Herzblut

Es war still geworden auf dem Herzplaneten. Gefährlich still. Nicht wohltuend still oder erlösend still. Auch nicht nachdenklich still, nein, vielmehr mutete es an, eine Stille vor dem Sturm zu sein, eine beunruhigende, herzzerreißende Stille. In der die Luft vor Anspannung knisterte, in der Kehle brannte, wenn man sie atmete, und das Herz nicht mehr sättigte, die Lebewesen nicht mehr füllte. Nicht mehr erfüllte, nicht mehr stillte.

Vielleicht war es ein Wechsel der Gezeiten, ein neuer Anfang, vielleicht aber auch das Ende von allem. Ein plötzlicher Herztod. Denn der Planet pulsierte nicht mehr, und das war schlimm, weil sein rhythmisches Schlagen nicht nur die blutrote Erde belebte, nährte und alles, was auf ihm existierte, miteinander verband, sondern auch für das gesamte Universum, dessen Zentrum er bildete, eine unverzichtbare Konstante war.

Durch das Weltall schallte sein Pochen, unverkennbar gleichmäßig und ungefähr sechzig bis siebzig Mal pro Minute. Es ordnete, stabilisierte, verband und versicherte, war die Basis für alles Leben und Wachsen im All, gab Zuversicht und die Sicherheit, dass alles gut war, so, wie es war.

Die Ausmaße der Stille waren verheerend, und deshalb konnte das Universum froh sein, dass es einen kleinen Funken Hoffnung gab, wenn der Wind sich noch drehte und die vorhergesagten Eisstürme ausblieben. Denn die Komplexität der sich eingestellten Veränderung hatte die Wettervorhersage massiv erschwert, in weiten Teilen des Herzplaneten sogar unmöglich gemacht, und man tat gut daran, sich nicht mehr auf sie zu verlassen.

So kam es, dass sich ein paar wenige, weise Urbewohner, Coresianer genannt, die sich die Demut vor dem Leben bewahrt und noch nicht verlernt hatten, auf den eigenen Herzschlag zu hören, zusammenschlossen, um etwas zu tun. Sie besaßen genug Mut und Lebendigkeit im Herzen, um aufzubegehren, weil sie einer Minderheit angehörten, die dem derzeit vorherrschenden, radikalen Trend, sich einen eisernen Herzpanzer zuzulegen, nicht unüberlegt folgten. Vielleicht hatten sie aber auch einfach nur das große Glück, dass ihr Herz noch nicht so oft gebrochen war. Und damit auch nicht ihr unerschütterlicher Glaube an das Gute.

Ihr Blick nach außen war offen und ungetrübt, was an ihrer frei beweglichen Herzspitze lag, die dafür sorgte, dass ihre Gedanken im Fluss blieben und sich nicht in starre Muster verirrten. Und weil sie regelmäßig ihren Herzmuskel trainierten, waren ihre beiden Herzhälften im Gleichgewicht. So blieben sie frei von Hass, hörten noch das Zwitschern der Vögel und standen im Licht der Sonne, die sie jeden Tag aufs Neue mit Herzenswärme betankte.

Natürlich waren sie sich der großen Gefahr bewusst, in die sie sich begaben, denn in den weit geöffneten Herzen, mit denen sie sich aufmachten, floss ihr Herzblut in einem tiefen, samtigen Rot. In einem Rot, so wie man es nur selten sah. Ein Rot, das sich nur zeigte, wenn man auf dem Zenit seiner Kraft stand. Wenn das Herz lauter war als der Kopf und man bereit war, sein Herzblut ungehindert fließen zu lassen. Dann, und nur dann, konnte das Undenkbare möglich werden. Weil man berührbar war und ungehaltene Freude ebenso tief empfunden wurde wie herzzerstörerische Verletzung.

„Genau das sollte unser Ziel sein“, sprach der Älteste in der Runde, einer der wenigen, die noch das Herz auf der Zunge trugen, „alle Coresianer sollten sich wieder im Herzen berühren lassen, um ihrer ureigenen Stimme zu folgen! Damit hätten wir schon viel erreicht.“

„Das ist wohl wahr“, stimmte ein anderer eifrig zu, einer, der ganz Herz geworden war, dem man die tiefe Berührbarkeit unmittelbar ansah, denn eine Vielzahl von Spuren und Abdrücken zierten seine Gestalt, ebenso wie klaffende Wunden und schmerzhafte Risse. „Genauso wichtig wäre es jedoch, wenn es ein Geben und Nehmen wäre, wenn man sich zum Ziel setzte, auch andere mit guten Gedanken, Worten und Taten zu berühren, sich zu verbinden und wieder verbindlicher zu werden.“

Was er sagte, fand großen Anklang. Einige nickten zustimmend, andere ließen ihre Herzen laut bis zum Hals klopfen, so begeistert waren sie.

Da meldete sich ein tränendes Herz zu Wort. „Dafür braucht man viel Mut“, gab es andächtig zu bedenken, während es aus allen Poren tropfte, denn sein Tränenfluss war unstillbar, „das wissen wir, die berührbar geblieben sind, am allerbesten.“

Und die anderen Coresianer senkten betreten den Blick, weil sie wussten, wie schwer es ist, Mut im Herzen aufzubringen.

Einer, der sein Herz in der Hand trug, nahm das tränende Herz in den Arm, streichelte es zärtlich und flüsterte ihm herzbewegende Worte ins Ohr, die es stärkten und aufrichteten, sodass seine Tränen nur noch in feinen Rinnsalen an ihm herabrannen.

Ein anderer, der sein Herz am rechten Fleck trug, gesellte sich dazu, um sein Mitgefühl kundzutun. Er konnte sich nicht verstellen, denn seine Augen verrieten stets, was in seinem Herzen vorging, deshalb tat er sich mit mutigen Worten leicht. „Wie oft ist es schon gebrochen?“, fragte er das tränende Herz, während er den schützenden Herzbeutel sanft massierte.

„Ich weiß es nicht mehr, unzählige Male“, antwortete es traurig. „Bisher ist es jedes Mal wieder zusammengewachsen, nur der letzte Riss, der will partout nicht heilen. Vielleicht ist es sogar so, dass ein Herz nicht unendlich oft brechen kann, dass es irgendwann zu Staub zerfällt und nicht mehr zu retten ist.“

Plötzlich machte sich Herzangst in ihm breit. Spitze Messer stachen auf es ein, sodass es immer schneller schlug, zu rasen begann, stolperte und bei jedem Stich hechelnd nach Luft rang.

„Was ist passiert?“, fragte der mit dem Herzen am rechten Fleck ruhig, ohne seine sprechenden Augen von ihm zu lösen. Dabei fühlte er sich so tief in das tränende Herz ein, dass sie sich anzogen wie Magneten und eins zu werden schienen.

Das tränende Herz ließ sich besänftigen, während es sich mit ihm verband, um seine ureigene Geschichte zu erzählen.

„Die Zeit wird ihr Übriges tun“, prophezeite der mit dem Herzen am rechten Fleck, nachdem er sie angehört hatte, und löste sich langsam wieder aus ihm heraus, um sich nicht zu verlieren, denn der Kummer saß tief in den Kammern. Dann fuhr er mit den Händen sanft über jede Bruchstelle, betropfte sie mit ein wenig Herzblut, verband sie mit Trost und hauchte ihm Zuversicht ein.

