Karottenstückchen

Karottenstückchen
Süß und kross gegen meine Zunge
Gefolgt von seiner
Süß und soft gegen meine Lippen
In meinem Bauch ein Hunger
Nach Karotten und Küssen

Emma Kreska

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 21080




Professor Biermanns Rosskur

Wer ist Herr Professor Biermann, und was hat es mit seiner Rosskur auf sich?

Herr Dr. Martin Biermann ist Mitte fünfzig und unterrichtet an einem Oberstufen-Realgymnasium Geschichte und Geographie. Unter einer Rosskur – so steht es im Internet –„versteht man heute in der Umgangssprache eine medizinische Behandlung mit Hilfe von unsanften Methoden oder umstrittenen und drastischen Mitteln.“ Im Grimm’schen Wörterbuch steht, die Rosskur sei „eine gewagte kur mit ungeheuerlichen mitteln“.

Es war ein milder Juni-Nachmittag, als Herr Dr. Biermann und Gattin Hilde auf der Hausbank vor ihrem Reihenhaus saßen und behaglich in die spätgoldene Sonne blinzelten, so recht angenehm entspannt (obwohl Rock und Hose deutlich spannten), und den schönen Tag nochmals vorbeiziehen ließen. Ihre beiden Söhne Hermann und Rudolf waren mit ihren Frauen und je einem Enkelkind auf Besuch dagewesen, und das reichhaltige gute Mittagessen ist im Garten unter dem schattigen Birnbaum mit genießerischer Langsamkeit eingenommen worden. Der Hausherr und die Kinder sparten nicht mit Lob für die Hausfrau (welche den ganzen Vormittag in der dampfenden Küche gestanden war). Sie kochte gut und gerne, und die Leibesfülle ihres Gatten sowie, seien wir ehrlich, auch ihre „stattliche Erscheinung“ bezeugten dies nachdrücklich nach außen.

„Also ich muss schon sagen, dein heutiges Dessert war super-super – diese kleinen Powidl-Buchteln mit Vanillesoße – die Kinder haben ganz schön eing’haut“, lobte der Gatte nochmals und seufzte wohlig. Frau Biermann sah ihn von der Seite liebevoll-spöttisch an: „Ah so, nur die Kinder – dir hat’s ja gar net g’schmeckt, wie du nachher das Reindl mit der restlichen Soße in der Küche heimlich ausgelöffelt hast?“ Der Angetraute drehte sich zu ihr und hob hilflos die Handflächen nach oben: „Ich war wehrlos – es war halt der Jamaica-Rum, den du für die Großen dazugeschwindelt hast – sowas kann man doch net wegschütten!“

„Was sagst du“, meinte Frau Biermann, die gute Stimmung und Gelegenheit ausnützend, mit dem wohlgelaunten Göttergatten allein und ohne Eile ein schon lange anstehendes „schwer-wiegendes“ Problem anzugehen, „meinst du nicht, dass wir doch endlich den Gürtel ein wenig enger schnallen sollten – ich meine, wir haben beide ein paar Kilo zu viel?“

Dr. Biermann, der diese schwarze Wolke am Horizont schon zwanzig Jahre routiniert vor sich hergeschoben hatte und außerdem die Berechtigung dieser Forderung nicht leugnen konnte, antwortete nachgiebig: „Ja sicher, damit sollten wir endlich einmal Nägel mit Köpfen machen – ich denke, die Fastenzeit vor Ostern wäre ein guter Anfang. Wollten wir nicht voriges Jahr schon so ein schönes Kurhaus mit Reduktionskost aufsuchen? Da zahlt die Krankenkasse sicher dazu!“

„Mein lieber Martin“, so die Gattin, „du bist wohl ein ganz Schlauer – das wäre erst in einem dreiviertel Jahr! Du schiebst doch sonst nicht alles auf die lange Bank – sagst du nicht immer, das Richtige soll man gleich tun, und dass die guten Vorsätze ein kurzes Ablaufdatum haben? Es ist ja für unsere Gesundheit, und jünger werden wir auch nicht. Ich meine, wir sollten jetzt gleich damit beginnen – stell dir vor, wie wir im August mit unseren Speckrollen über der Badehose aussehen – wo wir doch heuer den Badeurlaub in Zypern gebucht haben! Habe ich dir schon erzählt, dass eure Schulsekretärin, die Frau Engel, mit ihrem Mann den gleichen Urlaub gebucht hat wie wir?“

Ihr Gatte erschrak. Ausgerechnet Frau Engel, die hübsche blonde Sekretärin in seinem Gymnasium und heimlicher Schwarm vieler Kollegen (und sagen wir’s ehrlich, auch von ihm) sollte ihn mit seiner schwabbeligen Figur am Strand sehen, tagelang, da würde kein noch so mühsames Bauch-Einziehen helfen, das wäre ja schrecklich, das musste verifiziert werden: „Wieso weißt du das, Hilde, ich meine, sie hat es dir wohl nicht erzählt – ihr kennt euch doch fast nicht?“

„Nein, nein, das hat sich zufällig ergeben. Als ich vorige Woche im Reisebüro war, du weißt schon, weil wir ja wegen der Kinder um eine Woche verschieben mussten, da habe ich eine Regina Engel auf unserer Hotelliste gesehen, wie der Schalterbeamte auf dem Bildschirm geschaut hat, ob noch was frei ist – sie heißt doch Regina mit dem Vornamen, nicht? Das hast du mir damals gesagt als sie eingetreten ist. Ja, ich wollte es dir ja am selben Abend erzählen, aber da war doch die Sache mit dem Stromausfall, und die ganze Tiefkühltruhe ist geschwommen, und so habe ich das halt vergessen. Also was sagst du, fangen wir heute an?“ Sie blitzte ihn einladend mit ihren graublauen Augen an – wie immer, wenn sie einen guten Einfall hatte und sich der Zustimmung ihres Göttergatten sicher war: „Weißt du, das können nur Leute mit Mut und Charakterstärke wie wir!“

Der Hausherr seufzte aus Herzensgrund: „Ja, hast recht, mach ma’s in Gottes Namen“ und schlug in ihre senkrecht aufgerichtete offene Hand – das war ihr Treuegelöbnis und Einverständnis bei spontanen Einfällen. Seine bessere Hälfte seufzte erleichtert: „Gott sei Dank, ich hab ja gewusst, auf dich kann man sich verlassen – weißt, ohne dich würd ich es ja nie schaffen, das mit dem Hungern und Kalorienzählen, aber miteinander sind wir unschlagbar, sagst du doch immer. Dann war das heute mittags sowas wie unsere Henkersmahlzeit vor den mageren Zeiten.“

Aber ihrem Eheliebsten fiel noch etwas ein: „Also mein abendliches Bier möchte ich schon haben – das brauch ich zum Einschlafen!“ „Ja natürlich“, beruhigte seine Frau, „das Bier ist doch ab heute dein Abendessen, und ich werde nur zwei Tassen Kräutertee trinken, damit ich was Warmes im Magen habe. Und noch was: Wir werden ab heute – natürlich nur bei gutem Wetter – jeden Tag einen Abendspaziergang von einer Stunde machen! Vor den Nachrichten halt. Die Strecke können wir uns gemeinsam aussuchen – ich denke, wir gehen heute einmal über den Bach durch die neue Siedlung, dann am Waldrand bis zur Barbara-Kapelle und durch die Kellergasse zurück – ja?“

Der überfahrene Gatte nickte resigniert: „Was bleibt mir anderes über – in guten und in schlechten Zeiten, hat es geheißen. Ich habe ja nicht gewusst, dass die schlechten – nein, die mageren – Zeiten jetzt schon anfangen.“ Frau Hilde küsste ihn liebevoll: „Du bist ein Schatz. Wie ich schon gesagt habe – allein tät’ ich das nicht schaffen. Bleib sitzen, jetzt hol ich uns einen guten Kaffee, dann geht’s los – es ist ja schon fünf vorbei.“ Sie ging ins Haus und ließ einen verunsichert in die Zukunft blickenden Gatten auf der Hausbank zurück.

Dass der Kaffee nur mit einem statt wie gewohnt mit zwei Löffeln Zucker gesüßt war, wäre noch erträglich gewesen, aber dass der nunmehr verpflichtende Abendspazierweg gerade über die steilste Straße des Städtchens bergauf führte, wurde von Herrn Dr. Biermann, als sie endlich die Anhöhe erklommen hatten und er wieder genügend Atemluft sammeln konnte, heftig kritisiert. Was seine bessere Hälfte, die auch vernehmlich schnaufte, zur streng-liebevollen Replik veranlasste: „Siehst du, wie nötig wir das haben – diesen Weg sind wir – wenn du dich erinnerst – in unserer Verlobungszeit wohl hundert Mal gegangen. Nur, damals hast du dich nicht aufgeregt darüber, ganz im Gegenteil!“ Dieser Logik konnte der gute Martin nichts entgegensetzen.

Aber das Schlimmste stand ihm noch bevor. Nach der abendlichen Dusche wurde ihm zwar sein kühles Bier im schönen Steinkrug serviert, aber als sich die Gattin kurz um die Waschmaschine kümmerte, schlich der hungrige Hausherr heimlich in die Küche, um sich als Zukost ein Stück des fetten Schweizer Emmentalers zu holen. Geschockt erstarrte er vor der offenen Kühlschranktür: Ein Küberl Leicht-Joghurt, einige Karotten und zwei Gurken waren in Begleitung von zwei Litern Magermilch und einer Packung Margarine die einzigen Insassen dieses noch heute vormittags übervollen Kalorien-Speichers. In der Brotdose war außer einer Packung Vollkornbrot auch nichts zu holen, und als der nunmehr geradezu verzweifelt hungrige Professor die Tür zur Speis öffnete (wo sich doch seit ewigen Zeiten Kekspackungen, Fleischkonserven, Sardinen, Schokolade und andere Trosthappen befunden hatten) grinsten ihm leere Stellagen entgegen; und wie zum Hohn präsentierten sich in Augenhöhe je eine Familien-Packung Diät-Zwieback und Knäckebrot. Aus, Ende, fertig, es gab nichts von der Hand in den Mund zu steckendes Essbares mehr im Haus!

