Großstadtepisode
Durch die nasse, vom Regen belegte Scheibe erscheint die Außenwelt wie ein verwackeltes Bild, eine verschwommene Fotografie; die Lichter der Stadt sind nur grelle Punkte auf trübem Hintergrund. Der Regen hält schon seit Stunden an, das heftige Gewitter ist nach der drückenden Hitze der vergangenen Tage eine Wohltat; die Natur wird bald wieder in kräftigen Farben erstrahlen. Scheinbar geräuschlos gleitet das Taxi durch die nächtlichen Straßen Wiens, durch das offene Fenster dringt die frische, abgekühlte Luft in das Innere des Wagens. Die berühmten Gebäude der Ringstraße sind, wenn, nur schemenhaft erkennbar. Die Nacht erscheint, trotz des Wetters, friedlich – es ist, als ob der Regen die Atmosphäre reinigt. Man sieht hauptsächlich Straßenbahnen, Busse und Taxis auf den Straßen. Wer kann, vermeidet einen langen Aufenthalt im Freien, denn selbst Schirme und Regenmäntel vermögen die Wassermassen kaum abzuwehren. Und doch wirkt das Unwetter heilsam, befreiend. Mia liebt Sommergewitter, die sie an die Unschuld ihrer Kindheitssommer erinnern, die sie zum Großteil am Land bei ihren Großeltern verbracht hat.
Seine Stimme hat verzweifelt geklungen, als er sie angerufen und gebeten hat, vorbeizukommen.
Es sind einige Monate vergangen, seit sie sich zum letzten Mal gesehen haben: Ein Mann und eine Frau sind aus entgegengesetzten Richtungen zu einem kleinen Taxistand am Schwedenplatz geeilt, den sie zeitgleich erreicht haben, um sich das einzige Taxi zu sichern. Augen weiteten sich, wussten nicht, wohin sie blicken sollten, als Marco und Mia sich wieder gegenüberstanden. Er hatte in den Wochen zuvor ein paar Mal versucht, sie zu erreichen, vergebens. An jenem Abend überließ Marco Mia das Taxi – sein Blick war bedauernd, als Mia wortlos einstieg, ohne ihm anzubieten, sich das Taxi zu teilen. Doch sie hatte ihm nicht in die Augen schauen können, seine Nähe nicht ertragen. Das war vor drei Wochen, mittlerweile hat der Frühsommer Einzug gehalten. Deshalb ist sie noch immer überrascht, dass sie seinen Anruf angenommen, seiner Bitte nachgekommen ist und jetzt im Taxi zu ihm fährt. Und sie hat schmunzeln müssen, als sie den Taxistand neben der U-Bahn erreicht hat – im einzigen Taxi erblickt sie ein vertrautes Gesicht; sie kann ihre Freude darüber, Ahmed wiederzusehen, nicht verbergen. Auch Ahmed lächelt und steigt aus, um sie herzlich zu begrüßen. „Wohin geht die Fahrt?“, fragt er schließlich, „kenne ich den Weg schon?“ Mia nickt und lächelt – er hält ihr wieder die Türe auf, so wie bei all den Fahrten zuvor. Und Mia erinnerte sich …
Sie hatte Marco über eine Freundin kennengelernt, die gegenseitige Sympathie war vom ersten Augenblick an unbestreitbar. Sie hatten sich über viele Wochen getroffen, waren sich nähergekommen, ohne die Dinge jemals zu definieren – vielleicht war das ihr erster Fehler gewesen. Er hatte sie immer wieder überrascht, mit Dingen, die sie ihm erzählt hatte.
