Ein Medley
Nicht jede Brücke dient der Verständigung. Der Verbindung natürlich schon, das ist ihr geografischer Zweck. Die Brücke über den Fluss Ibar in der geteilten Stadt Mitrovica ist solch ein Fall. Mitrovica liegt zwischen Serbien und dem Kosovo. Sie ist nur für Fußgänger geöffnet. Die kosovarische Regierung will sie auch für Autos öffnen, doch die Serben in Mitrovica sind dagegen.
Die Brücke
Ich fahre über die Brücke.
Ich weiß nicht, über welche,
ich weiß nicht, wo ich bin.
Links und rechts ist das Meer.
Schon lange bewege ich mich über diese Brücke.
Ich fahre und fahre, die Brücke nimmt kein Ende.
Nie, wird mir jetzt klar, werde ich sie verlassen.
In der kommenden Miniatur sorgt die Brücke für das Ende.
Suicide
Zu viel ist passiert. Du willst das Leben hinter dir lassen. Es ist Frühling, aber du bist in Kanada, wo der Frühling noch ein Winter ist. Der Fluss ist von einer dicken geschlossenen Eisschicht bedeckt. Du gehst bis zum Scheitelpunkt der Brücke und springst. Es passiert, wie du es dir vorgestellt hast. Du durchschlägst das Eis. Der Fluss nimmt dich mit. Jetzt bist du unter dem Eis gefangen, keine Ohnmacht hat dich betäubt. Du ertrinkst, ob du es schlussendlich wolltest oder nicht, du ertrinkst.
Dies ist eine wahre Geschichte. Das Mädchen hieß Nadia Kajouji. Sie starb mit achtzehn.
In der folgenden Miniatur bildet die Brücke die Stadt.
Trier an der Mosel
Es war im Sommer 1992. Ich fuhr mit dem Auto nach England. Die erste Nacht verbrachte ich in Trier. Zu Fuß suchte ich nachts ein paar Lokale auf, in einem blieb ich länger, in dem mir eine Frau, die für RTL, damals noch in Luxemburg, dafür steht das L, arbeitete, erzählte, wie leid es ihr tue, dass Roy Black gestorben war. Zurück ging ich dann durch einen Teil der Altstadt und über eine Brücke, die sich über einen Fluss spannte, von dem ich gar nicht wusste, wie er heißt. Ein Fluss ist immer gut, besonders vor dem Schlafengehen. Er nimmt mich mit, er nimmt mich mit.
Ich hatte eine sehr nette und hübsche Kollegin, als ich in den 1990er-Jahren in Oberösterreich arbeitete. Sie wurde Ivi genannt, in Wirklichkeit war ihr Name länger. Sie stammte aus Mostar, der Brückenstadt, deren Wahrzeichen die stari most, die Alte Brücke über die Neretva war und ist. Sie wurde im innerjugoslawischen Krieg zerstört, wieder aufgebaut und 2004 eröffnet. Ivi hatte verschiedene Arbeitsplätze, an einem hatte sie einen Marienaltar errichtet. Ihr war es wichtig, der Messe folgen zu können. Einige ihrer Freunde sind im Krieg gestorben, erzählte sie mir.
Kurz bevor ich die Firma verließ, hörte ich, das Ivi heiraten müsse. Tatsächlich müsse. Dabei hatte sie mir stets erzählt, dass ihr Freund ihr auf die Nerven ginge. Was soll man dazu sagen? Ivi machte sich rar. Ich sah sie kein einziges Mal mehr.
Seltsam, seltsam, das geträumte Gedicht, in dem die Brücke vorkommt.
Nur geträumt und nicht erlebt
Ich warf eine Stoffpuppe von der Brücke.
Ich weiß nicht warum.
Nur geträumt und nicht erlebt.
Der Richter war ich über zwei Angeklagte.
Ich konnte kein Urteil fällen.
Nur geträumt und nicht erlebt.
Der kleine König war ich,
den sie auf einer Stange trugen,
die in seinen Körper ragte.
Nur geträumt und nicht erlebt.
Die Logik gilt nur für die Wirklichkeit.
Im Traum rechnet man mit Bildern statt Zahlen.
Nun kommt eine Erinnerungsgeschichte.