Herr Biermann ging, geknickt und gedemütigt, ja sich überrumpelt fühlend, zurück ins Wohnzimmer und brütete schwarze Gedanken aus. Das war keine liebevolle Einladung zur gut gemeinten Gewichtsreduktion gewesen, sondern ein Komplott, eine hundsgemeine geplante Falle! Seine erst vor zwei Stunden gegebene – nein, ihm abgeluchste – Zustimmung war genau kalkuliert und als minimales Risiko eingestuft. Da sollte doch der Teufel dreinfahren – so war das nicht ausgemacht, so nicht! Zornig erhob er sich, um nach oben zur Frau in die Waschküche zu gehen – da passierte es: Infolge der stoßweisen Bauchatmung beim ruckartigen Aufstehen gab der müde Zwirn der Belastung nach und die untersten zwei Knöpfe des prall gefüllten Hemdes sprangen ab und knallten gegen den Wohnzimmer-Spiegel. Und was quoll ihm daraus förmlich entgegen? Im goldenen Rahmen sah er sich mit geplatztem Hemd, den Nabel hervorstechend aus einem rosa-weißen Berg von Bauch! So grausam deutlich hatte er seine Leibesfülle noch nie gesehen.

Er sank reuig und beschämt wieder in den Ohrenfauteuil zurück und ging in sich. Ja, seine Hilde hatte Recht – er war abstoßend fett geworden –, da half alles Schönreden und Verniedlichen nichts. Er hatte einen schwabbelnden Bauch wie ein Sumo-Ringer, aber ohne dessen Muskeln. Da konnte man darüber anziehen, was man wollte – und in der Badehose am Strand würde er wirken wie eine Witzfigur, von Kindern verspottet und jungen Frauen gemieden. Der Pädagoge versank in dumpfes Brüten.

„Martin, was ist los – du wirkst so bedrückt! Und wie siehst du denn aus – warum ist das Hemd offen? So sitzt man doch nicht im Wohnzimmer herum.“ Frau Biermann kam mit einem Korb Bügelwäsche ins Zimmer und ihr Mann rang um eine Erklärung: „Nichts ist los – nur die zwei Knöpfe sind mir beim Aufstehen abgerissen – und da hab ich mich halt genau im Spiegel gesehen, wie dick ich geworden bin. So kann’s wirklich nicht weitergehen, jetzt ist höchste Eisenbahn zum Abnehmen.“ Er zog das Hemd aus und hielt es der Gattin hin: „Bitte leg das nach dem Waschen ganz oben auf meinen Stapel, damit ich jeden Tag daran erinnert werde, dass sowas nicht mehr passieren darf. Und die Knöpfe werden erst nach minus zehn Kilo wieder angenäht. Jetzt machen wir Nägel mit Köpfen!“ Die Gattin stellte den Korb ab und legte ihm beide Hände auf die Schultern: „So kenne ich dich, ein Mann mit Entschlusskraft und eisernem Willen. Wir schaffen das – pro Woche ein, zwei Kilo, bis wir zwei Konfektionsgrößen herunter haben!“

Spätabends, nach dem „Gute-Nacht-Bussi“, drehte sich Herr Biermann aber noch einmal zur Gattin um: „Also ein bisserl hinterfotzig bist du’s schon angegangen; wieso war heute nachmittags unser Haus mit einem Schlag komplett kaloriensauber? Ich mein, das muss doch von langer Hand vorbereitet gewesen sein, also komm!“ Seine Hilde drehte sich von der gewohnten Rückenlage auf die linke Seite und sah ihn schuldbewusst mit großen Augen an: „Das war nicht so raffiniert geplant, wie du meinst, sondern halt eine Gelegenheit, die’s kein zweites Mal gibt. Unser Bub ist doch gerade vorgestern in die neue Wohnung eingezogen, und da war natürlich noch nichts zum Essen da in der Küche und so. Die Erika hat mich gestern früh angerufen, ob ich ihr für die erste Zeit mit ein paar Sachen aushelfen kann, bis sie mit dem Rudi einen Großeinkauf macht. Und da ist mir klar geworden, dass wir eigentlich viel zu viel haben – an Lebensmitteln und so – und dass wir eh schon seit langem zu viel essen. Also habe ich der Erika g’sagt, sie soll mit ein paar von den leeren Umzugskartons kommen, und wir haben, während du in der Schule warst, miteinander den Großteil eingefüllt und sie hat’s mitgenommen. Und heute nach dem Essen, während dein’ Mittagsschlaferl, haben wir den letzten Rest verpackt und in ihr Auto verladen. Weil das war die Chance, dass wir endlich ein paar Kilo loswerden! Ich hab seit der Früh schon ein schlechtes Gewissen, dass ich dich so überfallen hab damit, aber so war unseren Kindern g’holfen, und in ein paar Wochen freu’n wir uns vielleicht an Haxen aus, dass wir endlich nimmer so dick sind, was meinst?“

Der Gatte grunzte gerührt: „Also wenn das so war – ego te absolvo! Weil, vertrau’n möchte ich dir schon können, immer, gell? Also mach’ ma’s Beste draus. Gute Nacht.“

Im Gymnasium erklärte Professor Biermann seinen Wechsel vom Jausen-Speckbrot zur Karotte mit seinen zu hohen Cholesterinwerten, und der einmal eingeführte Abendspaziergang wurde für das Ehepaar nach und nach zur liebgewordenen Gewohnheit. Denn nach den ersten zwei verlorenen Kilos einer zugegeben äußerst unangenehmen Woche mit täglicher Abwaage kam wieder Freude an der Bewegung und der lockerer sitzenden Kleidung auf. Pünktlich vor dem Abflug nach Zypern konnte der um neun Kilo reduzierte Professor seine geliebte rote Freizeit-Lederjacke wieder zuknöpfen, und die erschlankte Gattin hatte mit einem Jubelschrei alle ihre nunmehr zu große Kleidung in einen Humana-Container gestopft.

Nur zwei kleine Enttäuschungen mussten zur Strafe noch sein: Die von Frau Biermann angeblich in der Hotelliste erspähte Regina Engel – auf die in einem knappen Bikini am Strand zu sehen sich Herr Biermann schon seit Wochen gefreut hatte – erwies sich als ein Herr Reginald Engel, ein vertrocknetes altes Männlein mit einer stets nörgelnden Frau im Schlepptau. Und das wunderschöne grünseidene Strandkleid, welches der Professor seiner Frau heimlich gekauft und in deren Koffer geschmuggelt hatte, erwies sich als noch immer eine Nummer zu eng! Das war seine schmunzelnd ausgekostete Rache für ihren Überfall – und so musste die Gattin wohl oder übel ihre strenge Diät im ganzen Urlaub fortsetzen, um es wenigstens bei der Abschieds-Strandparty tragen zu können.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 21054




Der Butler 3

Halt! Kennen Sie bereits Teil 1 und Teil 2? Hier folgt der letzte Teil dieser Geschichte.

Ich habe jetzt einen Butler!

Zwei Tage später arbeitete ich wieder fleißig mit Richard und James an meinem Landhaus, immer nur von 8:00 Uhr bis 16:00, dann musste Richard zum Tee nach Hause, während aus James und mir wieder Butler und Gentleman wurden. Abends stellte James mich bei den umliegenden Häusern als neuen Nachbarn vor. Die Reaktionen reichten vom reservierten Handshake an der Tür bis zum Promilletest im Haus. Die liebenswürdige ältere Witwe Ivory-Smith lud uns sogar für nächsten Tag zum Tee ein. Es war ein sonniger September-Nachmittag, den wir in ihrem schönen Garten angenehm verplauderten. Mein Butler blieb mehr im Hintergrund, während ich ihr viel von Wien erzählte, was umso leichter ging, als diese kultivierte Lady auch rostiges Deutsch sprach – ihr Gatte war nämlich Berliner gewesen. James bewunderte insbesondere ihre phantastisch duftenden Rosen. Es mache ihr schon zunehmend Mühe, all diese Blumenpracht allein zu betreuen, seufzte sie, aber der Garten sei neben der Aquarell-Malerei eben ihr Lebensinhalt. Zu meiner „house-warming party“ in ein paar Wochen würde sie gerne kommen, sagte sie beim Abschied. Mein Butler war am Heimweg auffallend still und nachdenklich.

„No dinner today, James, after all these sandwiches and scones“, informierte ich meinen Butler am Abend, aber ich würde gerne mit ihm auf ein Bier in ein gutes Pub gehen, ob er mir eines zeigen möchte. Er nickte erfreut, aber wir sollten uns zuvor noch umziehen – so auf gepflegte Freizeit eben. Also führte ich meine nagelneue braune Lederjacke zu Jeans aus, während James in mausgrauem Tweed-Sakko und schwarzer Bügelfalte seriös unterwegs war. Das Pub war mit Mahagoni-Täfelung und viel Messing recht ansprechend, das Bier – na ja, englisch halt, und die Frau an der Theke hatte Freude an ihrem Beruf. Beim Tischgespräch erfuhr James, dass ich glücklich geschieden sei, und er fragte mich, ob mir die Blumenbilder von Mrs. Ivory-Smith im Salon auch so gut gefallen hätten. Er hätte ja berufsbedingt die meiste Zeit seines Lebens im Haus verbracht, aber so ein Garten wäre wohl ein schönes Hobby. Dann versandete das Gespräch – zwischen einem Butler und seinem Chef waren Vertraulichkeiten wohl nicht am Platz.