Es war ein ebenso stürmischer Samstagabend gewesen, an dem er sie zum Essen eingeladen hatte; sie hatten viel herumgealbert, es sich gut gehen lassen, bis es beinahe Mitternacht war und sie ein Taxi gerufen hatten. Es hat eine halbe Stunde gedauert, bis das Taxi endlich das altehrwürdige Grand Hotel erreicht hatte, in dessen Sushi-Bar Unkai Marco und Mia zum Abendessen verabredet waren. Die beiden trafen sich seit Monaten regelmäßig, keiner konnte die tiefe Zuneigung dem anderen gegenüber wirklich verbergen, doch standen sie sich noch mit ihren Unsicherheiten, den emotionalen Altlasten im Weg, beide waren Meister im Vermeiden eines ernsten Gespräches. Immer wieder fiel der Blick des Fahrers Ahmed auf das gegensätzliche Paar, welches schon einige Mal mit ihm gefahren war: Die junge Frau trug ihr dichtes, dunkelblondes Haar offen, es reichte bis weit über ihre Schultern. Ihre Gesichtszüge waren weich, passten zu den warmen Rundungen ihres Körpers, ihre vollen Lippen waren zu einem sanften Lächeln geformt, während ihr Kopf vertrauensvoll halb auf der Schulter, halb auf der Brust ihrer Begleitung ruhte. Der junge Mann flößte ihm Respekt ein, obwohl er kaum jemals sprach. Sein Blick ruhte beinahe ununterbrochen auf der jungen Frau neben ihm; gelegentlich schweifte er ab, die Umgebung absuchend, ständig auf der Hut, nach einer potenziellen Gefahr Ausschau haltend. Der dichte, dunkle Bart war gepflegt, verlieh ihm zusätzlich eine respekteinflößende Ausstrahlung, das kantige Gesicht wirkte ungerührt, ließ keine Interpretation zu, die dunklen Augen waren wachsam.
Es herrschte überraschend wenig Verkehr für einen Samstagabend, sie erreichten ihr Ziel, ein mittelgroßes Haus mit Garten in Altmannsdorf, schneller als erwartet. Dieselbe Adresse wie immer, Ahmed erkannte das Gebäude. Das Paar hatte während der Fahrt nicht mit ihm oder miteinander gesprochen, aber Ahmed nahm jede Fahrt, wie sie kam. Er war seit vielen Jahren Taxifahrer, über zwanzig Jahre, also beinahe sein ganzes Berufsleben, und immer in der Nachtschicht. Er hatte unzählige Menschen an ihr nächtliches Ziel gebracht, wenig überraschend waren ihm nur wenige Fahrgäste in Erinnerung geblieben, darunter auch dieses Paar. Die beiden harmonierten, ergänzten sich in ihrer Männlichkeit und Weiblichkeit perfekt. Er hatte den Mann schon oft gefahren, immer in unterschiedlicher Begleitung – nur die dunkelblonde, mollige junge Frau war wiederholt an seiner Seite. Und nur bei ihr, das hatte Ahmed im Laufe der Zeit festgestellt, wirkte der junge Mann wie ein Soldat, der ein kostbares Gut zu schützen hat. Keine der anderen Frauen hatte er je so vertraulich an sich lehnen lassen, oder war in deren Gegenwart so reserviert, im Beobachtungsmodus. Sie waren wie Puppen, mit denen man nicht lange spielt. Ob sie von den anderen Frauen wusste? Und ob der Mann sich an ihn erinnerte? Nichts in beider Auftreten deutete darauf hin.
Marco schreckte kurz auf, als das Fahrzeug zum Stillstand kam, so sehr war er in Gedanken versunken gewesen, während das sanfte, rhythmische Trommeln der Regentropfen auf dem Autodach Mia eingelullt hatte – sie war an seiner Schulter eingedöst. Der Taxifahrer kam Marco bekannt vor, ihm schien, als hätte ihn dieser oft gefahren, wenn er mit diversen Liebschaften den Heimweg angetreten hatte. Er beschloss, den Taxifahrer nach seiner Nummer zu fragen, es konnte nicht schaden, einen direkten Draht zu haben, der Mann erschien diskret, unaufgeregt. Mia, die durch seine hastige Bewegung aus dem Halbschlaf aufgewacht war, blickte sich verschlafen um, nur langsam, müde realisierte sie, dass sie schon bei Marcos Haus angekommen waren, und stieg aus. Während sie schon zum Haus ging, sprach Marco noch kurz mit Ahmed, ehe er ihr folgte.