Die Szene war so anrührend, dass für einen Moment niemand sprach, noch wagte zu atmen, so schlossen sie lautlos ihre Augen, da sie ihr Mitgefühl fließen ließen und auf den eigenen Herzschlag hörten, der sich mit den anderen in einem stärkenden Rhythmus verband, sodass das Unfassbare geschah und der jüngste Bruch des tränenden Herzens ausheilte.

„Das ist es!“, erkannte in diesem Moment ein lachendes Herz, das schon viele Herzensbrecher in die Flucht geschlagen hatte, und es hüpfte vor Freude, wobei es Glücksfunken versprühte, „es ist nicht die Zeit, sondern die Liebe, die alle Wunden heilt!“

Daraufhin machte es eine bedeutsame Pause und wiederholte dann mit erhabener Stimme: „Die Liebe! Die Liebe muss wieder fließen!“, wonach er seine Worte mit dem samtigen Blutrot, das in ihm pulsierte, unterstrich, weil sie zu Herzen gehen sollten.

„Wie soll das gehen?“, raunten die anderen und blickten einander verdutzt in die fragenden Augen. Dann spannten sie ihren Herzmuskel an, so fest es nur ging, wobei sie versuchten, den einen oder anderen Glücksfunken zu erhaschen, bis sich endlich die Euphorie auf sie übertrug, ihr Herzblut zum Kochen brachte, sodass es gegen ihre Wände spritzte und sie einstimmig riefen: „Du sprichst uns aus dem Herzen!“

Dann wurde es still. Erwartungsvoll still. Nicht leblos still oder bedrückend still. Auch nicht geheimnisvoll still, nein, vielmehr mutete es an, eine Stille vor dem Aufbruch zu sein, eine explosive, dicht gedrängte Stille, in der ein jeder mit herzerwärmenden Gedanken jonglierte, die der Anfang jener Taten waren, die eine verheißungsvolle, alles Leben rettende Wende einläuten sollten.

Jetzt trat das lachende Herz vor die anderen. Weil es ein Dutzend Kinder hatte, gab es immer einen Grund, heiter zu sein, deshalb schimmerte seine Herzhaut, gut durchblutet, in einem satten Burgunderrot, und der austrainierte Herzmuskel ließ es über sich selbst und die anderen hinauswachsen. Dieser innere Reichtum zog auch ein materielles Wachsen nach sich, weil es viel Geld sparte, wenn es auf teure Lachyogakurse verzichten konnte.

„Die Sache ist ganz einfach“, sprach es mit basstiefer, sonorer Stimme, die es einem ganz warm ums Herz werden ließ, dabei hörte es nicht auf, Funken zu sprühen, denn sein Herzfeuer loderte auf heißer Flamme, weil es für seine Worte brannte. „Unser Planet pulsiert nicht mehr, weil wir, seine Bewohner, aus dem eigenen Rhythmus gekommen, fremdgesteuert sind“, erklärte es und unterstrich das Gesagte mit einem schwungvollen Kreisen seiner Herzspitze.

Das Publikum nickte ehrfürchtig, während es sich bei jedem Schwung duckte, um sich mit den Köpfen in Sicherheit zu bringen.

„Wenn wir nicht mehr die Stimme unseres Herzens hören, können wir ihr auch nicht folgen, geraten aus dem Gleichgewicht und hören nur noch das, was unser Handy sagt, auf das wir ununterbrochen starren. Dabei laufen wir Gefahr, alles, was um uns herum passiert, aus den Augen zu verlieren“, führte es seine eindrucksvolle Rede fort.

Ein weiches Herz, das immer im Schatten der anderen stand, weil es ansonsten zu zerfließen drohte, meldete sich zu Wort: „Das stimmt!“, bestätigte es mit viel Gefühl in der Stimme, dabei atmete es unentwegt kühle Luft auf die eigene Haut, „auf unserem Planeten ist es auch deshalb so still geworden, weil wir uns nicht mehr in die Augen sehen, um ein Lächeln zu verschenken oder miteinander zu reden!“

Nun machte sich eine Unruhe unter den Zuhörern breit. Manche hielt es nicht mehr am Boden, weil ihr Herz in Flammen stand, und sie schossen wie spitze, brennende Pfeile in die Luft, denn das, was auf dem Planeten passierte, ging einem jeden tief zu Herzen.

„Die Luft um uns herum ist kalt geworden, nicht nur, weil sich Eisstürme angekündigt haben, sondern vor allem, weil die Worte fehlen, die sie warm und weich machen“, wusste ein erlöstes Herz zu berichten, das erst vor kurzem nach jahrelanger Therapie seinen eisernen Herzpanzer abstoßen hatte können.

„Richtig!“, stimmte das weiche Herz zu, „einige sind verstummt, weil sie nur noch auf das Handy starren, andere, weil man ihnen die Worte aus dem Mund genommen hat.“

Es hatte sich schon viel mit dem Thema beschäftigt, weil es vor langer Zeit selbst einmal die Sprache verloren hatte. „Weiterhin gebe ich zu bedenken, dass die Herzgewalt, aber auch die Herzenskälte in den letzten Jahren drastisch zugenommen hat. Es wäre fatal, wenn die Herzlosen und die mit einem Herz aus Stein auf unserem Planeten langsam überhandnehmen“, mahnte es an, während es beim nächsten Herzschlag erschöpft in sich zusammensackte, weil die eigene Betroffenheit zu herzerweichend war und es ihm schwerfiel, seine Form zu bewahren.

„Dazu wird es nicht kommen, wenn wir unsere Rettungsaktion noch heute starten!“, gab das lachende Herz energisch den Ton an, während es vor Ungeduld hüpfte, denn die Zeit drängte.

Der mit dem Herzen am rechten Fleck kümmerte sich um das weiche Herz, schüttelte es auf wie ein Federkissen und bestrich seine dünne Haut mit einer stabilisierenden Paste, die es fester und unerschrockener machte, sodass es wieder beherzt für sich selbst und das gemeinsame Ziel, den Herzplaneten zu retten, einstehen konnte.

„Ich würde vorschlagen, wir bilden zwei Gruppen“, sagte das lachende Herz, das sich immer mehr als Leitherz hervortat, weil sein augenscheinlicher Frohsinn als leuchtender Funkenregen Euphorie in die Herzen säte und sein Strahlen sich wie wärmende Hände bis ins Weltall erstreckte. „Gruppe eins sollte etwas bergerfahren sein, denn sie wandert über das rechte Kammerfelsgebirge und die Herzfeldsteppe ins rechte Atrium. Dort befindet sich der Sinusknoten, das autonome Erregungszentrum unseres Planeten.“

Während es noch sprach, formierte sich eine Gruppe entschlossener Herzwesen, die sich dieser Aufgabe gewachsen fühlten, von Herzen bereit, den Weg durch die steinigen Kammerfelsen anzutreten.

