Was man für das Leben braucht 2

Nicht so schnell! Kennen Sie schon Teil 1? Dies ist die Fortsetzung.

Diese Erkenntnis saß so tief, dass ich mich schlussendlich für den Lehrberuf Bürokaufmann/-frau entschied und eine solche Lehrstelle bei einem Gemeindebetrieb in Wien bekam, bei dem meine erste Aufgabe in der Abteilung der Rechnungsprüfung darin bestand, mit einem Taschenrechner und einem handschriftlichen Zettel (das war im Jahr 2005), die ebenfalls handschriftlich eingereichten und zusammengerechneten Tagesfahrten der Außendienstmitarbeiter*innen auf deren Richtigkeit zu überprüfen. Als ich vorschlug, die jeweiligen Kilometer der Fahrten doch einfach im Excel statt auf einem handschriftlichen Zettel zu führen, und die zauberhafte Wirkung des Summe-Buttons vorführte, wurde ich als neues Genie gehandelt und mit leuchtenden Augen von der IT-Abteilung angefordert, mit dem Argument, dass gerade in diesem Bereich innovative junge Leute wie ich gesucht wurden, die die Arbeitswelt schon in ihrer ersten Woche revolutionierten.

Erinnerungen an meine Volksschulzeit wurden wach, während ich mich zwang, nicht darüber nachzudenken, wie es sein konnte, dass Menschen, die zwischen 30 und 40 Jahre in diesem Unternehmen arbeiteten, nicht von selbst auf eine Idee kamen, die ein sechzehnjähriger Lehrling in seiner ersten Arbeitswoche hatte.

In der IT-Abteilung wurden mir innerhalb kürzester Zeit sämtliche Aufgaben meiner Kolleginnen und Kollegen übertragen, die fortan um 07:30 Uhr an ihrem Schreibtisch ihre Sachen ablegten, das Büro verließen, sich kurz vor der Mittagspause um 11:00 Uhr im Büro trafen und gegen 14:45 Uhr ihre Sachen im Büro wieder abholten, weil um 15:30 Uhr bekanntlich Dienstschluss war.
An richtig heftigen Stresstagen war ich mit all den übertragenen Aufgaben in etwa einer Stunde fertig und erfuhr, dass in der Abteilung der Rechnungsprüfung die Überprüfung der Tagesfahrten der Außendienstmitarbeiter*innen doch wieder handschriftlich durchgeführt wurde, weil der Hauptabteilungsleiter kritisierte, dass er nicht argumentieren konnte, dass acht Leute in diesem Referat sitzen mussten, wenn er einfach gar nichts in die Tätigkeitsbeschreibung schreiben konnte, da die Excellisten ja bereits von den Außendienstmitarbeiter*innen befüllt und summiert wurden.
Dazu sei gesagt, dass selbst bei handschriftlicher Bearbeitung eine einzige Person bis allerspätestens zur Mittagspause mit der gesamten Arbeit fertig gewesen wäre.

Als ich erkannte, dass sich an diesem Stresslevel auch in der IT-Abteilung so schnell nichts ändern würde, war das Problem nicht mehr die Arbeit, sondern die Zeit, die so gar nicht vergehen wollte. Anfangs fragte ich meinen Chef nach neuen Tätigkeiten bzw. übernahm als unlösbar geltende Aufgaben, die in der Regel in ganz schlimmen Fällen ein wenig die Komplexität des Excelvorschlags überschritten, und erarbeitete mir so einen Ruf als Problemlöser für die unlösbar scheinenden Fälle.
Dennoch blieben durchschnittlich sieben Stunden täglich übrig, die vergehen mussten. Ich las Bücher, surfte im Internet, traf mich mehrere Stunden am Tag mit anderen Lehrlingen, bis ich begann, vorerst einmal nur die organisatorischen Dinge, die für die Ausübung meiner Hobbys notwendig waren, in die Arbeitszeit zu verlegen, wodurch ich ein paar Stunden Dienstzeit mehr sinnvoll nutzen konnte bzw. ich meine Freizeit mit derartig viel spannenden, spaßigen Beschäftigungen verplanen konnte, dass ich mich in der Dienstzeit von meiner Freizeit erholte. Ich konnte mir also durch die Erholung von meinen Hobbys selbige finanzieren und so zogen einige glückliche Jahre ins Land.

