Ballprinzessin

 „Sie ist schon jetzt eine richtige Walküre.“
Das möchte man als zwölfjähriges Mädchen am liebsten hören, wenn man der Großmutter den neuen Schottenrock vorführt. Claudia weiß natürlich, was eine Walküre ist. Schließlich sind die „Deutschen Heldensagen“ Bestandteil der elterlichen Bibliothek und Schullektüre.

Sie weiß also, dass sie keine Chance hat, ihrem Ideal auch nur in die Nähe zu kommen. Das Role Model ist Olivia Newton-John als Mandy in „Grease“. Schon seit Wochen versucht Claudia, die Mutter zur Erlaubnis für eine Dauerwelle zu überreden, weil die Selbstversuche mit in Zuckerwasser getränkten, fest geflochtenen Zöpfen, die über Nacht trocknen, nicht das gewünschte Ergebnis zeigten. Vergeblich. Schlecht für das Haar, teuer. Also möchte Claudia wenigstens so aussehen wie Mandy vor der finalen Verwandlung: braver Pony, Faltenrock, Bluse, Weste. Schließlich hat John Travolta sich in diese Mandy verliebt, nicht erst in jene mit den Lederhosen und dem ausgeschnittenen Top, wollte sich für die brave Mandy sogar verändern. Und die Mutter ist eher bereit, Geld für einen neuen Rock als für Glockenhosen, die alle anderen Mädchen jetzt tragen – oder gerne tragen würden –, auszugeben.

Claudia weiß selbst, dass sie nicht dem aktuellen Idealtyp entspricht. Schon mit zwölf Jahren ist sie fast einen Meter und siebzig Zentimeter groß, ihre Figur ist eher die einer Kugelstoßerin als die einer Ballerina. Aber wenigstens versuchen will sie es. Schon in der Volksschule war sie die weitaus Größte in der Klasse, überragte alle Buben, war dementsprechend uninteressant für sie. Dann der Wechsel ins Gymnasium. Eine der letzten reinen Mädchenschulen. Das hat sich als Segen erwiesen. Claudia ist zwar immer noch die Größte ihres Jahrgangs, der Vergleich mit den Buben entfällt aber wenigstens. Zu allem Unglück ist Claudia auch noch eine gute Schülerin, eine sehr gute sogar. Sie muss aufpassen, nicht als Streberin abgestempelt zu werden. Hässlich und Streberin – völlig unmöglich.

Die erste Klasse hat sie spielend hinter sich gebracht, zu Anfang der zweiten werden zum ersten Mal Freigegenstände an den Nachmittagen angeboten. Einige haben eher Nachhilfecharakter. Es gibt zusätzlichen Sport, der Claudia interessieren würde. Wenn sie schon riesig ist, will sie wenigstens dünn sein. Doch sie entscheidet sich schließlich für „Bühnenspiel“. Man darf in der zweiten Klasse nur einen Freigegenstand belegen, damit die schulischen Leistungen nicht leiden. Hungern kann sie zu Hause auch. Sie wird an den Wochenenden spazieren gehen und Gymnastik machen, um abzunehmen. Im Theater wird sie im Mittelpunkt stehen, der Star sein. Auf der Bühne sehen große Menschen viel besser aus als kleine.

Das Schulgebäude ist alt, wurde während des Sommers renoviert, hat nicht nur einen neuen Turnsaal bekommen, sondern im Keller auch einen großen Veranstaltungsraum mit einer richtigen Bühne. Die Deutschprofessorin, die „Bühnenspiel“ leitet, wurde nicht renoviert. Sie hat ausgerechnet „Schneewittchen“ als das Theaterstück ausgesucht, das zu Semesterende aufgeführt werden soll. Eine kluge Wahl für eine Mädchenschule, kaum Frauenrollen. Aber eine davon wird Claudia ergattern. Sie wird Schneewittchen spielen. Eventuell noch die böse Stiefmutter. Die muss ja auch attraktiv gewesen sein, sonst hätte der König sie nicht geheiratet. Keinesfalls wird sie den Prinzen spielen. Nur weil sie groß ist. Nein. Es gibt schließlich auch kleine Männer. Und sie sieht viel zu weiblich aus. Wenn sie sich von allen Seiten im Spiegel anschaut, ist sie sicher: Prinz geht gar nicht. Sie bekommt ja schon einen richtigen Busen. Es gibt kein Kostüm, das den verdecken könnte. Prinzessin oder Stiefmutter!

Eigentlich hat sie ja Angst davor, auf der Bühne zu stehen, sich von Publikum begaffen zu lassen. Angst davor, dass sie schlecht wegkommt. Doch sie wird allen Mut zusammennehmen. Sie wird die anmutigste Prinzessin sein. Oder die böseste Stiefmutter. Auf jeden Fall wird sie blendend aussehen, allen zeigen, dass sie das hübscheste Mädchen weit und breit ist. Oder wenigstens das hübscheste an diesem Nachmittag in diesem Festsaal.
Und dann die Katastrophe: Claudia wird krank. Nichts Ernstes, nur eine starke Verkühlung. Aber sie kann nicht in die Schule gehen. Was sonst ein großes Glück ist, ist nun die schlimmste Strafe. Sie versäumt die Verteilung der Rollen.

