Meine Putzfrau heißt Ivan

Der Kübel stand mitten auf dem Gehsteig vor dem Restaurant. Fast wäre ich darüber gestolpert, weil ich gerade die Einkaufstasche auf der Schulter zurechtrückte und dabei in die Lindenallee schaute. Ein Mann balancierte hoch oben auf einer Leiter und putzte eine der Glasscheiben. Es sind sehr hohe Fenster vom zweiten Stock bis auf den Boden. Die Spitzenköchin wirtschaftet als „Die Herknerin“ seit einiger Zeit in dem ehemaligen Installationsgeschäft. Sie hielt die Beine der Leiter fest und gab dem Mann Anleitungen. Ob er die braucht, dachte ich, und machte einen schnellen Schritt zur Seite. Er soll auch die Großbuchstaben INSTALLATI-NEN an der Mauer über den Fenstern waschen, wenn er mit seiner Stange hinaufreicht. Das O war schon dem Installateur abhandengekommen. Günther Leutner war gar nicht mehr zu lesen. Den Namen wusste nur noch ich, weil er später einiges bei mir gerichtet hat. Der Kübel wackelte ein bisschen, und die rundliche Herknerin schüttelte den Kopf:

„Nanana, nicht so eilig.“
Sie hatte es nie eilig, stand immer unter ihren Gästen an den Tischen, drinnen oder draußen.
„Oh, Entschuldigung, hoppala, ist eh nix passiert.“
Da kletterte der Mann von der Leiter herunter und drückte den Schwamm aus. Im Kübel schäumte das Wasser dunkel.
„Muss weksel, ok, passt?“
„Gutgut, weißt eh, Ivan, im Gang hinter Budel, gell.“
Während der Mann sauberes Wasser holte, sprach ich die Meisterin der Wiener Küche an:
„Glauben Sie, ob ich ihn mir ausborgen kann?“
„Sicher, fragen Sie ihn, der Ivan sucht eh immer eine Arbeit.“
Da kam dieser Ivan aus dem Schankraum wieder auf die Straße.
„Würden Sie auch bei mir in der Wohnung die Fenster putzen?
Acht Stück hab ich, da vorne wohne ich, auf Nummer 39, gleich da drüben.“

Wir vereinbaren den nächsten Montag, 9. Jänner um neun Uhr Früh. Das kann man sich merken. Ich erkläre ihm noch die etwas eigenwillige Gegensprechanlage an unserem Haustor und wir verabschieden uns.

Mir fällt auf, dass er kein Handy bei sich hat. Da nehme ich eine alte Hofer-Rechnung aus meiner Geldbörse und schreibe ihm meine Adresse, Tag und Uhrzeit auf. Zur Sicherheit.

Es kommt der Montag, neun Uhr, und Ivan ist zehn Minuten zu spät. Da Pünktlichkeit, das heißt Verlässlichkeit, für mich eine Form von Respekt ist, gehört sie zu den von mir eingeforderten Kardinalstugenden. Ivan entschuldigt sich damit, dass das Tor nicht aufgegangen sei.
Sie hätten doch bei 34 läuten müssen oder bei meinem Namen, aber es hat hier nicht geläutet.

Okay, wenn er bei mir arbeiten will, werde ich ihn mir schon herrichten. Hab ich bei anderen auch schon gemacht. Zumindest versuchen werde ich es. Ich war nicht immer erfolgreich. Von dem Majstor Tschiko, einem Rom aus dem serbischen Poscharewatz, musste ich mich schnell trennen, weil der nicht nur Stunden vertauschte, sondern ganze Tage. Einmal kam er nicht zum verabredeten Termin, weil es angeblich geregnet hat. Und bei Regen kann man ja nicht Fenster putzen. Bei ihm hat‘s vielleicht geregnet, nicht bei mir. Ich weiß nicht, wo er wohnte. Außerdem hat er ziemlich bald zu betteln begonnen: Enkelin braucht Computer, Tochter Mantel, er selbst Handy, gut für Arbeit, Kundschaft.

Ivan will kein Frühstück, keine Jause, nur Tee und Zigaretten.
Er ist begeistert von meinem Orangentee und nimmt keinen Zucker. Etwa 35 Jahre alt, klein gewachsen, rotblond, leichter Buckel, frühe Glatze, nicht sehr gut genährt und ein Gebiss mit zahlreichen Lücken. Eine schnelle ethnologische Diagnose: Armut, Dauerarmut, Fundamentalarmut.
Ich setze mich mit meinem Kaffee zu ihm an den Esstisch, und das Frage-Antwort-Spiel beginnt.