Marco liebte Mias mollige Figur, ihr dichtes, dunkelblondes Haar, ihre großen Brüste, die sich während des Aktes immer wild bewegten. Er konnte seinen Kopf stundenlang zwischen ihnen vergraben, ihre sinnliche Weiblichkeit einatmen. Sie war alles, was er so bisher nicht kannte: auf reizende Weise in manchen Belangen unerfahren, warmherzig, uneigennützig, freigiebig, präsenter und aufmerksamer als jede andere Frau, die er bis jetzt kennengelernt hatte. Er fühlte sich ruhig, angenommen in ihrer Gegenwart. Doch was, wenn es ein Trugschluss war? Sie war leise, klar, bestimmt – doch was, wenn wieder alles schiefging? Die lauten, überbrodelnden, besitzergreifenden, manchmal vulgären Frauen waren ihm immer schon vertraut, ein Muster, das er kannte. Das Sanfte, Bedachte, Aufmerksame verwirrte, ängstigte ihn. Noch konnte sein rastloses Herz keine Ruhe finden, keine Entscheidung treffen.
Als sie bei der Haustüre ankamen, waren beide durchnässt – noch immer regnete es in Strömen. Marco war froh über die kurze Unterredung mit Ahmed, sie würde seine amourösen Aktivitäten sehr vereinfachen. Sobald sich die Türe hinter ihnen schloss, umarmte Marco Mia von hinten, küsste ihren Hals zärtlich, fuhr mit seiner Zunge daran entlang. Sie erschauderte – selbst überrascht von der zwischen ihnen bestehenden Anziehung. „Ich will mit dir duschen“, flüsterte Marco und drehte Mia mit einer sanften, aber bestimmten Bewegung um, um sie zu küssen. Ihre Lippen schmeckten nach Gin Tonic, sie war die einzige Frau in seinem Umfeld, die nicht rauchte. Unter dem warmen Wasser kamen sich die beiden wieder näher: Marcos erfahrene Hände wanderten über Mias sanfte Rundungen, seiften sie ein – sie lehnte sich mit geschlossenen Augen an ihn, genoss die sanfte Massage ihrer großen Brüste, war erfreut über seine deutlich wachsende Erregung, die sie zwischen ihren Schenkeln spürte. Sie liebte es, sich ihm hinzugeben, sich seiner Führung zu überlassen.
Es regnete noch, als die beiden aus der Dusche kamen, die Regentropfen trommelten rhythmisch gegen die Fensterscheiben. Marco lenkte Mias Schritte ins Schlafzimmer; er liebte es, Mia zu verwöhnen, ihre Lust mehrfach zu entfachen und sie danach verschwitzt, aber glücklich im Arm zu halten. Ob sie etwas von den anderen Frauen ahnte, vielleicht dachte, dass sie exklusiv zusammen seien? Marco konnte sie sich nicht mit einem anderen Mann vorstellen, aber sich auch nicht dazu entschließen, nur mit ihr zusammen zu sein. Ein Teufelskreis.
Die Wochen vergingen, immer öfter brachte Ahmed die, wie er fand, wunderschöne mollige Frau nach Altmannsdorf; ein privater Deal mit Marco; der Zuverdienst kam bei drei Kindern gelegen. Manchmal unterhielten sie sich, über das Wetter, Urlaubspläne, Alltägliches … Doch ihr von den anderen Frauen zu erzählen, das brachte Ahmed nicht über sich. Mia war gespalten, Ahmed bemerkte während den Fahrten häufig ihren nachdenklichen Blick aus dem Fenster, sie vermutete nur, dass sie nicht die Einzige war, dass es vielleicht nicht reichte für einen gemeinsamen Alltag. Manchmal überlegte sie, ob sie den Fahrer nach anderen Frauen fragen sollte, vielleicht hatte er etwas mitbekommen, doch immer wenn sie kurz davor war, verließ sie der Mut.
