rausch, bin kaum ansprechbar. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich in dieser Zeit richtiggehend verwahrlose, die Nacht zum Tag mache, laute Selbstgespräche führe, und tja, im Eifer des Gefechts auch schimpfe und fluche. Darum kann ich mir lebhaft vorstellen, was völlig zu Recht über mich getratscht worden ist.“

Annes Handy läutet. Hektisch schaltet sie auf Lautsprecher. Die aufgeregte, sich überschlagende Stimme der Frau Sauer erschallt:

„Haben S’ auch den Wirrer im Fernsehen gesehen? Ich sage Ihnen, kein Wort glaube ich dem! Ein Dr. Dr. soll der sein?! Ha! Auf seinem Türschild steht nur G. Wirrer. Ein Hochstapler ist der! Ich fühle mich verpflichtet, das sofort dem ORF zu melden. Was meinen Sie?!“

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 25114




Der blinde Fleck, Metaphern und Glühwürmchen

Über das Unsichtbare und die Macht des Lichts

Tief vergraben in den unbewussten Sphären unserer Wahrnehmung liegt er – jener Fleck, den keiner sehen kann. Ein unsichtbarer Akteur, der im Verborgenen wirkt, wie ein Gangsterboss, der seine Identität zu schützen weiß. Jeder trägt ihn in sich: diesen inneren Widersacher, der still unsere Sicht verzerrt – und uns schon oft zum Feind geworden ist.

Doch einmal ins Bewusstsein gerückt, steht er plötzlich ganz oben auf der Liste persönlicher Prioritäten. Reflektierte Menschen machen ihn sich zunutze: als Katalysator für Wachstum, als Anlass zur Veränderung von Verhalten oder Perspektiven – ja, manchmal ganzer Weltbilder. Wer ihn erkennt, dem öffnen sich mitunter Türen zu neuen inneren Welten.

Andere hingegen ziehen es vor, blind zu bleiben. Denn ist es nicht verlockend, sich selbst Ego-gekrönt im Zentrum aller Geschehnisse zu wähnen? Zu glauben, dass die ersehnte Aufmerksamkeit der anderen aus der eigenen Größe erwachsen ist? Doch der Fall ist tief, wenn die Bühne – gezimmert aus Brettern der Ignoranz und Fehleinschätzung – in sich zusammenstürzt. Dann endet die Inszenierung abrupt, nicht selten befeuert von einem müden, desillusionierten Publikum. Der Vorhang fällt – und mit ihm der vermeintliche Held.

So menschlich dieser blinde Fleck auch ist, so dämonisch wirkt er in den Händen jener, die ihn bewusst einsetzen. Manipulation, Machtgewinn – oft auf Kosten derer, die nicht sehen wollen. Doch leider, so scheint es, ist die Anzahl der Blinden größer als jene der Sehenden. Und damit ist nicht das tatsächliche Sehvermögen gemeint, sondern die klare Sicht nach innen.

Es fehlt an Lichtquellen, die diesen Blick ermöglichen, die das Versteck des Flecks aufdecken. Doch nicht immer braucht es große Leuchttürme. Oft genügt schon das kleine Licht eines Glühwürmchens – wenn es zur rechten Zeit den Weg weist.

Diese Glühwürmchen sind Momente der Selbsterkenntnis. Sie erscheinen blitzartig, verweilen kaum länger als eine Millisekunde – und reichen doch, um ein inneres Leuchtfeuer zu entzünden. Ein Gedanke entsteht, der Zeit hat zu wachsen. Und mit ihm wächst die Fähigkeit, sich selbst im Spiegel der Erkenntnis zu betrachten.

Ein Bild formt sich – aus Puzzleteilen, Erinnerungen, Einsichten. Am Ende steht kein lautes Erwachen. Nur ein stilles Verstehen – und das Verschwinden eines Schattens, der zu lange die Optik verzerrt hat. Zurück bleibt Klarheit. Und vielleicht ein kleines Glühwürmchen, das glücklich lächelt.

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25113




Le vrai amour³

Eins

Kurz vor Weihnachten überquerte ich in der Stadt eine Ampelkreuzung. Zwischen den teuren Geländeautos stand ein alter japanischer Kleinwagen. Das Fahrzeug war sehr gepflegt und hatte keine Beule. Am Kennzeichen sah ich, dass es den weiten Weg aus Bukarest zurückgelegt hatte.
Als ich einen Blick durch die Windschutzscheibe erhaschte, sah ich ein Ehepaar, einen Mann am Fahrersitz und eine Frau am Beifahrersitz. Beide waren gut gekleidet, die Frau trug einen Hut und einen eleganten Mantel.
Wie armselig kamen mir danach die großen SUV vor.

Zwei

In einer Radiosendung rief eine Frau zum Thema „Unangenehme Erlebnisse“ an. Sie erzählte selbstbewusst, dass sie bei einem Spaziergang mit ihrem Mann Durchfall bekam. Sie sah eine Sporthalle, zu der sie ging. Als sie eintreten wollte, bemerkte sie, dass die Tür abgeschlossen war. Da sie nicht wollte, dass es in die Hose geht, setzte sie sich an die Hauswand. Als der Radiomoderator einwarf: „Hatten Sie keine Angst, das Ihrem Mann zu erzählen? Hat er geschimpft?“, entgegnete sie: „Ach was, ich habe einen sehr lieben Mann. Er gab mir einen Kuss und scherzte, ich hätte auch ein Gen von einem Hund.“

Drei

Die Klassenbeste bekam in einer Lateinschularbeit in der Oberstufe einmal „Ungenügend“. Mich verwunderte das sehr und ich fühlte mich – wenn ich ehrlich sein darf – auch etwas erleichtert. Ein paar Tage später erzählte sie davon, wie ihre Eltern reagiert hatten. Ich wusste, dass es an meiner Schule gute Schüler gab, die schon bei einer Eins minus in Tränen ausbrachen. Die Reaktion der Eltern war folgende: Der Vater der Schülerin holte eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank und die Familie stieß an. Dabei sagte er: „Wenn meine Tochter einmal ein Ungenügend hat, muss das gefeiert werden.“

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 25112