Der Knecht von Modriach

Für Simona und Jürgen.
Danke für die Inspiration.

Gleich nach dem Aufstehen gönnt er sich einen Literkrug Most, der Albin Breitschwengler. Das macht er gerne und täglich.
Dann streicht er einen großen Klotz Bauernbrot auf beiden Seiten fingerdick mit Grammelschmalz ein und macht sich über die Kronen Zeitung her.
“Du dummer Hund! Du Gauner, Halunke und Dieb!”, brüllt er dann oft, wenn er etwas lesen muss, das ein anderer Mensch gemacht hat und das ihm gegen den Strich geht. Und das passiert halt oft.
Fluchen tut er übrigens fast immer, aber mit sechsunddreißig Jahren darf er das wohl.

In Modriach in der Steiermark, wo er herkommt, macht das aber nichts, weil in dem Ort eh nur ein paar Menschen leben.

Er selbst, der Breitschwengler, wohnt auf dem Breitschwenglerhof, den sein Papa Adolf und seine Mama Trudl ihm vermacht haben. Die beiden sind seit vier Jahren unter der Erde, und manchmal denkt ihr Sohn an sie.
‘Ja ja, der Vater und die Mutter – die haben keine Sorgen mehr!’, denkt er dann und erschlägt ein paar Ratzen auf seinem Hof.
Ratzen hat er nämlich viele, aber er hat ja auch viele Sauen und sogar zwei Ochsen im Stall, und viele Henderln, die frei herumrennen.
Nach der Kronen Zeitung braucht Breitschwengler meist einen Schnaps. Aber keinen normalen, sondern einen Obstler – Ehrensache.
Aber weil ein Stamperl halt nicht so viel fasst, sind es meistens zwei oder drei.
Dann macht er sich gestärkt an die Arbeit.

Breitschwengler ist nämlich der Knecht auf seinem Hof, also ist er sein eigener Herr.

Seine Schwester, die Sopherl, hat nie was mit der Landwirtschaft zu tun haben wollen. Sie ist Schneidermeisterin in Peggau und kommt nicht mehr nach Modriach.
Als Adolf und Trudl Breitschwengler noch gelebt haben, ist sie schon ab und zu gekommen, doch seit der Albin alleine auf dem Hof ist, traut sie sich nicht mehr dorthin.
“Du bist ein Depp und ein gefährlicher Irrer!”, hat sie ihrem Bruder auf den Kopf zugesagt. “Eingesperrt g‘hörst!”
Dann ist sie gefahren.

Breitschwengler wurde auf dem Hof geboren.
Als seine Mama gesehen hat, was für ein prachtvolles Kind sie bekommen hat, da hat sie sich gefreut und gleich gerufen: “Der wird Knecht!” Es war nämlich immer schon ihr Traum, einen Knecht zum Sohn zu haben.
Seinem Papa war das egal. Er hätte es schon gerne gehabt, wenn sein Bub etwas Anständiges wird, ein Pfaffe oder ein Kiberer vielleicht, doch hat ihm der Mut gefehlt, der Trudl zu widersprechen.
Einmal hat er das zwar schon gemacht, aber da die Trudl immer, wirklich immer und egal wo sie war, ein Stamperl oder gleich eine Flasche in Griffweite hatte, nahm er sich danach vor, keine zweite Beule auf seinem Kopf zu riskieren.
Also wurde Breitschwengler Knecht. Die Trudl hat das in die Hand genommen, weil es war ja ihr Wunsch gewesen.
Albin war ein kräftiger Bub, schon mit zwei Jahren hat er seinen ersten Ratz erschlagen, und seine Mama war sehr stolz. Da hat sie es endgültig gewusst: “Der wird ein echter Knecht!”

Am Anfang wollte er seinen Schnuller nie in den Mund nehmen, wenn sie diesen vorher in ihr Stamperl getaucht hatte.
Wie oft hat sie gesagt: “Jetzt nimm den Zutz in den Mund, Albin! Sonst wirst nie ein gescheiter Knecht!”
Dass er dann doch ein gescheiter Knecht geworden ist, daran sind wohl die Tachteln schuld. Denn die haben es ihm leichter gemacht, den Schnuller in den Mund zu nehmen.
Einmal hat der Breitschwengler seiner Mama einen Vorwurf gemacht, da war er zehn Jahre alt.
“Mutter”, hat er gesagt, “wenn du den Zutz in den Most getaucht hättest und nicht in den Obstler, würde vielleicht ein noch besserer Knecht aus mir.”
Da hat die Trudl gelacht, ihrem Bub die Hand ausnahmsweise sanft auf die Backe gelegt und gemeint: “Das passt schon, Bub. Du bist eh auf dem richtigen Weg.”

Die Gisela Bartler, seine Lehrerin in der Modriacher Volksschule, hat das anders gesehen.
“Warum hat der Albin immer so glasige Augen?”, hat sie die Trudl Breitschwengler oft gefragt.
“Gisi”, hat Trudl dann gesagt, “du weißt ja eh, wie das ist. Er wird halt ein Knecht. So wie der Manfred, dein Bruder, der ist ja auch Knecht geworden.”
“Ja!”, hat die Bartlerin dann immer gerufen. “Er ist ein Knecht geworden, weil er der Stärkste von den Buben war. Da war es ja klar, dass es um seinen Kopf nicht schade ist. Aber der Albin ist dein einziger Sohn! Also hör in Gottes Namen damit auf, ihm Alkohol zu geben!”
“Der Bub wird Knecht – und basta!”
In der Volksschule war Breitschwengler keine Leuchte.
Zwei Jahre hat er gebraucht, bis er es geschafft hat, in die Klasse seiner jüngeren Schwester zu kommen. Die war darüber gar nicht froh, denn so hat ganz Modriach erfahren, dass Albin die Volksschule nur geschafft hat, weil sie alle Hausübungen doppelt hat machen müssen – einmal für sich selbst und einmal für ihn.

Nach der Volksschule ist er in die Hauptschule gegangen und hat dort Rupert Schröll kennengelernt.
Schröll kommt auch von einem Bauernhof, aber aus der Ortschaft Edelschrott. Er war ein schmächtiger Bub, der nie hätte Knecht werden können, also wurde er ein Tischler und ein Jäger.
Die beiden Buben haben sich gut verstanden, und so wurde eine Freundschaft daraus.

Eine Lehre hat Breitschwengler nicht machen dürfen.
Nach der Hauptschule, für die er fünf Jahre gebraucht hat, ist er Knecht geworden.
Unter den Habichtsaugen seines Papas und den Bärentatzen seiner Mama hat er gründlich alles gelernt, was ein gescheiter Knecht wissen und können muss.
Er hat sich um das Vieh gekümmert, und ganz besonders um die Ratzen.
“Die Viecher hab ich gern”, hat er oft gemurmelt, wenn seine Mama nicht dabei war. “Aber die Ratzen mag ich nicht!”
Folglich hat Breitschwengler viele von ihnen mit dem erschlagen, was er gerade in der Hand gehabt hat.

Nachdem er sich also einen Liter Most und ein paar Stamperln Obstler eingeschenkt und sein Grammelschmalzbrot so weit verdaut hat, dass er sich wieder rühren kann, was um circa elf Uhr der Fall ist, macht sich Breitschwengler an die Arbeit.
Er geht in den Stall, mistet ihn aus, geht dann in den Stadl Heu holen und wieder in den Stall, den Viechern das Heu geben.
Dann sammelt er noch die Eier von den Hendln ein und denkt sich: ‘Ich hätte den Fuchs nicht abschießen sollen! Wenn ich das nicht gemacht hätte, hätte ich zwar keinen schönen Fuchsschwanz auf dem Schlüsselbund, aber der Fuchs würde sich nach und nach die Hennen holen und ich müsste nicht immer Eier klauben!’

Breitschwengler ist ein großer Jäger. Seine Gewehre hat er von seinem Papa vererbt bekommen, aber er hat dessen Jagdschein nicht auf sich umschreiben können. Er hat zwar dreimal versucht, die Jagdprüfung zu machen, aber ein viertes Mal wollte er sich den Stress nicht antun.
Er hat schon viele Tiere geschossen, sogar einen Uhu und einen Habicht.
Das mit dem Ara der Schmitzers war ein Versehen, wie er Otto Kipf, dem Dorfgendarmen, glaubhaft versichert hat.
“Mach dir keinen Kopf wegen dem lauten Mistvieh”, hat Kipf gesagt. Und dann hat er noch etwas gesagt, aber ein bisschen leiser: “Was glaubst du, wie oft ich schon auf den Vogel gezielt habe? Aber mit so einer Dienstpistole triffst ja nichts.”

Nach der Arbeit ist es für Breitschwengler an der Zeit, ins Gasthaus zu gehen.
Die einzige Gastwirtschaft, die es in Modriach noch gibt, ist die Hütte zum immer vollen Krug, aber sie wird von den Modriachern der Einfachheit halber Windn genannt.
Die Windn betritt Breitschwengler stets, also wirklich täglich (weil einen Ruhetag kann sich der Besitzer der Windn, der von den Modriachern einfach Wirtn genannt wird, nicht leisten) mit einem Ruf, mit dem er kundtut, in welcher Verfassung er sich befindet.
Es kommt oft vor, dass er in die Windn geht, den Wirtn anschaut und “Durst!” ruft. Der Wirtn stellt ihm dann schnell einen großen Krug Most hin, und Breitschwengler nimmt gut fünf große Schlucke. Dann rülpst er und ist fürs Erste zufrieden und begrüßt die anderen Gäste in der Windn.
Es kann aber auch passieren, dass er “Vögeln!” ruft.
Dann ist es besser, wenn Irmi Motschger nicht im Lokal ist, denn die brüllt dann immer: “Dann geh halt nach Edelschrott ins Puff!”
Daraufhin wird Breitschwengler zuverlässig sehr zornig und heißt die Motschgerin entweder “Wabe!”, “Trutsche!”, “Hexe!”, “Voglscheuche!” oder “Trampel!”, aber immer sagt er dazu, dass sie das in der betagten Ausgabe ist.

Breitschwengler hat nämlich keine Frau.
Er hat es nie mit einer festen Freundin probieren wollen, sondern immer nur die genommen, die er in Modriach, oder eben in Edelschrott, abbekommen hat.
Einmal hat Breitschwengler eine Frau im Wald getroffen, nämlich die Claudia Möslinger. Sie ist auf ihn zugegangen und hat ihm auf den Hosenstall gegriffen, was ihn zuerst sehr erschreckt hat, aber dann hat es ihn sehr gefreut.
Er hat ihr dann auf ihren Busen gegriffen, was sie gar nicht erschreckt, dafür aber sehr gefreut hat.
Bald darauf haben sie sich ausgezogen und auf den weichen moosigen Waldboden gelegt. Zuerst hat Breitschwengler sich bewegt, dann hat die Möslinger die Sache in die Hand genommen, weil er keine Erfahrung gehabt hat und dementsprechend rustikal ans Werk gegangen ist.
Seit diesem Tag ist Breitschwengler bei den Frauen in Modriach als Grobian verschrien und kriegt kaum noch eine ab.

Dann, wenn die Motschgerin das gesagt und er geantwortet hat, will er keinen Most, sondern bestellt gleich ein Stamperl beim Wirtn, aber vom Obstler – Ehrensache.
Der Wirtn schaut Breitschwengler dann skeptisch an, schenkt zur Sicherheit gleich ein sehr großes Stamperl ein und stellt die Flasche auch gar nicht zurück ins Regal, sondern auf den Tresen, damit sein Gast sieht, dass eh noch genug Obstler da ist.
Aber auch wenn er zuerst Most nimmt, so bestellt Breitschwengler dann immer ein Stamperl, denn der Obstler ist ihm im Blut.
Jedesmal wenn er ihn trinkt, denkt er zurück an seinen Schnuller und wird nostalgisch: ‘Ach, mein Zutz!’, und dann kommt es vor, dass er an seine Mama denkt, wie sie ihm den Zutz weggenommen hat, als er alt genug war, um ein Stamperl zu halten.
Aber dann wischt er schnell diese Gedanken weg und will die Speisekarte haben, denn nach der harten Arbeit ist er hungrig.
Das ist das spezielle Gasthausritual des Breitschwengler, dass er die Speisekarte haben will, weil er bestellt ja eh immer den Schweinsbraten.
“Wie ist der Braten heute?”, fragt er dann.
“Gut”, meint der Wirtn dann.
“Gut”, repliziert der Breitschwengler dann. “Ich will einen Schweinsbraten! Aber eine ordentliche Portion!”

Sein Essen verputzt er immer am selben Tisch, nämlich an dem, an dem seine Mama oft eingeschlafen ist, wenn sie zu viele Stamperln genommen hat.
Die anderen Gäste beim Wirtn schauen ihm immer beim Essen zu, denn er hat die Tischmanieren eines gescheiten Knechts. Das gut zwei Finger dicke Stück Schweinsbraten kommt auf Breitschwenglers Teller nämlich nie mit einem Messer in Berührung – ein kräftiger Stich mit der Gabel, und den Rest erledigt sein Gebiss. Die Beilagen isst er nie.
Dann wischt er sich mit dem Ärmel seines Hemdes den Mund ab, rülpst und stellt sich wieder an die Bar zu den anderen Modriachern.
Der Pfarrer, Pater Engelbert, ist immer gerne dabei, wenn ein neuer Obstler aufgemacht wird, und auch Otto Kipf, der Gendarm, schätzt den Schluck aus der frischen Flasche.
Dann reden sie über das, was sich in Modriach so ereignet hat, in den letzten vierundzwanzig Stunden.
Ein Holzknecht von auswärts hat sich mit der Hacke ins Schienbein gehackt – “So ein Tollpatsch!”, meint Breitschwengler -, der pensionierte Direktor der Raiffeisenkassa war beim Schwarzfischen im Packer Stausee gesehen worden – “So ein Dieb und Wilderer, der Gamsbartkommunist!” – und dem Huberbauer hat der Fuchs vier Hennen gestohlen – “Ich könnte ihm helfen! Ich habe einen zweiten Schlüsselbund. Da passt noch ein Schwanz rauf!”
Nachdem Breitschwengler überall seinen Senf dazugegeben hat und eh schon wieder auf seinen Hof gehen muss, um dort nachzuschauen, ob es eine Arbeit gibt, die er verrichten muss oder könnte, ruft er: “Ich muss arbeiten gehen!” Dann zahlt er seine Zeche und ruft noch etwas, aber nur dann, wenn die Irmi Motschger beim Wirtn ist: “Dich würde ich eh nicht nehmen!”, bevor er schnell das Gasthaus verlässt.