Das lachende Herz beobachtete die Bewegung mit zufriedener Miene und ließ ein wenig von seinem Glück über die äußere Herzhaut auf die Gruppe schwappen, während es sich, bevor sie ihre weite Reise antraten, mit abschließenden Worten an sie wandte: „Unser Planet funktioniert nur noch im Notaggregat, er schlägt noch, doch der Puffer ist bald aufgebraucht. Kurz bevor ihr am Sinusknoten ankommt, gelangt ihr im rechten Atrium, ganz in der Nähe der Herzhaut hinter dem dritten Herzfeld, an die Quelle des Flusses, der uns Coresianer mit Liebe versorgt. Sie scheint verstopft zu sein, ihr müsst sie freischaufeln und das Flussbett von schadhaften Ablagerungen befreien. Wenn ihr das geschafft habt und die Liebe wieder tiefrot fließt, könnt ihr das Notaggregat im Sinusknoten abschalten, und unser Planet wird sich erholen.“

Voller Tatendrang und im sicheren Wissen, dass ihre Herzen im gleichen Takt schlugen, machte sich die Gruppe auf den Weg, während das lachende Herz bereits fröhlich auf die noch verbliebenen Herzwesen zusprang, um sie mit blutroter Farbe zu besprühen, die sie noch beherzter und lebendiger werden ließ, und alle trainierten noch einmal ihren Herzmuskel, denn man ahnte, dass die bevorstehende Aufgabe nicht einfach sein würde. Einer, dem dabei das Herz in die Hose rutschte, weil ihm die Verantwortung plötzlich zu groß wurde, wollte sich klammheimlich davonstehlen, doch dann hielt er inne, besann sich eines Besseren und nahm sein Herz in die Hand, während er sich wieder unbemerkt zu den anderen gesellte.

Nur ein sehendes Herz hatte den Fluchtversuch beobachtet, schmunzelte verschmitzt in sich hinein, verriet aber nichts, da sprach auch schon das Leitherz zu ihnen, aus tiefer Brust: „Ihr solltet nicht nur bergerfahren, sondern sogar sicher im alpinen Klettern sein“, dabei wanderten seine nur ausnahmsweise ernsten Augen bedächtig von einem zum anderen.

„Euer Weg führt euch durch das linke Kammerfelsgebirge, dessen Durchquerung weitaus gefährlicher ist als die des rechten, weil euch unvorhersehbare, wulstige Muskelvorsprünge überraschen und herausfordern können. Auch treiben sich hier vermehrt Herzensbrecher, die ihren eigenen Herzschmerz als Waffe benutzen, und verwilderte Herzlose herum, weil die Gegend so einsam ist. Seid also vorsichtig!“, warnte es sie, und sein forschender Blick bohrte sich direkt in ihre Herzen, doch hier wohnte so viel Mut, dass sie problemlos standhielten.

„Wenn ihr das Gebirge hinter euch gelassen habt, kommt ihr zur Quelle des Planetenhauptflusses, der das Universum mit Liebe betankt. Am Flussbett setzen feine, stabil gebaute Klappen an, die normalerweise den Rückfluss der Liebe verhindern und eine lebenserhaltende Versorgung des Universums garantieren. Ihre Funktion scheint eingeschränkt zu sein, ihr müsst alles daransetzen, sie zu reparieren, damit die Liebe wieder ungehindert fließt und das Universum gerettet ist.“

Gesagt, getan. Die Rettungsaktion verlief erfolgreich und ging als Meilenstein in die Geschichte ein. Noch heute, da die Zeitzeugen langsam aussterben, hängen die Jungen mit staunenden Augen an den Lippen der Alten, wenn die davon erzählen. Auch in den Schulen wird davon berichtet, in Büchern kann man es nachlesen, und man erschuf große Denkmäler, die als Mahnmale dafür sorgen, dass das, was damals geschah, niemals in Vergessenheit gerät, denn nur so kann man dafür Sorge tragen, dass sich auch in Zukunft der Wind wieder dreht und bedrohliche Eisstürme ausbleiben.

Somit ist es unmöglich geworden, die Fehler, die damals fast zum Untergang des Universums geführt hätten, zu wiederholen. Man richtet seinen Blick nicht mehr auf das Handy, sondern hoch zur Sonne, sodass die Herzen wieder wärmer sind und ihre eisigen Herzpanzer nach und nach abstoßen. Es tanzen wieder mehr Worte durch die Luft, die sie weicher werden lässt, weil man miteinander spricht und einander zuhört. Man hat wieder mehr Zeit für die, die einem am Herzen liegen, verschenkt hier und da ein Lächeln und teilt großzügig Herzlichkeiten aus. Ist berührbar und berührt andere. Und weil ein jeder wieder seinen eigenen Herzschlag fühlt, kann er sich auch in andere einfühlen, ihnen verzeihen und beherzter für sich und andere einstehen.

Und manchmal ist es ganz still auf dem Herzplaneten. Angenehm still und anrührend still. Es mutet an, eine Stille voller Glück und Leichtigkeit zu sein. Eine Stille vor dem größten Fest, das das Universum jedes Jahr dankbar zu feiern hat, einem Urknall gleich. Weil es weiterexistieren durfte. Und ein jeder ist bis in die Tiefen seines Herzens berührt, wenn er ausgelassen und fröhlich seinen schönsten Tanz tanzen darf.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 25201




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Schüttler 2025

Ihre Schüttler sind herzlich willkommen: redaktion@verdichtet.at

Woche 49: Wunschvorstellung
Er träumt von der Ex sehnlich,
intensiv und sexähnlich.
(Christoph Kempter und Carmen Rosina)

Woche 48: Straßenbaufehler
Wenn ich hier beim Planen patz’,
wird daraus ein Pannenplatz.
(Carmen Rosina)

Woche 47: Zum Schreiben seiner Songs
nahm Bob Dylan
top Pillen.
(Christoph Kempter)

Woche 46: Zwei Tüftler am Werk, letzterer abgeklärt
„Ich glaub fast, du hast es bald!“
„Wenn es passt, dann passt es halt.“
(Carmen Rosina)

Woche 45: Das Magermodel beim Fotoshooting
Ich seh den Bauchlosen
mit Lauch posen.
(Christoph Kempter)

Woche 44: Folgenschwere Verkostung
Nach dem letzten Probeessen
muss den Bund ich obepressen.
(Carmen Rosina)

Woche 43: Der lyrische Handwerker im Selbstgespräch
Während noch das Dach er maß,
sprach er leis: „Nun mach er das.“
(Carmen Rosina)

Woche 42: Dakar
Ich war in der Hauptstadt,
wo es viel g’staubt hat.
(Christoph Kempter)

Woche 41: Das Video setzte sich nicht durch
Es gewann der virale
Rivale.
(Christoph Kempter)

Woche 40: Ausrede des Gourmetkaters
Dass ich nach den Meisen angel,
liegt allein am Eisenmangel.
(Christoph Kempter)

Woche 39: Spot on
Wart, bis ich die Lampen richt,
dann stehst du schön im Rampenlicht.
(Christoph Kempter)

Woche 38: Mafiöse Analyse
Er sagt dem Paten: „Das is
unsere Datenbasis.“
(Christoph Kempter)

Woche 37: Hitzige Debatte
Der Ton wurde da rau,
es grenzte an Radau.
(Carmen Rosina)

Woche 36: Kulinarisch versiert
Der Kater sagt im Sheba-Laden,
es könne niemals Leber schaden.
(Christoph Kempter)

Woche 35: Genug gebaggert
Wenn ich mich jetzt ins Beisl hau,
wird’s nichts mit dem Häuslbau.
(Christoph Kempter)

Woche 34: Engländer in der Konditorei
Öffnet eure Schnalle, Briten!
Dort vorne gibt es pralle Schnitten.
(Christoph Kempter)

Woche 33: Urlaub in Kanada
Der Holzfäller fragt die Touristen, ob sie über wilde Bären
eh im Bilde wären.
(Christoph Kempter)

