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Die Seele des Reisens

ist eine tiefe
unergründliche Sehnsucht
einschließlich des nie
endenden Verlangens
das Bild einzufrieren
an dem du vorübergehst

Frank Joussen

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 25196




Kinder aus Sternenstaub

hinabschauend auf die Lichternester
die unsere Städte sind
enthüllt der Satellitenblick
wir sind eine Rasse von vielen
aber es gibt auch viel Dunkelheit

im „Outback“ stehend
zwischen einem Meteoritenkrater
und dem Kings Canyon
lehren uns das Kreuz des Südens
und all seine funkelnden Freunde
wie unbedeutend wir
Kinder aus Sternenstaub sind

Frank Joussen

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25193




Das Lächeln des Delfins

um dein Lächeln zu verstehen
junge Holikin
Tochter von Holifin
muss ich den Riesenrochen kennen
und den Hieb seines Schwanzes
der direkt ins Herz trifft
wie das Messer
das den Abschiedsbrief
meiner Geliebten öffnet

auch muss ich die Haie
hier in der Bucht
von Monkey Mia sehen
und die Narben die sie
auf den Flossen deiner Mutter
hinterlassen haben
Tapferkeitsmedaillen
die sie nie wollte
für die ihr nicht
töten würdet
die euch aber
unterscheiden
von allen anderen

Frank Joussen

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25194




Eine Gestalt aus dem Schatten

nach einem kurzen Regenguss
musste die Außenluft
doch etwas kühler sein
erschöpft verließ ich das Krankenzimmer
um die gute Nacht zu begrüßen

auf das Dach des Nachbarhauses
stieg bedächtig eine mumienhaft
aussehende Gestalt
einen Schal über den Kopf gestülpt
in eine fadenscheinige Decke gehüllt
trat sie zögernd aus dem Schatten

oben auf der Treppe angelangt
wurde sie meiner Anwesenheit
auf dem Balkon gegenüber gewahr
sie lächelte mir zu und
warf mit einer einzigen Bewegung
Schal und Decke ab
sich als der Nachbarsjunge
von vielleicht acht neun Jahren entpuppend

ab da beachtete
er mich nicht weiter
sondern nahm graziös wie Gandhi
in Erwartung nächtlicher Kühle
im Lotussitz Platz
auf der Dachterrasse
seines Elternhauses
im südindischen Chennai
welches seine Großeltern
noch als Madras kannten

Frank Joussen

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 25184




Eine andere Perspektive

eure Namen konnte ich mir nie merken
eure Gesichter werde ich nie vergessen
als ihr mit uns lachtet
und im Staub tanztet
ihr jungen Straßenkinder aus Madras

ihr lächeltet in unsere Gesichter
nanntet sie weiß wie Schnee und wunderschön
wir konnten nichts erwidern
konnten euch nicht sagen welchen Sinn
unser Besuch in eurem Slum hatte

Nicole erzählte sie wolle Lehrerin werden
vielleicht dachtet ihr sie werde zurückkommen
auf jeden Fall hieltet ihr sie lange fest
als wir wieder weg wollten
zurück in unsere Welt

völlig erledigt sind wir wieder im Hostel
auf Diät wegen der Hitze Indiens
während ihr die geschenkten Schulbücher
liegen lasst um zurückzukehren
auf die Straße

Frank Joussen

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25183




Fiesole

wen wundert’s
dass hier oben
jemand ans Fliegen glaubte
oder dass eine Gruppe
schöner gebildeter Menschen
sich fantastische
lustige und erotische
Geschichten erzählen konnte
nachdem sie dem Tod im Tal
entronnen waren

wer hier oben aufwuchs
glaubt womöglich wirklich
dass der Mensch ein kultiviertes Wesen
werden kann
wenn man so hinunterblickt
auf das Arnotal und Florenz

doch was würden die Straßenkinder
die afrikanischen Händler
die Flüchtlinge dazu sagen
sollen wir noch einen Garten
mit schönen Menschen suchen
oder zu den Armen rund um
den Ponte Vecchio zurückkehren