Auf dem Heimweg geht er noch zu Waltrauds Nah und Frisch, wo er sich mit einer Flasche Obstler und mindestens drei Doppellitern Most eindeckt, und dann ist er auch schon wieder daheim.

Dort hat er meistens keine Arbeit, also holt er eine der Mannlicher-Flinten seines Papas von dort hervor, wo er sie lagert, nämlich unter seinem Bett, lädt die Waffe und entsichert sie bei dieser Gelegenheit auch gleich, weil er weiß, dass man nie wissen kann, ob nicht doch ein Rehbock oder eine Wildsau vor der Haustür steht, und geht in den Wald.

Weil er keinen Jagdschein hat, kann Breitschwengler naturgemäß nicht wissen, wann welche Tiere abgeschossen werden müssen, also geht er auf Nummer sicher und zielt auf alles, was sich bewegt.
Es kann vorkommen, dass er auf andere Jäger trifft.
In Modriach gibt es nicht viele von diesen, und die, die es gibt, wissen natürlich, dass Breitschwengler keinen Jagdschein hat.
Normalerweise haben sie kein Problem damit, dass er in ihren Revieren herumkoffert und Tiere abschießt, weil es dort ja eh zu viel Wild gibt und weil er besonders gerne auf Vögel zielt. Dann denkt er sich immer: ‘Na, den Vogel hab ich mir aus der Luft gegriffen!’ und freut sich.

Einmal aber ist er einem Jäger über den Weg gelaufen, der die Tatsache, dass Breitschwengler keinen Jagdschein hat, streng sieht: Rupert Schröll, seinem besten, weil einzigen Freund.
Der hat ein Jagdrevier in Modriach gepachtet und Breitschwengler ist, ohne das zu wissen, in dieses eingedrungen.
“Sag, bist du jetzt endgültig verrückt geworden, Breitschwengler?”, rief Schröll.
Der Angesprochene errötete. Zuerst wollte er sich als harmloser Schwammerlsucher ausgeben, aber die Mannlicher, die er um die Schulter gehängt gehabt hat, war, das wusste er, ziemlich eindeutig.
“Das ist mir jetzt aber schon sehr peinlich!”, rief er.
“Aber geh!”, sagte Schröll. “Jeder im Umkreis von zehn Kilometern weiß, dass du ein Wilderer vor dem Herren bist!”
“Also, ein Wilderer? Ich weiß gar nicht.”
“Nein, du eh nicht”, sagte Schröll in einem Ton, der Breitschwengler zu verstehen gab, dass er soeben auf den Arm genommen worden war. “Und der Papagei, den du geschoss’n hast?”
“Das war ein Unfall, bitteschön!”
“Wie auch immer, Albin. Sag, warum gehst du denn jagen? Ich meine, du isst das Wildbret ja eh nicht. Du isst doch jeden Tag deinen Schweinsbraten beim Wirtn und kannst ja nicht einmal kochen.”
“Es geht mir einfach ums Schießen, Bertl.”
“So geht das aber nicht, Albin! Ich meine, mir ist das ja wurscht, wenn du mir ein Reh aus dem Revier herausschießt, aber du kannst als Wilderer Probleme kriegen, große Probleme.”
Breitschwengler überlegte kurz und dabei sah er, dass aus Schrölls Rucksack Blut tropfte.
“Sag einmal, Bertl, was hast du denn in deinem Rucksack?”
Nun errötete der Schröll.
“Einen Feldhasen”, sagte er und schaute auf seine Schuhe.
Da erkannte der Breitschwengler, dass er die Gelegenheit hatte, einen Volltreffer zu landen.
“In der Windn haben sie gesagt, dass die Feldhasen gerade Schonzeit haben”, log er.
Da nahm der Schröll Haltung an und sagte: “Albin, ich bringe dir morgen drei Liter Obstler und ein bisschen Most vorbei, und du vergisst die Geschichte.”
Breitschwengler fühlte, dass er bei diesem Handel der Gewinner war.
Und in der Tat, am nächsten Tag kam der Schröll auf den Breitschwenglerhof und brachte das Versprochene vorbei – und nicht nur das.
Er hatte auch zwei Flobertgewehre dabei, und sie machten Jagd auf die Ratzen, die in großer Zahl auf dem Hof vorkommen.

Wenn Breitschwengler ein Vieh abgeschossen hat, dann lässt er es nicht einfach im Wald liegen.
Er nimmt es mit nach Hause und verarbeitet es so, wie er es von seinem Papa gelernt hat. Er nimmt die genießbaren Tiere aus und legt ihr Fleisch in eine seiner Kühltruhen im Keller, die seine Mama angeschafft hat. “Für schlechte Zeiten”, hat sie gesagt, als sie sie gekauft hat.
Wenn er Viecher abschießt, die er für ungenießbar hält, gibt er sie seinen Sauen – und das funktioniert. Am nächsten Tag sind sie weg.

Nach der Jagd, die bis zum Abend dauern kann, geht Breitschwengler heim und wäscht sich. Meistens macht er das in seiner Duschkabine, die er in einem Baumarkt erstanden hat.
Sein Freund Schröll hat sie ihm heimgebracht, weil er selbst keinen Führerschein hat.
Den Führerschein hat Breitschwengler zweimal angefangen, aber dann doch nicht gemacht.
Dass er Jonas Muck, seinen Fahrlehrer, als “Edelschrotter Filzlaus” bezeichnet hat, hat dabei eine Rolle gespielt.
Nach dem Waschen hat Breitschwengler sozusagen frei.
Dann sitzt er in seinem bequemen Wohnzimmersessel, auf dem das Fell des ersten von ihm gewilderten Keilers liegt, und genehmigt sich einen Maßkrug voll Most. Und weil es schade ist, einen Most offen stehenzulassen und er immer Dopplerflaschen kauft, nimmt er eben noch einen Krug.
Dabei schaut er fern und wundert sich über das, was so gezeigt wird.
Liebesfilme mag er gar nicht, auch mit Dokumentationen kann er nichts anfangen. Am besten gefallen ihm Gruselfilme.
Die schaut er sich an, trinkt dabei Most und Obstler und freut sich, dass er auf seinem Breitschwenglerhof sicher ist vor Vampiren und so Zeug.
Wenn er aber ein Stamperl zu viel intus hat, kriegt er es manchmal mit der Angst zu tun: Was, wenn wirklich einmal ein Untoter vor seiner Haustür oder gar vor seiner Schlafzimmertür steht?
Dann liegt Breitschwengler in seinem Bett, unter dem die Mannlicher-Flinten lagern, und fragt sich: “Soll ich die Knochenhacke, die die Waltraud im Nah und Frisch hat, vielleicht doch kaufen?”

Michael Timoschek

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Der Fremde

Die Bar ist nicht gut besucht, nur ein Pärchen sitzt stumm vor den Gläsern, deren Rest sie problemlos mit einem halben Schluck leeren könnten. Sie warten damit, schließlich ist der Abend lang und die Geldbörse dünn. Der Kellner wird sie nicht fragen, ob sie noch ein weiteres Bier haben wollen, solange im Glas noch etwas drin ist, sich noch irgendein Bläschen an die Oberfläche schwindelt.

Nein, es ist zu früh für eine neuerlich Bestellung, sie haben das schon vor dem Eingang ausführlich diskutiert: Wenn sie zusammenlegen, reicht es für fünf Krügel für sie und sieben für ihn. Das ist etwa die Menge, die sie zum Einschlafen brauchen, zu Monatsbeginn ist das Verhältnis 8:12.
Der Kalender da hinten über dem brummenden Kühlschrank behauptet, dass heute Mittwoch ist, Mittwoch der 24. September. Da hat wohl wer vergessen, den Mittwoch, den Donnerstag und den Freitag abzureißen, denn das stimmt nicht ganz, die beiden haben kurz gekichert, wie sie das gesehen haben, wissen sie doch, dass heute bereits Samstag ist, der 27., es also nur mehr drei Tage dauert, bis die Renten am Konto landen. Auch das haben sie sich schon vor der Tür ausgerechnet, schon um die heutige Ration und deren Einteilung zu berechnen.

Der Kellner, er ist nicht von hier aber trotzdem nett, kommt von irgendwo aus dem Süden – aus Serbien, Albanien oder dem Kosovo, oder noch weiter südlich, Griechenland, Türkei, Tunesien, oder vielleicht mehr aus dem Osten, Tschechien, Ungarn, Ukraine … ist ja aber auch scheißegal, in ein paar Wochen wird wieder wer anderer da sein, und auch wieder nach ein paar Wochen weiterflüchten, nach England, nach Schweden, nach Amerika.

Adam und Eva sind sehr liberal: Es ist ihnen egal, woher der Typ kommt, sie wollen nur nicht angesprochen werden, der soll weiter und zum wiederholten Mal die Gläser polieren, auch wenn sie trotzdem nicht sauber werden wollen, sie aber in Ruhe lassen. Die beiden tauschen diese Gedanken völlig ungeniert aus – sollte sie der Mann verstehen, wäre es ihnen auch egal, schließlich soll er froh sein, was zu tun zu haben, und immerhin ist hierzulande immer noch der Kunde König. Und die Kundin Königin, wie Eva kurz lächelnd feststellt.

Ahmed poliert weiter Gläser, die schon lange keine Flüssigkeit oder ein sauberes Tuch gespürt haben, aus dem Hintergrund tönt Musik mit deutschen Texten, in denen es um verlorene Liebe und Mütter geht, um den Juchaza, der auf hohen Bergen automatisch, quasi wie von selbst, der Brust entspringt und so ins tiefe Tal tönt, wo es dann alle hören, um die inbrünstige Liebe zum Heimatort mit Seitenhieben auf die beiden Täler daneben, denen – etwas verklausuliert – die Pest an den Hals gewünscht wird.

Die Lautsprecher sind aber schon ziemlich desolat, nur wirkliche Kenner könnten aus dem akustischen Brei heraushören, dass es sich dabei um österreichische Folklore handelt. Adam und Eva vermuten jedenfalls, dass es sich dabei um arabische Lieder mit ketzerischem Inhalt handelt, mit dem dieser Moslem, oder was immer er ist, sie übers Unterbewusstsein zum Tschihad oder irgendeinem anderen heiligen Krieg hypnotisieren will. Sie sind auch deshalb etwas angespannt, lange sitzen Adam und Eva vor ihren Gläsern, blicken immer auf die große Uhr hinterm Tresen, auf der die Zeit korrekt abgebildet zu sein scheint: Zehn Minuten vor neun, also noch zehn Minuten bis zur nächsten Bestellung – sie haben sich ausgemacht, um neun Uhr den nächsten halben Liter reinzuleeren, die anderen dann im Halbstunden-Takt: So kommen sie noch vor eins nach Hause, wo sie dann übereinander herfallen werden.

Dabei: Adam will schon seit längerer Zeit gar nicht mehr so sehr über Eva herfallen, macht es eigentlich nur ihr zuliebe, würde am liebsten gleich so richtig schlafen. Eva geht es nicht anders: Sie spielt nur mit, um Adam den Gefallen zu tun, eigentlich würde auch sie lieber nur einfach schlafen. Gut, von Zeit zu Zeit will sie es ja auch, an den christlichen Sonn- und Feiertagen beispielsweise. Der exakt gleiche Gedanke schleicht zeitgleich durch Adams Kopf. Obwohl sie sich so viele Sachen ganz genau ausmachen – das haben sich noch nicht ausgemacht, dieser Abend im Pub sollte ihnen aber die Gelegenheit geben, dieses Thema endlich einmal anzusprechen, Adam hat sich das für heute vorgenommen, Eva auch.

Beide wollen damit die paar Minuten bis neun noch warten, mit einem frischen Bier lässt es sich besser reden. Gleichzeitig holen sie sich zur Überbrückung ihr Handy, Eva aus der Handtasche, Adam aus der Jean, beide tun, als würden sie daraus wichtige Erkenntnisse gewinnen, sind glücklich, ein paar Minuten nichts sagen zu müssen. Der Kellner poliert ein nächstes Glas, die Boxen leeren neuen Brei drüber, Eintagsfliegen hauchen freiwillig vorzeitig ihr Leben aus, dabei hätten sie sich dafür noch ein paar Stunden Zeit lassen können.

Christoph Stantejsky

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Der Schlafsack

Die Party ist aus, die Musiker haben längst ihr Instrumente verpackt und nach Hause gebracht, Martin ist noch mit ein paar Leuten am Lagerfeuer gesessen, das dann auch irgendwann ausgegangen ist wie das Bier, es dämmert bereits, der neue Tag bricht an, Martin sucht seinen Schlafsack, merkt, dass er zu viel getrunken hat, gegen Schluss haben auch Joints die Runde gemacht, er hat sich erstmals dran probiert und wird schon deshalb nicht mehr genau sagen können, wie lange er nach seinem Schlafsack gesucht hat.

– Hallo, Schlafsack! –
– Hallo Massa. –
– Schlafsack, wärme mich, aber nicht übermäßig … Es ist ohnehin warm da. –
– Wie Massa wünschen … Massa, darf ich mir eine Frage erlauben? –
– Na sicher, sag, was du mir sagen willst, Schlafsack. –
– Sie werden mir auch sicher nicht böse sein, Massa? –
– Nein, aber leg jetzt bitte los, ich bin müde. –
– Also, Massa … –
– Und red mich nicht mit Massa an … Ich bin der Martin. –
– Das freut mich, Herr Martin. –

– Jetzt sei nicht so steif, Schlafsack. Wir können doch ‚Du’ zueinander sagen – immerhin werden wir miteinander die Nacht, oder das, was von ihr noch da ist, verbringen … –
– OK, Martin. Per Sie und mit ‚Massa’ hätte ich mir aber leichter getan … –
– Jetzt komm schon raus damit: Was willst du von mir? Wenn du willst, kannst es mir ja auch in ein paar Stunden sagen … Ich leg mich jetzt jedenfalls in dich rein. –
– Darum geht es ja auch … irgendwie … –
– Wieso? –
– Ich mag heute nicht. Mir geht‘s nicht so gut und würde gerne einmal alleine schlafen. –
– Bist du völlig durchgeknallt, Schlafsack? –

– Ich heiße Severin, Schlafsack ist nur mein Gattungsname … und wir sind ja per Du. –
– Na gut. Aber pass einmal auf, Severin, es ist ja so: Du bist der Schlafsack und ich bin müde. Also werde ich mich jetzt in dich reinlegen. Das wär ja auch das Letzte, wenn mir der Schlafsack sagt, wann er, unter Umständen, bereit wäre, mich reinzulassen … Als Nächstes kommt dann der Kühlschrank und sagt, er will einmal Ferien machen … –
– Das kann dir durchaus blühen … und ich bin der Severin. –
– Jetzt halt endlich das Maul, ich will schlafen! –
– Ich hab ja nicht mit der Kommunikation angefangen. –
– Gusch, Schlafsack … Sever … –
– Schlaf gut, Martin. –

– Weißt du was, Severin? Ich rede nicht mit Schlafsäcken! –
– Tust du aber gerade … –
– Jetzt aber nicht mehr. –
– My Bonnie lies over the ocean, my Bonnie lies over the sea, My Bonnie lies over the ocean, O bring back my Bonnie to me. –
– Halt jetzt bitte dein Maul! Ich rede nicht mehr mit dir. –
– Ich rede ja gar nicht, ich singe … –
– HÖR AUF!!! HÖR BITTE AUF!!! –

– OK, komm schon rein, Martin. Ich wollte dich nur verarschen … –
– Ah, so … Danke. Ich hab schon geglaubt … –
– Komm rein, ich hab dich lieb. –
– Ja, ich dich auch. –
– Schlaf gut, Martin. –
– Danke, du auch, Severin. –

Christoph Stantejsky

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Morgenröte

In jener langen, kalten Nacht
Von der bei mir bis heut
Manch graues Haar
Und leider auch
Das eine oder andre
Zähneweh
Bände voller Worte spricht
In dieser furchtbar finst‘ren Nacht
Genau gesagt zu deren
Allerpeinlichst düst‘ren Stunde
Leuchtet mir
Ich fass es nicht
Comtesse, ihr güldenroter Schopf –
Die Fahne einer Übermacht.