Manchmal bemerkte sie Marcos sehnsuchtsvollen, suchenden Blick, der auf ihr ruhte, doch ohne ein eindeutiges Bekenntnis wollte sie ihm keine tiefere Bedeutung beimessen. Er schickte ihr seit geraumer Zeit ein Taxi, wenn sie verabredet waren, immer den ruhigen, bedachten Fahrer aus jener stürmischen Nacht. Das Taxi war immer schon vorausbezahlt, es behagte ihm nicht, wenn sie, vor allem in den Abendstunden, alleine unterwegs war, sie sollte sicher sein.
Es war ein stürmischer Augustnachmittag, ein verregneter Samstag, als Mia erstmals eine andere Frau sah, eine Bestätigung für ihre Vermutung erhielt. Die Ferien machten sich bemerkbar, es herrschte kaum Verkehr auf den Straßen, das Taxi erreichte sein Ziel früher als geplant. Als das Taxi zum Stehen kam, lachte Mia noch über einen Witz, den Ahmed gemacht hatte, als ihr Blick auf die Frau fiel, die gerade Marcos Grundstück verließ. Ihr Herz verkrampfte sich für einige Sekunden, während ihre Augen sich mit Tränen füllten. Ahmed wusste nicht, was er sagen sollte, als er die Situation erkannte – hätte er doch früher etwas sagen sollen?
„Willst du zurückfahren?“, fragte er leise, um irgendetwas zu sagen, „die Fahrt geht auf mich!“ „Nein“, antwortete Mia kopfschüttelnd, „da muss ich durch!“ Mit diesen Worten stieg sie aus, nicht ohne noch einmal dankbar lächelnd zurückzublicken. Das Schweigen zwischen Marco und Mia war an diesem Abend laut, bis Mia schließlich die eine Frage stellte, die ihr am meisten in der Seele brennt: Gab es die anderen Frauen von Anfang an? Marco schwieg, bis er schließlich ehrlich gestand: Ja, aber du warst aber die Einzige, die regelmäßig gekommen ist, weil du mir etwas bedeutest, alle anderen waren immer nur für eine Nacht, wenn überhaupt.
Mia verließ das Haus wortlos, ohne auf Marcos Angebot einzugehen, ihr ein Taxi zu rufen, damit sie nicht öffentlich fahren musste; der Weg zur nächsten Nachtbus-Station war weit. Sie war überrascht – Ahmed hatte gewartet, wenige hundert Meter von Marcos Haus entfernt, für den Fall der Fälle hatte er seine Pause genommen. Mia weinte lautlos, während das Taxi durch den Regen fuhr – wieder einmal.
Erneut fährt das Taxi lautlos durch die stürmische Nacht, Mia hat keine Ahnung, was sie erwartet, sie kann sich nicht vorstellen, was Marco von ihr möchte. „Ahmed, hast du in der letzten Zeit viele Frauen zu ihm gefahren?“, fragt sie schließlich. Ahmed antwortet nicht, aber ihre Blicke treffen sich im Rückspiegel. Mia hat es geahnt, fragt nicht weiter nach. Als sie vor Marcos Haus ankommen, gibt Ahmed Mia eine Karte – er hat ihr seine Nummer aufgeschrieben. „Melde dich, wenn du etwas brauchst“, sagt er, sein Ton klingt väterlich. Er parkt einige Meter weiter, nachdem Mia ausgestiegen ist. Für den Fall der Fälle.
Mia steht eine Weile vor dem Haus, im Wohnzimmer brennt Licht, hinter der Terrassentür aus Glas ist eine Silhouette wahrnehmbar. Doch sie bringt es nicht über sich, zur Haustüre zu gehen und zu läuten. Schließlich dreht sie sich um, sieht das Taxischild in der Dunkelheit der Nacht und geht auf das geparkte Auto zu. Ihr Handy läutet mehrfach, bis sie es schließlich abstellt. Noch ist die Zeit zu reden nicht gekommen.
Cornelia Hell
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