Nach dem Bundesheer kam ich zurück zu meiner Dienststelle und mein Chef suchte das Gespräch. Er teilte mir mit, dass sehr dringend EDV-Techniker*innen gesucht wurden und man mit der Bezahlung, so ich einverstanden wäre, durchaus etwas machen könne, da der Abteilungsleiter ihn darauf angesprochen hatte, wie es sein konnte, dass die Arbeit, seit der Lehrling beim Bundesheer ist, von niemandem erledigt wurde, obwohl mehr als genug Leute da wären, die dafür zuständig wären. Dadurch wurden die pragmatisierten Kolleginnen und Kollegen zur Pflicht gerufen und festgestellt, dass selbst für eine einzige Person zu wenig Arbeit da wäre, während EDV-Techniker*innen dringend gesucht wurden.

Da mein Chef meine Anpassungsfähigkeit an einen veränderten Arbeitsalltag im Vergleich zu meinen pragmatisierten Kolleginnen und Kollegen völlig überraschend höher einschätzte, war ich, ohne einer einzigen offiziellen Ausbildung für diesen Beruf, plötzlich EDV-Techniker und beging, bei einer Büroübersiedlung, bei der sämtliches EDV-Equipment demontiert und in einem neuen Büro wieder aufgebaut und angeschlossen werden sollte, den klassischen Anfängerfehler, nämlich an einem Tag bis zur Mittagspause fertig zu sein. Ich wurde also ins Chefbüro zitiert und nach meinem geistigen Gesundheitszustand befragt, weil für die von mir durchgeführte Tätigkeit zwei Wochen Bearbeitungszeit veranschlagt worden waren und jetzt alle Fachabteilungen erwarten würden, dass sämtliche Übersiedlungen innerhalb eines Vormittags erledigt würden. Ich entschuldigte mich demütig für mein Fehlverhalten, passte mein Arbeitspensum den Vorgaben an und konnte mich somit, bei deutlich besserem Gehalt, weiterhin in der Dienstzeit von meiner Freizeit erholen. Weitere glückliche Jahre zogen ins Land.

Eine Stelle in einem Referat, das für die Entwicklung und Betreuung von Software zur Abwicklung von Geschäftsprozessen im Unternehmen zuständig war, wurde frei und die ersten Gespräche mit dessen Chefin waren sehr vielversprechend. Zum ersten Mal hatte ich als Reaktion auf einen Satz, der einen Beistrich enthielt, keinen verwirrten Gesichtsausdruck oder einen leeren, ausdruckslosen Blick, sondern freudige Überraschung darüber, dass es uns beiden tatsächlich mitten in der Dienstzeit passierte, auf einen angenehm intelligenten, grundsätzlich motivierten Menschen getroffen zu sein. Nach zehn Minuten Gespräch hatten wir das Gefühl, gemeinsam die Macht wieder ins Gleichgewicht bringen bzw. mit einem einfachen „Nein“ sämtliche auf uns gefeuerte Munition stoppen und auf den Boden fallen lassen zu können.

Das nochmals höher angebotene Gehalt inkl. der Versicherung, dass meine Bedenken, für die Tätigkeit keine offizielle Ausbildung zu haben, unbegründet sein, da alle in diesem Referat inkl. ihr selbst, die gleiche Lehre abgeschlossen hatten wie ich und sich autodidaktisch in die Entwicklung der Systeme hineingearbeitet hatten, beruhigte mich zu Beginn. Beim Kennenlernen der unterschiedlichen Entwicklungen stellte sich heraus, dass die daran beteiligten Leute sich viele Fragen nicht gestellt hatten, die die tägliche Arbeit der unterschiedlichen Fachbereiche aber deutlich erleichtert hätten. Es stellte sich allerdings auch heraus, in welchem Ausmaß auch nur die kleinsten Änderungen Auswirkungen auf die jeweiligen Fachbereiche hatten, und wie sehr sich all diese Fachbereiche vorerst einmal einig und für Änderungen offen sein mussten, um Veränderungen überhaupt andenken zu können.

Schon als EDV-Techniker wurde ich zu den „schwierigen“, „nie zufriedenen“ Leuten geschickt, bei denen in den allermeisten Fällen freundliches, empathisches Zuhören und das Finden einer dementsprechenden Lösung ausreichte, um sie vollumfänglich zufriedenzustellen. Kurzum: Im Team meiner neuen Chefin war ich in meinem Element. Das Erkennen und bis zur letzten Verästelung Durchdenken komplexer Zusammenhänge, das Finden einer pragmatischen, für alle Beteiligten besseren Lösung, und diese Lösung empathisch den jeweiligen Fachabteilungen vorzutragen, machte mir in einem Ausmaß Spaß, das ich beruflich bis dahin nicht erlebt hatte. Zusätzlich war das Arbeitspensum dennoch relativ überschaubar, wodurch ausreichend Zeit war, um sich mit allen Themen bis ins letzte Detail zu beschäftigen und an einer idealen Lösung zu arbeiten.

Das sollte sich drastisch ändern.

Lukas Lachnit

Ab ins Finale, zu Teil 3!

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22107