Dies Lockengeläut
Ist es denn wahr?
Und, wenn ich näher komme auch?
Könnt‘s nicht, wenn ich zu ihm wandere
Sein, herrjeh,
Dass dieser Schopf erlischt!
Und wieder grottenfinst‘re Nacht
Immerwährend währt?
So sitz ich in der Biertisch-Runde
Da trifft mich ihrer Augen Licht
Da denk ich, steh schon auf, du Tropf!

Und draußen in der Winternacht
Es war schon eine heitere
Eine, die ein wenig lacht,
War dann alles Weitere
Eigentlich schon abgemacht.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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Erwachen auf Rabatt

Als ich’s am wenigsten gedacht
Da bin ich plötzlich aufgewacht
Und lag in einem Blumenmeer
Die Gloriette grüßte von oben her

Die Sonne schien schon ziemlich kräftig
Und badete im Himmelsblau
Die Spatzen stritten ziemlich heftig
Die Luft war warm und mild und lau

Im Blumenbeet vor Schloss Schönbrunn
War‘s also, dass ich erwachte
Um mich standen Statuen rum
Eine zwinkerte und lachte

Staunend grub ich mit den Händen
In der schwarzen Blumenerde
Wie wird das alles mit mir enden
Wär’s möglich, dass ich Säufer werde?

Stöhnend fiel ich auf den Bauch
Um dann auf allen Vieren
Zu vomitieren
Ja, das auch.

Sucht‘ mir eine saubere Stelle
In der bunten Blumenpracht
Starrte in des Himmels Helle
Jetzt mal gründlich nachgedacht!

Wo, verdammt, bist du gewesen?
Wann wirst du davon genesen?
Nein, wieviel Wein, du Schuft
Hast du verschlungen?
Gelungen!

Doch wie sehr ich’s bedacht und bereut
Zwischen gestern und heut
Klafft eine Kluft

Ach, dacht‘ ich
Wie jämmerlich
Sind doch diese Zeiten
Auf die Freuden der Rebe
Folgt die autoritäre Rede
Und dazu noch innerlich!

Und übersieht, was wesentlich
Ignoriert die bange Frage
Wie kam ich denn eigentlich
Nach Schönbrunn, in diese Lage?

Kann der Rausch mit seinen Schwingen
Ohne nur zuvor zu fragen
Mich von Linz nach Wien vertragen
Und hier in Blumenbeete bringen?

Da zerriss die Grübelei
Ein gellender Altweiberschrei
Ah, Polizei, Betreten verboten!
Bruch von Gesetzen und von Geboten!

Mein Kopf schien schier zu explodieren
Beim Versuch dorthin zu stieren
Von wo der infernalisch’ Lärm
Mir zerschnitt das Hirngedärm

Da stand sie, altbekannt und alt
Eine Wiener Urgewalt
Man kennt sie schon von früher her
Die selbsternannte Bürgerwehr

Du Schwein, schrie sie, verrohtes Tier
Was nicht Sitte noch Regel hat!
Wälzt sich hier im Blumenrabatt!
Warte nur, ich zeig es dir!

Solcherart ernstlich bedroht
Ein Schwein, ein Tier
Und auch noch verroht
Richt‘ ich mich auf auf meine Vier

Beginne zu graben zu ihrem Entsetzen
Zu rüsseln und grunzen mit sabbernden Lefzen
Und Paarungstrieb ihr vorzugaukeln
Mit gar wildem Hüftenschaukeln

Und sieh, es wirkte, das Possenspiel
Ich sah, wie sie vor mir verfiel
Erst zögernd, dann panisch zum Schlossausgang lief
Und nicht mal mehr schrie oder irgendwas rief

Seltsam, dacht‘ ich, nichts fürchten sie mehr
Diese Männlein, die saub‘ren und tristen
Diese Sittlichkeits-Xanthippen
Dieses ganze Ordnungsheer
Als die Erfüllung der heimlich vermissten
– ein wenig banalen – Stereotypen.

Herrlich senkte sich daraufhin wieder
Die Schlossparkruhe auf mich nieder.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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Zum letzten Mal

Das Licht der Scheinwerfer brannte in seinen Augen. Auf seiner Stirn sammelten sich Schweißperlen, bahnten sich ihren Weg durch die Schichten von Make-up, die eigentlich die tiefen Furchen auf seiner hohen Stirn und die dunklen Ringe unter seinen Augen verdecken sollten. Doch dieser Kleister auf seinem Gesicht, der sich anfühlte, als wäre sein Kopf in Frischhaltefolie eingewickelt, vermochte es nicht, die stummen Zeugen seines Lebensstils auch nur annähernd verschwinden zu lassen. Sein Atem wurde schneller. Er hätte schwören können, dass sich dieser beschissene Kragen seines Pullovers von Minute zu Minute enger um seinen Hals schnürte. „Rede!“ Unhörbar für die anderen war da wieder diese Stimme, die sich in seine Gedanken einschlich.

Der Applaus war schon vor Minuten abgeebbt und nun herrschte das erwartungsvolle Schweigen, das er fürchten gelernt hatte. „Ja, ich hab es auch gehört. Der Applaus ist anders als früher, nicht wahr? Konntest du auch den Zweifel heraushören? Weißt du, dass die meisten nur hier sind, um dich scheitern zu sehen? Du hättest zuhause bleiben sollen, mein Lieber“, meldete sich die Stimme von unten wieder zu Wort. Er versuchte sie zu ignorieren, sie wegzusperren, auch wenn es bis jetzt noch nie funktioniert hatte. Wusste er doch, wem die Stimme gehörte.

„Fang an zu reden!“. Durch die grelle Beleuchtung konnte er nur die Silhouetten des Publikums erkennen, doch spürte er die Blicke, wie Stecknadeln, die auf seinen Körper prasselten. Die Stimme erzählte ihm nichts Neues. Von dem Zeitpunkt an, als der Anruf seiner Agentur gekommen war, wusste er, was das für ein Abend werden würde. Eine Fleischbeschau, und er war die Hauptattraktion. Das abendfüllende Programm, das wahrscheinlich irgendein Praktikant der Agentur aus alten Mitschnitten zusammengeschustert hatte, um es dann als Best of zu präsentieren, war nur ein Vorwand, um seinen Verfall live ansehen zu können. Wie hatte es nur so weit kommen können? Diese Frage stellte er sich jedes Mal, wenn er wieder mal als Letzter in dem heruntergekommenen Beisel unter seiner Wohnung an der Bar lungerte. Die Antwort stand jedes Mal vor ihm, in einem halbleeren Glas, das wusste er. Doch hatte es Jahre gedauert, bis er es sich selbst eingestehen konnte.

Das Ende war nicht über Nacht gekommen. Es kam schleichend, setzte sich fest, und er war zu arrogant gewesen, um es zu merken. Die leeren Plätze bei seinen Auftritten hatte er auf die fehlende Werbung geschoben, die Weigerung des Verlags, sein letztes Buch zu veröffentlichen, war, seiner Ansicht nach, dem kurzsichtigen Lektorat geschuldet, und die Tatsache, dass seine Wohnung geräumt wurde, während er besoffen in der Badewanne schlief, war die Schuld seines Steuerberaters gewesen.

Es endete in einer kleinen Wohnung, die jemand von der Agentur für ihn gefunden hatte. Natürlich nur, bis er wieder auf die Beine kommen würde. Das war fast zehn Jahre her und auf die Beine gekommen war er in dieser Zeit nicht mehr.

Alles, was sie ihm gelassen hatten, war dieses alte Sofa, das er bei jedem seiner Auftritte dabei gehabt hatte. Er fand es vor Jahren auf einem Flohmarkt und es sollte, wie er, zu einem Kultobjekt werden. Dieses hässliche Ding. Das verschlissene braune Leder trug den Geruch der wilden Jahre in sich, die die beiden durchlebt hatten. Neben dem Bett und der Küche war es das einzige Möbelstück in seiner Einzimmerwohnung, doch hatte er es seit Jahren nicht mehr gewagt, darauf Platz zu nehmen. Als würde er dieses durchgesessene Stück Dreck damit entweihen und den letzten Rest seines vergangenen Ruhms damit zunichtemachen. Es stand an der nikotinverfärbten Wand und machte ihm stumme Vorwürfe darüber, dass es hier in diesem finsteren Loch sein Dasein mit ihm fristen musste.

Eines Nachmittags war er aufgewacht und da hörte er diese Stimme zum ersten Mal: „Was hast du uns angetan?“ Er sah sich um, doch war er allein in der Wohnung. „Hey Arschloch, hör mir zu!“ Er sprang auf und taumelte ins Badezimmer. Alles nur Einbildung, dachte er sich. Die, für seinen Zustand, schnellen Bewegungen waren zu viel für seinen Körper, der noch immer damit beschäftigt war, den Alkohol vom letzten Tag zu verarbeiten. Gerade noch rechtzeitig schaffte er es zur Toilette, um sich zu übergeben. Den Ekel davor hatte er schon längst abgelegt, für ihn hatte es inzwischen etwas Reinigendes. Er wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, suchte sich ein Hemd, von dem er glaubte, dass es sauber war und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Natürlich war kein Kaffee da, aber die Gewohnheit verlangte es von ihm. Seit Wochen war niemand mehr für ihn einkaufen gewesen. Der junge Mann, der das früher für ihn erledigt hatte und sich ihn wohl als eine Art Mentor gewünscht hätte, kam nicht mehr, seit er ihm im Suff eine leere Weinflasche nachgeworfen hatte.

Also setzte er sich wieder auf sein Bett und starrte an die Wand. „Seht ihn euch an, den Meister des bissigen Humors“, erklang die Stimmer wieder. Er hatte sie klar und deutlich gehört, doch war irgendetwas seltsam an ihr. Sie kam nicht aus seiner Wohnung, sie kam aus seinem Kopf. „Sieh dir an, was aus dir geworden ist. Früher war ich der von uns beiden, der verbraucht aussah.“ Schlagartig wurde ihm klar, wessen Stimme in seinem Kopf spukte. „Du?“, sah er sein Sofa fragend an. Doch es blieb stumm.

War das der Punkt, an dem er vollkommen seinen Verstand verlieren würde? Panik brach in ihm aus, und er verließ seine Wohnung, so schnell es ging, in Richtung Beisel. Gesprächig war er nie gewesen, wenn er an seinem Hocker an der Bar saß, doch an diesem Tag sagte er kein einziges Wort. Je länger er darüber nachdachte, umso weniger schockierte ihn die Tatsache, dass er die Stimme eines Möbelstücks in seinem Kopf hörte. Was ihn nicht losließ war, dass diese Stimme recht hatte. Er war dafür verantwortlich oder zumindest das, was aus ihm geworden war.

Als er den Pegel erreicht hatte, bei dem er gerade noch alleine stehen und nach Hause wanken konnte, kratzte er sein Kleingeld zusammen, bezahlte und machte sich auf den Heimweg. Mit Herzklopfen öffnete er die Tür zu seiner Wohnung. Stille. Vielleicht hatte er es sich doch nur eingebildet. Er legte sich ins Bett und wollte gerade einschlafen, als sich das Sofa erneut zu Wort meldete: „Hast wieder einen besonders produktiven Tag hinter dir, oder?“ „Lass mich in Ruhe!“, brüllte er das Sofa an. Keine Antwort.

Er ging in die Küche, holte ein Messer aus der Schublade und war fest entschlossen, dieses elende Möbelstück, so gut er konnte, zu zerstören. Bereit, darauf einzustechen, stand er da und schaffte es letztlich doch nicht. Das Einzige, was ihm geblieben war, zu vernichten, auch wenn es ihn langsam in den Wahnsinn trieb, schaffte er einfach nicht. „Nicht einmal dazu bist du fähig“, verhöhnte ihn sein Sofa, als er auf die Knie sank und das Messer fallen ließ. Stundenlang saß er da und starrte auf dieses Ding, das fest dazu entschlossen war, ihn seines Verstandes zu berauben. Irgendwann schlief er auf dem Boden ein. In den darauffolgenden Tagen und Wochen wurden die Meldungen des Sofas immer häufiger. Er versuchte es zu verkaufen, zu verschenken, einfach nur irgendwie loszuwerden, aber jedes Mal, wenn sich ein Interessent meldete, meistens ein nostalgischer Fan, konnte er den letzten Schritt einfach nicht machen. Was blieb ihm also anderes übrig, als mit den ständigen Meldungen seines ledernen Partners zu leben und es weiterhin zu ertragen, dass es ihm die unverblümte Wahrheit vor das Gesicht hielt: nämlich, dass er an der Endstation seiner Karriere angelangt war.

Ein lautes Räuspern holte ihn zurück in die Gegenwart. Das Publikum wurde ungeduldig. Hier und da hörte man jemanden tuscheln, meist gefolgt von einem verhaltenen Kichern. „Fang an zu reden, du Idiot!“, meldete sich sein Sofa zu Wort. Er krallte seine Finger an der Lehne fest. Der Schweiß stand ihm im Gesicht, und er merkte, wie ihm schwindlig wurde. „Fang an!“ Er sah ins Publikum, das mittlerweile von Dutzenden Handydisplays erleuchtet wurde. Hier und da blitzte ein Kameralicht auf. „Zum letzten Mal“, dachte er sich. Sein Atem beruhigte sich, er löste die Hand von der Lehne und stand auf. Er bemühte sich, so aufrecht wie möglich zu stehen und sah das Publikum an. „Zum letzten Mal.“ Mit aller Verachtung, die er aufbringen konnte, sah er in die Menge. Die Zuschauer wurden schlagartig still.