Things to Come
Der junge Mann zog die braune Wildlederjacke über. Es war gegen 23 Uhr, Anfang Oktober, er hatte viel gearbeitet und wollte hinaus, noch ein bisschen Leben erfahren vor dem Schlaf. Es war das Jahr 1986. Die Menschen begegneten sich noch wirklich statt auf Bildschirmen, man ging physisch aufeinander zu, deshalb verließ er die Wohnung, die im Haus lag, und das Haus. Die Wildlederjacke hatte er von seinem Vater übernommen. Sie war ihm an den Ärmeln etwas zu lang, sein Vater war um vier Zentimeter größer als er. Sie sah irgendwie brav aus, wahrscheinlich hatte sie der Vater beim Freizeitprogramm von Symposien in Ostländern verwendet, wo getrunken wurde und man sich, vorsichtig noch – wegen des Kommunismus, annäherte. Viel mehr als ein paar Bierflecken wird die Jacke wohl nicht abbekommen haben. Sie war in einem sehr guten Zustand, und bevor seine Mutter sie zur Caritas gab, frage der junge Mann, ob er sie haben könne. Na, und heute trug er sie eben. Die Jacke war warm, und das brauchte er auch, denn der Herbst war schon fortgeschritten, kaum noch Blätter auf den Bäumen, wie man im Mondlicht sah, und von Laternen beleuchtet. Der junge Mann ging über den Gehsteig.
Der Gehsteig wurde von einer Leiste aus Stein straßenseitig begrenzt. Was würde der Gehsteig jetzt denken, wenn er das könnte? Vielleicht: Okay, jetzt geht dieser junge Mann auf mir. Es ist doch schon spät. Warum bleibt er nicht zuhause und geht bald ins Bett? Aber so ist das eben: Allein daran, dass der Gehsteig dies denken würde, merkt man, dass er kein lebendiges Leben ist, er sieht nicht, dass ein junger Mann Action braucht. Er ist Horden von Schülerinnen und Schüler gewohnt, die Schule ist nur 50 Meter geradeaus, ein Gymnasium, kleine Füße, große Füße, offene Schuhe im Sommer, Winterstiefel, alle gehen sie über den Gehsteig. Und dann auch Leute mittleren Alters und Omas und Opas, die brauchen länger zur Fortbewegung, und sie passen auf, wenn Eis auf dem Gehsteig ist, alte Knochen heilen schlecht, das ist bekannt. Was habe ich doch schon alles erlebt, würde der Gehsteig denken, falls er denken könnte, Ohrfeigen von eifersüchtigen jungen Frauen, ihren Freunden gegeben, Liebesschwüre von eben diesen Freunden. Manche nützten, manche nicht. Schneller Lauf von jemandem, der bedrängt wird, jemand, der ihm folgt. Als Gehsteig hat man viel Frequenz, viel Verkehr, auf jeden Fall.
Der junge Mann rauchte eine Zigarette, während er ging. Er passierte die Schule, ging beim Heim mit dem großen Garten, wo er früher öfters mit Freunden auf kleine Tore Fußball gespielt hatte, vorbei und kam zum Kanal, dem er bis zu seinem Ende folgte, was vielleicht 300 Meter waren, dann ging er die Brücke entlang und dann links, Richtung Innenstadt. Erst gestern war er in der Nacht mit P. unterwegs gewesen, eine junge Frau, auf die er schon viele Jahre scharf gewesen war, lange schwarze Haare, braune Augen, ein weicher Mund, und unheimlich frauliche Bewegungen, sie war schön, sie war interessant, sie redeten, tranken, und gingen, sie gingen weit, er ging mit ihr nach Hause, aber nicht hinauf, sondern sie verabredeten, dass er sie übermorgen, also von dieser Nacht morgen, von der Abendschule abholen würde. Es gab nur Berührungen, aber allein die waren supertoll. Naja, jetzt war die nächste Nacht, und der junge Mann steuerte eine Bar an. Er dachte im Moment nicht an P., für einen jungen Mann ist das normal, so ist das Leben eines jungen Mannes, jeder Tag ist ein anderer und einzigartig, und birgt immer wieder eine neue Chance.