Frank Joussen

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 25137




Ein Leben im Turm

San Gimignano
E.M. Forsters Monteriano
den Ort gibt es wirklich
wo viktorianische Damen
sich in italienische Zahnärzte verlieben
wo zur Mittagszeit Musik
durch die Steine fließt
wo du in die Hölle blicken kannst
mitten in einer Kirche
wo Levkojen blühen
für die Schönheit einer Heiligen

aber wie war eurer Leben
Bewohner von San Gimignano
als ihr ungestört vom Tourismus lebtet
boten euch die Türme Sicherheit
machten sie euch engstirnig
ließen sie euch glauben
ihr wäret in einem Babylon der Toskana
oder hörtet ihr auf
eure Nachbarn zu bekriegen
brachtet ihr Schinken
Wein und Gesang
auf eurem Marktplatz dar
ließet ihr eure Türme
einfach hinter euch

Frank Joussen

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 25137




Vom Lesen und vom Sterben

„Ich kann das nicht lesen.“ Roberts kleiner Zeigefinger tippte vorwurfsvoll auf die handschriftliche Widmung auf der ersten Seite seiner wunderschön illustrierten Ausgabe von „Grimms Märchen“. Seit er zwei Jahre zuvor in die Grundschule gekommen war, ging er immer davon aus, dass er alles Geschriebene auch lesen konnte. Aber wer kann das schon?

„Du hast Recht“, sagte ich, „das ist auf eine alte, schwierig zu lesende Art geschrieben. Es lautet: Für Robertchen, mit Liebe – deine Oma Gertrude.“

„Ich kann mich nicht an sie erinnern! Wie sah sie aus?“

„Sie hatte ein sehr altes, gütiges Gesicht. Lange Haare, die hinten in einem Knoten zusammengehalten wurden – aber zwei oder drei kleine Strähnen wollten sich einfach nicht bändigen lassen und fielen ihr immer ins Gesicht.“

„Okay. Und wann hat sie mir dieses Buch geschenkt?“

„Ja, weißt du, das war eins meiner Lieblingsbücher, als ich so alt war wie du, und sie hat mir immer daraus vorgelesen. Sie war eine super Vorleserin!“

„Warum kann sie dann nicht kommen und mir etwas vorlesen? Du hast immer so wenig Zeit!“

„Schau mal, sie ist gestorben, als du erst zwei Jahre alt warst. Deshalb kannst du dich auch nicht mehr an sie erinnern. Aber sie hat dich sehr liebgehabt.“

„Was ist denn passiert? Wo war sie, als sie …?“

„Sie hat früher immer bei uns gewohnt, in dem großen Zimmer oben, das jetzt Mamas Arbeitszimmer ist. Aber als sie zu schwach geworden war, ging sie in ein Heim für alte Menschen. Da ist sie gestorben.“

Der kleine Robert fing an zu weinen. Ich weiß bis heute nicht, ob er vor der schwarzen Wand des Todes zurückgeschreckt war, die er niemals zuvor gesehen hatte, oder ob er schon dazu in der Lage war, eine Vorstellung von Altenheimen mit ihrer Einsamkeit zu entwickeln. Vielleicht hatte er von beidem eine ungefähre Ahnung bekommen. Oder kam in ihm eine nebulöse Erinnerung auf – vielleicht durch unvorsichtig gemachte Bemerkungen in der Vergangenheit – von dem Tag, an dem sie allein starb?

Wir waren bei ihr im Heim gewesen. Es war Karneval in Deutschland. Alle waren wir für den Rosenmontagszug verkleidet – Robertchen in seinem weißen Clownskostüm mit einem winzigen roten Punkt auf seiner Nase –, als sie uns anriefen. Meine Frau und ich fuhren schnell zum Heim, es war nicht weit. Wir luden Robertchen und seinen Buggy aus dem Auto und hasteten in das Zimmer, in dem sie seit dem Tod meines Großvaters allein wohnte. Sie hatte Fieber, war aber geistig ganz klar. Sobald Robertchen auf dem Arm meiner Frau in den Raum kam, fixierte sie ihn.

„Robertchen, Robertchen, komm her zu deiner Urgroßoma!“

Robert konnte mit seinen kleinen Armen nicht bis zu ihr hin reichen, deshalb musste ich ihm den Teddy in den Arm legen, den sie ihm unbedingt hatte geben wollen.