Er verneigte sich, drehte sich um und verschwand in der Dunkelheit hinter dem Vorhang. Zum letzten Mal.

Dominik Hödl

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig | Inventarnummer: 15087




Laura

Es war der dritte Tag nach seiner Ankunft. Er hatte schon die Stadtführung, die die Studentenorganisation an der örtlichen Universität für alle Erasmus-Studenten angeboten hatte, hinter sich gebracht, hatte den kleinen weißen Schrank in seinem Zimmer eingeräumt und sein Bett, das sich mit seinem grauen, verbogenen Metallgestell und der durchgelegenen Matratze gut in jedem Gefängnis gemacht hätte, überzogen. Eine Studentenparty sollte an diesem Abend stattfinden, und nachdem er erst wenige Menschen kennengelernt hatte, beschloss er, an dieser teilzunehmen.
Er stand mit seinem Bier in dem Raum, in dem sich mittlerweile um die vierzig Studenten eingefunden hatten, und unterhielt sich mit zwei Schotten. Gerade als der größere der beiden, der ein strahlendweißes Hemd trug, das fast unpassend in der von Bier und Schweiß erfüllten Atmosphäre wirkte, begann, von seiner Universität zu erzählen, die ganz in der Nähe war, da sah er sie. Sie hatte gerade den Raum betreten und sah ihn an. Sie trug ein schwarzes Shirt, das fast ein bisschen zu groß wirkte und dazu blaue Jeans und sie sah ihn an. Und es war in diesem Moment, in dem die Schotten sich weiter unterhielten, die Musik weiter dröhnte und das Bier weiterhin floss, als er wusste, dass sie nur für ihn da war.  Er wusste nicht warum; das war aber auch nicht wesentlich. Sie war nur für ihn zu dieser Party gekommen, ohne ihn zu kennen und ohne dass er sie kannte.

Ihr Englisch war grauenhaft. Sie standen auf der Terrasse des Studentenheims, in dem er wohnte. Sie sagte, sie käme aus Spanien. Die Terrasse war das Einzige, das sein Studentenheim aufwertete. Sie hatte die Aussicht eines Fünf-Sterne-Hotels, bot einen Ausblick über die Skyline der Stadt mit der charakteristischen Brücke. Er leerte sein Bier und lächelte sie an. Du bist ziemlich betrunken, sagte sie mit ihrer rauen, südländischen Stimme in gebrochenem Englisch. Sie stand so nah bei ihm, dass er ihren Körper spüren konnte, ohne dass sie sich berührten. Sie hatte ziemlich braune Augen und war einen Kopf kleiner als er. Sie sah zu ihm hinauf und ließ ihr Glas sinken.

Als er am nächsten Morgen aufwachte, war sie verschwunden. Er stand auf und ging den schmalen Gang vor zu der Küche. Doch sie war weder dort noch fand er sie im Bad oder auf der Toilette. Das beunruhigte ihn. Die letzte Erinnerung, die er hatte, war, dass sie sich geküsst hatten und sie mit ihren kleinen, warmen Händen seinen ganzen Oberkörper berührt hatte. So rastlos wie ihre Art zu sprechen, waren auch ihre Hände gewesen, aber viel sanfter. Ihr Körper war schlank gewesen, mit kleinen runden Brüsten und brauner, weicher Haut. Und jetzt war sie verschwunden. Er wusste ihren Namen nicht mehr, obwohl sie ihn ihm bestimmt gesagt hatte. Als sie sich geküsst hatten, hatte er bemerkt, wie betrunken er war. Sein Gefängnisbett war viel zu klein gewesen für sie beide. Aber es war trotzdem eigenartig, dass sie verschwunden war.
Die nächsten Tage dachte er an kaum etwas anderes. Sie hatte sich in seinem Kopf eingenistet und das Gefühl, dass sie in irgendeiner Form auf ihn wartete, ließ ihn nicht los. In den ersten Tagen an der neuen Universität fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Ständig sah er ihre braunen Haare, ihre schlanke Figur irgendwo in den Studentinnen, die durch das Gebäude gingen. Sobald er aber genauer hinschaute, wurde ihm klar, dass er sich getäuscht hatte. Die Woche verging extrem langsam und er wartete nur darauf, dass es Wochenende wurde.

Die Musik dröhnte in seinen Ohren. Sie war viel zu laut, aber er war zu betrunken, um sich einen Ohrenschutz zu kaufen. Am Eingang des Clubs war ein Schild gewesen, das vor schlechten Drogen gewarnt hatte. Darauf zu sehen war eine Pille gewesen, die von einem breiten roten Strich durchkreuzt war. Er hatte trotzdem eine Pille genommen. Von einem Belgier, der mit ihm in einem der Kurse war. Der Belgier war schon etwas älter als er und eher ein Hippie, also ein Freigeist, nie pünktlich und mit einer gewissen Abneigung gegen geordnete Strukturen. Mit einem Dreitagesbart  und immer ungeordneten Haaren. Der hatte ihm die Pille gegeben und er hatte eine Hälfte davon geschluckt, den bitteren Geschmack aber noch Minuten später auf der Zunge gespürt. Es änderte sich eigentlich nicht viel, die Lautstärke der Musik wurde etwas erträglicher und er tanzte, ohne über etwas anderes nachzudenken. Sein Blick schweifte über die Menschen, die sich genauso wie er dem Rhythmus hingaben, sie blieben aber nicht in seiner Wahrnehmung haften.
Menschen waren eher eine unwichtige Nebensächlichkeit in seinem Empfinden. Viel zu dominant war die Musik. Wie ein Foto, bei dem auf einen bestimmten Gegenstand fokussiert wird und alles andere im Hintergrund unscharf bleibt. Er stolperte zur Toilette, denn er war plötzlich unglaublich durstig geworden. Die Frau, die den Eingang zur Toilette bewachte, lächelte ihn an. Sie hatte kurzes gelocktes Haar. Als er wieder in Richtung der Tanzfläche ging, besser gesagt sich in Richtung der Tanzfläche treiben ließ, denn aktive Entscheidungen traf er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, da sah er sie. Sie tanzte. Und plötzlich war nicht mehr der Rhythmus im Vordergrund, nicht die Musik, nicht dieses Gefühl des Nichts-Fühlens. Er stolperte in ihre Richtung, aufgeregt plötzlich und verschwitzt. Ihre dunklen Haare wirbelten um sie herum, sein Objektiv war nur auf sie fokussiert, und alles um ihn herum war verschwommen, und sein Herz raste und sie tanzte.
Die Musik wurde langsam wieder intensiver, vielleicht hatten sie die Lautstärke erhöht, er wusste es nicht. Er hielt den Blick nur auf sie, um sie ja nicht aus den Augen zu verlieren in diesem Chaos aus Licht und Schweiß und tanzenden Menschen. Plötzlich sah er sie nicht mehr. Sein Kopf war gegen den Boden gekracht, er war gestolpert. Und in dem Zustand, in dem er sich befand, erkannte sein Gehirn den Umstand, dass er gestolpert war, erst als er schon am Boden lag und um ihn herum die Menschen weitertanzten. Er erhob sich, hastig, fast schon panisch, und blickte in dem dunklen Raum umher, suchte sie verzweifelt. Doch er konnte ihre dunklen Haare, ihre schlanke Figur nicht finden.
Er lief, stieß mit einem Mann mit langen Haaren und einem abgetragenen T-Shirt zusammen, der ihm sein Bier über die Kleidung schüttete, aber er lief weiter. Zum Ausgang, blickte auf die Straße, auf der es schon langsam hell wurde, aber sah sie nirgendwo. Der Türsteher klopfte ihm auf die Schulter und gab ihm zu verstehen, dass er sich entscheiden solle, ob er den Club verlassen oder bleiben wollte. Wortlos drehte er sich um und ging zurück in die dröhnende Dunkelheit.

Zwei Wochen waren vergangen, und obwohl er sie nie wieder gesehen hatte, hatte sie seine Gedanken okkupiert. Er konnte nur an sie denken. Was ihm weiterhin Hoffnung gab, war dieses Gefühl, das er bei ihrer ersten Begegnung gehabt hatte. Dieses Gefühl, dass sie nur für ihn da war. Und daran hatte sich nichts geändert, er wusste es einfach.

Es war ein Dienstagabend und er trank sein drittes Bier, als er beschloss, sie suchen zu gehen. Er zog sich seine Jacke an und trat aus der Tür seiner Wohnung auf die Terrasse mit der wunderschönen Aussicht. Er hatte noch ein Bier mitgenommen, obwohl es eigentlich verboten war, auf der Straße zu trinken. Weil er nicht wusste, wo er hingehen sollte, ging er einfach in Richtung des Stadtzentrums, das er zu Fuß in zwanzig Minuten erreichen konnte. Leider war sein Bier schneller leer als erwartet, und als er eine Gruppe von Studenten vor einer Bar stehen sah, ging er hinein. Hinter der Bar stand eine blonde Frau, die ihn anlächelte und ihm sein Bier gab. Er nahm den ersten Schluck, registrierte zum wiederholten Male, dass dieses Land kein gutes Bier herstellen konnte, und sah sich um.
Um ihn herum standen lauter Studenten, die sich in kleinen Gruppen unterhielten. An der Bar saß ein Mann alleine, der wohl etwas älter war als er, und weil er sein Bier nicht alleine trinken wollte, setzte er sich zu ihm. Der Mann war eher klein, hatte ein rötliches Gesicht und er trug ein Sakko mit grauem Fischgrätmuster. Sie unterhielten sich, über die Stadt, über die Universität, über das schreckliche Bier. Und sie tranken. Die Farbe der Getränke wechselte von trüb zu klar und die Geräusche der Bar verschmolzen zu einem Summen, zu einem Chor, und der Mann redete weiter, aber keiner hörte ihm zu.
Irgendwann war der Mann verschwunden, doch es standen noch zwei volle Getränke auf der Bar. Also entschied er sich, beide zu trinken. Unwillkürlich verzog er das Gesicht, als er die beiden Gläser direkt nacheinander trank. Die Bar war laut, viel zu laut und die Menschen drehten sich um ihn herum. Und er verließ die Bar und fing an zu laufen. Der Wind blies ihm ins Gesicht und er fühlte sich, als würde er so schnell laufen wie nie zuvor und sein Herz raste. Um ihn herum dröhnte die Stadt, die Lichter riefen ihm nach, jedes Auto, an dem er vorbeilief, ließ seinen Motor aufheulen, und die Häuser drohten über ihm einzustürzen. Er sah eine Gruppe von Menschen, die ungefähr hundert Meter entfernt von ihm stand, und er lief schneller in ihre Richtung. Sie drehten sich nach ihm um, lachten, riefen ihm hinterher und er drehte sich um und fiel. Viel zu langsam für die Wirklichkeit, viel zu laut für die Nacht, viel zu dunkel für seinen Kopf, ihre lockigen Haare wickelten ihn ein und sie tanzte und sein Herz raste.
Der Himmel drückte gegen seine Füße, die Straße brach über ihm zusammen und er fiel. Er wusste, sie war nur für ihn dagewesen, und für sie hatte er getrunken und für sie war er gelaufen und jetzt fiel er. Er musste sich entscheiden, das wusste er. Er sah auf die Straße, auf der es noch nicht hell wurde, und er wusste, was er zu tun hatte.

Er stand vor ihrer Tür und wusste nicht, ob er es wagen konnte zu klopfen. Er wusste ja nicht einmal ihren Namen. Es war der erste Moment, in dem er Zweifel spürte. Doch er klopfte. Zu viele Gedanken hatte er investiert, zu viel Zeit mit ihr verbracht. Es dauerte ein paar Minuten, bis jemand die Tür öffnete. Er erkannte sie an ihren Haaren, an der schlanken Figur, an der braunen Haut und sie sah ihn an. Du bist ziemlich betrunken, sagte sie mit ihrer rauen Stimme. Sie standen so nahe beieinander, dass er die Wärme ihres Körpers spüren konnte. Sie ließ ihre Hand sinken und sah zu ihm hinauf. „Mein Name ist Laura“, sagte sie.

Maximilian Eberharter

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig | Inventarnummer: 15083




Der Wohlstandstrinker

Während ich zwischendurch an einem Glas Single Malt nippe, krame ich in meinen Büchern und Manuskripten. Übrigens nicht uninteressant, der Geschmack, angenehm duftendes Bouquet … ist es Birne? Walnuss oder Eiche? Oder gar alles zusammen? Ein wirklich geschmeidiger Single Malt, zwölf Jahre im Sherryfass gelagert, atmet er weiters ein würziges Arom von Honig und frischen Pfirsichtönen aus. Im Finish vielleicht noch beerig, dazu etwas harzig getönt. Na, der Fantasie sind gottlob kaum Grenzen gesetzt.
Also, wie bereits gesagt, während ich hier bei einem Glas Whisky sitze, muss ich unweigerlich an Dichter und Schriftsteller denken, die nicht nur über den Alkoholismus geschrieben haben, sondern selbst mehr oder weniger dem Alkoholgenuss durchaus nicht abgeneigt waren, wie beispielsweise Ernest Hemingway, Edgar Allan Poe, Joseph Roth oder D. H. Lawrence, um nur einige zu nennen.
Und dreht man die Zeit ein wenig zurück, finden sich jede Menge begnadeter dichtender Schluckspechte schon in der Antike. Getrunken ist auf dieser Welt offensichtlich immer schon worden. Gedichtet auch. Wer schreibt, der trinkt auch, heißt es. Ein dichtender Chinese, Li Tai-Bo, einige Jahrhunderte vor Christi Geburt, kam im Rausch zu Tode, als er das Spiegelbild des Mondes umarmen wollte. Anakreon, griechischer Textkünstler, fand sich in der Rolle – besser betrunken am Boden als tot – bestens besetzt.

Ach ja, der Alkohol! Tröster und Mörder in einer Gestalt. Was ist nicht alles geschrieben worden im Suff? Was wurde nicht schon alles über das Trinken geschrieben? Würde man zu einer literarischen Verkostung von Trunkenheitsliteratur geladen, präsentierte sich diese wohl in einer Unmenge „alkoholhaltiger“ Leseproben. Vielleicht sollte man sich die Menükarte einer solchen Verkostung einmal genauer ansehen?
Da gibt es Bücher über die Weinkunde, über Etiketten, ja sogar Weinatlanten, die einen mit Tralala in die Welt des  vergorenen Traubensaftes führen. Wieder andere verweisen dezent auf teils verborgene Weinpfade, auf Whiskytrails oder historische Bierreisen, allesamt begehrte Pilgerstätten gepflegten Säuferdaseins. Jedes (hoch)prozentige Getränk hat mittlerweile seinen „Oskar“, wird prämiert, gepriesen und gefördert und in eigens dafür geschaffenen Seminaren wird man darüber belehrt, wie man leert.