Woche 32: Zu viele Nacktschnecken …
Es kam der Tag, als die Laufenten
sich auflehnten.
(Carmen Rosina)

Woche 31: Nachtaktiver Kater
Treibt’s der Mutz bunter,
dann bin ich putzmunter.
(Christoph Kempter)

Woche 30: Der Vollkornbäcker zum Koch
Schmeiß a Korn
in Kaiserschmorn!
(Christoph Kempter)

Woche 29: Cooler Feuchttücherdiebstahl
Ich hab mich mit dem Wisch erfrischt,
dabei wurd ich frisch erwischt.
(Christoph Kempter)

Woche 28: Abflug
Die Fliegen, die am Floß liegen,
könnten schon mal losfliegen.
(Christoph Kempter)

Woche 27: Falscher Verdacht
Schmuggel hat der Zoll erwogen,
doch dafür ist sie zu wohlerzogen.
(Christoph Kempter)

Woche 26: Essen im Grünen
Nur im Garten leuchtet Dill greller
als am Grillteller.
(Christoph Kempter)

Woche 25: Bayrischer Segler
Es kunnt des Meer ned rauer sei,
des is a echte Sauerei!
(Christoph Kempter)

Woche 24: Untalentierter Koch
Es schmeckte auch die Pasta mies,
das Essen war kein Masterpiece.
(Christoph Kempter)

Woche 23: Seemannsfrust
Wie der heute spinnt, der Kiel!
Das Steuern ist kein Kinderspiel.
(Christoph Kempter)

Woche 22: Unleistbare USA
Erspar mir doch den Zollfight:
Ich arbeit eh schon Vollzeit!
(Christoph Kempter)

Woche 21: Truthennen im Rampenlicht
Was für jede Pute gilt:
Auf Insta zählt das gute Bild.
(Christoph Kempter)

Woche 20: Liebe geht durch den Magen
Isst du beim Date von Tinder Quiche,
sitzt bald wer am Kindertisch.
(Christoph Kempter)

Woche 19: Eltern beim Einkauf, gedankenverloren
Vergessen sie den Pizzakäs,
sind daheim die Kids a bes.
(Christoph Kempter)

Woche 18: Jäger auf Abwegen, mit dem Mofa unterwegs in die Wachau
Anstatt zur Pirsch glühte
er zur Kirschblüte.
(Christoph Kempter)

Woche 17: Der Inseljunggeselle
Toni ist der Eilandfreier
und brät am Strand die Freilandeier.
(Christoph Kempter)

Woche 16: Er schnupperte am Spinat
Das waren seine gesunden
Sekunden.
(Christoph Kempter)

Woche 15: Die Politikerin
Sie war eine ehrliche Haut
und bugsierte sich ins herrliche Out.
(Christoph Kempter)

Woche 14: Märzenswunsch
Es kündigt an der Frost der Iden
hoffentlich den Osterfrieden.
(Christoph Kempter)

Woche 13: Kirchenflohmarkt
Lass uns schnell zum Küster laufen
und dort einen Lüster kaufen!
(Carmen Rosina)

Woche 12: Der Eiszapfen erwacht
Wenn ich schon beim Gähnen tau,
wird’s Frühling bald im Tennengau.
(Christoph Kempter)

Woche 11: Lehrerin in der Baumschule
„Was ist los?
Ast, lies wos!“
(Christoph Kempter)

Woche 10: 0,0 Promille
Wenn i mit meim Roller kum,
trinke ich kein Cola-Rum.
(Christoph Kempter)

Woche 9: Müde Fische sind …
schwimmarm
im Schwarm.
(Carmen Rosina)

Woche 8: Urlaubsgedanken
„Und was hat dein Tag gebracht?“
„Ich hab nur an Prag gedacht.“
(Christoph Kempter)

Woche 7: Gravity
Astronauten verzichten auf irdisches Schwere-Leben,
indem sie in der Leere schweben.
(Christoph Kempter)

Woche 6: Bettruhe
Ich sing heut ein paar Wiegenlieder.
Schau, die Kinder liegen wieder.
(Christoph Kempter)

Woche 5: Speckmadentrauma
Wenn ich mich durch die Quiche fräse,
treff ich nur auf Frischkäse.
(Christoph Kempter)

Woche 4: Mittelalterlicher Jahrmarkt
Sie lesen aus dem Handteller
und wollen für den Tand Heller!
(Carmen Rosina)

Woche 3: Arme Vegetarier
Zum Essen wird es Äste geben.
Für die Gäste eben.
(Christoph Kempter)

Woche 2: Daneben
Ich werd’ den armen Stockschützen
Dann bei seinem Schock stützen.
(Christoph Kempter)

Woche 1: Halluzinogen
Wow, sind diese Schnösel breit!
Sie glauben, dass es Brösel schneit.
(Carmen Rosina)




Ecce Homo

Ach Gott, es bleibt für immer sichtbar,
grässlich sieht das manchmal aus.
Und es ist durch nichts vernichtbar,
schon gar nicht durch: Radier das aus!

Verdeckt das Ding den Leberfleck,
erschwert es bloß die Diagnose.
Durch Beten geht es auch nicht weg
und tarnt sich frech als Dermatose.

Es bleibt, auch wenn du es nicht willst,
auf ewig an dir kleben.
Auch wenn du es mit Feuer grillst,
es ist deins, so wie das Leben.

In Mode ist der alte Brauch,
von Grönland bis zum Feuerland.
Auf Arm und Kopf, bis hin zum Bauch.
auf Fuß, und Rücken und der Hand.

Klassisch oft, als Herz und Adler,
mal ist ein Anker mit dabei.
Ein Segelschiff, nicht aber Paddler,
symbolisiert den Traum von frei.

Mutig stach sich einst der Ritter,
zum Schutz ein Kreuz tief in sein Fell.
Und dacht’, im Morgenland wär’s bitter,
stürbe man dort und käm in d’Höll.

Was aber ficht die Jungen heut’,
sich derart zu malträtieren?
Tattoos, und Piercings, is’das g’scheit,
damit den Body auffrisieren?

Der eine sieht als Kunstwerk sich,
der and’re tut’s aus Mode.
Als Ausdruck, schaut, das bin ja ich!
Oder spirituell? Aus Angst vorm Tode?

Der Seemann hat es und der Rocker,
der Punk und auch die Punkerin.
Das alles reißt mich nicht vom Hocker,
weil ich dageg’n allergisch bin.

Auch aus Protest, das wäre möglich.
Als Ausdruck gegen das Normierte.
Doch manches zeigt sich oftmals kläglich,
was schlecht geplant, nur wohl passierte.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 25197




Die kleine Stadt an der Moldau

Eines Tages las ich von der früheren jüdischen Gemeinde in dem kleinen Ort Rosenberg – tschechisch Rožmberk –, der idyllisch an der Moldau liegt, überragt von der Burg. Bald darauf fuhr ich mit dem Auto hin. Ich nahm Elsbeth mit, die auch daran interessiert war, den Ort und den kleinen jüdischen Friedhof kennen­zulernen. Sie ist eine zarte Frau, die den Eindruck erweckt, als wäre sie aus Papier oder einem anderen Leicht­stoff und als könnte sie schon ein sanfter Hauch davonschweben lassen. Wenn es darauf an­kommt, kann sie allerdings ziemlich hartnäckig, fast widerspenstig sein. Dann schmollt sie lange.