Nach einer Woche waren die „schmutzigen“ Arbeiten wie Fußboden rausreißen, Verputz abklopfen und Kacheln entfernen erledigt und die Handwerker konnten kommen. Richard kannte noch etliche ältere Professionisten, die steuerfrei verputzten, tischlerten, malten und Fliesen legten; James erneuerte die elektrischen Leitungen, während der örtliche Installateur eine moderne Gastherme einbaute. Nur der offene Kamin machte Schwierigkeiten – der Rauchfangkehrer wollte den kompletten Rauchabzug erneuert wissen. Weshalb ich die Feueröffnung zumauern ließ und einen großen Kaminofen davorstellte. In unglaublichen vier Wochen war der Großteil erledigt.

Seltsam nur, dass James nun öfter um ein paar Stunden Auszeit ersuchte, er hätte privat einiges zu erledigen. Anfangs war es mir wohl angenehm, fallweise ohne strenge Aufsicht zu sein. Dann traf ich im Supermarkt Mrs. Ivory-Smith, die mir herzlich für die Überlassung meines Butlers dankte – es wäre ihr eine große Hilfe gewesen, dass er ihr im Garten einige schwere Arbeiten abgenommen hätte. Ich schluckte meine Überraschung – also so ein Pharisäer – hinunter und lud die freundliche Nachbarin für übernächsten Tag zum Tee ein. Es wäre noch nicht alles fertig, aber ich bräuchte für meinen kleinen Garten ihre fachliche Beratung. Sie sagte gerne zu. James war die drohende Enttarnung wohl anzumerken, aber er meinte nur zögernd, dass mein Salon noch nicht besuchstauglich sei. Es fehle an Porzellan, Tischtüchern und sonst noch allerlei, auch die Möbel seien nicht vom Feinsten. In der Bezirkshauptstadt, Penzance, bekamen wir alles für gehobene Tischkultur, aber leider keinen geeigneten Tisch mit Stühlen. Der sogenannte „Antik-Shop“ war ein schlauer Altwarenhändler nach dem Motto: „Kaufe wertloses altes Gerümpel, verkaufe wertvolle Antiquitäten“. Aus dieser Misere rettete uns Sarah, die erfahren hatte, dass eine wohlhabende alte Dame in der Nachbarschaft verstorben war und nun deren Haushalt aufgelöst würde – vielleicht wäre da etwas dabei? Noch am selben Abend durften wir zur Besichtigung kommen, und der schöne alte Auszugtisch mit acht Stühlen war billig zu haben. Als Draufgabe erhielt ich von den Erben eine dazu passende reparaturbedürftige Bodenstanduhr und drei schwarze Kerzenleuchter.

Der nächste Tag war stressig: Zunächst mussten alle „besuchsrelevanten“ Räume entstaubt, geputzt und geschmückt werden, dann war auch die Menüfrage zu klären. Die „Tee-Zeremonie“ würde James in seine bewährten Hände nehmen, anstelle der ortsüblichen „scones“ buk ich einen Gugelhupf mit einem ordentlichen Schuss Jamaikarum und kaufte noch ein paar Zitronentörtchen des örtlichen Bäckers. Die geschenkten Kerzenleuchter erwiesen sich als uraltes Silber, das zu putzen James den ganzen Nachmittag kostete. Aber der stilgerecht gedeckte Tisch abends war umwerfend schön. Bei einem festlichen Dinner feierte ich mit Richard und Sarah die fast vollendete Renovierung meines Landhauses. Insbesondere das warme Flammenbild im Schwedenofen gab dem Salon eine behaglich-vornehme Note.

Auch James war zufrieden, als er mir spätabends seine „Ausflüge“ zu Mrs. Ivory-Smith beichtete. Als Ausgleich zu meinem scherzhaft-mahnend erhobenen Zeigefinger zählte er meine „lässlichen“ Benimm-Sünden beim Dinner auf, aber für die kurze Zeit hätte ich erhebliche Fortschritte gemacht. Und ja, er freue sich schon auf den morgigen Besuch der Nachbarin, nun wäre endlich wieder Leben im Haus.

Nächsten Morgen räumte ich mit James den Werkzeugschuppen auf, reinigte und ölte die brauchbaren Geräte und fuhr den Müll weg. Zum Lunch zauberte ich einen Kaiserschmarrn mit Zwetschkenröster. Meinem mitschreibenden Butler erklärte ich, das sei das Lieblingsessen unseres alten Kaisers gewesen. Was er mit drei Rufzeichen im Heft vermerkte. Nach der Siesta rüsteten wir uns für den Besuch. Trotz der frühen Stunde brannte ein kleines Feuer im Kaminofen, Sarah hatte einen großen Blumenstrauß für die Tafel vorbeigebracht, und nach der Dusche kratzte ich alle Erde aus den Fingernägeln und wurde zum Gentleman. Um James brauchte ich mir wohl keine Sorgen zu machen, nur dass er heute dezent nach teurem Aftershave duftete. Oh, oh, die Nachbarin war ihm wohl nicht egal!

Und sie wurde begrüßt wie ein Ehrengast. „Very lovely, how wunderschön“, lobte sie zweisprachig den frisch renovierten Salon, das wäre ja ein traumhafter Festsaal geworden. Bei geöffneter Terrassentür saßen wir wie in einem Wintergarten und freuten uns ganz einfach an der guten Jause und der angenehmen Gesellschaft, mit James als „Mitarbeiter“ gleichberechtigt bei Tisch. Erst nach einer guten Stunde standen wir im Garten herum und beratschlagten die Neugestaltung. James holte Schreibzeug, zeichnete einen kleinen Plan mit Meterangaben und notierte zu den Standorten die Pflanzen und deren Behandlung. Was stehenblieb, wurde mit Hakerl, die neuen Gewächse mit Kreuzerl versehen, die umzugrabenden Flächen schraffiert. Mrs. Ivory-Smith gab uns noch die Adresse des nächsten Gartenmarktes und bedankte sich herzlich für den schönen Nachmittag; ja, und das Rezept für diesen marvellous „Gugupf?“ – das Wort blieb ihr zwischen den Lippen stecken – also dieses Rezept wolle sie unbedingt ausprobieren. Sie würde uns auch gerne beim Einpflanzen helfen, wenn es so weit wäre, thank you, good evening. War da ein Zwinkern im Auge der Nachbarin beim Handshake mit James?

Nach einer arbeitsreichen Woche war das meiste geschafft – der Garten prunkte mit Fertigrasen, einigen blühenden Sträuchern (ich hatte große Containerpflanzen gekauft) sowie einem jungen Marillenbaum und etlichen dürren Besen, die erst im Frühjahr ihre Pracht entfalten. Es war ja schon Ende Oktober. Die angekündigte „house-warming party“ war nur ein Teilerfolg, weil lediglich zwei Ehepaare den Brauch kannten und Essbares beisteuerten, eine Nachbarfamilie brachten nur Chips und Soletti sowie ihre brüllenden Kleinkinder mit, und ein verspätetes uraltes Paar in schwarzer und silberner Abendkleidung drehte beim Anblick der sich am Tor übergebenden beiden Jungen geschockt um. Aber nach deren Abgang wurde es gemütlich. James servierte für die Damen den örtlichen „Strongbow-Cider“, für die Herren meinen mitgebrachten schweren Blaufränkisch. Richard hatte seine Gitarre dabei, der dicke Vis-à-vis-Nachbar eine rauchige Baritonstimme und zum Abschied sangen wir alle die inoffizielle Hymne von Cornwall, das Lied von Sir Trelawny:

And shall Trelawny live? – And shall Trelawny die?
Here’s twenty thousand Cornish men – Will know the reason why!

Dann verabschiedeten sich die Nachbarn. Es war inzwischen dunkel geworden, weshalb ich James ersuchte, Mrs. Ivory-Smith nach Hause zu begleiten. Was sie sich gerne gefallen ließ und mich einen „real gentleman“ nannte, den kennenzulernen sie sich sehr gefreut hätte. Na Gott sei Dank, dann war ja meine Ausbildung beendet. Dafür war mein Butler schon ein bisserl nachlässig, er ließ mich noch eine gute Stunde warten, obwohl die Nachbarin nur 100 Meter entfernt wohnte. Sie hätten sich so angeregt über die Gartenbetreuung unterhalten, entschuldigte er sein Ausbleiben, während er verdächtig rasch den Salon aufräumte. Na dann „good evening, James“, der Blaufränkisch entfaltete bereits seine Schwerkraft.

Übernächsten Tag musste ich zurück nach Wien. Die Fotos vom Cottage und Garten kamen gut an, mein Chef buchte sofort für 23. bis 31. Dezember, wodurch er noch die Betreuung meines Butlers genoss. Er habe sich da, erzählte er später, wie ein englischer Lord gefühlt, und seine Frau habe umgehend ihre Garderobe darauf abgestimmt. Auch ein sehr teurer langer Kaminrock aus schwarzem Samt sei ein Muss gewesen, seufzte er.

Nun ist das alles schon Vergangenheit, ich habe mein Cottage zwei Jahre später mit schwerem Profit verkauft. Butler James hat nach einem Jahr Mrs. Ivory-Smith geheiratet (als Brautführer durfte ich sie in einem Traum aus Silber und Blau zum Altar führen), und nun lebe ich hochzufrieden mit der Sekretärin des Maklers im Landhaus ihrer verstorbenen Tante am Bisamberg. Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut, und ich denke gerne an diese verrückte Zeit zurück, denn: Ich hatte einen Butler!

PS: Und gelegentlich erinnert mich mein Schatzerl ein bisserl gekränkt, dass ich sie damals nie zum Dinner eingeladen hätte – sie wäre auch gerne einmal im Leben von einem Butler bedient worden. Vielleicht spielt James ja noch ein einziges Mal diese Rolle, wenn er uns mit Gattin im Sommer besucht.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 21036

(Auf Wunsch des Autors wurde bei diesem Text auf manche Lektoratskorrektur verzichtet
und der Text großteils im Original belassen.)




Der Butler 2

Stop! Haben Sie Teil 1 schon gelesen? Dies ist die Fortsetzung.

Ich habe jetzt einen Butler!