Endlich wieder in der Schule. Montagnachmittag. „Bühnenspiel“. Die Professorin kündigt an, noch einmal über die Rollenverteilung zu sprechen. Man kann auch einmal Glück haben. Schnell auf die Toilette, bevor es losgeht. Claudia beeilt sich, Bluse und Pullover wieder ordentlich zu richten.
Das Türschloss klemmt. Das gibts doch nicht! Nicht nervös werden! Ganz ruhig noch einmal probieren. Nichts. Vielleicht funktioniert es, wenn man die Tür ein bisschen anhebt. Nein. Dagegendrückt. Zu sich zieht. Hinunterdrückt. Keine Chance. Das Schloss klemmt. Weder unter noch über der Tür gibt es einen Ausweg. Um Hilfe rufen. So peinlich. Aber was bleibt ihr übrig. Keine Reaktion. Die Toiletten sind gleich beim Eingang des Festsaals, weit entfernt von der Bühne. Sie muss lauter rufen. Noch immer kommt niemand. Irgendwann wird sie den anderen abgehen. Nach Stunden kommt jemand. Es war eigentlich nur eine halbe Stunde. Auch die Professorin schafft es nicht, die Tür zu öffnen. Sie holt den Schulwart. Der rückt mit seinem Werkzeugkoffer an. Claudia wird befreit.

Doch die Erleichterung währt nur kurz. Nun sind die Rollen wirklich vergeben. Übrig sind noch: einer der Zwerge oder Hilfe bei der Technik. Hilfe bei der Technik bedeutet, nichts zu tun, denn der Schulwart lässt niemanden an die Anlage. Aber Zwerg? Ausgerechnet sie? Der größte Zwerg aller Zeiten? Und nur ein Satz Text. Die Professorin meint, das mit den Zwergen dürfe man nicht so eng sehen, man könne sie auch als Bergleute bezeichnen. Kann man. Aber die Rolle heißt „Zwerg“. Zwerg! Claudia sieht die anderen Mädchen verstohlen lachen. Und was werden die Eltern sagen, wenn sie erzählt, dass sie einen Zwerg spielen wird? Sie wollte auf der Bühne stehen, der ganzen Schule beweisen, dass sie ein hübsches und talentiertes Mädchen ist. Aber als Zwerg? Claudia entscheidet sich für die Technik. Am liebsten hätte sie überhaupt alles hingeschmissen, aber dann hätten die anderen nur noch mehr gelacht.

Dienstag. Bei Claudia zeigen sich keinerlei Zeichen eines Krankheitsrückfalls. Kein Grund, nicht in die Schule zu gehen. Erste Stunde Turnen. In der Pause danach nimmt die Turnlehrerin sie beiseite. In vier Wochen sei das erste Handballmatch der Schülerinnenmeisterschaft, aber es seien gleich fünf Spielerinnen ausgefallen. Ob Claudia nicht einspringen könne? Sie wäre zwar die Jüngste in der Mannschaft, aber mit ihrer Größe. Außerdem stelle sie sich bei Ballspielen doch sehr geschickt an.
Handball. Das ist doch total unweiblich, brutal. Würde Mandy Handball spielen? Niemals! Die wollte zu den Cheerleadern. Akrobatische Übungen in hübschen, engen Kostümen. Alle Burschen haben nur Augen für sie. Andererseits könnte sie die Mannschaft retten. Außerdem gibt es in Österreich keine Cheerleader. Claudia sagt zu.
Dass sie wegen des Trainings nun nicht an „Bühnenspiel“ teilnehmen kann und die Aufführung nicht im Technikraum verbringen wird, ist kein großer Verlust. Weder für Claudia noch für die Aufführung.

Ein Samstagnachmittag im November. Das Match gegen das andere Gymnasium im Bezirk. Aufwärmen in der Halle. Es kommt tatsächlich Publikum, Eltern, Geschwister der Spielerinnen. Anpfiff. Claudia sitzt vorerst auf der Ersatzbank. Die ganze erste Hälfte über. Anpfiff zur zweiten Halbzeit. Ihre Mannschaft hat schon fünf Tore Rückstand. Doch die aufmunternden Worte der Turnprofessorin in der Pause haben gewirkt. Der Rückstand wird kleiner. Nur noch zwei Tore. Eines. Da: Die Spielerin am linken Flügel knöchelt um, humpelt zum Spielfeldrand. Die Lehrerin gibt Claudia ein Zeichen, sich bereit zu machen. Wechsel. Fehlpass. Mehr Konzentration! Ihre Mannschaft erobert den Ball zurück. Claudia läuft, so schnell sie kann. Bekommt den Ball zugespielt. Sie ist alleine vor der Torfrau. Springt. Ausgleich. Ausgleich! Die ganze Mannschaft kreischt. Die Schiedsrichterin pfeift das Match ab. Unentschieden immerhin. Claudia ist die Heldin. Ausgerechnet die Jüngste. Das hat Mandy nicht geschafft.
Und jetzt kommt sogar der Bruder der Kreisspielerin, um zu gratulieren. Der ist bestimmt schon vierzehn und einen Kopf größer als Claudia.

Sascha Wittmann
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