Ist das normal? Ist die Sauferei nicht gesellschaftsgefährdend? Sind wir bereits ein Volk der weichen Birnen? Angeblich trinkt jeder Vierte unter uns professionell. Das heißt, pro Kopf und Leber zum Beispiel 256 Liter Bier im Jahresdurchschnitt. Da ist vom Wein noch gar nicht die Rede. Ganz zu schweigen vom Schnapserl.
Aber damit nicht gleich alles so schrecklich ungesund und sündhaft klingt, geben wir den Gläsern, aus denen wir ihn trinken, den verwerflichen Saft, gerne verniedlichende Namen wie Krügerl, Seiderl, Vierterl, Achterl, Glaserl oder Stamperl. Nicht zu vergessen eine beinahe völlig verschwindende Größe unter den Gläsern, die echte Profis kaum wählen, der Pfiff, oder noch kleiner, das Pfifferl. Nein nein nein nein! Das ist etwas für betagte Damen oder den älteren Herren. Ein Amateurgebinde quasi.
Der echte Trinker hat seine Halbe, seine Maß, sein Krügel, sein Seidl oder sein Viertel, alle ohne das verharmlosende „r“ vorm letzten Konsonanten. Ohnehin bloß Schnickschnack für Heimlichtrinker.
Zur Definition des Zustandes danach werden Vergleiche aus dem Tierreich herangezogen, um ihn anschaulich zu beschreiben, wie etwa einen „Affen“ haben, einen „Spitz“ oder „Bären“. Manch einer hat eine „Sau“, einen „Esel“ oder ganz einfach „Kälber“ oder „Gänse“. Wem das zu exotisch ist, kann sich ja mit „Dampf“, „Flieger“, „Fahne“ oder mit „einen in der Krone haben“ begnügen. Man gießt sich entweder „einen auf die Lampe“ oder auch „hinter die Binde“. Im Prinzip kommt es auf dasselbe heraus. Oder kurz gesagt, ganz gleich wie, das Ergebnis hinterher ist immer eindeutig. Besoffen, berauscht, fett, trunken oder schlicht und einfach voll, abgefüllt, zu.

Ich frage mich oft, was hat die Menschheit dazu gebracht, sich seit Jahrhunderten wenn nicht schon länger, Alkoholisches so mir nichts dir nichts hineinzuschütten? Liegen die Ursachen darin, die Welt nicht mehr verstanden zu haben, im Epochenwechsel etwa? Haben die politischen oder sozialen Verhältnisse dazu geführt? Waren die römischen Galeeren oder die kolumbus´schen Koggen maßgeblich an der weltweiten Verteilung von Wein- oder Rumrationen beteiligt? Ist den Menschen Guttenbergs Massendruckerei zu rasch zu Kopf gestiegen oder hat man bloß aus Jux und Tollerei gesoffen?
Vielleicht war die Erringung neuer geistiger Werteskalen ausschlaggebend, um der Trunksucht den geeigneten Teppich zu legen? Die Menschheit fühlte sich überfordert und griff zum Glas, damit sie das alles ertrug. Zugegeben, die neue Rolle des Bürgertums als Kulturträger war sicherlich auch nicht leicht zu ertragen. Worum sollte man sich nicht noch kümmern?

Dann darf man aber auch nicht den Aufschwung der Städte vergessen, den des Handels, des Gewerbes und Handwerkes und damit eng verbunden die Geldwirtschaft. Schließlich musste so ein Rausch ja auch bezahlt werden. Wie hätte denn der Wirt sonst überlebt?
Und viele drängte es vom Dorf ins Stadtleben. Dort schien die Gesellschaft in soziale Unordnung zu geraten, was wiederum dem Griff zum Becher förderlich war, wie Beispiele aus Quellen, die sich mit dem Laster der Trunksucht beschäftigten, bestätigen.
Natürlich wollte man vorerst nichts beschönigen, durchaus nicht. Die Literatur bahnte sich ihren Weg über die Satire zum Alkoholproblem, über Schriften zur Bekämpfung dieser Untugend bis hin zur Glorifizierung des alkoholischen Getränkes. Und zur neuen Geistigkeit der Reformation schienen geistige Getränke recht gut zu passen, wenn man sich ein wenig im 16. Jahrhundert umsieht. Ganz klar, der Mensch war verunsichert. Das wirkte sich auf die Lebensgewohnheiten aus, die sicher nicht nur Freude verhießen, sondern ebenso Leid und Verzweiflung zum Inhalt hatten.
Einer der Arbeitstage, die für das Gesinde, für die Lehrlinge wie auch für die Gesellen, die Bediensteten, Hilfskräfte und Lohnarbeiter frühmorgens nach der Morgensuppe begannen und sieben bis fünfzehn Stunden dauerten, hieß bezeichnenderweise „blauer Montag“, hatte aber mit „Blau-Sein“ nichts gemeinsam. Vielmehr ging er auf den alten Brauch, den Handwerksgesellen am Montag freizugeben, zurück. Ob dies aus logischer Konsequenz geschah, weil die Typen am Montag ihren Dampf vom Wochenende ausschlafen mussten, sei dahingestellt.

Daneben jedoch blühte das Leben, und diejenigen, die es sich leisten konnten, bis zum heutigen Tag kein Unterschied, frönten dem guten Essen und Trinken, der Geselligkeit, dem Spiel, der Jagd, aber auch dem Müßiggang, der Völlerei, dem Luxus wie auch der Wonne und dem Genusse bei Festen wie dem Vogelschießen und der Weinernte, ebenso wie anlässlich privater Feste, Zunftfeste oder an Reichstagen.
Wer von uns kennt den Brauch ums Zutrinken nicht aus eigener Erfahrung, um den Ruhm der Trinkfestigkeit und die Unsitte, den anderen unter den Tisch zu trinken? Besoffenheit galt durchaus nicht als diffamierend. Und es gab genug Tavernen und Schenken, in denen auf ständische Art schrankenlos gesoffen wurde.
Verdächtig derjenige, der nicht trank. Arglistig und gar von niederem Wert sei dieser. Sauf, hieß es, als allmächtiger Abgott, wer auch immer diesen Spruch in die Welt gesetzt hat. Ein Schelm, der behauptet, Martin Luther selbst hätte das verbreitet.
Das Kammergericht hatte wegen der Trunksucht jedenfalls genug zu tun. Delikte von Gotteslästerung bis hin zum Totschlag gehörten zum Alltag. Die Sauferei mündete in Ehebruch, säte Zwietracht unter die Menschen und führte zu Meuterei und Verrat.

Aber, was wäre der Mensch schon ohne Laster? Die Laster sind den Tugenden beigemischt, wie die Gifte der Arznei. Unsere Intelligenz verbindet sie und mäßigt sie, und bedient sich ihrer mit Nutzen gegen die Übel des Daseins. Schließlich erwarten uns die Laster auf dem Weg unseres Lebens wie Herbergen, bei denen wir unbedingt einkehren müssen. Man muss daher zutiefst bezweifeln, dass wir sie aus Erfahrung meiden würden, wenn uns vergönnt wäre, den Weg unseres Lebens zumindest zweimal zu gehen, steht irgendwo.

Doch was die einen gutheißen, verdammen die anderen. Im Alten Testament ist vom beseligenden Getränk des Weines die Rede. Im Neuen Testament gibt es den Vergleich vom Weinstock und der Rebe. Wir verehren Weinheilige und Schutzpatrone, etwa die Traubenmadonnen.
Sind Sie Buddhist oder Moslem, kriegen Sie mit dem Alkohol ein Problem. Aber wir Trinker haben für alles eine Erklärung, die mit dem Alkoholgenuss zu tun hat. Ist etwa Wein im Manne, ist der Verstand in der Kanne. Oder, beim Trunk geht die Zunge auf Stelzen. Denken Sie an den Dorfrichter Adam bei Kleist. Es ist der Wein, der die Zunge erst geschickt macht, den Käse zu schmecken. Ein anderer: Süß getrunken, sauer bezahlt. Klingt echt hart. Nicht zu vergessen, ein guter Trunk macht Alte jung! Und die Römer? Die alten Römer? Waren auch nicht ohne. In vino veritas, Sie erinnern sich? Verachten Sie mir die Germanen nicht! Frankenwein, Krankenwein. Na bitte! Oder Rheinwein, fein Wein! Noch so ein sinniger Spruch, Neckar Wein, schlecker Wein. Der Reim ist nicht ganz rein, hoffentlich ist es der Wein.
Und schon wieder Herr Luther, wenn´s stimmt, red, was wahr ist, iss, was gar ist, trink, was klar ist. Dazu ist nichts zu sagen.

Nun, es muss nicht immer Wein sein, wenn gereimt wird. Wie wär´s einmal mit Bier? Riecht es aus dem Schrank nach Bier, weiß der Bauer, der Knecht war hier. Kein Wunder also, wenn manche von uns schlaftrunken sind, wissensdurstig, von Rachedurst getrieben, im Liebes- oder Siegesrausch sind. Dem Kellner geben wir auf alle Fälle Trinkgeld. Jedoch, wer trunken wird, ist schuldig, nicht der Wein.
Mitunter vermögen Trinksprüche oft recht praktische Bereiche anzusprechen, wenn es da heißt, sauf, dass dir die Nase glüht, rot wie ein Furunkel, dass sie dir als Lampe dient, in des Lebens Dunkel!
Der akademische Mensch hält zuweilen sehr viel von solchen Philosophien, wie alte Studentenlieder beweisen: Um den Jammer zu vertreiben, will dir ein Rezept verschreiben, oft schon hat es zugetroffen, es wird immer fortgesoffen. Oder wie der Großvater meines lieben ungarischen Freundes zu sagen pflegte, Alkohol wäre in kleinen Mengen Medizin, in großen Mengen Medikament. Wenn da noch jemand von maßvollem Trinken spricht, kann es sich dabei nur um einen Widerspruch per se handeln. Die kalten Schauer können einem bei dem Gedanken hinunterlaufen. Wie ein bekanntes Sinngedicht auch bestätigt: Denn es frieret selbst im wärmsten Rock der Säufer und der Hurenbock!

Wenn ich es recht bedenke, ist es gar kein so großes Problem, an eine ordentliche Flasche Schnaps heranzukommen, auch wenn der Säckel noch so leer ist. Um zehn Euro bekommt man schon einen brauchbaren Obstler, Weinbrand oder Whiskey. Zugegeben, der gepflegte Trinker leistet sich natürlich teureren Stoff. Schließlich geht es um Geschmack, um Stil und Tradition. Nicht zuletzt auch um die Gesellschaftsfähigkeit. Ich mache jetzt eine kleine Schreibpause und nehme einen Schluck von meinem Glas. Nach kurzer Zeit werde ich versuchen, meinen Zustand zu analysieren. Ja, ich merke bereits, wie der Alkohol wirkt. Wohlige Wärme durchzieht meine Magengegend und entspannt meine Muskeln. Immerhin sitze ich schon eine geraume Weile vor dem Laptop und tippe. Ich gehöre noch nicht zu den Schnelltrinkern, die bereits am Morgen ihre Ration hinunterkippen müssen, um überhaupt einmal die Kaffeeschale ruhig halten zu können. Daher komme ich mit einer Flasche eine gute Woche durch. Der zweite Schluck bereits hebt mein Selbstwertgefühl in kürzester Zeit enorm. Ich setze das Glas ab. Nun werde ich versuchen, im Text fortzufahren.

Ich krame in einer alten Mitschrift aus meiner Studienzeit, die sich mit Trunkenheitsliteratur auseinandersetzte. Beim Lesen entsinne ich mich der hervorragend beschriebenen Wirtshausszenen Seyfried Helblings, Pflichtliteratur damals, einem Spielmann in der Nähe Zwettls gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Ein geübter Schreiber, der gegen den allgemeinen Sittenverfall und aufkommende Modetorheiten wettert und versucht, dem Leser mit seinen Schriften eine Art Spiegel vorzuhalten, damit er sich darin in seinen Irrtümern erkennen und womöglich bessern möge.
Den Leuten einen Spiegel vorhalten erwies sich stets als probates Mittel, die Menschheit vor Gefahren und Dummheiten bewahren zu wollen. Damit stand er nicht allein da. Ein gewisser Berthold von Regensburg, 1272 verstorben, steht ihm um nichts nach und fordert in seinen Predigten wortgewaltig die mangelnde Besinnung der Menschen auf sich selbst. Es ist eine Zeit, in der die Moralsatire eine Blütezeit erlebt und sich höchst moralisch an den Lastern und der Liederlichkeiten der Epoche versucht.
Und Weltverbesserer gab es damals genug. Ich finde einen Hugo von Trimberg und den Meister Renauß, Meister ironischer Lehrgedichte, etwa „Des Teufels Netz“, worin es um den Wein und die Liebe geht. Die literarischen Inhalte beziehen sich oft auf opulentes Essen wie sechsgängige Menüs, Trinken aus voluminösen zinnernen Kannen, das Spiel und die Jagd. Und nicht zuletzt standen die ausgeprägtesten Leidenschaften der damaligen Zeit eng im Zusammenhang mit dem maßlosen Genuss von Alkohol. Eigentlich nicht viel anders als heutzutage, vom Zinn einmal abgesehen.

Offensichtlich waren die Folgen des Alkoholmissbrauchs den Behörden irgendwann einmal zu viel geworden, sodass man sich 1512, unter der Regentschaft von Karl dem V., dazu entschloss, ein Reichsgesetz gegen das Saufen zu verordnen, welches Trunkenbolde mit hohen Strafen belegen sollte. Nebenbei wurde auch gleich ein anderes Gesetz verschärft, nämlich der Tötungsparagraf. Wesentlich höher bestraft sollte werden, wer einen Weinbauern tötete. Für passionierte Trinker ein nachvollziehbarer Schritt der Justizbehörde, oder? Schlimm stand es auch um den Schankwirt, wenn er dabei erwischt wurde, dass sein Wein verwässert war. In diesem Falle drohte das höchst ungesunde Eingemauertwerden bei lebendigem Leibe.