Hat man die Eichenalleen an der Moldau erreicht, wird die Fahrt nach Ro­senberg romantisch, wie über­haupt die Fahrt bis Krumau. Smetana klingt im Ohr, und die Wellen der Moldau scheinen sich nach seiner Leitmelodie und deren Rhythmus zu bewegen. Die an­gesichts des kleinen Ortes große Burg Rosenberg übt eine fast autoritäre Dominanz aus. Der Ort selbst scheint ausgestorben und menschenleer bis auf Autos, die nach Krumau weiter­fahren, und Radfahrer, die seit dem Fall des Eisernen Vorhangs vor allem aus Österreich und Deutsch­land in ihren Taucheranzü­gen ähnelnden Bekleidungen über die Straßen fe­gen. Sonst sieht man dort nur we­nige Menschen, Einheimische scheinen sich kaum blicken zu las­sen, sie bleiben in ihren Häu­sern und kleinen Gärten. Und in der Moldau bewegen sich die Paddelboote, Rafter und Ka­jakfahrer.

Der Friedhof liegt links neben der Straße in Richtung Krumau, etwas nach Ro­senberg, und er fällt, wenn man ohne Kenntnis vorbeifährt, gewiss niemandem auf. Oberhalb des Friedhofs konnte ich parken, und ich wunderte mich, dass dort ein Auto stand, hatte ich doch Elsbeth und mich für die einzigen interessierten Besucher gehalten. Wir konn­ten von oben auf den Friedhof schauen und sahen einen Mann, korpulent und nicht sehr groß, mit einer Kappe oder einer Schirmmütze, keiner Kippa – aber vielleicht diente sie als Kippaersatz –, eine alte Frau und zwei Kinder, auf die der Friedhof of­fensicht­lich keinen Eindruck als Ort des Innehaltens oder der Besinnung machte. Sie lie­fen herum und spielten Fangen. Der Mann mahnte sie mehrmals laut zur Ruhe, seine Sprache ver­stand ich nicht, erkannte aber, dass es weder Deutsch noch Englisch war.

Elsbeth und ich betraten den Friedhof und waren gleich bei der Gruppe, so klein ist das Gelände, vielleicht dreißig mal dreißig Meter, nicht viel mehr. Wir kamen ins Gespräch, der Mann sprach eng­lisch mit uns. Wir stellten uns vor. Er heiße Charlie Kalech, sagte der Mann, und die Frau an seiner Seite sei seine Mutter, die seit einigen Jahren in Kalifornien lebe, ursprünglich aber aus dieser Gegend komme. Charlie setzte fort, er lebe mit seiner Familie in Israel, und die beiden Kin­der, die keine Ruhe gäben, seien seine Söhne. Die beiden sprächen Hebrä­isch, das heutige Alltagshebräisch oder Neu­heb­räisch, das man in Israel spreche, Ivrit heiße es.

Jetzt war mir klar, warum mir die Wörter, die ich bei unserer Annäherung gehört hatte, fremd gewesen waren. In der Schule lernten seine Söhne Englisch, sagte Charlie. Viel­leicht lasse er sie Deutsch lernen, die Sprache ihrer Großmutter, seiner Mutter. Was ihn hier­her führe, fragte ich ihn. Das Grab, vor dem er stehe, sagte Charlie Kalech, trage den Na­men Holzbauer, und so habe seine Mutter mit ihrem Mädchennamen geheißen. Ihre und somit seine Vorfahren seien hier begraben. Mir war der Name Holzbauer, der einen kaum an einen jüdischen Zusammenhang denken ließ und an mehreren Grabsteinen zu lesen war, gleich aufge­fallen, zumal einige mit mir befreundete Leute die­sen Namen tragen, ohne jüdi­scher Her­kunft zu sein, zu­mindest nicht meines Wissens. Seine Mutter, setzte Charlie fort, sei zur Zeit des Ein­marsches der deutschen Wehrmacht in die Tschechoslowakei ein Mädchen von etwa zehn Jah­ren gewesen. Sie stamme aus Oberhaid, dem tschechischen Horní Dvořiště, und habe mit ihrer Familie flüchten müssen, besser gesagt, sie hätten gerade noch flüchten können. Sie landete schließlich in New Jersey, arbeitete als Haushaltshilfe, lernte ihren Mann kennen, den sie bald heiratete.

Die alte Frau, die einen sehr rüstigen Eindruck machte, sprach – falls sie Charlie zu Wort kommen ließ – noch ungebrochen Deutsch mit uns, sie sprach ein paar Brocken des deutschen Dialekts, den vielleicht einige sehr alte Leute Südböhmens noch heute beherrschen und mit dem es wohl die eine oder andere Überschneidung im nördlichen Mühlviertel gibt, kaum mit Ak­zent. Über ein paar ihrer Wendungen, an die sie sich erinnerte, lachten wir, zum Großteil aber spra­chen wir englisch, damit Charlie folgen konnte. Einmal im Jahr, meist im Sommer, komme sie hierher in die Gegend ihrer Herkunft, sagte Charlies Mutter, immer mit ihrem Sohn, sie besuche den Friedhof, wo ihre Vorfahren liegen, und ihren Geburtsort Oberhaid, den sie habe verlassen müssen. Diesmal hätten sie ihre Enkel mitgenommen, deren Inter­esse an der Historie, nicht nur an der genealogischen, mit Si­cherheit noch erwa­chen werde, wenn sie erwachsen und erst recht, wenn sie älter seien. Char­lie hinge­gen habe immer – schon in den Vereinigten Staaten, später in Israel – großes Interesse an der Familiengeschichte und an der Geschichte dieser Gegend gezeigt. Ihr Mann, Charlies Vater, sei vor einigen Jahren gestorben. So habe sie die Grausamkeit der Ge­schichte in die Vereinigten Staaten versetzt und ei­ner Welt entrissen, die sie, wären die Zeiten ruhig verlaufen, wohl kaum verlassen hätte.

Charlie sei in New Jer­sey zur Schule ge­gangen, habe in New York studiert, dann habe er ein zionisti­sches Bewusstsein entwi­ckelt. Nein, das habe er schon früher gehabt, aber nach dem Studium habe er es umge­setzt und sei nach Israel gegangen, wo er in Jerusalem eine Inter­netfirma aufgebaut habe, etwas, wovon sie gar nichts verstehe. Dazu sei sie zu alt. Charlie sei ein gemachter Mann, man könne sagen, er sei reich, sagte die Mutter. Nach dem Tod ihres Mannes sei sie von New Jersey nach Kalifornien gezogen, wegen des milderen Klimas.

Die Kinder hielten mit dem Herumlaufen inne, unser Kommen hatte ihre Neugier geweckt und sie hatten sich zu uns gesellt, vielleicht konnten sie einige Wörter der Unterhaltung in englischer Sprache verstehen. Charlie fragte mich, warum wir den kleinen jüdischen Friedhof besuchten. Elsbeth schwieg, nicht so sehr wegen ihrer Schüchternheit, sondern weil sie kaum englisch sprechen konnte und gesprochenes Englisch nicht verstand.

