Für meine Eltern

Ihr seid der Stamm, aus dem meine Äste sprießen
und der Fluss, in dem meine Träume fließen,
habt mich unermüdlich mit Liebe betankt,
mein Herz geformt und mich mit Dornen umrankt,
um meine Blüten zu schützen, die auf knallbunten Blättern sitzen,
und ich sah euch unentwegt durch das Leben flitzen,
weil ihr sie mühevoll angemalt habt, mit satten Strichen und samtweichen Borsten
und in leuchtenden Tönen aus eurem unerschöpflichen Farbvorrat.

Eure Wärme hat sich unter meine Haut gelegt,
und euer Atem hat meine Seele reingefegt.
Ihr wart voller Verständnis, habt meine Schwächen gesehen,
doch mich nie kritisiert und stattdessen meine Stärken gemessen,
mich für alles gelobt, was ich kann, und eure Worte haben mein Herz bewegt.
Ihr habt mich mit Vertrauen gedüngt, immer an mich geglaubt,
für mich Edelsteine geraubt und nie vergessen, mir Halt zu geben,
so konnte ich mich an euch hochziehen, mit aller Kraft aufblühen und mein Leben leben.

Ihr seid die Wörtersammlung für die Geschichte, die mein Leben schreibt,
und schlagt den Rhythmus in meinem Lieblingslied,
seid die Insel, die in meinem Hafen treibt,
auf der ich ausruh’n kann, wenn mein Herz ins Strudeln geriet.
Formt meine Heimat, in der ich Wurzeln fühle, bedingungslose Liebe spüre
und Energie auflade. Für alle Zeit.

Mein ganzes Leben seid ihr wie selbstverständlich für mich da,
hämmert mir Stützpfeiler in den Rücken und baut mir Brücken
über tobende Flüsse, streut Zuversicht in meine Träume und macht mir jeden Tag klar,
wie wichtig es ist, für sich selbst einzustehen, den eigenen Weg zu gehen,
den ihr mit Bleistift vorgespurt habt. Und wenn ich mal abgeschweift bin,
kam es euch nie in den Sinn, mit mir zu hadern, habt mich immer noch gesehen,
wie ich bin, habt an meinem Wegesrand Bäume gepflanzt, die mir Schatten spenden,
in dem ich rasten kann, um mich nach innen zu wenden und nicht so viel Kraft zu verschwenden.

Ihr hieltet mich aus, wenn ich mich selbst nicht mehr ertrug,
seid mir in die Verzweiflung gefolgt, habt um mich gezittert,
die Gefahren gewittert, als ich eine falsche Richtung einschlug,
mir klammheimlich Antikörper in mein Blut injiziert, und ich habe lange nicht kapiert,
dass ihr immer mein Bestes wollt, und weiß, seitdem ich eigene Kinder hab,
was ihr da ausgehalten habt mit mir, danke euch von Herzen dafür
und stehe jeden Tag vor eurer Tür, um euch was zurückzugeben,
euch mit liebenden Worten zu verpflegen und von meinem Segen und dem Glanz in meinem Leben abzugeben.

Denn ihr seid die Wörtersammlung für die Geschichte, die mein Leben schreibt,
und schlagt den Rhythmus in meinem Lieblingslied,
seid die Insel, die in meinem Hafen treibt,
auf der ich ausruh’n kann, wenn mein Herz ins Strudeln geriet.
Formt meine Heimat, in der ich Wurzeln fühle, bedingungslose Liebe spüre
und Energie auflade. Für alle Zeit.

Nun seid ihr alt und mir wird bewusst, dass ich mich bald
von euch verabschieden muss, dass ihr vorausgeht in eine andere Welt,
und ich zurückbleibe, elternlos bin, versuche mit aller Gewalt
den Gedanken zu verjagen, ihn mir aus dem Kopf zu schlagen und will ihn um keinen Preis
zulassen, weil ich weiß, dass er der Anfang ist von dem, was ich fühle,
das als Ahnung schon mein ganzes Leben in mir ruht, wie eine drohende Flut,
die Angst, euch zu verlieren, ohne euch zu existieren, dass ohne euren Schutz
meine ganze Welt zusammenfällt, mein Mut und mein Vertrauen an den Klippen zerschellt.