„Frau Schmitz macht diese schönen Teddys. Wisst ihr, die alte Dame, die dement ist und immer ihre Unterwäsche über ihren Kleidern anzieht. Sie ist eine gute, alte Seele. Ich hatte diesen hier schon vor Monaten bestellt, und jetzt ist er fertig!“

Der Teddy war groß und weich, und Robert fing sofort an, ihn ein bisschen auf und ab zu schütteln; dann untersuchte er sein Gesicht. Meine Oma schien erleichtert. Dann erzählte sie uns von der bösen Erkältung, die sie nicht loswerden konnte, und meinte, dieser Winter käme ihr endlos vor. Sie fragte auch nach unseren Aktivitäten zu Karneval, aber dann wurde sie wieder aufgeregt.

„Es ist schon spät, oder? Ist es nicht längst Zeit für Robertchens Mittagsschläfchen?“

Wir versuchten abzuwiegeln, sie zu beruhigen. Aber etwas in ihrer Stimme hatte Robert verunsichert, und er fing an zu greinen. Das passte gar nicht zu ihm, aber die ganze Atmosphäre in dem halbdunklen Zimmer mit dem Krankenhausgeruch und den gedämpften Stimmen kam ihm wohl nicht ganz geheuer vor.

„Ja, du hast Recht. Weißt du, was wir machen? – Wir fahren schnell nach Hause und kommen wieder, sobald er seinen Mittagsschlaf gehalten hat.“

Aber Robert verhielt sich weiterhin unnormal. Erst aß er viel langsamer als sonst und spuckte die Hälfte des Essens sofort wieder aus. Dann wollte und wollte er nicht einschlafen. Ich erzählte ihm irgendeine blöde Geschichte oder sang ihm ein dummes Gute-Nacht-Lied vor; ich erinnere mich nicht mehr so genau. Endlich schlief er ein – und wachte lange Zeit nicht mehr auf.

Stunden später – Robert hatten wir inzwischen zur Nachbarin gebracht – gingen meine Frau und ich den gleichen düsteren Flur bis zu ihrer Tür. Sie stand offen. Die Nonnen knieten auf dem blankgescheuerten Linoleum, und Omas ehemalige Verkäuferin, die ich noch nie leiden gemocht hatte, sagte: „Sie ist tot.“

„Weißt du, wenn deine Urgroßoma mir etwas vorlas, war das immer wie Urlaub. Oder wie ein schöner Sommertag – angefüllt mit dem Geruch vom frischem Heu, dem Summen von Bienen, dem Geschmack von Erdbeeren. Ein endloser, wunderschöner Urlaubstag.“

Ich überflog das Inhaltsverzeichnis mit all seinen lustigen und grimmigen Geschichten.

„Und wenn sie zu Ende gelesen hatte, habe ich mich immer nur an den Anfang der Geschichte erinnert, niemals an das Ende.“

Robert war während meiner Reminiszenzen seltsam still geworden. Dann nahm er behutsam meine Hand von der Inschrift und deutete mit meinem Zeigefinger auf das kleine Bild zu „Schneewittchen“.

„Okay, Papa. Es ist okay. Wollen wir jetzt lesen?“

Frank Joussen
aus „Kleinkrieg und Frieden„, hrsg. von Frank Joußen/D.C. Hubbard

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 25109

 




Die Wohlgerüche deines Gartens

(in Erinnerung an meinen Großvater Johann Franzen)

Der Geruch nach Schuhcreme
an allen deinen Fingern
weicht nach und nach
den Wohlgerüchen deines
gut gehüteten Gartens,
während du tiefer und tiefer
in die geliebte Erde
deines Zuhauses eintauchst
mit deinen schwieligen Händen,
die aussehen wie Leder.

Pflanzen, Beschneiden, Jäten
in deinem riesigen Nutzgarten
bereitete dir immer
das größte Vergnügen
nach einem langen Arbeitstag,
an dem du Schuhe machtest
für jedermann, sogar mich,
und die Gartenarbeit ließ
ein Frühlingslied erblühen
auf deinen spröden Lippen,
das deinen Frohsinn
bis zu Haus und Hof trug.

Frank Joussen

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25084