Schlimm war für mich auch die zweite Woche, als ich James für ein paar Tage nach Wien mitnahm. Denn meine Zweieinhalbzimmer-Wohnung war nun wirklich nicht butlertauglich. Er verzog schmerzlich das Gesicht, als ich ihm das alte Kinderzimmer als Quartier zuwies, und war sichtlich erleichtert, dass ich umgehend (für guten Lohn) die Hausbesorgerin als Putzfrau gewinnen konnte. Und dann sahen wir uns ratlos an, mein Butler und ich. Es war schon Nachmittag, ins Büro konnte ich erst morgen. „James, would you attend me to the Supermarket, please? I think we need some food for the next days.“ Während ich die Einkaufsliste schrieb, räumte James seine Sachen in den Schrank, dann gingen wir los, ich mit der großen ledernen Einkaufstasche meiner Mutter und James mit meinem kleinen Aktenkoffer. Ein Butler schleppt sich doch nicht ab! Unterwegs erklärte ich ihm den Umrechnungskurs englische Pfund zu Euro und gab ihm einige Euro-Noten als Taschengeld. Am Heimweg kehrten wir beim Chinesen ums Eck auf ein Bier ein – ein Pub konnte ich James ja nicht bieten.

Wieder zu Hause übergab ich James meine Zweitschlüssel, meine Büro-Karte und den Wiener U-Bahn-Fahrplan. Eine Wochenkarte hatte ich ihm schon am Flughafen gekauft. Dann war die Essensfrage zu klären. James konnte nicht kochen, und von Tee und Keksen wollte ich nicht leben. Wir einigten uns, dass er fürs Frühstück und ein paar Sandwiches am Abend zuständig sei, bei meiner Abwesenheit möge er auf meine Rechnung essen gehen, und ansonsten mit meinen Kochkünsten Vorlieb nehmen. James nickte gottergeben, aber diese alte Küchen-Ausstattung wäre unakzeptabel. Nicht einmal ein einziges Silberbesteck, nur emaillierte Töpfe und abgestoßene Gläser, nein, das sei eines Gentleman nicht würdig. Aber wo treibt man in der Vorstadt ein preiswertes Silberbesteck auf? Da fiel mir das Dorotheum in der Wiener City ein.

„Okay James, please come with me, shopping!“ Glück muss man haben, ich bekam dort ein billiges Edel-Essgerät, weil nicht mehr vollständig. Rostfrei-Töpfe und Glas sowie eine Silberpolitur gab es bei einer Firma am Stephansplatz. Den Preisen nach war das früher wohl eine Apotheke. Nun konnte das stilvolle Dinner mit „Ham and Eggs“ und Gösser steigen. Die fehlenden Kerzenleuchter und Stoffservietten bat ich meinen Butler zu entschuldigen, ich würde sie demnächst besorgen.

Nie hätte ich geglaubt, dass ein einfaches Nachtmahl so anstrengend sein kann. Zuerst musste ich unter die Dusche, Rasieren, Kopf waschen, Maniküre; und was eigentlich zieht man zu Hause für diese, äh, „Zeremonie“ an? „A Dinner Jacket, what else?“, empfahl mein Butler, aber sowas habe ich doch nicht. Die Inspektion meines Kleiderschrankes war für mich – in Unterhosen davorstehend – sehr beschämend. Gut die Hälfte meiner Kleidung landete am Boden und sollte morgen in die Humana-Container, meinte James. Nur ein weinrotes neues Sakko und schwarze Hose, mit passender Fliege ergänzt, fand Gnade für diesen Abend. Auch war nur ein einziges Paar Schuhe Gentleman-tauglich, die anderen möge ich auf der Baustelle auftragen.

Mir knurrte schon der Magen, aber da fing die Prüfung erst an. Ich durfte nicht einmal in die Küche, sondern hatte mir im Wohnzimmer einen Sherry einzuschenken und auf die Ankündigung von James „Dinner is ready, Sir“ zu warten. Mangels Sherry hatte ich ein größeres Schnapsglas mit „Nussernem“ in der Hand, als er mich endlich zu Tisch bat. Seinen erstaunten Blick, von dezentem Schnuppern begleitet, erwiderte ich mit der Ausrede: „That’s the Austrian Sherry, a very special kind of.“

Man soll es nicht glauben, aber ein englischer Gentleman freut sich nicht aufs Essen!! Zumindest darf er es nicht zeigen! Kaum nahm ich mit freudig-erwartungsvollem Gesicht am festlich gedeckten Tisch Platz, als mir James auch schon mit langsam absinkenden Händen zu verstehen gab, dass wahrnehmbare Freude aufs Essen fehl am Platz sei, höchstens eine amüsierte Bemerkung, was die Köchin heute gezaubert haben könnte. Auf seine Frage, was für ein Getränk ich bevorzöge, erwiderte ich also brav: „A pint of bitter, please“, worauf mein Butler in Ermangelung eines Weinkühlers die Bierflasche aus einer irdenen Blumenvase zog und behutsam einschenkte. Natürlich nur dreiviertel voll. Aber die Bemerkung, dass üblicherweise zuerst ein Aperitif angebracht wäre, verkniff er sich doch nicht. Nach dieser bitteren Pille kam endlich der Lichtblick des Abends, das von James persönlich zubereitete „Ham and Eggs“, mit einer sogenannten Salatgarnitur und einer Semmel als Beilage. Die drei Blatt Schinken waren wohl einzeln geröstet und zusammengerollt worden, die zwei Spiegeleier bedeckten nur einen Bruchteil des großen Zwiebelmuster-Tellers, weshalb die auf einem eigenen Tellerchen liegende Semmel die Hauptlast der Mahlzeit tragen musste. Außerdem wachte James mit Argusaugen darüber, dass ich nur daumennagelgroße Stücke auf die Gabel nahm und die Semmel nicht wie gewohnt in vier, fünf Stücke riss und verschlang, sondern jeden kleinen Bissen endlos kaute. Auch das Bier durfte nur schluckweise getrunken werden. Während des Essens erinnerte ich mich an die Mathematikstunden im Gymnasium – die vergingen auch so quälend langsam.

Endlich war der letzte Rest auf dem Teller weg, die Semmel verzehrt und der bereits warme Bierrest im Glas geleert, mit der Serviette der Mund abgewischt und ich durfte aufstehen. „It was a good start, Sir“, lobte mich James und wurde zu seinem eigenen Abendessen in die Küche entlassen, während ich mir die Schuhe für den Abendspaziergang anzog. Jetzt brauchte ich ein Gulasch und ein Bier, um den Schock abzuarbeiten. Ich gab mir unterwegs einige unfreundliche Namen, weil ich mir diesen Unfug überhaupt angetan hatte. Aber als ich im ungelüfteten Wirtshaus beim zähen Gulasch saß, den lauten Gesprächen der örtlichen Trinkergemeinde zuhören musste und das Bier aus einem stark abgenutzten Krügel trank, fand ich erstaunlicherweise, dass ein üppigeres Dinner mit ein, zwei angenehmen Gästen auch seine guten Seiten haben könnte. Nach dem zweiten Bier kam ich ziemlich müde nach Hause, grunzte nur mehr ein „Good night, James“ und fiel ins Bett. Geträumt habe ich in dieser Nacht komischerweise, dass ich auf eine Südsee-Insel gezogen sei und mit einem braunen Mädchen ohne jede Zivilisation  jeden Tag mit der Sonne um die Wette strahlte.

Der folgende Bürotag war anstrengend genug, und abends musste ich noch zwei Tischtücher und Stoffservietten kaufen. Die von James urgierten Kerzenleuchter aus Silber haben schweres Geld gekostet; dass das auch eine gute Wertanlage sei, war nur ein schwacher Trost. Gott sei Dank gab es am Stephansplatz auch Kerzen. Endlich alles erledigt für heute, ich hätte mich beinahe schon aufs Heimkommen gefreut, da fiel mir ein, dass ich ja wieder ein Dinner zu überstehen hatte. Und was sollte da auf dem Speiseplan stehen? Die Standlerin bei der Haltestelle hatte schöne Zwetschken anzubieten – also Zwetschkenknödel! Fertigteig war zu Hause, und vom Chinesen nahm ich einen Behälter Suppe mit.

„Good evening, James, what about plum-dumplings for dinner? Would you like to watch me making them?“ Mein guter Geist nickte interessiert, und während ich die Brösel röstete und den Teig rührte, erzählte er mir von seinem Vienna-Sightseeing und dass ihm Wien sehr gut gefallen hatte. Inzwischen überlegte ich, ob ich heute noch einen Tischgast gewinnen könnte. Ein Ehepaar kam wohl so schnell nicht in Frage, aber halt, die Malerin vom 7. Stock könnte ich anrufen. Ihre unkonventionelle Künstlernatur wäre ein erfrischender Kontrast zum formellen Butler-Dinner. Sie sagte gerne zu, den ganzen Tag hätte sie gearbeitet, nun wäre ihr ein warmes Essen sehr angenehm. Ja, pünktlich um 19:30 Uhr. „James, please dinner for two at half past seven, a friend of mine, Lady Charlotte, will come“, teilte ich meinem Butler mit, während ich die Knödel formte und ihn unterwies, dass diese genau 15 Minuten im kochenden Wasser bräuchten, ehe sie in den Bröseln gewälzt würden. Und bitte den Zuckerstreuer nicht zu vergessen.