Er ist Bulgare und lebt seit fünfzehn Jahren in Wien. Sein Deutsch ist ganz passabel, man kann sich fließend mit ihm unterhalten. Er hat es sich selbst beigebracht, und er schaut viel fern.
Gelernt hat er in Bulgarien Maler, sagt er, kriegt aber als solcher keine Arbeit, weil die keine Ungelernten nehmen oder nur fünf Euro in der Stunde zahlen. Länger hat er als Gärtner-Gehilfe in Himberg gearbeitet, aber sein Rücken ist kaputt, er konnte die schweren Scheibtruhen mit Erde und die Blumenkisten nicht mehr schleppen. Dann Autowäscher in einer türkischen Garage, ging auch nicht mehr.
Türken nix gutte Leute.
Wer sind denn gute Leute?
Die Österreicher.
Alle anderen sind schlecht?
Ja, Ausländer alle nix gutt.
Bulgaren auch nicht?
Das sind die Schlimmsten.
Er muss das wissen.

So, jetzt aber an die Fenster. Ivan hat seine eigene Ausrüstung mitgebracht, meine sei auch nix gutt. Er sei Profi mit einer Profi-Ausrüstung. Voll Stolz zeigt er mir die Teleskopstange mit drei verschiedenen, auswechselbaren Kopfstücken: für Bürsten, Schwämme und Trockentücher. Er arbeitet sehr genau, aber auch sehr langsam, trödelt, wie ich finde, dabei kriegt er pro Fenster bezahlt, nicht nach Stunden. Das habe ich mit ihm ausgemacht, und er war einverstanden. Vielleicht hat er das vergessen.
Wieder Tee- und Zigarettenpause, er will noch immer nichts essen. Er sagt, er habe zu viel Zucker und sei zu dick. Dabei klopft er sich auf den nicht vorhandenen Bauch. Ich habe ihm zwei dicke Schinken-Käse-Semmeln mit Ei und Salat, eine Banane, ein Fruchtjoghurt und eine Topfengolatsche vorbereitet und packe ihm alles ein.
Vielleicht später.
Da erzählt er, er werde das seiner Schwester mitbringen.
Ah, er hat eine Schwester.
Ja, die ist gerade aus Bulgarien angekommen und sucht Arbeit.
Leider, mehr hab ich nicht.

Er schaffte in fünf Stunden nur vier Fenster, da riss mir die Geduld, ich musste ihm ja beim Aus- und Einhängen der Oberlichten immer assistieren. Immer wieder rief er mich von meinem Schreibtisch weg:
Madame, bitte.
Wer hatte ihm das Madame beigebracht?
Also machte ich einen zweiten Termin mit ihm aus.
Wieder nächsten Montag um neun Uhr, aber pünktlich diesmal! Ich schreibe ihm noch einmal alles auf. Ich bemerke, dass er nicht auf den Zettel schaut, sondern meine Worte memoriert. Später sehe ich, dass er das Papier auf dem Tisch liegen gelassen hat.
Da schwant mir, dass Ivan Analphabet ist; deswegen hat er die Gegensprechanlage nicht bedienen können und musste warten, bis jemand anderer die Türe aufmachte.

Es war an diesem Jänner-Montag eisig kalt, und Ivan kam ohne Mütze, Schal und Handschuhe. Nur eine kurze Blouson-Jacke aus gestepptem Ostblock-Jeansstoff. Seine Putz-Utensilien trug er in einem großen Billa-Plastiksackerl. Also kramte ich sofort eine Ikea-Tasche hervor, dazu eine Wollhaube, die ich vor Kurzem auf der Straße gefunden hatte, gefütterte Lederhandschuhe, die mir immer schon zu groß waren, und einen warmen Schal, kariert. Toll, fand ich und führte ihn vor den Spiegel im Vorzimmer. Er lächelte schief hinein, ein Foto von ihm zu machen lehnte er ab.
Nicht nur ungesund zu frieren, sondern sonst finden Sie keine Arbeit. Die Leute schauen auf die Kleidung. Je armseliger man aussieht, desto armseliger bleibt man. Kleider machen Leute, das verstand er nicht.
Aber meine Belehrungen hat er sicher nicht gebraucht, wie es läuft, das wird er in den fünfzehn Jahren in Wien schon mitgekriegt haben.
Ich stattete ihn noch mit drei Gläsern Marmelade und einigen Packungen aus dem Tiefkühlfach aus – meine selbst gemachten Vorräte, die ich hauptsächlich aus Entspannungsgründen produziere.