Denn wenn ihr geht, dann ist das ein Wechsel der Gezeiten, und ich
werde eine Grenze überschreiten, eine Felsspalte überspringen müssen, in eine
andere Zeitzone ziehen. Mein Leben ist dann zweigeschnitten, und ich kann nicht wissen,
wie sie sich anfühlt, die Trauer, die meiner Liebe folgt, ahne Unabwägbarkeiten,
die mir Angst machen. Und ihr sagt, sie wird sich irgendwann geben, die Zeit
wird feine Fäden um sie weben, und ihr seid dann immer noch da, um über mich zu wachen,
meine Welt zu überdachen, mir ganz nah, das könne ich fühlen, jederzeit.
Doch ich habe schon jetzt die Sicherheit, dass der Schmerz in meinem Herz bleibt.

Denn ihr seid die Wörtersammlung für die Geschichte, die mein Leben schreibt,
und schlagt den Rhythmus in meinem Lieblingslied,
seid die Insel, die in meinem Hafen treibt,
auf der ich ausruh’n kann, wenn mein Herz ins Strudeln geriet.
Formt meine Heimat, in der ich Wurzeln fühle, bedingungslose Liebe spüre
und Energie auflade. Für alle Zeit.

Doch ich verspreche euch, nach vorne zu sehen, meinen Weg weiterzugehen,
den ihr im Tiefschnee gespurt habt, die Weichen, die ihr gestellt habt, nicht zu übersehen,
atme euren Lebenshauch und lasse eure Wörter in meinem Bauch fortklingen,
werde ein Lied daraus formen und für euch singen, in das der Wind mit einstimmt,
mit hoch zu den Wolken nimmt, werde eure Gedanken fortspinnen und in die Ewigkeit schicken,
auf eure Spuren im Sand blicken, sie freilegen, ausgießen und für immer haltbar machen,
mir damit Halt geben, mich jeden Tag an das Bild von euch besinnen.
Lass eure Werte in meinem Herzen weiterleben und fühle tiefe Dankbarkeit,
weil ihr meine Eltern seid.

Claudia Lüer

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Nur noch einen Augenblick

Nur noch einen Augenblick, bis deine Seele fliegt
und deinen Namen durch den Nachthimmel zieht,
wo er neongelb aufblinkt,
wenn der Mond sich noch schont
und vom Sonnenlicht trinkt,
bevor die Ewigkeit dann irgendwann
in seinem Schein Funken sprüht,
kunterbunt aufblüht
und dich stolz in ihren Armen wiegt,
weil sie das Leben besiegt.

Dann steht die Welt ganz kurz still,
pausiert in ihrem Drehen,
weil sie vor dir den Hut ziehen will
für deinen Mut,
das Leben zu überstehen.
Und jeder Stern am Firmament brennt
lichterloh, nur für dich.
Spricht Bände. Und ich erwärm mich
ein letztes Mal
an dem Lächeln in deinem Gesicht.

Claudia Lüer

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Ich sehe mich selbst

Ich sehe mich selbst.
Und ich bin weit entfernt von dem, der mich sieht,
der auch ich bin.

Die orange-weiße Höhle bei der U-3-Station Westbahnhof am 4. Dezember 2022

Die orange-weiße Höhle bei der U-3-Station Westbahnhof am 4. Dezember 2022

Johannes Tosin
(Text und Bild)

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Wenn das Herz bricht

Wie schon so oft, bricht wieder mir das Herz
obwohl ich dachte, dass ein neuer Schmerz –
und sei er noch so monströs – ihm nichts mehr machte,
dass es als Spezialist des Leids ihn beherzt verachte,
und durch Erfahrung gescheit aus seinem Bannkreis verlachte.
Ja, ich dachte wirklich, ich wär jetzt so weit.