Um halb acht traf meine Nachbarin ein und meinen Butler fast der Schlag: Charlotte war auf Meerjungfrau unterwegs; sie trug ein Eigenbau-Kleid aus glänzenden grünblauen Stoffbahnen, das unten zu lang und oben zu kurz war; ihren großteils sichtbaren Oberkörper bedeckten mehrere Muschelketten. „Jö, Zwetschkenknödel“, jubelte sie und umarmte mich wie einen heimkehrenden Krieger. Erst dann erkannte sie die Situation – den steifen Butler und meine vornehme Gewandung. Das steckte sie mit einem „Na servas“ locker weg, ging voraus ins Zimmer und kippte den doppelten Nussernen wie einen Schluck Wasser. Inzwischen entzündete James die Kerzen und rückte meiner „Lady“ den Stuhl zurecht. Bei der Suppe war ihr der Schock noch anzumerken, aber bereits beim ersten „plum-dumpling“ war sie wieder unbeschwert, gratulierte mir zum Joker-Gewinn und wir plauderten gutgelaunt. Auch James taute auf und servierte nachsichtig lächelnd die Traminer Spätlese. Somit genossen wir ein fröhliches Dinner; schwierig war nur, Charlotte gegen neun wieder zu verabschieden, weil ich angeblich noch zu einem Freund musste. James begriff sofort und kam mit dem Mantel, während mein Gast sich für den schönen Abend bedankte. Nach einer Runde um den Häuserblock leistete ich James bei seinem Abendessen in der Küche Gesellschaft, wo er mir die richtige Besteck-Handhabung vorführte. „It was an interesting evening“, kommentierte er wohlwollend, nachdem ich meine „Lady“ als schräge Künstlerin klassifiziert hatte. Und diese herrlichen „plum-dumplings“ wolle er in Cornwall heimisch machen – ob ich noch mehr so gute Gerichte kenne. „Oh yes, James, a lot of.“

Am nächsten Tag im Büro erklärte ich meinem Chef, Dkfm. Sensenbrenner, die Situation, und dass ich jetzt sofort meinen ganzen Urlaub fürs Renovieren bräuchte. „Ein Cottage in Cornwall, ich gratuliere“, meinte dieser anerkennend, „da wollte ich schon lange einmal hin.“ Worauf ich ihm vorschlug: „Überraschen Sie doch Ihre Frau und feiern Sie Weihnachten dort – ich muss ohnehin „Bed and Breakfast“ anbieten, um die laufenden Kosten zu decken, würde Ihnen das gefallen? Ich kann gerne ein paar Fotos schicken, wenn wir fertig sind, ja?“ Er müsse natürlich noch seine Frau überzeugen, so mein Chef, aber ja, er würde mir Ende November Bescheid geben.

Robert Müller

Auf ins Finale: gleich weiterlesen bei Teil 3

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 21035

(Auf Wunsch des Autors wurde bei diesem Text auf manche Lektoratskorrektur verzichtet
und der Text großteils im Original belassen.)

 




Der Butler 1

Ich habe jetzt einen Butler!

Ich, das Vorstadtkind, habe einen Butler zu Hause, der mir die Tür öffnet, den Mantel abnimmt, mich fragt, ob ich einen guten Tag gehabt habe, und all das, wie man es in englischen Filmen und noch mehr in alten Fernseh-Komödien sieht und hört. Er fragt mich, wann ich zu Abend speisen will (manchmal sagt er „Dinner“, manchmal sagt er „Supper“, ich weiß nie genau, was der Unterschied ist. Wie ich damals in Cornwall als zahlender Gast bei einer Familie einquartiert war, hat deren kleine Tochter mich immer mit den Worten „Robert, tea is ready“ zum Abendessen geholt. Dieser Englischkurs ist nun dreißig Jahre her, und dementsprechend ist mein Englisch schon sehr dürftig.

Auch weiß ich nicht recht, was ich mit dem Butler anfangen soll – weil nicht nur der Butler, auch ich als sein Arbeitgeber sollte mit dieser Situation zurechtkommen, das macht uns wohl beide befangen. Aber eine Gebrauchsanweisung für einen Butler gibt es nicht, ich habe schon im Internet nachgeschaut. Da sieht man immer nur den uralten Film „Dinner for one“ und diverse Gesellschaften, die Butler vermieten und so – sehr verunsichernd und ein bisserl peinlich halt, wenn man es gewohnt ist, selbst ein Bier aus dem Kühlschrank zu nehmen und ein Schmalzbrot zu streichen. Und diese weißen Handschuhe den ganzen Tag – dass die nicht schmutzig werden? Ich habe vor zig Jahren, als grüner Jüngling in der Tanzschule, so was tragen müssen. Meine Mutter hat gemeint, dass viele junge Burschen beim Tanzen aus Verlegenheit schwitzige Hände haben, und das sei nicht gut für die Kleider der Mädchen.

Wie kam es nun dazu, dass ich einen Butler habe? Eigentlich wollte ich ja damals gar kein Los kaufen, aber da hatte im Supermarkt der Kunde vor mir ein falsches Los gekauft und den Irrtum zu spät bemerkt. Stornieren konnte es die Kassierin nicht mehr, so habe ich gutmütig gesagt: „Na dann geben Sie es mir“, und hatte nunmehr ein Los mit Quicktipp und einem Joker, was immer das bedeutet. Ich, der bis zum Geiz sparsame und dem Glücksspiel Abholde, hatte nun ein Los – und damit, natürlich mit der Wahrscheinlichkeit eins zu Millionen, die Chance auf einen hohen Gewinn, oder wenn es nur vier richtige Zahlen hatte, auf ein Trinkgeld. Und dann habe ich es achtlos in die äußere Rocktasche gesteckt und dort vergessen, weil ich dieses Sakko nur „für schön“ trage. Aber das Schicksal ist hartnäckig – als dann Monate später mein Alltagsrock in die Putzerei musste, habe ich das Los in der Tasche gefunden und beim nächsten Einkauf gefragt, ob es noch gültig sei. „Schau ma halt“, meinte die Kassierin und steckte es in die Maschine, um sich dann mit weit aufgerissenen Augen zu mir umzudrehen. Zuerst sagte sie, im Schock, eine Minute lang gar nichts, dann kam die Meldung: „Stelln’s Ihna vor, das is der Hauptgewinn!! Und jössas, der Joker is a no drauf, mit dreihunderttausend Euro!!!!“ Gott sei Dank war ich vor dem Zusperren der einzige Kunde im Laden und reagierte rasch: „Wenn ich das Geld noch bekomme und Sie niemandem was erzählen, gibt’s einen Tausender Weihnachtsgeld für Sie, was heißt, fünf Tausender, auf die Hand, ja?“ Sie schlug blitzenden Auges in meine hingehaltene Hand und meinte: „Mach ma, trifft sich guat, ich geh Weihnachten eh in Pension!“

Drei Wochen später hatte ich fast zwei Millionen Euro auf der Bank und begann zu überlegen, was damit geschehen könnte. Die kleineren Sachen waren schon erledigt: ein neues Auto, die Wohnung mit Parkettboden und Tapeten renoviert, Bad frisch gekachelt, Garderobe ausgemustert und mit guten Sachen ergänzt, drei Wochen Urlaub in der Karibik und der zickigen Freundin den Weisel gegeben. Vor meinem Lottogewinn hatte sie mir öfter zu verstehen gegeben, dass sie als Tochter aus gutbürgerlichem Haus eine bessere Partie verdient hätte. Und nun hatte sie begonnen, Ansprüche zu stellen. Nein, nicht mit mir. Dabei hatte ich sowieso nur den Joker Hauptgewinn und zusätzlich einen Vierer zugegeben, weil meine nunmehr besseren Verhältnisse in der Nachbarschaft aufgefallen waren. Und den Mann aus dem Nebenhaus, der mir damals das falsche Los überließ, hatte vor Gift und Galle fast der Schlag getroffen – er grüßt mich seither nicht mehr. Na, dann nicht, selber schuld!

Ja, und so habe ich in den nunmehr häufigeren stillen Stunden allein zu Hause überlegt, was ich mit dem Geld anfangen soll. Am Sparbuch bekommt man keine Zinsen und die Inflation nagt am Guthaben wie eine Ratte an den Erdäpfeln im Keller. Der auf einmal sehr freundliche Kundenberater meiner Bank wollte mir schöne Fonds mit Wertpapieren verkaufen, oder wenigstens Staatsanleihen. Aber zum Staat habe ich nicht viel Vertrauen – ich sehe und höre ja dauernd im Fernsehen, wie die Staatsschulden steigen. Und mit Aktien kenne ich mich nicht aus. Damals, beim letzten Bankencrash vor ein paar Jahren, hat mein Geldinstitut auch einige Millionen verloren – da hat sie der eigene Berater wohl falsch beraten. Nein, solchen selbsternannten Fachleuten, die schon stinkend faule Kredite nicht einmal direkt vor der Nase erkennen, traue ich nicht. Aber was tun?

Mein Abteilungsleiter, der Dkfm. Sensenbrenner, dessen ruhig-überlegte Art ich sehr schätze, hat sich vor drei Jahren ein Haus mit großem Grundstück gekauft, etwa 30 km außerhalb Wiens, „Nur ein Grundstück oder ein gut gebautes Haus“, hat er gesagt, „behält und steigert seinen Wert, wenn die Lage passt und es öffentlich gut erreichbar ist. Für Gold braucht man sehr viel Kapital, und bei Aktien muss man sich schon jahrelang gut auskennen und dauernd am Ball sein.“ Also gut, Immobilien wären die Lösung. Aber welche und wo? Und da fiel es mir wieder ein: Wo wollte ich schon vor langer Zeit einen eigenen Bungalow haben und in der Pension das halbe Jahr dortbleiben? In Cornwall – wo ich damals den Englischkurs gemacht habe und so begeistert war von der schönen Küste und den mit herrlichen Gärten umgebenen Häusern. Kilometerlange Fuchsien-Hecken, riesige Hortensien, überall die prächtigsten Lupinen- und Fingerhut-Rabatte, da und dort struppige Palmen und immer wieder der Ausblick aufs Meer und der gute Geruch der Brise. Und auch der weite Blick über die mit niedrigen, grün bewachsenen Mauern getrennten Felder und Wiesen. Cornwall heißt ja Kornfelder, mit Mauern umgeben.