Ich setzte Charlie die Gründe unseres Interesses auseinander, etwa meines an der Geschichte der Familie und der Firma Spitz, die – in Linz gegründet – zu einem weltweit bekannten Unternehmen für Getränke und Lebensmittel geworden war. Und die Geschehnisse im Nationalsozialismus bedürften immer noch einer Aufarbeitung, da es kaum eine Region gebe, die nicht kontaminiert sei. Dieses Interesse, das ich mit Elsbeth teile, habe mich einer verschwundenen, einer ausgelöschten Welt nahegebracht. Dabei stoße man, wenn man sich im regionalen Bereich bewege, unweiger­lich auf Rosenberg, auf den kleinen Friedhof und Reste ei­nes älteren im Ort, den ich noch nicht kenne.

Charlie fragte mich, ob ich ihm Informationen zum Judentum in Südböhmen und Linz zukommen lassen könne. Er gab mir eine Visitenkarte mit seiner E-Mail-Adresse. Die Visitenkarte bestätigte, dass Charlie ein Unternehmen für Internet-Services in Israel hatte, in Jeru­salem genauer gesagt. Später recherchierte ich im Inter­net und fand den Auftritt von Charlies Firma.

Charlies Söhne hatten ihre Neugier an den fremden Personen längst gestillt, Charlie oder seine Mutter mussten sie wieder regelmäßig ermahnen, sich der Würde des Ortes gemäß zu betragen. Das hatte kurze Zeit Erfolg, dann liefen sie wieder lär­mend umher. Schließlich verabschiedeten wir uns, und ich versicherte Charlie, ihm Informationen zu schicken.

Ich fuhr mit Elsbeth nach Rosenberg zurück. Wir spazierten in dem kleinen Ort, der von der Burg und der Straße nach Krumau dominiert wird und verlassen und trist wirkte. Nur selten ließ sich ein Auto sehen, auch die Radfahrer hielten sich zurück. Parallel zur Straße nach Krumau, aber höher gelegen, verlief eine Gasse, der entlang früher ein kleiner jüdi­scher Bereich lag, und in einem Garten erkannte man einige Relikte jüdischer Gräber. Als wir auf den zentralen Platz zurückkehrten, sahen wir in einiger Entfernung Charlie Kalech, wie er sich, sprachlich unterstützt von seiner Mutter, mit jemandem an der Haustür unterhielt. Die Mutter konnte neben Deutsch wahrscheinlich noch ein paar Brocken Tschechisch, wahrscheinlich genug, um die Kommunikation ihres Sohnes mit den Einheimischen zu unterstützen.

Einige Tage nach meiner Rückkehr schickte ich Charlie via E-Mail mehrere Hinweise und Dokumente und wies ihn auf einen Historiker der Universität Linz hin, Michael John, der sich unter anderem mit jüdischer Geschichte befasste, etwa mit Enteignungen, Arisierungen und Restitutionsfragen. Charlie antwortete mir, einige Ge­schäftsleute, die er kenne und die ihre Wurzeln in Rosenberg und der weiteren Umge­bung hätten, wollten der Geschichte des Dorfes intensiver nachgehen, im Besonderen der jüdischen. Eine Veröffentlichung sei geplant. Erfahren habe ich darüber nichts, aber vielleicht kommt noch etwas, falls Charlie Zeit dafür findet und nicht vergisst. Wenn ich zu lange warten muss, erinnere ich ihn.

Günther Androsch

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 25198




Die Seele des Reisens

ist eine tiefe
unergründliche Sehnsucht
einschließlich des nie
endenden Verlangens
das Bild einzufrieren
an dem du vorübergehst

Frank Joussen

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 25196




Das Verschwinden der schönen Rose

 

1480 – 1990
Ein Verbrechen zwischen Neuzeit und Jahrtausendwende

Es fing recht banal an: Giorgione Faltrelli di Montemarche erwachte ungewohnt schweißgebadet und setzte sich mit einem Ruck auf, so dass der Baldachin über seinem Kopf erzitterte und das Holzgestell seiner Schlafstätte unversehens ächzte. Der Weg vom Liegen zum Sitzen war nicht weit gewesen, die damals üblichen Polsterberge hatten ihn ohnedies in Steillage schlafen lassen. Ihm hatte von grauen, moosüberwachsenen Ruinen geträumt, die sich im zähem, mahlendem Zeitstrom den schroffen Felsformationen der Gebirgszüge des Monte Falterona angeglichen hatten. Dieses Gebirgsmassiv bot seiner Stammburg Rückendeckung, welche sich zwischen dem Berg und dem Casentiner Tal befand und von durchaus dichten Kastanienwäldern umringt war. Bestürzt erkannte er in den Ruinen die Überreste seines ehemals praktisch unzerstörbaren Heims, welches schon gut seit Generationen Angriffen, Erdbeben und Unwettern getrotzt hatte. Auf einer Felserhebung, an die sich vereinzelt ein paar zähe Büsche klammerten, hatte sich bis zu jenem fatalen Traum sein Bergfried schier unverwüstlich aufgetürmt!

Giorgione, Sohn des ehrenwerten Conte Nicolo Faltrelli, war eben der Jugend entwachsen (die in seiner Epoche bloß eineinhalb Jahrzehnte währte), ein hübscher kräftiger junger Mann mit rötlich braunen, sauber geschnittenen Haaren. Der heftige Traum jedoch hatte zur Folge gehabt, dass sein Haupthaar mehr einem von Hagel verwüstetem Feld als dem akkuraten Pagenkopf eines toskanischen Edelmannes seiner Zeit, des ausgehenden Quattrocento, glich.

Jenseits des Rundbogenfensters seines Schlafgemaches dämmerte es und die Vögel zwitscherten um die Wette den Frühlingshimmel an. Als es an der kräftig gemaserten Nussholztür klopfte, strich er sein wadenlanges weißes Leinenhemd vorsorglich glatt. Als angehender Ritter, allerdings einer der letzten seiner Art, befolgte er die ihm gebotenen Anstandsregeln, sich keine Blößen zu geben.

Seine in die Jahre gekommene Amme, deren Rundungen die beinahe verflossenen drei Lebensjahrzehnte besonders aus ihrem Mondgesicht plätteten, betrat schlurfend, in einem sauberen, steifen, selbstzufrieden knisternden braunen Kittel mit einer Kanne und einem Becher in der Hand das Schlafgemach des jungen Adeligen.

„Guten Morgen mein Herr“, schnarrte sie, „Eure kuhwarme Milch. Vergesst mir nicht, wie Euer Herr Vater aufgetragen, euch ansehnlich herzurichten.“ Dann kicherte sie verschämt. „Seine Durchlaucht Ivo di Selvascuro ist mit seinem Töchterchen eingetroffen. Ein properes Ding. Hihi!“ Sie zog ihre rundlichen Schultern hoch und erglühte unter ihrer Dienstbotenhaube.

Giorgione räusperte sich, was wie eine ungeschmierte Wagendeichsel klang, und winkte schlaff ab. „Schon gut, schon gut.“

Die Amme verstand und machte sich im Rückwärtsgang fort.

„Cara Mamma Cibo, es langweilt mich“, murmelte er der Verschwundenen nach. Was er wohl mit der dreizehnjährigen kleinen Selvascuro anfangen solle? Wahrscheinlich könne sie leidlich sticken, etwas lesen und schreiben, aber: Mit dieser unbekannten Lebensform zu kommunizieren, und dass er so ein fragiles Wesen auf seine geliebten Jagden mitnehmen könne, konnte er sich nicht vorstellen.