War überzeugt, ich wär vor allem gefeit.
Wär taub, wenn mein Herz in aller Dringlichkeit
um Hilfe schreit, und legte mir vorsorglich
einen Schutzpanzer zu, der in aller Ruh genau dann,
wenn das Tor weit offen steht, tut, was er kann,
sodass mir ein Schmerz nicht mehr so tief zu Herzen geht.

Mir stellt sich die Frage, wie oft mein Herz
noch brechen kann und ob es nicht dann und wann
zu voll wird darin, ich des Leidens müde bin,
weil ich eh schon so viel Unrat in mir trag,
der mich, ganz ohne Wert, sinnlos beschwert, im Herzen gärt
und drückt bei jedem Schlag.

Der meine Freude, die vor Angst zittert, in die Ecke schiebt
und mein Herz innerlich knittert und deformiert,
sodass ich staune, weil es überhaupt noch so gut funktioniert.
Kommt da noch mehr? Ein Schmerz, der mich entliebt,
der so groß ist, dass es nie wieder Ruhe gibt,
an dem es zerbricht, weil es sonst sein Gesicht verliert?

Claudia Lüer

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Am Rand der Nacht

Am Rand der Nacht ist der Schlaf leicht.
Oder wachst du?, du weißt es nicht.
Du siehst den Mond durch das Fenster,
doch das kann auch im Traum geschehen.
Wie alt bist du?
Bist du deutlich jünger, dann schläfst du.

Du erhebst dich aus dem Bett und gehst umher.
Schlafwandeln oder das normale Leben?
Diese Nacht ist anders, oder ist sie stets dieserart?
Man kann sich sein Leben nicht aussuchen.

Nein, das ist ein Irrtum, man kann es drehen,
es besser machen, als es ist.
Der Mensch ist kein Tier mehr,
er ist vernunftbegabt und kann entscheiden.

Der kleine Mond und die Lichter des Pyramidenkogels in der Nacht

Der kleine Mond und die Lichter des Pyramidenkogels in der Nacht

Johannes Tosin
(Text und Bild)

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Vier im roten Kreis

Siddharta Gautama, der Buddha, zeichnete mit roter Kreide einen Kreis und sagte: Wenn es vorherbestimmt ist, dass Menschen einander wiedersehen sollen, was auch immer ihnen geschieht, auf welchen Wegen sie auch wandeln, am gegebenen Tag werden sie einander unvermeidlich „im roten Kreis“ begegnen. Rama Krischna[1]

Wann mein Interesse für Mädchen genau begonnen hat, weiß ich nicht. Wenn ich mich recht erinnern kann, dann hatte ich im Kindergarten eine Zeit lang eine bisexuelle Einstellung, bevor ich Gefallen an Annika fand. Diese mochte mich überhaupt nicht und sperrte mich einmal sogar in ein Gartenhäuschen ein (ähnlich ist es übrigens auch Mozart gegangen, das war 1787 in Prag). Zum Schulanfang hatte ich einen Schulranzen und den farblich dazu passenden Regenschirm bekommen. Als wir vom Kindergarten zum Schulgebäude, das uns gezeigt wurde, marschierten, regnete es.
Ich hatte den Regenschirm parat und bekam Annika zugeteilt. Auf dem Weg zur Schule hielt ich ihr den Regenschirm und merkte, dass sie nicht aggressiv zu mir war, sondern dankbar, dass ich ihr den Regenschirm hielt. Außerdem war sie schön gekleidet. Dies war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich erwachsen fühlte. Leider ging Annika in eine andere Schule und ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.

Mein nächstes Erlebnis war Christine, die ich im Gymnasium kennenlernte. Sie war nicht nur die Klassenbeste, sondern  auch eine der wenigen Personen, die sehr freundlich zu mir waren. Wenn ich eine schlechte Note bekommen hatte, lieh sie mir ihre Lösung aus, damit ich das korrekte Ergebnis sehen konnte. Bei einer Führung durch die Schulbücherei lobte sie mich, da ich das älteste Buch, noch in Fraktur  geschrieben, gefunden hatte. Leider wechselte auch Christine früh die Schule und ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt.