Gleich am nächsten Samstagvormittag habe ich die Karte meines damaligen Vermieters hervorgesucht und ihn angerufen. Er hat sich echt gefreut, wieder von mir zu hören; und ja, ich sei gerne als Gast willkommen. Platz genug, die Tochter sei ja inzwischen in London verheiratet; seine Frau Sarah und er wären schon in Pension. Wann ich kommen wolle? Ich gab Bescheid, erst müsse ich eine Vertretung im Büro finden, ich werde mich rechtzeitig melden, liebe Grüße an die Gattin, danke.

Dann habe ich mir aus dem Internet zwei Makler herausgesucht und per Mail angefragt, ob in der Umgebung von Falmouth oder Penzance ein kleines Cottage zu haben wäre – mit Garten, zwei Schlafräumen und in gutem Bauzustand. Meerblick wäre nicht Bedingung, aber in Küstennähe. Es sollte aber bald sein, solange England noch in EU-Verbindung sei, da wäre ein Verkauf an Ausländer sicher einfacher.

Eine Woche später saß ich schon im Flieger. Der eine Makler hatte nur große, teure Häuser anzubieten, aber der zweite, dessen Sekretärin auch beinahe wienerisches Deutsch sprach, hatte etwas Passendes im Portefeuille. Ein kleines liebes Häuschen mit traumhaftem Garten und ein etwas größeres, äußerlich unansehnlicher, aber mit Blick aufs Meer. Und preiswert, weil dessen Besitzer rasch verkaufen müsse. Mein Gastgeber, ein pensionierter Maurer, hat mich gleich vom Bahnhof zum Cottage zwei gefahren, und dort hat uns ein älterer Herr in schwarzem Anzug höflich-reserviert begrüßt und durch das Haus geführt. Auf meine Frage stellte er sich als der Butler des Verkäufers vor: „James, zu dienen“.

Weil das kleinere Cottage nach dem Motto „Außen hui, innen pfui“ billigst gebaut und eingerichtet war, mit rostigen Installationen und verwahrlosten Böden, kam nur mehr das größere Objekt in Frage. Mein Gastgeber Richard meinte, mit knapp 20.000 Euro für die nötigen Instandsetzungen wäre das Haus wieder wie neu; wenn wir bald anfangen, könnte alles bis Weihnachten fertig sein. Also retour zum Makler und ich stellte mein Angebot: Kaufpreis minus 20.000 Euro, die Immobilie müsse lastenfrei sein und der Verkauf rasch abgeschlossen, Unterschrift gegen Bargeld. Die hübsche Sekretärin bat ich um Übersetzungshilfe beim Vertrag und schrieb ihr meine Telefonnummer auf einen Hundert-Euro-Schein, was sie mit erfreutem Lächeln dankte. Nach einer Woche konnte ich unterschreiben und hatte ein Haus in Cornwall.

Aber nicht nur das, ich hatte offensichtlich auch den Butler mitgekauft. Der Vorbesitzer hatte kürzlich sein großes Anwesen infolge Insolvenz verkaufen müssen, das Cottage wollte er zuerst behalten. Dort war auch James bis zu seinem baldigen Pensionsantritt einquartiert. Aber weil er noch Schulden hatte, ist der Verkäufer – mit meinem Geld in der Tasche – noch am selben Tag nach Neuseeland geflüchtet. Weshalb mich James um ein Gentlemen’s Agreement ersuchte: Ob ich ihn noch bis Jahresende weiter beschäftigen wolle, denn er könne erst zu Neujahr den Alterssitz bei seiner Nichte in Schottland beziehen. Er würde mir halbtags sogar beim Renovieren helfen. Nun ja, ich hätte das Haus auch gekauft, wenn es ein paar tausend Euro mehr gekostet hätte, also in Gottes Namen! Mein neuer Butler holte eine „vergessene“ Flasche Champagner aus dem Keller und schenkte mir formvollendet ein Glas ein. War ich nun wirklich ein englischer Gentleman?

Na ja, da fehlte noch eine ganze Menge. Nach der ersten Nacht im Cottage weckte mich James vereinbarungsgemäß, brachte mir eine Tasse Tee ans Bett und servierte dann ein traditionelles englisches Frühstück. Nur die Zubereitung von trinkbarem Kaffee musste ich ihm zeigen. Aber sonst war ich meinem neuen Status hilflos ausgeliefert. Weder Kleidung noch Umgangsformen passten – und der durchaus gutwillige James war mit meiner „Umerziehung“ ziemlich überfordert. Noch dazu bei meinem lausigen Englisch! Ich habe ihn gebeten mir zu sagen und notfalls auch vorzuzeigen, wie sich ein vornehmer Hausherr geben sollte. Zeitsparenderweise möge er auch alle kostspieligen Höflichkeiten weglassen, wenn wir allein waren, und mich in der dritten Person belehren: „A Gentleman should …“. So in der Art halt.

Es war eine schwere Zeit für uns beide, ich getraute mich in seiner Anwesenheit nicht einmal mehr zu schnäuzen, und James bekam starke Abnützungen in der Halswirbelsäule, vom vielen hilflosen Kopfschütteln. Gott sei Dank war Richard unsere Rettung. Er brachte beim ersten Gespräch über die geplante Renovierung heraus, dass James in seiner Jugend Elektriker gelernt hatte, und so wurde dieser – von acht bis 16 Uhr – taxfrei zum „Hackler“ ernannt und durfte sich in dieser Zeit auch so benehmen; er musste nun Bier aus der Dose trinken und hatte sichtlich Freude an diesem Rollenspiel, aber manchmal seufzte er, er fürchte schizophren zu werden. Mit neuem Overall, weißem Schutzhelm und Bauhandschuhen korrekt gekleidet half er mit und war vorbildlich bestrebt, die Baustelle und Werkzeug sauber und aufgeräumt zu halten. Es war rührend zu beobachten, wenn James mittags den von Richards Frau Sarah gebrachten Eintopf in die Plastikteller schöpfte und vorher die Schalungstafel abwischte, welche auf rostigen Gerüstböcken lag. Exakt im vorgeschriebenen Abstand lagen das Besteck und die Papierservietten. Lästig war mir nur, dass alle externen Arbeiter und Lieferanten infolge seiner sauberen Kleidung und souveränen Haltung James für den Bauherrn hielten.

Robert Müller

Lust aufs Weiterlesen? Hier geht es weiter mit Teil 2 …

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Liechtenstein

Ich bin die galaktische Riesin.
Ich sitze im Schneidersitz auf der Venus.
Ich will die Erde aus Schokolade mit Zuckerguss und bunten Streuseln drauf.
Heute esse ich Liechtenstein.

Das Graffito der tanzenden Astronautin und Langspielplatten im Eingangsbereich der Diskothek Bollwerk

Das Graffito der tanzenden Astronautin und Langspielplatten im Eingangsbereich der Diskothek Bollwerk

Johannes Tosin
(Text und Bild)

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Erdäpfel

Woran denkt man, was assoziiert man unwillkürlich beim Wort Erdäpfel? Auf diese Frage bekommt man wohl viele, sehr unterschiedliche Antworten. Denn jeder Mensch hat seine eigenen Erfahrungen und Geschmackserlebnisse mit dieser Knolle, bis in die frühe Kindheit reichen diese Erinnerungen. Eine alte Bäuerin denkt vielleicht zuerst an die ehemals schwere Arbeit beim Ernten und das damit verbundene Kreuzweh, die herbstliche Kälte am Acker und den Geruch der Erde. Ein Kind ruft vielleicht begeistert „Pommes“, ein Gourmet denkt an die butterweichen „Heurigen“ Anfang Juni und die daraus hervorgegangenen Petersilienkartoffel als Beilage zum Spargel, ich weiß nicht, ob ich den Kartoffelpuffern oder den Waldviertler Knödeln (jeweils zur Hälfte rohe und gekochte Erdäpfel im Teig) meiner Kindheit den Vortritt lassen soll, und eine heutige Mehrkind-Mutter ist beim Zwetschkenknödel-Machen froh, dass es nun preiswerten Fertig-Kartoffelteig im Packerl gibt.

Meine Großmutter mütterlicherseits, geb. 1884 im Waldviertel, die immerhin zwei Weltkriege überlebte, hatte in der wirtschaftlichen Not ihrer Zeit von Kind an gelernt, mit Kartoffeln als immer verfügbarem Nahrungsmittel zu leben und aus dieser nahrhaften Knolle die verschiedensten schmackhaften Gerichte zu bereiten.

Diese Erdäpfelküche hat auch meine Mutter, geb. 1910, in den schlechten Zeiten bis in die 50er-Jahre sehr geschätzt und bis ins hohe Alter weiter kultiviert. Die billigste Ausführung waren die „eingebrannten Erdäpfel“, später fallweise mit Dille verfeinert, dann die vielfältigen Teige aus Kartoffeln und etwas Mehl für Nudeln, Strudel, Knödel und Krapfen. Das in der Nachkriegszeit sehr verbreitete süße „Erdäpfelbrot“ war ein beliebtes und preiswertes Gebäck (mit wenig Fett, Zucker und Eiern) zur Kaffeejause oder zum Sonntagsfrühstück.

Da waren die im Volkslied „Als Böhmen noch bei Österreich war“ apostrophierten „Skubanky“ oder wienerisch „Stubanken“, ein eher fester Brei aus Erdäpfeln und Mehl, mit Mohn oder bröseligem Topfen und Zucker bestreut und braune Butter darüber geträufelt, da gab es die bei uns Kindern beliebten Kartoffelpuffer (tschechisch „bramborak“), welche meine sparsame Großmutter immer als „Dieb im Schmalzhäfen“ bezeichnete, weil Fett in der Nachkriegszeit Mangelware war. Meine Mutter fand den Ausweg, diese auch „Reiberdatschi“ oder „Platzki“ genannten Fladen im viel billigeren Rindstalg herauszubacken – nur durfte dieses Fett nicht kalt werden.