Dabei fällt mir ein Satz ein, ohne zu wissen, von wem er stammt: Jugend ist Trunkenheit ohne Wein. War das von Goethe? Aus dem westöstlichen Diwan? Ich weiß es nicht mehr. Nun, da ich nicht mehr jung bin, muss ich zusehen, wodurch ich trunken werden könnte. Ab einem gewissen Alter scheidet Trunkenheit durch Liebe aus. Also gieße ich einen weiteren kleinen Schluck aus der Flasche in mein Glas und setze es an die Lippen.
Wie ich eingangs schon betonte, zähle ich mich selbst zu den sogenannten Genusstrinkern, oder bilde mir zumindest ein, es zu sein. Sollte ich mich einmal über etwas oder jemanden geärgert haben, mir etwas gegen den Strich gegangen sein, kann es schon einmal vorkommen, dass so ein Tatbestand unvorhergesehenerweise einen etwas größeren Schluck zur Folge haben kann. Überdies wage ich seit einer Begegnung mit einem Facharzt der Geriatrie, auch wenn sie schon etwas länger zurückliegt und rein zufällig bei einem Heurigen in Wien Grinzing stattgefunden hat, ohne meinen stets mit Whisky gefüllten Flachmann kaum einen Schritt mehr außer Hauses.
Hat mir nicht jener Spezialist auf eindrucksvollste Weise von seiner eigenen Erfahrung mit einem plötzlichen Herzinfarkt erzählt, den er mit einem ordentlichen Schluck aus seiner Brustflasche soweit in den Griff gebracht hatte, dass er aus diesem Grund nicht zum pathologischen Fall wurde? Unter diesem äußerst beruhigenden Eindruck erlaube ich mir, rein präventiv versteht sich, noch einen Kleinen zu genehmigen. Schließlich weiß man ja nie!

So eine Alkoholsucht hat eigentlich etwas Furchtbares und Abschreckendes. Als Kind schon hatte ich eine Heidenangst vor Betrunkenen entwickelt, wenn manchmal welche sogar am hellichten Tag vor unserem Gartenzaun vorbeitorkelten, vor sich hinlallend, singend oder lauthals herumbrüllend. Einer von ihnen, stets mit einem alten Hanfseil ausgerüstet, um damit zum Nordpol aufzubrechen, soll von einem Blitz gestreift und in der Folge um den Verstand gebracht worden sein. Dieses Erlebnis habe ihn zum Säufer gemacht.
Unbestätigten Tratschereien zufolge hatte es jedoch gar keines Blitzes bedurft, vielmehr habe der Gute immer schon gesoffen. Ein berührendes Menschenschicksal! In diesem Zusammenhang fällt dann schon einmal der Begriff Elendsalkoholismus.

Das Gegenteil davon ist wahrscheinlich der Wohlstandsalkoholismus, denke ich. Dazu zähle ich mich. Wenn mir jemand an seinem Geburtstag ein Glas anbietet, nehme ich es artig und auch noch ein zweites, wenn es sein muss. Schließlich möchte ich nicht unhöflich erscheinen. Und vielleicht noch ein drittes, wenn es der Anstand, oder besser gesagt mein Zustand, erlaubt. Man trinkt eben gemeinsam auf sein oder ihr Wohl. Natürlich auch auf mein eigenes, oder das der Anwesenden, der Nachbarn, der Menschen auf der Straße und so weiter, es findet sich immer irgendein Anlass zum Zuprosten.
Arm angewinkelt, in die Pupille geschaut und runter damit! Alles eine Frage der Tisch- oder Stehtischsitten. Lehrhafte Tischsittenliteratur, Benimmbücher oder Anstandsliteratur gibt es schließlich seit dem 12. Jahrhundert, dazu bestimmt, sie auswendig zu beherrschen und sich ihrer Anweisungen zu bedienen, wenn es der Anstand gebietet.

Unter anderen hat auch der allen bekannte Hans Sachs eine solche Anleitung verfasst. Wer hingegen mehr auf Derbes steht, sollte zu Sebastian Brants „Narrenschiff“ greifen. Dort ist man in bester Gesellschaft, so, wie sie nicht sein sollte. Brandt kürt darin seinen Starprotagonisten, den „Grobian“, zum Schutzpatron aller Säufer. Durch ihn sollte der ahnungslosen Menschheit wieder einmal der berühmte Spiegel vorgehalten und die Narren in ihrer unendlich ausgeprägten Vielfalt als Sünder bekehrt werden. Auch nicht zu verachten ist „Der Weinschwelg“, um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden. Handelt von einem Typen, der dem Suff quasi alles opfert.
Um die Liste der Saufliteratur zu vervollständigen, darf dabei „Der Weinschlund“ vom Stricker nicht fehlen, ebenso ein Werk mit dem Arbeitstitel im Genitiv, „Der Wiener Meerfahrt“, auch so um 1260 bis 80 entstanden. Nicht zu vergessen Meier Helmbrechts „Wernher der Gärtner“, oder „Der Welsche Gast“, Literatur, dazu berufen, mit ihrem mahnenden Fingerzeig auf die dringende Notwendigkeit moralischer Besserung hinzuweisen. Man weiß über die Folgen der Trunksucht Bescheid und warnt vor den Schäden an Leib und Seele, an Besitz und nicht zuletzt an der Ehre. Ludwig Uhland macht das Laster des Alkohols zum Leitmotiv in seinen Schlummer- und Trinkliedern und setzt damit dem Wein als Sorgenbrecher und Freudenspender zugleich ein literarisches Denkmal.

Ich hingegen frage mich, ob mein eigenes Wohlstandstrinken so hin und wieder nicht doch schon Konflikttrinken ist? Ein Schluck bloß, um mir psychische Erleichterung zu schaffen, wenn dir die heimische Politik so aus der Hüfte heraus plötzlich zweieinhalb Jahre mehr bis zur Pension aufbrummt oder sie dir die nächste Nulllohnrunde orakelt. Wenn sich über Nacht die Prämie meiner mühsam zusammengekratzten Bausparverträge halbiert. Ja dann … im Gegenzug ließe sich vielleicht auch bei anderen Gelegenheiten etwas mehr von dem Zeug saufen, gar anlässlich eines lustigen Festes? Man verliert bei dieser Art des Trinkens ja nicht gleich die Kontrolle über sich. Eventuell lässt man sich in so einem Fall leichter dazu hinreißen, noch in derselben Nacht eine zornige Mail an seine Interessenvertretung zu senden, in der man sich nach Herzenslust über deren Unfähigkeit auslässt und die sofortige Kündigung bei derselben in den Raum stellt, weil man sich nicht vertreten fühlt?
Wer weiß? Bin ich also jetzt seelisch und körperlich schon abhängig vom Freudenspender? Vom Sorgenbrecher? Eines kann ich vorläufig zumindest mit Sicherheit ausschließen, nämlich Spiegeltrinker zu sein. Gewohnheitsmäßig das gewisse Quantum in mich hineinzuschütten und den Alkoholgehalt gleichmäßig in mir aufrechtzuerhalten. Quartalsmäßiges Saufen, also mit periodischen totalen Umfallern und so, kann ich mir ohnehin nicht leisten. Das würde der Kreislauf nicht mehr verzeihen. Und überdies möchte ich am nächsten Tag auch noch Lust auf das Zeug haben, was nach einer totalen „Sonnenfinsternis“ nicht immer stimmig erscheint. Also belasse ich es bei Alltagssorgen bedecken, Stimmung heben oder „warum soll ich mir nicht hin und wieder was Gutes tun“.
Auch bilde ich mir ein, die vorprogrammierten Gedächtnislücken ausschließlich auf mein fortgeschrittenes Alter zurückzuführen. Schließlich muss ich ein Leben lang schon eine Menge unsinniges Zeug in meinem geplagten Gehirn speichern. Da kann schon mal die eine oder andere Info ausbleiben. Rätselhaft bleibt, warum ich mich oft an das letzte Glas des Vorabends nicht mehr erinnern kann.

Beim Blättern in meinen Aufzeichnungen stoße ich auf den Satiriker und Franziskanermönch Thomas Murner, der einen Vergleich seiner Fachkompetenz mit Martin Luther durchaus nicht zu scheuen brauchte, hatte ich damals aufgeschrieben. Murner wollte es seinem Vorbild Sebastian Brandt gerne gleichtun und auf dessen Erfolgswelle mitreiten. Aus heutiger Sicht wäre er ein Plagiateur, würde man sagen, wo er doch bereits im Vorwort von Brandt abgeschrieben haben soll. Mehrfacher Doktor der Theologie und Juristerei? Da ließe sich sicher noch was Unrechtes finden, wie die Erfahrung der jüngsten Vergangenheit gezeigt hat, nicht wahr? Nun, wollen wir es heute dabei belassen.
Wortgewaltig und als Seelsorger mit der volkstümlichen Ausdrucksweise vertraut, schreibt er in eindrucksvollen einprägsamen Redewendungen satirisch Provokantes, wobei er es sich nicht verkneifen kann, den allgemeinen Sittenverfall vom „Füllen und Prassen“ zu verdammen. Im Gegensatz zum sogenannten Spiegeltrinker also ein Spiegelschreiber.
Dagegen nimmt sich ein Werk eines Herrn Obsopeus zum Thema Alkohol, ich hoffe, dass ich den Namen richtig geschrieben habe, endlich einmal ein wenig positiver aus, wenn er über die Entfaltung des Maßhaltens schreibt und den Trinker zum Genießer werden lässt.

Nach all den Wasserpredigern tut es richtig gut, wenn endlich einer einmal nicht gegen die schädlichen Folgen des Alkoholkonsums wettert, finde ich und greife zum Glas, in dem nur noch ein trauriges Tröpfchen goldfarbenen Gerstenbrandes sein kümmerliches Dasein fristet. Diesen Zustand wollen wir sogleich bereinigen, indem ich etwas aus dieser sympathischen Flasche vor mir nachschenke. Und hast du es nicht gesehen, kann man in Grimms Märchen oftmals lesen, flöße ich mir flugs etwas von der Medizin ein, die ich manchmal benötige, um besser durch den Tag zu kommen, wenn Seele oder gar Kreislauf irritiert scheinen. Alles jedoch mit dem Vorbehalt auf Prävention. Und da es noch nicht so spät ist, dem allabendlichen Ritual zu folgen, den Dämmerschoppen zu nehmen, benenne ich diesen hier den Trunkenheitsliteraturnachmittagserinnerungsdrink, damit das Kind einen Namen hat und ich eine Entschuldigung. Hört sich an, als würde ich andauernd an Alkoholisches denken. Da kann ich nur drüber lachen!

Um noch einmal auf den Obsopeus zu kommen und sein äußerst sympathisches Werk über die Kunst des Trinkens, in welchem er Bacchus zum Schutzpatron der Säufer, den sogenannten Bacchanten, hochstilisiert, jedoch trotz allem zum Maßhalten rät wie auch zur richtigen Wahl derjenigen Menschen, mit denen man sich bei Speis und Trank umgibt. Er warnt vor raschem Trunkensein, indem man diesem mittels ausreichender Nahrung entgegenwirke. Zu allererst müsste man einmal ein Fundament schaffen, eine Grundlage, hat auch einer meiner Bekannten stets gemeint, vielleicht ergänzt durch den Verzehr von Rettich, getrockneten Feigen oder bitteren Mandeln.
Ein persischer Freund hat mir immer von Trinkgelagen an einem bestimmten See im Iran erzählt, wo man es hervorragend verstanden haben soll, professionell zu feiern. Vor der Revolution versteht sich. Bier, erzählte er, Wein und so weiter, waren nicht genug. Whisky musste es sein. Dabei schmunzelte er vielsagend. Hatte man zu viel getrunken, nahm man etwas Saft vom Granatapfel zu sich. Danach konnte man wieder hervorragend weitersaufen, hatte er hinzugefügt. Man lagerte dazu auf eigens dafür mitgebrachten Teppichen, die man am Seeufer ausgelegt hatte. Und brach dann unweigerlich einmal der Sonntagabend an, hieß es, gehen Sie nicht am Sonntag, bleiben Sie bis Montag. Ich war fasziniert und habe ihn noch Jahre später immer wieder gebeten, mir doch wieder von seinen Festen zu erzählen.

Doch noch einmal zurück zum Obsopeus. In seinem zweiten Buch erzählt er vom Garten der Mäßigkeit, von Tanz und Speisen, von mäßigem Spiel, und er warnt eindringlich vor der Unmäßigkeit beim Trunke, welche den Menschen zum Tier werden ließe, welches sich mit anderen herumprügle. Künstlich müsse man trinken, heißt es hier, sich in der Kunst des Trinkens üben, wobei er empfiehlt, dem Wein etwas Wasser beizugeben, ein Gedanke, zu dem ich mich nicht weiter äußern möchte.
Wenngleich es sich bei dieser Literatur immerhin um ein eher mäßigendes Medium im Umgang mit der Sauferei handelte, hatte der Klerus trotzdem ein scharfes Auge darauf und die Prediger wurden angewiesen, eindringlich vor den verheerenden Folgen des Alkoholmissbrauchs zu warnen. Der Bürger sollte die moralischen, sozialen und politischen Folgen der Trunksucht bedenken, welche die Menschheit zum Kriege verleiten würde, zu Bauernkriegen, zu Kriegserklärungen im Rausch, zu Diebstahl, Totschlag und Misshandlungen. Säuferleben ende am Galgen oder in der Prostitution, hieß es.
Es bedürfe sachlicher Ratschläge. Man nannte Fürsten als Vorbilder und warnte gleichzeitig vor den Folgen des Jüngsten Tages, wenn immer mehr im Glas als im Wasser ertrinken würden. Gescheh‘n in einer Zeit, als fahrende Kaufleute gerade Auerbachs Keller und Hof so über die Maßen lobten. Nun, eine zeitgemäße Predigt gegen das Laster des Alkoholmissbrauchs könnte zum aktuellen Zeitpunkt etwa so aussehen: Sie wissen, dass die regelmäßige Einnahme alkoholischer Getränke heutzutage in alle sozialen Schichten Einzug gehalten hat. Aufgrund dieser Tatsache warnen wir eindringlich vor übermäßigem Genuss geistiger Getränke hinsichtlich der drohenden Abhängigkeit von Alkoholika, welcher nicht zuletzt zu diversen neurologischen Erkrankungen führen kann. Durch regelmäßige Alkoholzufuhr erhöht sich in der Folge das Risiko für Sie, physische und psychische Schäden zu erleiden, enorm. Beachten Sie daher die Ihnen zuträgliche Tagesdosis genau, die bei Männern zwischen 20 bis 24, bei Frauen hingegen schon bei 10 bis 12 Gramm liegt. Bedenken Sie überdies, diese Menge nicht täglich zu konsumieren.
Bereits der geringste Rauschzustand hat psychopathologische wie auch neurologische Auswirkungen auf Ihren Organismus. Unterbewerten Sie nicht den bereits nach den ersten Schlucken auftretenden leichten Erregungszustand und vermeiden Sie jede weitere Trübung Ihres Bewusstseins durch die fortgesetzte Einnahme alkoholischer Substanzen, die vorerst zur Ermüdung, in weiterer Folge sogar bis zum Koma führen kann.