Später habe ich bei der Volkshilfe nebenan einen dicken, langen Pullover gekauft, dazu ein Flanellhemd mit männlichem Karo und zwei Pullunder. Zusammen 13,50 Euro.
Dazu ist die Volkshilfe da.
Nach der Arbeit gehe ich mit Ivan zum kroatischen Reifenhändler an der Ecke Floragasse. Der jammert immer über zu viel Arbeit, und keiner will arbeiten. Alle wollen nur Geld, trinken und bembembemti, und er hält dabei den Kreuzschraubschlüssel hoch. Interessant, auf Kroatisch stottert er.
Mirko bedauert, gerade jetzt hat er zwei gute Helfer gefunden. Da schau an. Ich sehe keinen Arbeiter rund um sein Geschäft.
Die haben heute frei.

Ivan sieht sich bestätigt.
Sag ich doch, Ausländer nix gutte Menschen.
Mirko kommt aus Waraschdin (wie die Rosen), ist vierzig Jahre in Wien. Kein Flüchtling, ein echter Gastarbeiter, schon sechsunddreißig Jahre mit österreichischem Pass.
Ich gehe mit Ivan weiter zur Diskonttankstelle am Naschmarkt. Die drei Männer in der Halle winken schon von Weitem ab, keine Arbeit. Keine weitere Erklärung.

Es ist immer noch kalt, sehr kalt. Später habe ich bei der Volkshilfe nebenan einen dicken, langen Pullover gekauft, dazu ein großes Herrenhemd aus Flanell, großkariert in Blaugrün und zwei gestrickte Pullunder. Alles zusammen um 17,50 Euro. Genau dazu ist die Volkshilfe da.
Also, Ivan kommt am nächsten Montag tatsächlich pünktlich, hat aber wieder nicht unten angeläutet. Wieder ohne Mütze, Schal und Handschuhe. Auch zu dem Billa-Sackerl für seine Gerätschaft ist er zurückgekehrt.
Ivan, wo sind die Sachen?
Ach, brauch ich nicht, mir ist immer so warm, der Schwester gegeben. Frauensachen.
Ok, geht mich nichts an, ob er’s verkauft oder in ein Kanalloch steckt. Geschenkt ist geschenkt.
Aber es ist verdammt kalt heute, minus sieben.
Macht nix, fahr U-Bahn.
Wohin?
Bis Ottakring, dann noch ein Stück zu Fuß. Nix weit.
Diesmal schaffte er die vier Fenster in vier Stunden. Passt, genau wie der Stundenlohn. Dann wieder ein Gespräch bei Tee und Zigaretten. Stolz erzählt er mir, er hat sich jetzt auch so einen Orangentee gekauft. Wärmt.

Wie heizt er denn seine Wohnung?
Nix Wohnung, ein Zimmer.
Früher hat er einmal mit einem elektrischen Heizstrahler geheizt, bis die erste Rechnung kam, die konnte er sich nicht leisten.
Ich entscheiden, essen oder heizen.
Aber diese Woche kamen er und seine Schwester mit meinem Essen durch, und sie konnten ein bisschen einheizen.
Was macht er, wenn es kalt ist?
Er liegt im Bett und schaut TV.
Jetzt fällt der Groschen: Er brodelt mit der Arbeit herum, weil es bei mir warm ist. Arbeit als Broterwerb und Wärmestube. Er hat jede Menge Zeit.
Diesmal bekommt er ein paar Decken mit nach Haus, warme Socken und einen Bettvorleger. Natürlich auch wieder reichlich von meinen Essensvorräten und eine Tee-Packung mit Winterzauber. Oder waren es die Kaminträume?

Eigentlich habe ich keine Fensterputz-Arbeit mehr für ihn, aber ich lade ihn doch zu einem weiteren Termin ein. Es gibt in meiner Wohnung noch eine Glastüre, ein Innenfenster zwischen Küche und Badezimmer und zwei Türen mit Glasziegeln. Die putze ich in der Regel selbst. Aber ich nehme mir vor, Ivan über die kältesten Wochen zu bringen.

Er kommt wieder halb angezogen, aber um Punkt neun.
Gleich an der Tür strahlt er mich an: Er hat sich ein Handy gekauft, gebraucht, dreißig Euro. Sein erstes. Er hat erstmals dreißig Euro übrig gehabt. Profit. Sieht er sich auf dem Weg zum Millionär?
Wie geht das?
Eine zweite Putzstelle.
Alte Frau wie Sie, ehm, wirklich alte, nicht weit von hier, hat große Wohnung mit dreizeh Fensta.
Ich frage, ob die etwa in Schloss Schönbrunn wohnt.
Wie? Wo? Schönbrunn?
Er versteht meinen Witz nicht.
Fünfzehn Jahre in Wien, aber in Schönbrunn war er noch nicht.
Er kennt praktisch nichts, was nicht an der U3 liegt.
Wien zwischen Ottakring und Simmering. Eigentlich nicht wenig.