Natürlich war der Besuch aus dem Piemont mehr als ein Anstandsbesuch. Er war zum Zwecke der Begutachtung, nein, der Bekanntmachung der Tochter des Hauses als Heiratskandidatin. Da beide Familien befreundet waren und man sonst keine Grafschaft mit Eheschließungsbedarf berücksichtigen musste, war wohl die kleine Bellarosa fix für Giorgione vorgesehen.

Giorgiones Mutter mit dem schönen Namen Viola war geradezu aus dem Häuschen gewesen, dass ihr Sohn sich mit den durchaus vermögenden Selvascuros verbinden sollte. Immerhin war Bellarosas Mutter Sofia ihre Kusine, welche eigentlich aus bäuerlichen Verhältnissen aus dem Val Pellice stammte, allerdings war dort die Landbevölkerung seit Jahrhunderten sowohl mächtig als auch finanzkräftig gewesen und hatte es sogar zur Herrschaft über eine eigene Bauernrepublik gebracht.

Auf der Apenninenhalbinsel war es gerade en vogue, sich Güter und bestenfalls sogar Stadtherrschaften per Verschwägerung einzuverleiben.

Als sich der junge Ehekandidat im Rittersaal einfand, erwarteten ihn seine Eltern an der langen dunklen Eichentafel ungewöhnlich würdevoll, jedoch vom aufsteigenden Geruch aus den Rüstkammern, einer Mischung aus Ammoniak und Schweinefett, umweht. Wenigstens wussten sie die prächtigen Plattenpanzer berühmter toskanischer Machart zu Ehren von Bellarosas Papa, einem Condottiere, mit abgestandenem Urin und Sand geputzt und mit Fett eingelassen und aufpoliert. Geeichte Jungneuzeit-Nasen störte sowas wenig. Die Vögelchen aus Zypern, wie man das beliebteste Parfum der Städter nannte, hatten hier keine Einflugschneise genommen und wurden auch gar nicht vermisst. Sie wären ohnedies vom Rußgeruch, welcher zwei Eisenkandelaber und einen Kronleuchter umwehte, gefressen worden.

Giorgiones Vater war wie immer recht einfach und geradezu farblos gekleidet, allerdings mit einer schweren Silberkette behangen und an den Händen prächtigst beringt, seine Mutter hatte eine ausladende Tracht aus Samt und Seide angelegt, was er ziemlich übertrieben fand. Der Sohn hatte sich an seinen Vater gehalten und sich nach einer raschen Waschung in ein braunes Wams mit engen Beinkleidern geworfen.

Conte Nicolo mochte den Repräsentationsdrang seiner Frau Viola bei derlei Treffen gerne missen, aber die Sitten der Zeit verlangten, dass man sich als Familie offiziellen Besuchern entsprechend adjustiert präsentierte, selbst wenn sie zur Verwandtschaft zählten.

Die bereits von den Reisestrapazen erholten und entsprechend restaurierten Gäste konnten beim Eintreffen durchaus beeindrucken. An der anderen Seite der Tafel ließ sich der düster gewandete Ivo auf dem Ehrenplatz, einem dunklen, reichlich verzierten Eichenstuhl, mit seiner ganzen Gewichtigkeit nieder. Neben seinen ausladenden schwarzen Puffärmeln ging ein kleines, recht lebendiges Püppchen, seine Tochter mit rundlichem Gesichtchen, rosa Wangen und unter einer weißen Mädchenhaube herausquellenden kastanienfarbenen Haarzöpfen beinahe unter, obwohl ihre Zofe sie in ein leuchtend grünes Kleidchen aus Samt und Zendal aus Lucca gesteckt hatte. Die doch eher beschwerliche Reise, die auch durch dichte und nicht ungefährliche Wälder führte, hatte Mama Sofia di Selvascuro vermieden, zumal sie ihre Residenz, das Castel Solelonghi in der Nähe von Asti, persönlich in Schuss halten hatte wollen.

Man sah der Kleinen an, dass sie sich Besseres gewusst hätte, als eine lange beschwerliche Reise zu Pferd anzutreten, um als Verschwägerungspfand feil gehalten zu werden. Ihre braunen Knopfaugen blickten starr geradeaus. Ihren potenziellen Verlobten würdigte sie keines Blickes.

Alle saßen etwas steif an der Tafel. Das schwache Licht, das durch die nicht verhangene obere Fensteröffnung fiel, trug nichts zur Aufheiterung dieser Szene bei. Der Austausch der Höflichkeiten begann entsprechend steif: „Welch eine Freude, Euch so wohlbehalten anzutreffen. Wir hätten es uns nicht verziehen, wenn wir nicht trotz des jugendlichen Alters unserer Kleinen den Weg gescheut hätten. Dass sich unsere Nachkommen recht bald kennenlernen, kann für später nicht schaden.“

„Dass Ihr solch eine zarte Knospe dieser Reise ausgesetzt habt, zeugt von Eurer Freundschaft zu uns“, antwortete der Gastgeber. Ganz geheuer war dem alten Faltrelli di Montemarche nicht dabei, denn derlei Stilblüten pflegte ihm seine Gattin einzuflüstern, die bei derartigen Anlässen das Reden dem Hausherrn zu überlassen hatte. Er drehte sich zu Giorgione. Der machte ein unbeteiligtes Gesicht.

Unter Cinquecento-Teenagern gab es keinen unbefangenen Umgang. Bis zur eigentlichen Hochzeit würde man zu beider Erleichterung noch zuwarten; verbindlich beschlossen war sie ja. Zu baldige Ehearrangements für Kindsvolk waren zwar im ausgehenden 15. Jahrhundert bereits verpönt, doch gewisse Ewiggestrige, und dazu zählten die Selvascuros, ignorierten, was gewinnbringenden Interessen im Weg stand.

Giorgione überließ gelangweilt seine Mimik der Schwerkraft und Bellarosa schien müde zu sein. Anders konnten ihre gesenkten Lider nicht gedeutet werden, war sie doch zu jung, um ihre Augen mit Arroganz zu beschatten.

Ein herrlicher, mit Kastanien garnierter Wildschweinbraten beendete den Austausch von Floskeln. Nicolo lauschte den nun wieder vernehmbaren Geräuschen von in der Festung ein und ausgehenden Menschen mit Genugtuung, klangen sie doch nach präsentabler Geschäftigkeit. Im Nu entspannten sich wirklich alle und langten heiter zu. Ivo mit ausladender Geste, Viola zwar mit spitzen, aber lustvoll bebenden Fingern, und Bellarosa schien Spaß zu haben, ihre Schwiegermutter in spe zu imitieren.

Der Gastgeber stellte einen Ausritt für den nächsten Tag in Aussicht, um seinen Besitz den Besuchern zu zeigen. Obstgärten und Felder sowie ein Forst wollten im Verlauf eines Halbtagesrittes präsentiert werden, Fasane oder gar ein Damwild waren fürs nächste Bankett mit eingeplant.