Nach dem Durchlesen meiner letzten Zeilen muss ich mir eingestehen, dass ich in dieser besonderen Sache äußerst wenig Talent zum Prediger zeige. Obendrein hat das viele Lesen meine Augen müde gemacht, und während ich mich einem langen Gähnen voll und ganz hingebe, prüfe ich den Pegelstand in meinem Whiskyglas über einen ganz bestimmten Augenwinkel, wobei ich feststelle, dass dieser wieder einmal mehr ziemlich stark gesunken ist. Ich überlege daher, ob ich nicht vielleicht noch etwas Medizin zugießen sollte?
In solchen Momenten habe ich auch stets mein Rauchgerät in der Nähe, denn genau dann erfasst mich zumeist der innere Wunsch, ein Trieb beinahe schon, nach meiner Pfeife italienischer Provenienz in der rechten Rocktasche zu greifen, um diese aus ihrem dumpfen Gefängnis zu befreien. Leidenschaftlich ertasten meine Finger die rustizierte Struktur des Pfeifenkopfes, geübter und durch die Jahre hindurch ritualisierter Berührungsablauf. Wenn es ums Design ging, scheint den Italienern von jeher stets das Hervorragendste zu gelingen, seien es Autos, Kleidung oder was sonst noch alles.
Ich schätze diese Pfeife ganz besonders und werde nicht müde, sie zu bewundern, sie täglich erneut zu ertasten und in ihren Konturen zu erfahren, nicht zuletzt auch ihrer anthrazitfarbenen Tönung wegen, die in mir etwas wie die Wehmut eines verlorenen und plötzlich wiedergewonnenen Horizontes auszulösen vermag. Oft schon hervorgerufen durch eine kleine, unscheinbare Farbauslassung am Ende des Holms. Die nussbraun schimmernde Lasur oder der hölzerne Urgrund, dazu angetan, in mir jene süße Ahnung zu entlocken, wenngleich auch nur auf Dauer des Bruchteils einer Sekunde. Und das allein durch einen schmalen Streifen hellen Holzes zwischen dieser Stelle und dem Rest glänzendem Dunkel wie undurchdringlicher Steinkohle.
Ich habe sie erst vor Kurzem geraucht und es ist noch genügend Tabak darin vorhanden. Geübt ziehe ich das silberne Feuerzeug aus der schmalen Öffnung meines englischen Gilets, in der hehren Absicht, das pechschwarze Kraut darin erneut zu entflammen, welches, kaum mit dem Feuer in Berührung, sich in seinem Schmerz sogleich aufbäumt, um kurz darauf rubinrot zu erglühen. Nun gilt es, die Intensität des Brandes zu bezähmen, die Rauchschwaden auf ein Minimum zu reduzieren, die Hitze auf ein erträgliches Maß einzudämmen, denn nur so kann sich die angenehme Süße, das eigenwillige Bukett seines Aromas und der vollkommene Charakter dieser Mixtur aus hellem Virginia und dunklem Perique seinen Weg durch das Labyrinth meiner vom Whisky abgehärteten Geschmackspapillen suchen.

All das geschieht stets in der Hoffnung, für stabile und zumindest für eine bestimmte Zeit nachhaltige Entwicklung der sich gleichmäßig ausbreitenden Glut zu sorgen. Diese zu bezähmen und zu hegen ist mein Ziel, des Pfeifenrauchers innigstes Bestreben allgemein. Gleichzeitig aber liegt der tiefere Sinn in der Ausprägung einer Disziplinierung, wie bereits erwähnt, die Gifte, die ja wie Laster den Tugenden beigemischt scheinen, zu mäßigen, um sich ihrer, gewissermaßen als Trost im ständigen Kampf gegen die Übel des Daseins, zu bedienen.
Ich blase schwere Rauchwolken vor mich hin und bin verzückt vom Flair des Duftes. Wenngleich selber rauchen leider auch verminderte Wahrnehmung der Raumnote bedeutet. Die Raumnote ist es, die sich dem Passivraucher wesentlich intensiver, gleichsam als der wahre Charakter des Aromas in seiner ursprünglichsten Form offenbart. Intensiver als man selbst in der Lage ist, sie zu erfahren. Eine Tatsache, wenn auch bedauerlich. Aber es stört mich nicht weiter, habe ich doch immerhin das individuelle Vergnügen warmen, wohlgeformten Holzes in meinen Händen.

Jetzt ist die Zeit gekommen, zur Flasche zu greifen und vorsichtig nachzugießen. Bei den 24 Gramm war ich heute schon einmal angelangt, durchschießt mich der Gedanke. Nichtsdestotrotz ziehe ich maßvoll an der Pfeife und nehme einen Schluck vom Glas. Die Harmonie zwischen dem Tabakrauch und dem Whiskygeschmack ist wahrhaft überwältigend. Ja, jetzt spüre ich sie, die Müdigkeit. Meine Beine fühlen sich schwer an, die Eingeweide durchzieht ein warmer Schauer. Jetzt ein Nickerchen wär´ nicht schlecht, denke ich.

Als mein Stapel Manuskriptblätter durch eine unachtsame Bewegung vom Schreibtisch auf den Boden knallt, erwache ich jäh. Der Bildschirm meines Laptops verdunkelt, in Schlafstellung wie ich selbst. Es mochten gut zwei Stunden vergangen sein, die ich in meinem Arbeitssessel dösend verbracht habe. Als ich die Blätter mühsam vom Boden auflese, fällt mein Blick auf einen Buchtitel, „Der vollen Brüder Orden“, und muss hellauf lachen.
Jetzt erinnere ich mich, ja, ich hatte einen Traum gehabt, ich wäre nach einem gewaltigen Rausch erwacht, irgendwann im Mittelalter, so kam es mir zumindest vor, und irgendwo im Gastzimmer einer Schenke. Mein Kopf brummte vom schweren Wein, den ich die Nacht über getrunken hatte. Dennoch bestellte ich eine neue Kanne roten Weines, nachdem mich der Wirt aufmunternd einen treuen Diener Bacchus‘ bezeichnet hatte.
Ich lalle irgendetwas vom Säuferlohn, von Krankheit und dem qualvollen Tod. Ich bin Bacchus, merke ich, inmitten einer illustren Gesellschaft, während mich der Teufel an einer Kette festhält. Um uns herum toben Schweine, Affen und Kälber. Unter den Tischen blöken Schafe, deren Hirten an der Schank stehen und einen Becher nach dem anderen leeren.
Ein Weinspiel ist´s. Eine irrationale Kneipenszene im Wirtshaus „Zur blauen Ente“, wie ich an einem bemalten Holzbalken zu erkennen vermag. Rings um mich all die Tiere, die frei herumlaufen. Komische Typen in merkwürdigen Gewändern, die mir mit ihren Gläsern zuprosten. Einer, der donnernd gegen das Saufen poltert. Drüben in der Ecke ein Pfaffe unter Weinbauern mit blauen Schürzen, die in heftigen Reden den Wein in Schutz nehmen möchten, indem sie seine Vorteile loben. Ich selbst, Gott Bacchus, doziere immer noch über den Säuferlohn, und wie ich mein Reich stets durch die wachsende Zahl meiner Jünger stärke. Täglich würden die Reihen meiner Diener länger.
An der Wand hinter mir hängt ein Holzschnitt, auf dem ich als Kind abgebildet bin, ein Gesetzesbuch in Händen. Soeben geleite ich meine Anhänger zum Teufel hin, eine ausgelassene Gesellschaft, mit Schweinsschädeln, Eselsohren und Gänse- als auch Bärenköpfen. Satan selbst, an dem Treiben höchst erfreut, übt sich in Ratschlägen über das Saufen, und darüber, dass der Wein mehr vermag als der Opfertod Christi. In einer anderen Szene bin ich meiner Gottschaft enthoben und zum gichtigen Alkoholiker degradiert, den Wein anklagend, der letztendlich von seiner Schuld freigesprochen wird.

Ich reibe mir die vom Schlaf noch halb geschlossenen Augen. Ab welchem Zeitpunkt ist man Alkoholiker?, beginne ich mich zu fragen. Die paar Schlucke täglich? Das kann doch nicht sein! Zugegeben, manchmal habe ich die ersten Gläser rasch geleert. Und hat es allzu lang gedauert, bis sich bei mir der gewünschte Effekt eingestellt hat, bin ich umgestiegen. Was das heißt? Nun, vom Wein zum Schnaps, ist doch ganz einfach. Sollte unter meinen Freunden einmal die Rede von der Trunksucht sein, vermeide ich es tunlichst, mich zu outen. Im Gegenteil, ich mache Witze darüber, ziehe die Sauferei ins Lächerliche oder so.

Jetzt brauche ich einen Schluck vom Glas. Ist noch genug drinnen. Ach, ich vergaß, ich hatte ja davor etwas geschlafen. Und überhaupt, was soll das? Ich benehme mich ja so, als hätte ich Schuldgefühle wegen der Sauferei. Obwohl, jeder tut es. Neulich habe ich eine Dokumentation gesehen, über Tiere in den Tropen. Es gab da einen Mangobaum. Die Mangos waren alle überreif und lagen auf dem Boden herum, bereits im Gärungsprozess. Eine Horde Affen hatte sich darüber hergemacht. Die wussten genau, was in diesen Früchten steckt. Und alle waren besoffen. Die einen schlugen Purzelbäume, die anderen bewegten sich im Zickzack oder kugelten ganz einfach auf dem Boden herum. Ziemlich menschlich haben sie ausgesehen in ihrem Dusel. Na und?
Wenn du hier zum Internisten gehst, fragt er dich, trinken Sie? Was muss man antworten, damit man seine Ruhe hat? Gelegentlich. Gut, sagt der dann, aber ihre Leberwerte sind irgendwie auffällig. Womit die Sache oft auch schon beendet ist. Gott sei Dank! Ja ja, natürlich habe ich oft dieses – dieses Verlangen nach mehr. Ich habe alles im Griff. Meine Freunde sehen mich manchmal so sonderbar an, wenn ich das fünfte Bier bestelle. Ich beobachte das immer öfter. Dann sage ich, es wäre meine Sache, nicht? Wenn ich will, höre ich einfach damit auf, verstanden?
Vor zwei Jahren habe ich von heute auf morgen drei Monate keinen Schluck getrunken. Aber derzeit will ich trinken, und es ist mir egal, versteht ihr? Ja, es ärgert mich maßlos, wenn sie sagen, dass ich zu viel trinke. Weil´s nicht stimmt, deshalb! Und dass man am Abend mit mir nichts mehr anfangen kann, sagen sie. Blödsinn. Bin eben zu müde, das ist alles. Interessiert mich eben derzeit nichts. Muss es?
Stattdessen träume ich gerne vor mich hin. Ist das vielleicht verboten? In einer Welt, die so aussieht, wie sie derzeit aussieht? Mit den verdammten Völkermorden in Afrika, am Balkan, im Nahen Osten? Und die Griechen? Die Portugiesen? Die Italiener? Ist das alles nichts? Wer weiß, was noch alles kommt? Da soll man nicht ab und zu einen zu sich nehmen dürfen, wie?

Wie soll man denn die ganze Scheiße aushalten ohne Alkohol? Ein Kiffer will ich ja schließlich nicht werden, oder? Ich schenke ganz einfach nach. Es nervt mich, mich ständig vor anderen rechtfertigen zu müssen, warum ich trinke. Ehrlich! Ich habe mir ein Lager angelegt. Lauter herrliche Dinge. Biere, Whiskies, Gin, Cognac, Port, Wodka und so weiter. Vom Feinsten. Schließlich bin ich ja kein Sozialfall. Ich lache still in mich hinein. Ich gehöre nicht zu den Tetrapack- oder Dopplertrinkern, sage ich mir.
Und meine kleinen Panikattacken zwischendurch gehen niemanden etwas an. Nehm´ ich eben einen Schluck aus dem Flachmann, dann geht´s gleich wieder besser. So ist das eben! Das nimmt mir die Angst. Die Angst vorm Leben, vor der Arbeitslosigkeit, davor, zu versagen. Ist doch gut, dass das so funktioniert, oder? Bloß die Sache mit meinen Augen stört mich etwas. Irgendwie alles verschwommen. Ich versuche, mein Manuskript zu entziffern. Etwas weiter weghalten? Ja, so ist es besser. Ein kleiner Schluck dazwischen.

Mein Traum fällt mir wieder ein. Träume ich eben noch? Keine Ahnung.

Dem Onkel haben sie auch den Alkohol verboten, nach seinem Schlaganfall. Seither lacht er nicht mehr. Sitzt nur mehr teilnahmslos rum, randvoll mit Medikamenten. Beruhigungsmittel oder so. Das macht Sinn. Die Korbflasche dort auf dem Bild zieht mich ungeheuer an, sage ich mir. Warum eigentlich? Chianti müsste drinnen sein. Wie damals, als wir auf dem Gut nahe Siena waren, Ostern neunzehnhundertund? Weiß nicht mehr. Der Gärtner stellte uns jeden Morgen eine solche Flasche, mit Bast umwickelt, vor die Treppe zum Eingang. Vierzehn Volumsprozent Alkohol! Unser Schlummertrunk. Oft kriegte ich nicht einmal das zweite Glas leer, schon war ich sanft entschlummert. Habe die Abendzeche nicht zu Ende gebracht. Was für eine Zeit! Da hat man den Wein aus Potten, aus Pinten, Kelchen, Kellen und Trinkschalen geschält.
Wie komm ich jetzt da drauf? Döse so vor mich hin. Das Manuskript rutscht langsam wieder zu Boden. He, Wirtsknecht, schenk ein! Hundesohn, verdammter! Zu meinen Zechgenossen: „Lasst uns vom Trinken parlieren! Was war zuerst?“, rufe ich, „war´s der Durst oder war´s der Trank?“ Die anderen grölen und jubeln. Nur nicht den Mut sinken lassen. So singt, dass keiner trinke! Und trinkt, dass keiner singe! So ein Schwachsinn! Wo gelöscht wird, muss es gebrannt haben, wie? Was, ein so kleines Glas? Was soll der Fingerhut, mein Freund?
Ein Film schiebt sich vor meine nebelige Erinnerung. Häuptling Fünffässer verhandelt mit dem Whiskyhändler. Er soll ihm drei Wagen Whisky geben, oder er würde ihn nicht passieren lassen. „Holt Orakeljones!“, rufen die Männer. „Ja, holt Orakel, der wird uns sagen, was wir tun sollen!“, schallt es aus der Menge. Der Mann wird geholt. Ein Typ, kahlköpfig, Vollbart, leerer Blick. „Was siehst du?“, fragt einer. „Ja, sag uns, wie der Winter wird!“, fordern ihn die anderen auf. Einer füllt ihm sein Glas mit Whisky. Orakel leert es mit einem Schluck. „Die Bisons fressen wie verrückt. Die Eichhörnchen und Biber sammeln ungewöhnlich viele Vorräte. Oben am Pass liegt bereits der erste Schnee. Wenn wir jetzt keine Wagenlieferung mehr bekommen, müssen wir den Winter über ohne Whisky auskommen!“ Er trinkt ein zweites Glas mit einem Schluck.

