„Alles vergebens!“, brüllt der Wirrer in die Stille der Nacht. „Es hat keinen Sinn mehr! Ich bin eine Null, ein Nichts, ein Niemand! Ich mache Schluss! Jetzt! Sofort! Ende! Finito!“
Anne und Jan, beide soeben im Begriff einzuschlafen, schrecken hoch und lauschen dem verzweifelten Monolog ihres Wohnungsnachbarn. Anne knipst das Licht an und flüstert: „Sollen wir die Rettung rufen? Nicht, dass der Ernst macht mit einem Suizi – …“
„Ich kann nicht mehr! Ich will nicht mehr!“, schreit der Wirrer nebenan.
Jan steht auf und schlüpft in seine Hose. „Ich klopfe mal bei ihm an.“
„Aber es ist doch schon nach Mitternacht“, sagt Anne, doch Jan geht kommentarlos aus der Wohnung.
„Und? Was war? Hat er dir geöffnet?“, fragt sie gespannt, als er sich kurze Zeit später wieder ins Bett legt und das Licht ausschaltet.
„Ja, einen Türspalt. Als ich ihm erklärte, dass wir uns Sorgen um ihn machen, hat er irgendetwas von einer höchst komplizierten Arbeit gestottert, die ihm seit Monaten den Schlaf raubt und über die er sich vorhin leider lautstark geärgert hat. Er lässt sich bei dir entschuldigen, hat nicht geahnt, dass die Mauern im Haus so dünnwandig sind.“
„Der Wirrer und Arbeit?!“, schüttelt Anne, hellwach und aufrecht im Dunkeln in ihrem Bett sitzend, den Kopf. „Nie im Leben – der arbeitet doch nichts! Ich frage mich echt, wie er sich die teure Miete leisten kann. – Oder hast du ihn jemals in den drei Monaten, seit er hier wohnt, untertags außer Haus gehen sehen? Aber stell dir vor, was mir die Fuchs vom dritten Stock erzählt hat. Als sie gestern gegen vier Uhr früh mit ihrem inkontinenten Hund rausmusste, ist draußen der Wirrer an ihr vorbeigehastet und hat laut Schimpfwörter und Zahlen vor sich hingebrabbelt. Die Fuchs hat er nicht mal registriert. Also mit dem stimmt etwas ganz und gar nicht.“
Jan gähnt. „Er ist halt ein Eigenbrötler. Einer von vielen. Nicht unser Problem, Anne.“
„Aber er könnte ein Problem für uns werden, Jan!“, gerät Anne in Fahrt. „Hör zu: Die alte Kozmann vom ersten Stock hat mitgekriegt, dass er sich täglich Essen liefern lässt. Das ist doch nicht normal! Der Wirrer ist sicher noch keine fünfzig und nicht bettlägerig. Auch der Pecker vom Erdgeschoß findet ihn äußerst dubios. Er hat ihn einige Male gesehen, als er unten seine Post aus dem Briefkasten holte. Immer machte der Wirrer einen sehr ungepflegten und äußerst nervösen Eindruck, hat er gesagt. Weißt du, was die Kozmann, der Pecker und ich vermuten? – Dass der Wirrer direkt von der Psychiatrie ausgerechnet in unser Haus eingezogen ist. Wir sollten etwas unternehmen, bevor etwas Schlimmes passiert. Was meinst du, Jan?“
Jan schnarcht leise.
Drei Tage später, als Anne mit Einkäufen bepackt das Haus betritt, kommt ihr der Wirrer entgegen, und Anne fällt vor Überraschung eine Tasche aus der Hand. Der Wirrer trägt nämlich einen eleganten hellen Anzug und eine Krawatte. Er ist rasiert, und sogar sein strubbliges Haar wirkt geordneter als sonst.
„Guten Tag“, nickt er freundlich, als er, lässig an ihr vorbeigehend, das Haus verlässt, und diesmal ist Anne diejenige, die nicht grüßt, so perplex ist sie von der Wirrer-Verwandlung.
Die Hausmeisterin, Frau Sauer, wäscht gerade schnaufend die Stufen des Stiegenhauses.
„Frau Sauer, sagen Sie, haben Sie soeben den Herrn Wirrer gesehen?“, fragt Anne.
Die Hausmeisterin wischt sich den Schweiß von der Stirn und verdreht vielsagend die Augen.
„Und ob! Er war ja auch nicht zu übersehen, unser feiner Herr Wirrer!“ Und Anne und die Hausmeisterin schütteln zuerst synchron ihre Köpfe, bevor sie sie aufgeregt flüsternd zueinander neigen.
„Die Sauer und ich vermuten eine massive Persönlichkeitsstörung“, überfällt Anne Jan, als sie ihm abends die Wohnungstür öffnet.
„Wer ist die Sauer? Und wer die massive Persönlichkeitsstörung?“, seufzt Jan müde. „Lass mich doch bitte erst mal reinkommen.“
Und während Anne die verblüffende Metamorphose ihres Nachbarn schildert, lässt sich Jan aufs Sofa fallen, schenkt sich ein großzügiges Glas Wein ein und schaltet den Fernseher ein.
„Die Sauer, du und ich – wir drei werden morgen den Wirrer aufsuchen und ein ernstes Wort mit ihm reden. Weißt du, ich fühle mich nicht mehr sicher, seit er neben uns – “
„Das gibt’s doch nicht! Schau, Anne, das ist doch –“
Jan zeigt auf den Bildschirm. Anne schaut hin und traut ihren Augen nicht. Da sitzt doch tatsächlich der Wirrer vis-à-vis von Max Redeweis, einem der bekanntesten Moderatoren des Landes. Mittendrin in einem Live-Interview. Max Redeweis gratuliert soeben ehrfürchtig Herrn Dr. Dr. Georg Wirrer dazu, den Code eines mathematischen Rätsels, an welchem renommierte Experten jahrelang gescheitert sind, geknackt zu haben. Auf die Bitte des Moderators hin erläutert der Wirrer seinen Code-Knack-Prozess, wobei Anne und Jan schon zu Beginn geistig aussteigen müssen. Als Max Redeweis danach den Wirrer diskret über sein Privatleben befragt, erzählt der Wirrer, dass er geschieden und vor wenigen Monaten umgezogen sei. Und dann schaut und spricht er plötzlich Anne und Jan direkt aus dem Fernseher an:
„Falls meine Nachbarn mich jetzt zufällig sehen, möchte ich mich in aller Form für mein unmögliches Verhalten entschuldigen. Wenn ich einem mathematischen Problem auf der Spur bin, befinde ich mich wie im Rausch, bin kaum ansprechbar. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich in dieser Zeit richtiggehend verwahrlose, die Nacht zum Tag mache, laute Selbstgespräche führe, und tja, im Eifer des Gefechts auch schimpfe und fluche. Darum kann ich mir lebhaft vorstellen, was völlig zu Recht über mich getratscht worden ist.“
Annes Handy läutet. Hektisch schaltet sie auf Lautsprecher. Die aufgeregte, sich überschlagende Stimme der Frau Sauer erschallt:
„Haben S’ auch den Wirrer im Fernsehen gesehen? Ich sage Ihnen, kein Wort glaube ich dem! Ein Dr. Dr. soll der sein?! Ha! Auf seinem Türschild steht nur G. Wirrer. Ein Hochstapler ist der! Ich fühle mich verpflichtet, das sofort dem ORF zu melden. Was meinen Sie?!“
Claudia Dvoracek-Iby
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