Den „Waldviertler Grießsterz“ (aus Erdäpfeln und Grieß) und den „Erdäpfelbraten“ (je 1/3 kg Geselchtes, kalter Braten und gekochtes Rindfleisch, mit je 1 kg rohen und gekochten Erdäpfeln, ¾ kg Zwiebel und Gewürzen) kennen wohl nur mehr wenige …

Im Haushalt des Autors gilt noch der Brauch: Wer die (heißen) Erdäpfel schält, darf sich einen abzweigen, durchschneiden und die beiden Hälften gesalzen mit je einer Scheibe Butter sofort „von der Hand in den Mund“ essen. Es gibt nichts Besseres!!!

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 20122




Revolte oder was?

Jetzt reicht’s. Jetzt ist Schluss!
Schluss mit der Diskriminierung, mit der Zweiklassengesellschaft.
Er wird aufbegehren, protestieren, revoltieren.
Es muss ein Ende sein mit Vorurteilen, Kastentrennung und Snobismus. Schluss mit Eitelkeit, Großspurigkeit, Dünkel.
Er wird ziehen. In den Kampf wird er ziehen gegen Hochmut und Angeberei, gegen Chauvinismus, Hochnäsigkeit und Selbstgefälligkeit.
Es muss Demonstrationen, Revolutionen geben. Gegen Ungebundenheit, für Anhänglichkeit. Gegen loses Herumtreiben, für gezieltes Herumhängen.
Ein für alle Mal muss aufgeräumt werden mit Überheblichkeit, Arroganz und Besserwisserei.
Er wird dafür sorgen, dass es Gleichberechtigung und Anerkennung geben wird für ihn und seinesgleichen.
So wie es ist, kann es jedenfalls nicht weitergehen. Diese Welt der Hierarchien, der Unterscheidung zwischen Unberührbaren und Oberklasse, muss sich ändern.
Die Benachteiligung, die ihm widerfährt, dieses Mobbing, wo immer er herumhängt, er wird das keinen Tag länger hinnehmen.
Wie es doch auch vollkommen unbegründet, so völlig aus dem heißen Wasser gegriffen ist, dass seine Art minderwertig sei, nur etwas „für eine schnelle Nummer”, wie es heißt.
Eine Frechheit ist das. Eine Beleidigung, anmaßend, herablassend und unverschämt.
Deswegen rüstet er jetzt auf.  Er wird sich reinhängen, mit aller Kraft und Energie, mit Achtsamkeit und Widerstandskraft. Sein Credo, mit dem er in die Welt zieht, wovon er die Welt überzeugen wird, ist, dass „die Anderen”, wie er sie nennt, nicht besser, nicht wert- oder gehaltvoller sind, dass seinesgleichen mindestens so voller Inhalt, Seele und Leben, mindestens so wohltuend, gesund und wirksam sind wie die lose Gesellschaft, die sich für etwas Besseres hält.
In dieser Aufgabe wird er aufgehen, auch wenn er sich dabei aufreibt oder gar auflöst.
Und jetzt geht es los.
Gleich.
Bald.
Zeitnah.
Demnächst.

„Aber erstmal ein heißes Bad”, sagte der Teebeutel und ließ sich in die Tasse fallen.

Renate Müller
www.renas-wortwelt.de

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 20103




Vom Genuss der kleinen Dinge

Aus der Druckerei kommen stampfende, schlingernde Geräusche. Die Türe steht einen Spalt offen. Ein Plotter wirft großformatige glänzende Plakatbögen aus. Eingangs befindet sich eine rostige alte Schranke, sie sperrt den Weg in die Hofeinfahrt, doch diese Barriere ist höchstens symbolischer Natur, denn sie ist lediglich angelehnt. Es ist ein unscheinbares Anwesen, mit unansehnlichen niedrigen Hofgebäuden, wovon einige Mansarden schmücken, Relikte aus besseren Tagen. In der Luft liegt die süße Frische von Vorfrühling, doch die Botschaft ist trügerisch, es ist doch erst Ende Januar. Schränkung!, hatte Herr Friedrich notiert: Alles nur eine Frage der Schränkung! Zur Kurz-Info an mich selbst: ab sofort keine Softdrinks in der Betriebskantine.

Irene Müller hatte diese Notiz ihres Chefs aufgestöbert, zwischen den Blättern. Sie fand das gut. Gerade trat sie aus der Druckerei mit einem Stapel frischer Bögen im Arm. Irene lebte schon seit geraumer Zeit, seit einigen Jahren, in einem eigentümlichen Zustand von begnadeter Bitterkeit, den sie als ihr persönliches Streben nach Reinheit und Perfektion zu bezeichnen pflegte. Sie durchlebte ein beflügelndes Gefühl der süßen Entsagung: Wässer statt Limonaden. Roggen, Dinkel und Gerstenschrot in selbstgebackenen steinharten Laiben. Allenfalls aromatische Wohlfühl-Tees. Danach strebte Irene Müller, das war ihre Vorstellung von der Vollkommenheit, nur dass sie davon noch weit entfernt war, denn eigentlich … verspürte sie gerade im Moment ein heftiges Begehren.

Um es sich anschließend gleich wieder zu versagen: Irene träumt von einem großen saftigen Kebab. Heute Abend. Vor ihrem inneren Auge erblickt sie die Imbissbude an der Ecke, sie leuchtet in der Dämmerung. Der Verkäufer ist ein großer starker Mann, mit einer kleinen weißen, etwas infantil wirkenden Mütze auf dem Kopf. Er nimmt sein Fleischmesser und zieht es über den Schleifstock, die Klinge schwingt und zurrt unter jedem Streich. Die Schneide singt wie eine gespannte Saite, sie bebt, so wie Irene, die, ihre Schritte über das löchrige Pflaster im Hof der Druckerei lenkend, auf einem Luftkissen aus Vorfreude schwebt. Halb die Augen geschlossen, lässt sie die Bilder an sich vorbeiziehen: Endlich ist der Moment gekommen! Der Meister tritt an den heißen, dampfenden Kegel heran, das Messer gleitet in die Tiefe, teilt die Massen von Fleisch und löst feine Scheibchen ab, innen noch rosa und außen herrlich kross. Hauchzart, in Blattstärke, gekräuselt wie die Ringellocken, kullern sie in die Tiefe, wo der beherzte Fleisches Schnitter sie virtuos auf einer flachen Schaufel auffängt zwischen Wogen aus Dampf. Während des Meisters Gehilfe, ein schlanker Bursche mit dunklen feurigen Augen, mit sanften langen Wimpern, das warme Weißbrot zerschneidet, mit frischen Zwiebeln bedeckt, aus Tomaten und in Streifen zerteilten grünen Paprika, ein Bett bereitet für das weiche dampfende Fleisch …

Irene Müller schüttelt den Kopf. Zur Kurz-Info, sagt sie harsch, an mich selbst! Schluss, ein für alle Mal, mit diesem ganzen Fast-Food-Mist!

Kurz-Info, das hatte Friedrich geschrieben: an mich selbst! Keine Limos mehr. Kein Zucker. Schränkung ist geboten. Auf ein kleines Memoblättchen hatte er die Worte gekritzelt. Eine winzige Blattstärke nur zwischen dem Stoß aus Flugblättern, war es versehentlich haften geblieben, wo es nicht sollte. Dort hatte Irene Müller die Botschaft entdeckt, sie war nicht für sie bestimmt, aber sie mochte das. Sie, die sich so gerne Dinge ausmalte, um anschließend mit Nachdruck darauf zu verzichten: ihre persönliche, in Wollust getränkte Bitterkeit. Heißes dampfendes Fleisch. Irene Müller leckte sich mit der Zungenspitze über die Lippen, ohne das es ihr bewusst wurde. Sie spitzte den Mund: heute Abend! Sie schwelgte in Vorfreude auf ihren Kebab. Er wird so riesengroß sein wie ein Vollmond, innen weich und außen knusprig, sie verspürt schon den Duft von Salbei und Thymian. Nach Bratfett, und dazu der Geruch von Grillgewürz. Grillgewürz!

Jählings hält Irene Müller im Schritt ein, so abrupt, dass die Papierstöße auf ihrem Arm gefährlich in Schieflage geraten. Wie grauenhaft! Sie schüttelt sich vor Ekel: Grillgewürz. Mit einem Schlag ist ihr eingefallen, wie sehr sie das Zeug schon immer verabscheute, diese grässlichste Erfindung der Menschheit seit der Erfindung der Konservendose. Der Tod aller Sinnlichkeit, geistlose Einheitsgeschmacksbeglückung auf den Papptellern dieser Welt, zwischen pampigen Brotscheiben und fettiger Mayonnaise. Widerlich. Hastig ordnet sie den Stapel, die frischen glänzenden Plakate, die sie gerade noch in den Tiefen ihrer Armbeuge balanciert hatte. Aus der Mitte der Blätter hat sich ein gelbes Zettelchen gelöst. Die Botschaft, die Herr Friedrich nie an sie schrieb, gleitet sanft zu Boden und flattert wie ein Falter in der Frühjahrssonne über dem löchrigen Hofpflaster dahin. Irene achtet nicht darauf, sie ist beglückt. Darüber, dass sie widerstanden hat.

März 2020

Ulla Puntschart
https://ulla-puntschart.jimdo.com/

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 20045




Eine Party auf der Wiese

Es war ein ungewöhnlich warmer, sonniger Samstag Anfang März im nördlichen Allgäu, als Mark auf die Veranda trat, um eine Zigarette zu rauchen. In Jeans und Polohemd schlenderte er an den großen Blumen- und Kräuterbeeten des geschmackvollen, etwas wild wirkenden Gartens vorbei. Seine dunklen Haare waren nass von der Dusche, die er zuvor genommen hatte. Aus der Küche drang geschäftiges Treiben, das Fenster stand weit offen und Mark beobachtete Maurizio und Sophie, die lachten und sich unterhielten.

Bunte Blumen reckten ihre Köpfe Richtung Sonne, er erkannte Schneeglöckchen, Leberblümchen, Märzenbecher, Schlüsselblumen und Löwenzahn. Die blühenden Kräuter waren ihm fremd, aber der Geruch, der von ihnen ausging, war betörend.