Blankes Entsetzen macht sich unter den Männern breit. Ich schrecke hoch. Was? Kein Whisky mehr da? Mühsam rapple ich mich hoch und schiebe meine Hand unter das Regal vorm Fenster. Alles noch da. Fünf Flaschen hier, drei andere lagern im Kleiderschrank. Kein Grund zu Panik. Es ist vorgesorgt. Ich muss mir keine Sorgen machen. Die Kiste Bier ist unten im Kühlschrank eingekühlt. Was soll mir noch passieren? Tabak ist auch genug da. Gerettet! Alles in Ordnung. Alles wird gut. Orakel nimmt jetzt die ganze Flasche. Er hebt sie zum Mund und setzt sie an. „Ich sehe eine Wagenladung Whisky kommen. Fünf, zehn“, er macht eine Pause, trinkt, „zwanzig, dreißig, vierzig Wagenladungen!“ Die Menge jubelt. Ich bin wohl etwas eingenickt. Egal.

Wie ich diese Kerle verstehe, ehrlich, ich mag sie! John Wayne, meine Güte! Ich muss einfach trinken, weil ich zu feige bin, mich auf direktem Wege ins Jenseits zu befördern, oder? Ich lache laut. Oder weil mir der Mut fehlt, mein Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen. Alkohol ist mein Notventil. Mein Ruhekissen. Meine Flucht vor mir selbst. Beim Trinken nehme ich mich aus der Verantwortung, für alles! Und alles wird dabei relativ, nicht mehr so wichtig. Frisst mich nicht so auf wie Alltag, Arbeit, Beruf und solche Sachen. Und ich bin in prominenter Gesellschaft. Die Typen von vorhin Gottfried Keller, E. T. A. Hoffmann und so, später Joseph Roth, Maler wie van Gogh, Henry Miller zum Beispiel. Was, der auch? Oder Oscar Wilde, Churchill mit der dicken Zigarre und so weiter.
Dann kann ich ja noch was trinken, oder? Ich tu´s.

Wo war ich doch gleich? Ah, genau, beim zu kleinen Glas. Schließlich wollen wir Geschirr, bei dem man sich nicht gleich die Zunge anstößt. Ein Glas so groß wie ein Latz. Das ist die Vorstufe zum Wahnsinn, kommt mir in den diffusen Sinn. Der Wirt ist der Best´, ist voller als die Gäst´! Der Wein macht keinen stumm, oder? Holt Wein, wir sollen fröhlich sein! Wir trinken drum den guten Wein, die Sorgen zu vertreiben. Er setzt das Gläschen an den Mund und trinkt es aus bis an den Grund, rezitiere ich.
Ein wenig macht mir meine Zunge Schwierigkeiten, die Worte korrekt zu artikulieren. Aber das kommt von der Müdigkeit. Ich gähne. Da haben wir´s. Schon Zeit fürs Bett? Unmöglich!

Langsam aber sicher habe ich wohl genug, meine ich. Mein Denken fühlt sich an wie in einem dumpfen, tiefen Kanal. Links und rechts fällt mir nichts ein, keine Assoziationen, nichts. Auch gut. Beim Schlafen brauche ich nicht zu denken! Vor mir Dr. Schiwago, wie er mir einen Gummischlauch in den Mund schiebt, obendrauf ein Trichter, in den der Unmengen Wasser aus einem Krug schüttet, in den er vorher ein kleines Fläschchen entleert hatte, welches er aus seiner Instrumententasche genommen hatte. Man will mich gewaltsam ausnüchtern! Eine Magenspülung! Das ist doch alles lächerlich! Ich fühle Wut aufsteigen, gepaart mit Erschöpfungs- und Angstzuständen.
Scheiße! Mir geht´s schlecht. Ich versuche, aufzustehen. Es gelingt nicht. Ich reiße mir die Decke von den Beinen. Ich erwache. Kann mich an nichts erinnern. Wo bin ich eigentlich? Alles dreht sich um mich. Einmal von links nach rechts, dann von vorne nach unten, o Gott o Gott! Ich muss erbrechen!
Jemand ruft nach Butyrophenon. Was soll das sein? Wenn ich längere Zeit nichts trinke, also, das kommt kaum vor, oder? Wenn ich also längere Zeit nichts trinke, beginnen immer meine Hände zu zittern und ich fange an zu schwitzen. Gräulicher Zustand, das! Dann bin ich reizbar wie ein bengalischer Tiger. Ich schlafe unruhig, wenn überhaupt und seit geraumer Zeit kommt mir vor, als wäre ich mir selber fremd. Besonders dann, wenn ich an großen Plätzen stehe, von denen aus ich manchmal nicht mehr weiter weiß. Als hätte ich irgendwie die Orientierung verloren, obwohl ich jeden Tag dort vorbeikomme. So was Dummes!

Ich meine, ich werde alt. Irgendwie verwirrt. Das ist ganz normal. Aber dieses Zittern bereitet mir Sorgen. Unlängst habe ich schon vor dem Frühstück einen kleinen genommen. Danach waren meine Hände ruhig. Na also! Man muss sich nur zu behandeln wissen, sage ich immer. Trotzdem, komische Situation das, wer trinkt, gilt hierzulande gewissermaßen als normal. Trinkst du nicht, betrachten sie dich als abartig.
Ach, dann ist da noch dieses Kribbeln in den Beinen! Ich kratze und kratze schon die längste Zeit und es wird nicht besser! Jetzt werden mir die Augen wieder schwerer und schwerer. Mein Kopf sinkt nach vorne. Nur noch ein letzter kleiner Schluck, einer noch, ein allerletzter.

Wegen der argen Schmerzen in meinen Armen und Beinen fällt es mir schwer, wirklich einzuschlafen. Vielleicht eine Viertelschlaftablette? Mit einem Schluck Whisky wirkt sie viel schneller. Dann brauche ich mich um nichts mehr zu kümmern, bin weg, geh mir selber nicht mehr auf die Nerven, mache Urlaub vom Ich.
Schweißausbrüche und Herzrasen befallen mich. Durch Sehschlitze erkenne ich fahl die Umrisse Udo Lindenbergs, der sich vor mir auf dem Boden windet und in meinen Ohren verklingen seine Worte: Wieder geht ein Tag zu Ende und die Dämmerung zieht rauf, leise zittern ihm die Hände und der Säufermond geht auf … gib mir noch ein kleines Glück, meine Nerven, die sind, ach, die sind heut´ wieder‘ n bisschen schwach…mach mich bitte wieder wach … und der Whisky – der zieht runter und sein Blut wird schnell und warm, und jetzt nimmt ihn Lady Whisky ganz zärtlich in den Arm… lass uns beide, du und ich, erstmal richtig einen saufen… und die Zimmerdecke hebt sich, und die Wände brechen ein, auf dem Boden leere Flaschen, und er wieder so allein… in den Ohren ist ein Sirren und im Herzen ist ein Schlag, alle Fenster klirren, dieses Zimmer ist ein Sarg … aus dem Fenster zu den Sternen nur: Die kann er nicht mehr seh‘n, und in dunkler Wolkenferne scheint fahl der Säufermond… ein Mann lag in seinem Zimmer… mit den Nerven wurd´ es schlimmer… jede Nacht ´ne neue Qual, dieses Leben ist so arm – ferngesteuerte Quälerei, öffne die Flasche Numero drei…

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig | Inventarnummer: 15072

 




Die Schönen und das Bier

Wie war das nochmal mit dem Bier, Alexandra? Was hast du da letzte Nacht geträumt?

Es war ein richtiger Albtraum, ich will nicht mehr darüber sprechen.
Bier ist übrigens gesund. Da sind antioxidative Substanzen drin. Bei Hautkrankheiten und Schlafstörungen könnte es helfen.

Ach?!

Man könnte es gar als probiotisch bezeichnen und für die Erhaltung der Darmflora empfehlen. Ein Liter Bier hat die gleiche antioxidative Wirkung wie vier bis fünf Portionen Obst und Gemüse. Hättest du das gedacht? Die Kombination der Polyphenole aus Hopfen und Malz macht es aus, das ist wissenschaftlich nachgewiesen.

Frau Mag.a Alexandra Hafner-Juric schob die schmalen Schultern nach hinten und die Brust nach vorne. Ihren Kopf hob sie leicht an, um die Illusion zu nähren, sie sei putzmunter und im Geiste wach.
Ihre Kollegin am benachbarten Barhocker entgegnete zweifelnd:

Das glaube ich nicht, denn heutzutage ist Bier ein Produkt der modernen Biotechnologie, unter großem Zeitdruck industriell gefertigt. Dass das wirklich noch gesund sein soll?
Und es macht dick. So sagt man doch?

Schau ich so aus?

Mitnichten, niemand könnte so etwas behaupten.

Wahrlich, Alexandra Hafner-Juric hatte fürs Auge einiges zu bieten. Aber keinesfalls war sie dick. Keinesfalls!
Der Alkohol hatte ihr nicht wirklich zugesetzt. Na ja, vielleicht ein wenig. Sie war auf eine angenehme, leise Weise illuminiert. Sie lächelte häufig, eigentlich andauernd. Das bisschen Kohlensäure, im dunklen Gerstensaft sparsam vorhanden, hatte ihre Wangen leicht gerötet.

Schau Beate, dieses hier solltest du noch probieren, so trink doch noch eine Halbe.

Weißt du, ich hab schon genug von diesem lauwarmen Starkbier im Kreislauf und der schwere Zigarettenrauch tut das seine. Ich will nach Hause.

Frau Hafner-Juric war eine elegante Erscheinung, wie sie da so saß in ihrem schmalgeschnittenen Businessoutfit. Die Laptoptasche lehnte am Barhocker. Der Bürotag war ein langer und ermüdender gewesen. Das Feierabendbier verdient.

Schau, Beate, angefangen hat es als Jugendliche mit heimlichen Bieren. Schon damals hat es mir geschmeckt. Mein Mann, der versteht das gar nicht. „Hopfen-Junkie“ wird noch das Netteste sein, das er heute sagen wird, wenn ich nach Hause komme.
Aber ich sehe das schon auch wissenschaftlich, ich mag die Sortenvielfalt. In Belgien da gibt es heute noch Brauereien, die versuchen, nach mittelalterlichen Rezepten zu brauen. 

Alexandra Hafner-Juric wohnte in dieser neuen Siedlung zwei Straßen weiter, dort wartete bereits ihr Mann auf sie. Sie hatten ein kleines Häuschen mit bescheidenem Garten, der ein wenig verwildert war. Umso ordentlicher wirkte seine Besitzerin jetzt, aufgeräumt geradezu. Mit aufrechtem Rücken auf dem Barhocker sitzend, gemeinsam mit ihrer Kollegin die breite Palette des Bierangebots analysierend. Das aktuelle war arm an Kohlensäure, trüb, dunkelbraun wie Bernstein, malzig bitter und eigentlich ziemlich sauer, wie Beate Müller-Enzenhofer unbekümmert konstatierte. Worauf Alexandra Hafner-Juric selbstredend etwas zu erwidern wusste:

Bier enthält auch sehr viel Kalium. In Tschechien und Polen bezahlt die Krankenkasse daher für Patienten mit Nierensteinen Bier auf Krankenschein. Hopfen heißt übrigens auf lateinisch Humulus Lupulus.

Das klingt kurios.

Ja, und die Hopfenblüten enthalten neben den Bitter- und Aromastoffen, die dem Bier seinen typischen Geschmack geben, etliche gesundheitsfördernde Substanzen, die auch bei hohen Cholesterinwerten, Haarausfall oder sexueller Unlust helfen sollen.

Bier enthält Hormone?

Das stimmt nur halb. Hopfen enthält Flavone, die in der Pflanze selbst keine hormonelle Wirkung haben, im menschlichen Körper aber aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Steroidhormonen auf diese Weise wirken können. Im Versuch mit weiblichen Ratten hat sich gezeigt, dass Hopfenextrakt ihre Empfänglichkeit für sexuelle Avancen des Rattenmännchens erhöht.

Ja brauchst du denn diese Bier-Hormone?

Ach, weißt du …

Alexandra Hafner-Juric seufzte und stieß mit dem Bein ihre Laptoptasche um, um beim anschließenden Versuch, diese wieder aufzurichten, mit dem anderen Bein darauf zu treten und beim auf diesen Fehltritt folgenden (eigentlich als Korrekturbewegung gedachten) Ausfallschritt das Gleichgewicht vollends zu verlieren.
Beate Müller-Enzenhofer half ihrer Kollegin fürsorglich wieder aus der Horizontale, ließ ihr halbvolles Glas antioxidativen Hopfengebräus stehen, beglich mit stoischer Miene die gemeinsame Rechnung und begleitete Frau Mag.a Hafner-Juric schlussendlich nach Hause.

Michaela Swoboda
Szenisch dargeboten bei Theaterzeit Freistadt 2014

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig | Inventarnummer: 14057

 

 

 

 

 

 

 




Liebesbrief eines Brauers

Meine holde Schöne,

wie begehre ich Dein strahlendes Leuchten, Deinen sprühenden Geist, mehr noch als Deinen kraftvollen Körper … Deine feingliedrige Grazie verzückt mich jeden Tag aufs Neue.
Du mein funkelndes Gold, vornehmen Glanz verströmend, Du edler Genuss voller Eleganz, weich und rund …
Doch wie sehr liebe ich auch Deinen stattlichen Malzkörper. Er schenkt mir großartige Intensität, beschert meinem Alltag honigsüße Noten, erwärmt mein Herz.
Dein Kuss schmeckt voll, einem verheißungsvollen Antrunk gleich. Oh, welch süße Aromen beleben meine erwartungsdurstigen Geschmacksknospen!
Wie wohlig lang der Ausklang nach der Berührung der Lippen, dem das feinste, reinste Gaumengefühl folgt …
Wie sehr mundest Du mir, meine Schönheit, meine Hopfenkönigin, meine schaumgekrönte …

So grüßt und küsst Dich in aufrichtiger Ergebenheit

Dein Rotschopf

Carmen Rosina

Szenisch dargeboten bei Theaterzeit Freistadt 2014

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig | Inventarnummer: 14056