Im Studium war es Nataliya, auf die ich immer wieder während des Spanischkurses einen Blick warf, als sie auf der hintersten Bank saß. Und ich war überwältigt, als sie sich einmal unvermittelt neben mich setzte und mir sogar ihre E-Mail-Adresse gab, da ich in der nächsten Stunde etwas für sie mitschreiben sollte. Leider war ich damals noch zu schüchtern und wechselte, da mir der Kurs nicht gefiel, im nächsten Semester das Fach.

Als das nächste Semester kam, lernte ich in der ersten Vorlesung Adina kennen, die eine schicke, gestreifte Hose trug. Erstaunlicherweise wusste sie, dass ich in den Semesterferien ein Auslandspraktikum absolviert hatte und das Gespräch verlief sehr anregend. Nach der ersten Einheit der Lehrveranstaltung brach sie diese aber ab und der Kontakt verflüchtigte sich.

Andere Begegnungen waren noch flüchtiger. Mir sind Frauen aufgefallen, die sehr freundlich zu mir waren, aber ich hatte merkwürdigerweise auch Frauen gern, die anfangs zu mir abweisend waren. Langsam begann sich bei mir ein bestimmter Frauengeschmack zu entwickeln.

Es gibt Gesichter, die mir gefallen, Frisuren, die schön sind. Auch Vorlieben für bestimmte Kleidungsstücke und Accessoires mag ich. Was mir jedoch keine Sicherheit gibt, ist dieses:

Wie konnte ich sicherstellen, dass Frauen, die mir gefielen, mich auch im Gegenzug mochten. Gab es eine gegenseitige Anziehungskraft? Da war ich mir nicht so sicher und vermied oft Begegnungen, da in mir eine Blockade aufkam.

Doch noch einmal zurückdenken: Es waren meistens flüchtige Begegnungen, die mir in Erinnerung geblieben sind. Seltsam, dass sich nie ein Kontakt herstellen ließ.

Aber einige kleinere Erfolge gelangen mir doch, und es erübrigt sich zu erwähnen, dass ich auch das Mittel der Flaschenpost eingesetzt habe.

Gerne würde ich wissen, was Annika, Christine, Nataliya und Adina heute machen. Ob es ihnen gut geht. Von Annika möchte ich gerne wissen, wie ihre Schullaufbahn war, ob sie ihre geheimnisvolle Aura bewahrt hat und ob sie nun freundlicher zu mir wäre. Von Christine möchte ich wissen, ob sie es damals schon erkannt hat, dass ich sie toll fand, es aber nur nicht hatte zeigen können. Gerne möchte ich ihr heute versichern, dass ich ihre weiblichen Reize sehr geschätzt habe, auch wenn sie von anderen Schülern verspottet wurde.

Nataliya habe ich geschrieben, leider erst Jahre später, als ich zufällig die Adresse wiederfand. Ich war mir nicht sicher, ob sie wirklich Kontakt mit mir haben wollte und ob sie sich geärgert hatte, da ich ihr Kontaktangebot nicht angemessen aufgenommen hatte.

Adina hatte ich nach langer Zeit eine Postkarte geschrieben, als ich durch Zufall auf ihre Postadresse stieß. Auch diese Karte blieb unbeantwortet. Jedoch tröstete mich der Gedanke, dass die Karte angekommen war.