Diesmal frage ich ihn, ob er das nächste Mal die Böden feucht wischen und die Teppiche saugen könnte. Ich denke an seinen kaputten Rücken, aber immerhin muss er nicht schwer tragen oder heben.
Klar ist er einverstanden. Aber seine Schwester könnte auch putzen. Nein, nein, ich kenne sie nicht, das will ich nicht, sie spricht null Deutsch, und an den Ivan hab ich mich schon zu gewöhnen begonnen.
Schon beim ersten Zimmer wird mir klar, dass Ivan nicht das geringste Gefühl für eine Wohnung und ihr Mobiliar hat. Wenn er etwa einen Sessel, den Schirmständer oder einen Blumenstock wegrückt, kommt er nicht auf den Gedanken, ihn nach dem Wischen wieder auf seinen alten Platz zu schieben. Er hat wahrscheinlich noch nie in einer richtigen Wohnung gelebt. Er hat absolut kein Raumgefühl. Die Gemälde an den Wänden nennt er „Fottos, viele scheene Fottos haben Sie!“ Die Bücherwände dagegen beeindrucken ihn nicht. Was er sonst noch sieht und was ihm gefällt, weiß ich nicht.

Meine Freunde, denen ich von Ivan erzähle, sind entsetzt. Und so jemanden lässt du in deine Wohnung? Hast du keine Angst? Nein, hab ich nicht. Er wird mich doch nicht abkrageln, er will Geld verdienen, und dazu braucht er mich. Er hat noch nicht aufgegeben, er sitzt nicht auf der Straße und bettelt. Ich finde Ivan ganz toll.

Bevor er den ersten Teppich angeht, bitte ich ihn, die große Jukka-Palme zu verschieben und den Stab, mit dem sie gestützt wird, geradezustellen; ganz oben an der Spitze soll er sie mit einem Band anbinden. Ich sichere die große Leiter, Ivan steigt hinauf, und ich halte ihm einen dicken Spagat hoch. Ich sehe, wie Ivan die Schnur um die Spitze wirft, zwischen den Blättern herumnestelt, aber die Schnur gleitet immer wieder zu Boden oder bleibt irgendwo in den Blättern hängen.
So geht das mehrmals, bis ich frage:
Ivan, was ist los? Schlinge rum um den Stamm und den Stab und Masche machen.
Es geht nicht.
Kommen Sie runter!
Mir reißt der Geduldsfaden, und ich steige selbst hinauf.
Er soll die Leiter sichern.

Da sehe ich, dass er an seinen Sportschuhen keine Schnürsenkel hat, sondern Klettbänder wie kleine Kinder an ihren ersten Schuhen.
Ivan kann keine Maschen binden.
Er gibt es genant lachend zu.
Kommt man so durchs Leben? Ja, es geht.
Ich fange mit ihm zu üben an.
Hat er das nicht von seinen Eltern gelernt?
Eltern tot.
Im Kindergarten?
Nein, er war nicht im Kindergarten, sondern im Kinderheim. Waisenhaus?
Ja, aber nicht in Sofia, sondern in einer Stadt am Schwarzen Meer. Schöner Strand, ich war einmal in Varna, am Goldstrand.
Blöder geht‘s nimmer. Ich beiße mir auf die Zunge.
Ivan wird unruhig, er will die Maschen zu Hause üben, ich gebe ihm die ganze Spagatrolle mit.

Wahrscheinlich habe ich mit Ivan eines von diesen Waisenkindern in Ostblock-Heimen kennengelernt, für die wir nach den Schreckensbildern im Fernsehen eifrig gespendet haben. An Pater Sporschill, zum Beispiel.

Ich habe ihn nie wieder gesehen. Er kam einfach nicht mehr, spurlos verschwunden, vom Erdboden verschluckt oder von sonstwas. Ich kann ihn nicht einmal suchen, bemerke ich, seine Handy-Nummer habe ich nie aufgeschrieben. Ich mache mir Sorgen, wegen der anhaltenden Kälte. Eine Freundin, eine ehemalige Sozialarbeiterin, will mich beruhigen: Solche Leute wissen, wo sie sich wärmen können. Westbahnhof, Gruft, Praterstern. Hoffentlich hat er noch die alte Frau mit den dreizehn Fenstern. Aber wie oft kann man die Fenster putzen? Bei minus neun Grad? Vielleicht ist er an seine Goldküste zurückgekehrt? Dieser Winter war besonders lang und kalt, ein richtiger Winter wie früher.

9.7.17

Veronika Seyr
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