Er überquerte eine tagsüber starkbefahrene Straße, jetzt war natürlich nicht so viel los, aber der junge Mann ging erst los, als die Fußgängerampel Grün zeigte. Rot heißt warten, grün heißt gehen. Noch ein paar Schritte, da war das Lokal. Zum Draußensitzen war es zu kühl. In der Nähe des Eingangs standen zwei Jugendliche und besprachen etwas. Das Lokal gab es seit etwa zehn Jahren. Es hatte also keine lange Vergangenheit. Aber natürlich hat ein Lokal, wenn es dazu fähig wäre, immer viel zu erzählen, Alkoholabstürze, Polizeirazzien, Freundschaften, die geschlossen werden, Streitereien, und Liebesbande, ganz besonders Liebesbande, die geknüpft werden. Das Lokal verfügte über einen ersten Stock, dort stand ein Billardtisch. Der Wirt hatte das Lokal gepachtet und auf eigene Kosten eingerichtet. Er hatte sich darauf eingelassen, dass viele seiner Kunden anschrieben.
Das Lokal konnte sich nur an diesen Wirten erinnern. Damit lag es richtig, es gab nämlich nur diesen. Es wurde gute Musik gespielt, Rock und New Wave, manchmal etwas Punk, gerne Nina Hagen. Die Abstimmung war gut, die Übergänge passten. Der Wirt legte selbst auf. Er wäre fast als professioneller DJ durchgegangen. Aber er war ein kontroversieller Typ, entweder er mochte einen, oder er konnte einen nicht leiden. Sympathie und Antipathie beruhen ja so gut wie immer auf Gegenseitigkeit – es war auch umgekehrt so, entweder man mochte ihn, oder man konnte ihn nicht ausstehen. Der junge Mann stand ihm nicht gut zu Gesicht, und umgekehrt war es genauso, trotzdem war dieses Lokal für den jungen Mann fast immer das erste, das er besuchte, wenn er ausging – weil: Erstens – es war das näheste, zweitens – die Musik war gut, drittens – der Bierpreis war niedrig. Also: Der junge Mann betrat das Lokal. Das Lokal sah, wie der junge Mann es betrat. Er bestellte ein Bier, ein großes natürlich, das muss man nicht dazusagen. Das Lokal sah, wie der junge Mann ein großes Bier bestellte. Der Wirt grunzte irgendetwas und stellte es auf das Stehtischchen. Genau: Das ist noch zu sagen – im Erdgeschoß gab es ausschließlich Stehtischchen. Im Lokal waren nicht allzu viele Leute.
Ungefähr etwas mehr als einen Meter entfernt bekam eine junge Frau gerade ihr bestelltes Baguette. Sie war nicht mehr ganz nüchtern. Der junge Mann kannte sie seit geraumer Zeit. Sie sah sehr gut aus und war gescheit, gefürchtet wegen ihres spitzen Mundwerks. Vor ungefähr zwei Monaten redeten sie hier, dann verabschiedete sie sich und ließ ihn einfach stehen. Das war dem jungen Mann noch nie passiert. Jetzt sah sie zu ihm hinüber und fragte: „Willst du auch etwas davon?“ Er verneinte, aber er stellte sich zu ihr. Und das Lokal sah, dass sie sich nahekamen, ziemlich nahe, dann zahlte der junge Mann, und sie zogen weiter. Aber dass sie ein Paar wurden, später einen Sohn bekamen und heirateten, das wusste das Lokal nicht mehr, dazu war es zu weit weg. Ob P. am nächsten Tag gewartet hat? Lange sicherlich nicht.
Liebe ist doch das schönste, das es gibt. Es macht den Menschen zum Menschen. Die vielen Sicherheitsschlösser an der Brücke machen sie schwer. Il ponte degli innamorati. Wie lange wird die Liebe zwischen A + D halten? Vielleicht nur ein paar Wochen, aber sie hat sich manifestiert, und es sind wunderschöne Wochen, unverwechselbare.
In Wasser und Luft
Ich reiche dir meine Hand.
Du lebst im Wasser,
mein Element ist die Luft.
Wie können wir gemeinsam leben?
Auch wenn wir einander noch so wollen,
Liebe baut Brücken,
aber nicht solche.
Du wirst mein Wassergedanken bleiben
und ich dein Wunsch vom Fliegen.
Jetzt kommt eine Pause, Zeit, um die Eindrücke sacken zu lassen. Waren es nicht vielfältige? Aber es geht weiter, es geht immer weiter. Demnächst.

Graffito Schädel mit OX und gekreuzten Knochen mit Aufschrift VAMPOMA
Johannes Tosin
(Text und Foto)
www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25123