All diese Begegnungen haben mein Leben beeinflusst. Und ich war es mir zum Zeitpunkt nicht immer unbedingt klar, welche Auswirkungen auf meine Zukunft das haben sollte. Es waren Weichenstellungen, und mir wurde klar, dass das Poetische sehr wohl in den Alltag hereinbrechen kann. Diese Begegnungen hatten für mich einen höheren Sinn und ich bin mir nicht sicher, ob es stimmt, wie es im anfangs erwähnten Zitat heißt, dass ein Wiedersehen vorherbestimmt sei. Wer weiß, vielleicht endet es für mich wie für Sappho:

Versunken im Meer ist Selanna, und versunken sind die Plejaden. Aber ach! Wieder ging Mitternacht vorbei, und obwohl die Zeit für die Liebe kommt – doch allein lege ich mich nieder zum Schlaf. [2]

Allen vier Frauen sei meine Erzählung gewidmet.

 

[1]     Erfundenes Zitat aus dem Film: Vier im roten Kreis (Le cercle rouge). Regie: Jean-Pierre Melville, 1970

[2]     Sappho: Und ich schlafe allein. Übersetzung von Gerda Kazakou https://gerdakazakou.com/2015/12/20/griechische-dichtung-am-sonntag-sappho/

Michael Bauer

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Lasst uns …

wieder Schmetterlinge im Bauch spüren,
galoppierende Pferde in der Brust hören.
Lasst uns wieder Gänsehaut über den Körper laufen,
den Ruf von Bussard und Falke im Ohr haben.
Ich will wieder Hummeln sausen sehen,
das Schweifschmeicheln des Hundes auf dem Bein fühlen.
Wir sollten wieder wie junge Geparde über Steppen flitzen,
uns im hohen Gras verstecken, wie kleine Rehkitze.
Lasst uns wieder Kunstwerke kreieren, wie die Spinnen,
oder, wenn notwendig, uns im Laub einigeln.
Gerne wieder ein fröhliches Lied trällern, wie ein Zaunkönig,
gurrend wie die Taube über den Frieden erzählen.
Heimlich, wie ein Steinmarder, durch Nächte ziehen,
und die Lauscher in den Wind recken, wie der Feldhase.
Ich würde gerne klug und scheu sein wie eine Füchsin,
und manchmal lautlos wie die Schleiereule die Umgebung erkunden.
Hie und da wär ich gerne frech, wie ein Eichhörnchen,
um mich wieder zu spüren.
Könnten wir nicht wieder ein Lächeln in das Gesicht der
Mitmenschen zaubern, wie es der Marienkäfer kann?
Wir lächeln zu wenig, grübeln zu viel, sind unsere Herzen
kalt und träge geworden, Gefühle tabu?
Wer liebt, ist verletzlich!
Aber, verdammt – das ist es mir wert.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com/

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Herbstabend

Komm, so setz dich doch her! Ich hole kühles Bier für uns.
Lass uns reden! Ich habe so viele Fragen. Lange warst du nicht mehr hier! Wo bist du denn immer?

So nimm doch Platz. Ich hole uns eine Decke und rücke nahe an dich heran. Es ist ein goldener Herbstabend hier draußen, wir müssen uns ein bisschen gegenseitig wärmen.
Weißt du noch? Als wir uns zuletzt gesehen haben? Ich habe deine Hand lange gestreichelt, dir war so kalt an diesem Abend und du hattest doch nie kalte Hände, so lange ich dich kannte.

Und weißt du noch? Unser Urlaub am Meer, da haben wir unser letztes Karlovacko Bier mitsammen getrunken. Dabei hattest du gar kein Verlangen danach. Ganz erstaunt war ich und ungläubig habe ich dir zugesehen, wie du beim Sonnenuntergang an der kroatischen Küste vor einem Teller mit gegrillten Fischen gesessen bist, appetitlos und hoffnungslos. Warum hab ich die Zeichen nicht erkannt?

Ich hätte ein paar Fragen. Wie würdest du mit der Coronakrise und deren Folgen, die gerade auf uns zurollen, umgehen? Hättest du einen Rat?

Weißt du noch? Lange ist’s her, wie du dich in wirtschaftlich schlechten Zeiten kämpferisch gezeigt hast und mit Ehrgeiz und Euphorie die Ärmel hochgekrempelt hast. Das waren deine besten Jahre. Wie zum Trotz hast du dich nie unterkriegen lassen und bist deines Weges gegangen – mit viel Mut und einer kräftigen Portion Optimismus hast du deine Ziele erreicht.