„Wunderschön, nicht wahr?“ Chiara, die Tochter von Maurizio, stand plötzlich hinter ihm. Ihr schulterlanges schwarzes Haar glänzte in der Sonne und ihre tiefblauen Augen strahlten Mark an. Sie trug ebenfalls Jeans und eine zartrosa Bluse, die ihren makellosen Teint unterstrich. In einigem Abstand folgte der Hund des Hauses ihr und beobachtete sie.
„Ja, bemerkenswert, was hier schon alles blüht um diese Jahreszeit“, entgegnete Mark.
„Der Winter heuer war sehr mild, darum ist die Natur schon weit fortgeschritten.“
„Aber was ist mit diesen Blumen hier, die sind wohl nicht ganz fit durch den Winter gekommen?“, fragte er und deutete auf einige krokusartige, verwelkte Blüten.
„Das ist Crocus sativus. Meine Großtante Sophie erntet daraus im Herbst Safran.“
Chiara schmunzelte bei dem verblüfften Gesichtsausdruck von Mark.

***

Maurizio und Sophie beobachteten die beiden und grinsten sich an.
„Was für ein schönes Paar sie abgeben würden, was?“, meinte Chiaras Vater.
„Es knistert gewaltig bei den beiden, aber sie sind viel zu schüchtern. Seit vier Wochen wohnt er nun bei uns hier im Gästezimmer, aber da rührt sich nichts. Ich denke, du wirst mit deinen Kochkünsten nachhelfen müssen, Maurizio. Immerhin bist du Italiener, also lass dir was einfallen!“

Sophie strich sich ihr langes, widerspenstiges Haar aus dem Gesicht und öffnete den Kühlschrank.
„Was führt ihr nun wieder im Schilde, ihr zwei?“ Katharina betrat die Küche und umarmte ihren Mann von hinten.
„Allora, dann lasst uns kochen aphrodisiaco!“.

***

Mark zündete sich eine weitere Zigarette an, und seine Gedanken schweiften ab. Er erinnerte sich gut, als er vor vier Wochen hier in Deutschland angekommen war aus Amerika und ein Zimmer suchte. Da war ihm Sophie das erste Mal begegnet. Wie aus dem Nichts stand da ein Hund am Hauseingang, stolz und erhaben kam er auf Mark zu und hielt einige Meter vor ihm an, musterte ihn, sein Fellkleid schimmerte in allen Brauntönen. Mark nahm befremdliche Duftnoten wahr, es roch intensiv erdig, nach Myrrhe und Moschus. Kalte Schauer liefen ihm über den Rücken, ihm wurde übel.

Dann vernahm er ein leises Zischen hinter ihm. Plötzlich stand sie da, ihre Augen geschlossen, ihre langen grauen Haare wehten im Wind, sie kräuselte fast unmerklich die Nase, ihre Nasenflügel bebten – als würde sie an Mark riechen, zog sie mit einem leisen Zischlaut die Luft durch den leicht geöffneten Mund ein. Dann lächelte sie und öffnete die Augen. Mark wich vor Schreck zurück, er hatte nie in seinem Leben solche Augen bei einem Menschen gesehen, bernsteinfarben!

„Deine Großtante ist eine sehr …, wie sagt man, eigenartige Person? Mir fällt das richtige Wort nicht ein.“
„Ist sie dir unheimlich?“, fragte Chiara amüsiert.
„Am Anfang schon, ja. Aber nun wirkt sie eher geheimnisvoll auf mich. Vor allem ihre Augen, die ständig die Farbe zu wechseln scheinen. Und ich frage mich, wie alt sie sein mag. Manchmal wirkt sie beinahe jugendlich, dann wieder ziemlich alt.“
„Manchmal Elfe, manchmal Hexe. So ist sie, unsere liebe Sophie“, entgegnete Chiara.

„Hey, Americano, hilf mal den Tisch rauszutragen, wir essen heute in der Sonne, sui prati!“, rief Maurizio aus der Küche. Schnell wurden Tisch, Bänke, Stühle auf die Wiese getragen, eine weiße Leinentischdecke glattgestrichen und Katharina brachte große Teller und Weingläser.
„Kommen Gäste?“, wollte Mark wissen, als er die Anzahl der Gedecke sah.
„Ganz sicher“, entgegnete Chiara.
„Was feiert ihr denn?“, fragte er.
„La dolce vita, Mark! Wer weiß, wie lange uns das noch möglich ist? Es könnte ganz schnell anders sein.“ Sophie richtete ihren Blick Richtung Himmel und ein paar Sorgenfalten waren auf ihrer Stirn zu erkennen.

Kurze Zeit später trafen tatsächlich Gäste ein. Nachbarn, Bekannte, Freunde. Sie brachten selbstgebackenes Brot und Süßigkeiten mit. Wie selbstverständlich nahmen sie am Tisch Platz und unterhielten sich. Einige von ihnen musterten Mark und Chiara, die nun nebeneinander auf einer der Bänke saßen. Die ersten Platten wurden von Katharina und Maurizio rausgetragen, marinierte Erdbeeren, frittierte Artischocken, Sellerie mit Frischkäse, süßsaurer Orangensalat mit Basilikum und noch vieles mehr, die Primi Piatti nahmen den gesamten Tisch ein. Sophie brachte gekühlten Vermentino Wein und reichte den Gästen die Flasche. Sie war barfuß und ihr bodenlanges orangefarbenes Kleid wehte im Frühlingswind. Um ihre Taille war ein breiter Ledergürtel geschlungen, an dem mehrere kleine Leinenbeutel mit Kordel hingen. Sie griff in einen hinein und verteilte unbekannte Gewürze auf den Gerichten.

„Esst und trinkt, Freunde! Ich habe alles letzte Woche frisch aus meiner Heimat Ligurien geholt!“ Maurizio hielt ein Glas Wein in die Höhe und prostete in die Runde. Dann holte er tief Luft und begann zu singen:
„Una festa sui prati
una bella compagnia
panini, vino un sacco di risate
e luminosi sguardi di ragazze innamorate
ma che bella giornata
siamo tutti buoni amici …“

Mark genoss diese herrliche Stimmung am Tisch, er fühlte sich nach Italien versetzt und blickte in die gesellige Runde.
„Ich möchte wissen, was er singt? Alle lachen und ich kann nichts verstehen.“ Mark beugte sich zu Chiara und nahm ihren verführerischen Duft wahr. Ihre Lippen glänzten vom Olivenöl und Aceto Balsamico.
„Mein Vater singt von einer Party auf der Wiese, von einer netten Gesellschaft bei Essen und Wein, von strahlenden Blicken verliebter Mädchen, von guten Freunden, …!“
„Und weiter?“, Mark sah ihr an, dass sie absichtlich nicht alles übersetzte.
„Nun ja, von diesem Fest, das nicht enden soll, es solle das ganze Leben lang dauern, denn ist ein Fest der Liebe und der Liebenden ….“ Chiara senkte ihren Blick auf den Teller, ein zartes Lächeln umspielte ihren Mund.

Mark rückte näher an sie heran, er wusste nicht, warum er plötzlich so beschwingt war. Vom Wein? Von Maurizios Gesang? Oder von Chiaras Anblick, der ihn mehr und mehr verzauberte. Eine wohlige Wärme erfasste ihn, und mit jedem Bissen dieser aromatischen Gerichte und mit jedem Glas Wein fühlte er sich glücklicher. So eine innere Zufriedenheit hatte er schon lange nicht mehr gespürt, dennoch war ihm auch etwas mulmig zumute.
„Ob sie ähnlich empfindet?“, fragte er sich. Um seine Beine schmiegte sich nun Sophies Hund, langsam legte er sich ins Gras, seinen Kopf auf Marks Turnschuh gebettet rollte er sich zusammen und schlief.

Nach einer Weile wurde feinstes Risotto Milanese gebracht. Sophie streute ihren selbst geernteten Safran über den Inhalt der riesigen Pfanne und aus einem anderen Beutel entnahm sie weitere Gewürze. Der Duft von Paprika, Kardamom, Chili, Ingwer und Koriander schwebte durch die Lüfte und die Gäste genossen mit „Aaah“ und „Ooooh“-Lauten und geschlossenen Augen dieses Aroma.
„Scharfe Sache!“, entfuhr es Mark, als er den ersten Bissen nahm und sich beinahe verschluckte.
„Ooooh ja, vorsichtig genießen, Mark. Sophie ist nicht zu unterschätzen“, flüsterte Chiara und zwinkerte ihm zu.

Immer näher rückten die beiden zusammen, zu fortgeschrittener Stunde, und nach einer betörenden Panna Cotta mit frischer Vanilleschote und Dessertwein betrachteten alle den prächtigen Sonnenuntergang.
„Wann ist dein Rückflug eigentlich geplant, Mark?“, wollte Katharina wissen.
„Meine Heimreise ist in zwei Tagen.“

Katharina reichte ihm eine Zeitung.
„Ich glaube nicht, dass das was wird. Dein Mister Präsident lässt keinen mehr ins Land reisen, der mit Ländern in Kontakt war, wo das Coronavirus umgeht.“
Mark überflog die Schlagzeile auf der Titelseite und musste lächeln.
„Willst du nicht hierbleiben, bei uns? Was hält dich in Amerika?“, fragte Sophie über den Tisch hinweg.
„Was mich hält? Wenn ich so recht überlege, hält mich dort gar nichts mehr. Mein Heimatland wird mir zunehmend fremd.“
Plötzlich spürte Mark die Hand von Chiara auf seinem Knie. Sie blickte ihm tief in die Augen:
„Bleibst du hier? Bei uns?“, flüsterte sie.
Mark legte seinen Arm um ihre Schultern und erwiderte ihren Blick.
Und aus dem Tiefblau ihrer Augen wurde unverhofft ein sattes Smaragdgrün mit einem bernsteinfarbenen Ring um den Rand der schwarzen Pupille.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

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