Der folgende Morgen hatte an diesem Maientag mit ungewöhnlich warmen Temperaturen aufgewartet. Der Hausherr stellte seinen Gästen die besten Reittiere zur Verfügung. Alle Vorzeichen schienen selbst für als abergläubisch geltende Toskaner hervorragend. Pflanzengrün und Blütenfarben leuchteten miteinander um die Wette. Amseln und Stare unterhielten sich angeregt und ließen sich auch nicht von der lebhaften Reitgesellschaft unterbrechen. Giorgione, Niccolo, Ivo und sogar Bellarosa ritten mit zwei Leuten Gefolge einen Pfad, der in den Felshang geschlagen worden war, hinab. In den Hufschlag der Reittiere mischte sich leises Rauschen vom nahen Bach und Klatschen von Holzpaddeln auf nasse Wäsche. Giorgione musste anerkennen, dass sich Bellarosa im Seitensitz prächtig auf ihrem Zelter hielt. Ein recht steiles Stück musste nun von den nickenden, tapsenden, aber selten stolpernden Rössern überwunden werden, doch bald verlief sich das Gestein in einer buckligen Grasfläche, die ihren Platz erfolgreich gegen Fels und Baum behauptet hatte.

Das Versprechen, einen beschaulichen Ritt genießen zu können, wurde jäh durchkreuzt, als ein unerwarteter Blitz zischend über den Himmel raste. Eben noch durch Baumkronen blitzendes Blau wich zusehends rasenden, finsteren Wolken. Die Reiter legten ihre Schenkel dichter an die Flanken ihrer Rösser und versicherten sich ihrer Zügel. Die Reittiere verdrehten Augen und Ohren, vergeblich nach der Gefahrenquelle und gleichzeitig nach einem Fluchtweg suchend. Die Luft roch fremd, süßlich und schwer, das Himmelsdunkel verdüsterte und erhellte sich zusehends im Stakkato.

Gastgeber Niccolo offerierte eine Jagdhütte in der Nähe. „Da finden wir Zuflucht.“ Ivo verriet mit keiner Miene, dass er trotz seiner Militärkarriere abergläubischer war als der furchtsamste Toskaner, atmete aber sichtbar auf. Giorgione blieb jugendlich lässig, während Bellarosas Köpfchen aufflammte. Ihre Miene zeigte nicht, ob sie sich erschreckt hatte. Schon zausten Windböen die Pferdemähnen und fuhren in die stoffreichen Wämser mit den gestopften Ärmeln. Haare standen ob der geladenen Luft zu Berge und das Reitkleid der Kleinen blähte sich so mächtig auf, dass ihr Vater sich sorgte, sie würde demnächst vom Pferd segeln. Dann donnerte es und darauf folgte der erste heftige Regenguss.

Der sonst so sanfte und etwas träge Zelter Bellarosas scheute, gegen sein phlegmatisches Naturell, äußerst heftig und ging durch. Giorgione riss seinen Rappen unverzüglich herum, dass Wasser aus Mähne und Schweif spritzte und folgte ihr Richtung Wald. Er galoppierte mit aller Kraft; einer der Männer vom Gefolge, der sich ihm an die Fersen geheftet hatte, um ihm beizustehen, kam nicht mehr nach und konnte nurmehr das Verhallen der feucht schmatzenden Galoppschläge auf dem Waldboden hören.

Giorgione, ein kühner, manchmal auch etwas übermütiger Reiter, holte die Fliehenden alsbald ein, bekam das schweißgebadete Pferd an den Zügeln zu fassen, die die Kleine schleifen hatte lassen, um sich an der Mähne festzuhalten.

Als sie sich umsahen, wussten beide nicht mehr, wo sie sich befanden. Sie mussten wohl im Kreis geritten sein, da das Gelände felsig anstieg, vermutete Giorgione. Immerhin fanden die Durchnässten unter einem Steinvorsprung Zuflucht.

Der Cavalliere wollte die Kleine zu sich ziehen, als sie sich dem Griff seiner Hand scheu entwand.

„Fräulein, habt Vertrauen.“

Das Mädchen riss die Augen auf und schüttelte den Kopf: „Die Masca stellt mir nach“, flüsterte sie. Giorgione überhörte zunächst den Namen, den er nicht kannte, war die Masca doch ein piemontesisches Zauberweib, das sich in allerlei Tiere verwandeln konnte. „Ich tu euch gewiss nichts anhaben. Eure Ehre ist die meine.“

„Hier können wir nicht bleiben“, drängte sie und schrie plötzlich laut auf: „Masca, Masca!“ Vor Giorgiones Nase schoss eine schwarze Krähe vorbei und verschwand im Gebüsch.

„Meint ihr etwa den Badalisco?“, fragte er nach. Der toskanische Basilisk trieb sich unten im Casentiner Tal herum, hier herauf würde er doch nicht finden. Immerhin, dieses Mischwesen aus Hahn und Schlange konnte mit seinen Blicken tödlich lähmen.

„Sagt Ihr so hier?“, murmelte sie, ihre schweren, nassen Kleider glattstreichend, während sie sich ruckartig umblickte.

„Ihr braucht schon einen triftigen Grund, warum wir uns dem Unbill des Wetters aussetzen sollen. Mir scheint, Ihr seid ein wenig eigensinnig.“

Bellarosa schwieg, während sich Starkregen über die Landschaft ergoss, unzählige Rinnsale von den Haarspitzen über Kleidung und Pferdeleiber dem Boden zustrebten und die Feuchtigkeit nun sogar begann, alles in Nebelschwaden einzuhüllen.

„Ich muss Euch wohl nötigen. Es ist zu eurem Besten.“

Er versuchte die Zügel, die er Bellarosa gelassen hatte, erneut zu ergreifen, sie aber machte mit dem massiven Ross einen Satz zur Seite und war im nächsten Moment von Gelände und Dunst verschlungen. Er jagte ihr sofort sein Pferd, das beinahe am glitschigen Stein ausglitt, nach. Doch nicht einmal das dampfende Fell ihres Reittieres war noch zu riechen.

Antonia H.

Auszug aus dem Roman „Das Verschwinden der schönen Rose. 1480–1990.
Ein Verbrechen zwischen Neuzeit und Jahrtausendwende“, der hoffentlich bald erscheinen wird.
Wir danken der Autorin für die Möglichkeit der Vorveröffentlichung
und reichen die Bestelldaten nach, wenn das Werk erschienen ist.

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 25195




Kinder aus Sternenstaub

hinabschauend auf die Lichternester
die unsere Städte sind
enthüllt der Satellitenblick
wir sind eine Rasse von vielen
aber es gibt auch viel Dunkelheit

im „Outback“ stehend
zwischen einem Meteoritenkrater
und dem Kings Canyon
lehren uns das Kreuz des Südens
und all seine funkelnden Freunde
wie unbedeutend wir
Kinder aus Sternenstaub sind

Frank Joussen

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25193




Der kleine Mann

Komme ich zurück in meine kleine Wohnung, sieht es dort so aus, wie ich sie verlassen habe. Ich wohne alleine, und niemand hat einen Schlüssel, so kann sich nie etwas in ihr verändert haben. Das Internet auf meinem Desktop-Computer bringt mir die digitale Welt nachhause, aber eben nur die digitale, nicht die echte.

Bin ich unterwegs und komme, was selten genug geschieht, mit einer netten Frau zum Plaudern, begleitet sie mich nicht, weil ich wenig anzubieten habe, kein Geld, keine Güter, kein gutes Aussehen, und ich bringe sie auch nicht zum Lachen. An mir ist nichts Interessantes. Ich bin ein kleiner Mann und führe ein kleines Leben.

Der Mann auf dem Ausleger des Krans auf der PORR-Baustelle in Krumpendorf am 1. Juni 2022
Der Mann auf dem Ausleger des Krans auf der PORR-Baustelle in Krumpendorf am 1. Juni 2022

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 25192