Du warst so lange weg, machst dich so rar. Komm doch öfter mal vorbei. Du weißt, ich habe immer Bier eingekühlt. Ich besorge uns Brot und Speck und Kren, den du so gerne magst, und viele Sorten Käse.

Und dann lass uns herzhaft lachen über die vergangenen Jahre und all deine Sprüche, die du immer auf Lager hattest für uns Kinder und die Enkelkinder.

Papa? Hörst du mich?

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 23071

 




Zurück auf Start

Manchmal würd ich gern auf sicheren Wegen gehen
und als sorgloses Blatt zurück in meine Kindheit wehen,
die ihr mit Argusaugen bewacht und mit Bedacht
von Stolpersteinen befreit habt, sorgsam mit Moos ausgebettet,
damit ich nicht hart aufschlag, wenn ich fall und mir bloß
ein paar Kratzer hol, die in eurem weichen Schoß
sekundenschnell heilen. Weil ihr mich selbstlos rettet,
schützend euer Herz über mich stülpt und alle lauernden Gefahren ankettet.

Manchmal würd ich gern auf sicheren Wegen im Regen abends um halb acht
zu euch nach Hause kommen, wüsste, ihr hättet mir einen warmen Kakao gemacht,
und sähe schon von Weitem das helle Licht in euren Herzen
durchs Zimmerfenster schimmern, das mich zu euch lenkt
und mich dann, in kusch’lige Decken gehüllt, mit all eurer Liebe beschenkt.
Und alles läge noch unberührt vor mir, im Flackerlicht bunt bemalter Kerzen,
wie frisch gefallener Schnee in eurem Garten, in dem ich arglos eine Runde dreh.

Doch dieses Mal ginge ich ohne Umwege und immer geradeaus aus dem Garten heraus, würd so gern einfach nochmal neu starten.

Claudia Lüer

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Ziel. Punkt.

Damals wollte ich nur noch schnell etwas einkaufen, ich weiß nicht mehr so genau was. Es muss nicht viel gewesen sein, denn damals, im März 2013, war das Geld knapp. Ich ging in die „Zielpunkt“-Filiale in der Alserbachstraße in Wien und kaufte etwas ein. Was ich auf dem Weg zum Supermarkt gedacht haben muss, weiß ich nicht mehr, vielleicht war es etwas Berufliches. Ich legte mehrere hundert Meter zu Fuß zurück und betrat das Geschäft. Da ich bereits Läden dieser Kette kannte, war es ein routinemäßiger Besuch, der mir zunächst keiner weiteren Beachtung würdig schien. Ich ging durch die gläserne Schiebetür hinein, zunächst zu den Obst- und Gemüsekisten, dann zur Milchtheke und zum Brotregal. Eine Handvoll Sachen hatte ich, denn ich benutzte keinen Einkaufswagen oder Korb. Alles, was ich in meiner Hand halten konnte.

Als ich zur Kasse ging, legte ich meine Sachen aufs Band, es kann sein, dass noch mehrere Kunden im Laden waren. Wann ich die Kassiererin zum ersten Mal erblickte, weiß ich nicht. Es kann sein, dass sie ihr Haar rot gefärbt hatte, aber da bin ich mir nicht so sicher. Ob ich sie schon bemerkte, als sie meine Sachen durch den Scanner zog, weiß ich nicht. Ich könnte auch nicht sagen, ob sie mir beim Bezahlen schon aufgefallen wäre. Aber kurz nachdem ich und wahrscheinlich ein anderer Kunde bezahlt hatten, verließ sie ihren Stand und betätigte mit dem Schlüssel die elektrische Türöffnung, da der Laden schon von außen verriegelt war. Ich schaute ihr in die Augen, verabschiedete mich und sie verabschiedete sich auch, dabei lächelte sie mich an. In diesem Moment war es um mich geschehen. Es war das letzte bewusste Mal, dass ich diesen Laden besucht hatte.

Auf dem Nachhauseweg war ich glücklich ob der Begegnung, aber ich wusste nicht, ob es andere Gedanken gab, die wichtiger waren. Vielleicht habe ich die junge Verkäuferin auch in meinem Tagebuch erwähnt, aber so genau weiß ich das nicht mehr. Was ich am nächsten Tag, in der nächsten Woche, im nächsten Monat tat, ist mir nicht mehr so bewusst.

Einige Jahre später, im August 2017, sah ich in einem Supermarkt eine junge Frau, die Käse aus einer Selbstbedienungstheke holte. Obwohl sie ganz anders aussah, als ich die Zielpunkt-Verkäuferin in Erinnerung hatte, erlebte ich ein Déjà-vu. Ich weiß nicht, welche Gemeinsamkeit sie mit der anderen Frau hatte, jedenfalls fühlte ich eine starke Nähe. Auch diese Erinnerung verblasste.

Erst im Sommer dieses Jahres kam mir die Erinnerung an die Zielpunktverkäuferin. Was ich nicht alles hätte tun können, den Laden häufiger besuchen, ihr ein Kompliment oder ein Geschenk machen. All dies hatte ich nicht getan, aber ich wusste nicht den Grund, warum ich es unterlassen hatte. Und warum wurde das Ganze mir erst jetzt, nach neun Jahren und einem Ortswechsel wieder bewusst? Ich versuchte, über diesen Laden zu recherchieren. Die Supermarktkette Zielpunkt hat 2016 Konkurs angemeldet und die Mitarbeiter*Innen mussten sich eine neue Arbeitsstelle suchen. Ich hatte demnach keine Chance mehr, diese Mitarbeiterin nochmals zu kontaktieren. Auch machte ich mir Sorgen wegen der Kündigung und der prekären Situation zur Zeit der Insolvenz.

Aber ich musste, da die Verkäuferin sehr charmant gewesen war, mir etwas überlegen, wie ich ihr meine Gefühle übermitteln konnte. Ich erschuf folgendes Szenario: Was hätte ich getan, wenn ich dieser Verkäuferin noch einmal begegnet wäre? Hätte ich meine große Schüchternheit überwinden können? Ich dachte zuerst, dass ich eine kleine Süßigkeit hätte kaufen können, die ich ihr nach dem Bezahlen hätte schenken können. Oder einen Zettel mit meiner Adresse. Was ich bevorzugt hätte, weiß ich nicht, aber es hätte Tage geben können, an denen diese Verkäuferin nicht an der Kasse saß und ich Pech gehabt hätte. Also hätte ich auch noch viel Geduld einplanen müssen.

Für den Fall, dass diese Verkäuferin mein Kontaktgesuch angenommen hätte, was hätte ich ihr vorschlagen können? Ein gemeinsames Gespräch, einen Spaziergang? Manche Menschen glauben daran, dass Gedanken übermittelt werden können. So dass die eigenen Gedanken nicht sinnlos um einen kreisen und den anderen doch – auf welche Art auch immer – erreichen. Es gab Versuche, die bestätigten, dass alle Menschen miteinander über ein paar Personen verbunden seien. Warum nicht einfach einmal eine Flaschenpost an die Verkäuferin schreiben? Ich tat es sogar und schickte meine Gedanken an sie an ein unbekanntes Ufer.

Als ich am Samstag, dem 24. September 2022, um 8.00 Uhr aufwachte, wurde mir der Gedanke immer klarer, dass ich diese charmante Verkäuferin in einem kleinen Text verewigen könnte. Ich fuhr meinen Laptop hoch und gab unter Google das Schlagwort „Schreibwettbewerbe“ ein. Nach einigen Klicks wurde ich auf eine Seite weitergeleitet.

Das Thema „Bewusstheit“ der Ausschreibung sah ich am geeignetsten an. Ziel. Punkt.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22105